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Ein literarisches Dokument der Widersetzlichkeit, das mit scharfer Feder politische Masken zerreißt. Die teils satirischen, teils erschütternden Dialoge führen mitten hinein in deutsche Bahnhöfe des Ersten Weltkriegs, Villen in Shanghai, Gerichtshöfe des ungarischen Faschismus und Hinterzimmer deutscher Gymnasien unter der NS-Herrschaft. Weinert lässt Opportunisten, Fanatiker, Kriegsgegner und stille Helden aufeinandertreffen – in Szenen, die uns zeigen, wie nah das Gestern dem Heute ist. Ein aufwühlender Blick in die politische Bühne des 20. Jahrhunderts – klarsichtig, anklagend und erschreckend aktuell.
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Seitenzahl: 81
Veröffentlichungsjahr: 2025
Erich Weinert
Auftritt der Geister
Szenen gegen das Vergessen
ISBN 978-3-68912-523-3 (E–Book)
Die Erzählungen wurden dem Sammelband „Prosa – Szenen – Kleinigkeiten“, erschienen 1955 im Verlag Volk und Welt Berlin, entnommen.
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
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Godern
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ORT:
Bahnhof einer deutschen Stadt
ZEIT:
Anfang April 1917
PERSONEN:
Die Mamsell, Der Bahnbeamte, Der Kellner, Der Polizeihauptmann, Die Zeitungsfrau, Der sozialdemokratische Stadtrat, Der Redakteur der „Volksstimme“, Der Stationsvorsteher, Der Reisende
Früh am Morgen. Man schaut in den kleinen Raum des Bahnhofsbüfetts I. und II. Klasse. Die Tische sind noch ungedeckt. Im Hintergrund das Büfett. An der linken Seitenwand gehen eine große Glastür und ein Fenster auf den Bahnsteig. An der rechten Seitenwand Plakate, Verordnungen und Fahrpläne. Der Raum ist leer.
KELLNER
(hinkender Kriegsinvalide, noch in Hemdsärmeln, kommt gähnend, einen Blick auf den Bahnsteig werfend) Polizei? Was will denn die hier schon so früh? (Er macht sich am Ofen zu schaffen.)
BAHNBEAMTER
(kommt mit einem Blaustift, einem Lineal und einem Blatt und geht zum Fahrplan) Morgen!
KELLNER
Morgen! Fallen schon wieder Züge aus?
BAHNBEAMTER
Hm.
KELLNER
Bald fährt wohl überhaupt kein Zug mehr! Da können die aus dem Salon hier gleich einen ungestörten Puff machen. Bis um dreie gings wieder. Nu, wenn der Herr Stadtrat patriotische Reden hält, da darf man ihn doch nicht durch die Polizeistunde darin behindern. Was gibts denn sonst Neues?
BAHNBEAMTER
(Ausstriche im Fahrplan machend) Amerika hat uns den Krieg erklärt.
KELLNER
Weiß ich schon. Das hat uns noch gefehlt.
BAHNBEAMTER
Was kann uns schon Amerika! Jetzt, wos in Russland drunter und drüber geht, wo wir bald alles nach dem Westen schmeißen können!
KELLNER
Haben Sie nicht Miljukows Telegramm gelesen? Krieg bis zum endgültigen Siege. Wer weiß, was uns noch alles blüht!
BAHNBEAMTER
Da können sie kommen, wie sie wollen – wir halten durch! Und Sie sollen mal sehen, so wie es jetzt in Russland gebumst hat, so bumst es auch bald in Frankreich und England.
KELLNER
Und Sie meinen, bei uns kanns nicht mal bumsen?
BAHNBEAMTER
Bei Ihnen bumsts auch manchmal. Und wenn die Russen zehnmal schreien, dass sie keinen Frieden machen wollen – wo keine innere Ordnung mehr herrscht, da kann man keinen Krieg mehr führen. Haben Sie das nicht gestern im Zentralanzeiger gelesen?
KELLNER
Ach, die Zeitungen!
BAHNBEAMTER
Und dann diktieren wir den Russen den Frieden. Und dann werden wir da drüben erst mal ein bisschen preußische Ordnung einführen.
KELLNER
Preußische Ordnung. Ha! Da läuft doch der dicke Zander schon wieder draußen rum. Was macht denn die Polizei heute so früh hier? Suchen die wieder Deserteure im Zug?
BAHNBEAMTER
Kann sein. (Er geht.) Ha, Amerika! Ein bisschen spät aufgestanden sind die Herrn Yankees!
MAMSELL
(kommt gähnend) Morgen! Wieder verschlafen. Machen Sie schnell, Herr Hartwig, holen Sie den Schrankschlüssel aus der Küche! Nanu, wo kommt denn der Herr Hauptmann schon so früh her?
KELLNER
Hab mich auch schon gewundert. Vielleicht ein Protokoll wegen heut Nacht.
MAMSELL
Machen Sie einen Punkt, Herr Hartwig! Wo doch der Stadtrat selber dabei war. Aber den Schlüssel, den Schlüssel!
KELLNER
Na ja, und aus vaterländischen Motiven! (Er geht.)
