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Widerstand mit Worten –Erzählungen aus Krieg, Elend und Hoffnung In seinen eindringlichen Erzählungen zeichnet Erich Weinert ein literarisches Mosaik aus den dunkelsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts. Ob ein anarchistischer Soldat im Ersten Weltkrieg, ein jüdischer Kriegsblinder in der NS-Zeit oder desertierende Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg – Weinerts Figuren kämpfen mit Mut, Ironie und Menschlichkeit gegen Unrecht, Militarismus und Verrohung. Diese Geschichten, teils autobiografisch inspiriert, sind literarische Partisanen: unbequem, bewegend, erschütternd aktuell. Ein leidenschaftliches Plädoyer für Humanität – und gegen das Vergessen.
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Seitenzahl: 81
Veröffentlichungsjahr: 2025
Erich Weinert
Die Menschlichkeit stirbt zuletzt
Erzählungen
ISBN 978-3-68912-515-8 (E–Book)
Die Erzählungen wurden dem Sammelband „Prosa – Szenen – Kleinigkeiten“, erschienen 1955 im Verlag Volk und Welt Berlin, entnommen.
Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.
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Heute dachte ich so an die Tage des Kriegsausbruchs 1914. Ich suchte mir die schon ganz weggedunkelten Gesichter der Menschen wieder vorzustellen, mit denen mich die ersten Kriegstage zusammenwarfen. Und so wurden die matten Bildchen der fernen Vergangenheit wieder greifbar; ich konnte fast das ganze Mosaik des Erlebnisses wieder zusammentragen. Menschengesichter, schnell vergessene, die nur als dünner Hauch im Gehirn haftengeblieben waren, wurden wieder sichtbar.
Unter diesen Gesichtern wurde eins wieder besonders scharf und deutlich, vielleicht weil es nicht ganz an der Oberfläche der Erinnerung hängengeblieben war. Das war der „Anarchist“.
Ich diente seinerzeit in einem preußischen Infanterieregiment als Reserveoffizieraspirant. Unter den dreißig Mann, die ich befehligte, war der größere Teil mir gut bekannt; sie hatten mit mir gedient. Es waren junge, unbekümmerte Soldaten, die gern sangen und dalberten. Der kleinere Teil war mir unbekannt, Reservisten, die am Mobilmachungstage angelangt waren, Männer schon zwischen 25 und 35 Jahren, Arbeiter, Landleute. Die waren ernster. Einer von den Älteren, vielleicht sogar der Älteste, war eben der, den ich oben den Anarchisten nannte. Er hatte ein dürres Gesicht voll beweglicher Falten und wirkte älter, als er war. Er hatte dunkle Schlosserhände, war etwas engbrüstig und dünnhalsig. Man sah ihm an, dass er im Leben viel durchgemacht haben musste.
Er besaß eine Eigenschaft, die mir am ersten Tage schon auffiel: Er sagte immer, dem Sinn nach, das Gegenteil von dem, was die anderen sagten. Sagten sie: Jetzt werden wir die Franzosen dreschen!, dann sagte er: Besser wär, wir würden gedroschen! Sagten sie: Der Kaiser kennt keine Parteien mehr, dann sagte er: Ja, nur noch eine. Sagten sie: Liebknecht ist kein Patriot, dann sagte er: Sogar ein guter. Das ärgerte die Soldaten. Aber es kam nie zum offenen Streit. Denn der Anarchist hatte noch eine andere Eigenschaft. Er