POLIZEIHAUPTMANN
(tritt vom Bahnsteig her ein) Morgen, Madam!
Kalt! Was Warmes da? Oder was warm macht? Noch keine Geschäftszeit, was? Geben Sie mal einen doppelten Rostocker!
MAMSELL
Holt schon den Schlüssel, Herr Hauptmann.
POLIZEIHAUPTMANN
Na, Zug muss doch gleich kommen.
BAHNBEAMTER
Hat eine kleine Verspätung, Herr Hauptmann.
POLIZEIHAUPTMANN
So? Fragen Sie doch mal beim Vorstand, wann er kommt!
BAHNBEAMTER
Werde fragen. (Er geht.)
MAMSELL
Warum sind Sie denn schon so früh hier?
POLIZEIHAUPTMANN
Staatsgeheimnis. Sehn ja wieder mal schön abgegriffen aus, Madam! Ging wohl wieder hoch her heut Nacht?
MAMSELL
Bin ich der Wirt? Nein, im Ernst, was wollen denn Ihre Grenadiere heute schon so früh hier?
POLIZEIHAUPTMANN
Interessante Sache. Transport Russen kommt mit dem Zug.
MAMSELL
Russen! Russen! Sind schon viele durchgekommen.
POLIZEIHAUPTMANN
Aber nicht solche. Die schwersten Bombenschmeißer, die ganzen Zarenmörder, die damals nach der Schweiz ausgerissen waren. Die schicken wir jetzt nach Hause. Die werden drüben losgelassen.
KELLNER
(kommt zurück) Hier ist der Schlüssel. Morgen!
MAMSELL
Und die lässt man durch ein ordentliches Land fahren? Ist das denn nicht gefährlich?
POLIZEIHAUPTMANN
Na, wir passen schon auf. Wird schon seine Gründe haben.
MAMSELL
(schenkt ein) Sind die im Gefangenenwagen?
POLIZEIHAUPTMANN
Nö, die haben bloß einen Waggon für sich. (Trinkt)
MAMSELL
Dürfen die auf den Bahnsteig?
POLIZEIHAUPTMANN
Ja. Aber wir passen auf. Geben Sie noch einen!
MAMSELL
Dann stellen Sie bloß zwei Mann hier ans Büfett, dass hier nichts wegkommt. (Sie schenkt ein.)
POLIZEIHAUPTMANN
(trinkt) Nanu! Na, und Amerika haben wir nun auch auf dem Halse. Die denken, wir sind schon soweit wie Russland. Nee, Herrschaften. Kleiner Irrtum. In vier Wochen sind wir in Petersburg. Und dann ganze Abteilung kehrt nach Paris! (Er lacht.) Amerika, hä!
BAHNBEAMTER
(zurückkommend) Bloß vier Minuten Verspätung, Herr Hauptmann!
POLIZEIHAUPTMANN
(sieht nach der Uhr) Sind ja noch sieben Minuten Zeit. Also ich komme gleich wieder. (Er geht.)
KELLNER
Was erzählt der da von Bombenschmeißern?
MAMSELL
Nichts weiter.
KELLNER
Der kann mit seinem Bauch auch noch eine ganze Weile durchhalten, nicht? (Ahmt ihn nach) Amerika, hä!
STADTRAT
(kommt mit dem Redakteur) Im Gegenteil, ich halte die Sache für einen glänzenden realpolitischen Schachzug.
REDAKTEUR
Aber ein Vabanquespiel ist es doch, wo wir doch die augenblickliche Kräfteverteilung in Russland gar nicht abschätzen können. Was heißt: Friedensapostel? Solange, bis sie selber an der Macht sind.
STADTRAT
Aber Genosse, Sie scheinen den tieferen Sinn meiner Ausführungen nicht begriffen zu haben. Morgen, Madam!
MAMSELL
Morgen die Herren! Wohl überhaupt nicht im Bett gewesen? Die ganze geistige Elite schon so früh hier? Sie wollen sich wohl auch mal die wilden Tiere angucken?
STADTRAT
(lacht) Wilden Tiere ist gut. Machen Sie schnell mal ein paar Grogs, wie wir sie gewohnt sind, sonst sollen Sie mal ein paar wilde Tiere sehen. (Alles lacht.) Übrigens, woher wissen denn Sie davon?
MAMSELL
Ich hab meine Quellen.
KELLNER
Ist denn was los?
STADTRAT
Fragen Sie nicht soviel, Ober, bringen Sie mal ein paar Vorkühler in Gestalt zweier Asbachs. Kann man nämlich früh ganz gut vertragen.
MAMSELL
Herr Hartwig, holen Sie mal heißes Wasser aus der Küche!
KELLNER
(geht).
REDAKTEUR
Hat der fünf Uhr sechs Verspätung?
MAMSELL
Vier Minuten, glaub ich.
STADTRAT
Sind noch sechs Minuten.
ZEITUNGSFRAU
(kommt weinend, legt die Zeitungen auf den Tisch) Morgen!
STADTRAT
Nanu, Mütterchen, was ist denn los?
ZEITUNGSFRAU
(wendet sich schon zum Gehen) Ach, schreckliche Nachricht von meinem Karl aus Belgien, aus dem Lazarett. Wird wohl nicht mehr werden.
STADTRAT
Na, verlieren Sie man nicht den Kopf! Wir müssen immer dran denken, wofür wir opfern, nicht wahr?
ZEITUNGSFRAU
(geht weinend ab).
STADTRAT
Persönlich tragisch, natürlich! Aber nun hören Sie mal! Ich muss Ihnen als Genosse und Politiker eine ziemliche Rede halten, damit Sie den tieferen Sinn der Sache kapieren. Also was hat sich in Russland ereignet? Der Zar ist weg, ja? Das Heft ist jetzt in der Hand der Provisorischen Regierung. Woraus besteht die? Aus Liberalen, Demokraten und Sozialdemokraten. Wir sind da übrigens sehr anständig vertreten.
REDAKTEUR
Inwiefern wir?
STADTRAT
Na, wir Sozialdemokraten – also sagen wir besser unsere feindlichen Brüder. Später werden wir ja wieder mal Kontakt mit ihnen haben, wenn für die Internationale mal wieder bessere Konjunktur ist. Nun haben wir uns doch immer gedacht: Wenn die Zarenkrone mal wackelt, dann wird es mit der Kriegslust drüben aus sein. Da haben wir uns verrechnet. Sie haben doch gelesen, Miljukow will den Krieg bis zum siegreichen Ende, Konstantinopel et cetera. Eine Einmütigkeit wie 1914. Wahrscheinlich wollen die das Volk jetzt wieder auf die Beine bringen unter irgend so einer Parole: Freies Russland von Kamtschatka bis an die Oder et cetera. Was weiß ich! Na, und jetzt, wo Amerika auch noch dabei ist, werden wir noch ein schönes Stückchen Arbeit haben. Die Dampfwalze rollt immer noch ganz schön, wenn wir nicht aufpassen.
REDAKTEUR
Aber Genosse, Sie vergessen dabei ganz, dass jede Revolution die militärische Widerstandskraft absorbiert, vollkommen absorbiert.
STADTRAT
Was heißt Revolution? Das war doch noch gar keine. Der Zar hat abgedankt, das ist alles. Aber der Apparat ist doch noch komplett. Ja, wenn der Apparat erst mal zersetzt ist!
KELLNER
(bringt die Grogs) Wohl bekomms!
STADTRAT
(schlürft) Au, den muss man mit der Kneifzange anfassen.
REDAKTEUR
Nun haben Sie mir aber noch immer nicht auseinandergepolkt, was das mit dem Transport zu tun hat.
STADTRAT
Sie sind ein Politiker! Also hören Sie zu: Die hier aus der Schweiz kommen, das sind auch Sozialdemokraten, aber die ganz linke Fraktion, verstehn Sie? Das sind die wildesten Pazifisten, die für sofortigen Kriegsschluss sind. Und warum, meinen Sie wohl, hätte unsere Regierung die Erlaubnis gegeben, durch Deutschland zu reisen? Bloß um ein paar Gefangenenaustauschgeschäfte? Nicht doch, Rauscher. Also bei den Kräfteverhältnissen drüben …
REDAKTEUR
Wie spät ist es übrigens? Noch vier Minuten. Wollen Sie mit in den Zug kommen? Oder soll ich allein so ein kurzes Interview machen?
STADTRAT
Machen Sie, machen Sie! Ich will mir die Geister bloß mal per Distanz angucken. Übrigens gehen Sie recht diplomatisch zuwege, sehen Sie, dass Sie mit dem Obertheoretiker selber sprechen können! Vielleicht erwischen Sie aus dem Gespräch einen Happen, was die eigentlich so für Pläne haben.
REDAKTEUR
Darum dreht es sich ja grade. Der Regierungsrat möchte auch was wissen, zum Weitergeben.
STADTRAT
Und vergessen Sie nicht, das Parteibuch vorzuzeigen. Sagen Sie Genosse zu ihnen!
REDAKTEUR
Die sind sicher jetzt in guter Stimmung. Und Menschen in guter Stimmung sind immer redselig. Ich werde sie schon richtig ausquetschen.
STADTRAT
Also lassen Sie sich weiter erklären! Wie gesagt, alle Parteien drüben wollen die Fortsetzung des Krieges. Da gibts für uns nun aber glücklicherweise die ganz Linken, die Pazifisten, die sollen schon ein Manifest vom Stapel gelassen haben: Schluss mit dem Krieg! Frieden! Freiheit! Und das sind eben die Obermacher von denen, die gleich hier durchfahren. Und die haben ja drüben auch einen Anhang, den man nicht unterschätzen darf. Meinen Sie nicht: Wenn die jetzt ankommen, gewissermaßen als Märtyrer des Absolutismus, und schreien Schluss mit dem Krieg, dass die eine ganz schöne Verwirrung anrichten?
KELLNER
Da hätten sie ganz recht, wenn sie mit dem Krieg Schluss machen wollen.
STADTRAT
Hartwig, reden Sie nicht immer von Dingen, von denen Sie doch nichts verstehn! (Zum Redakteur)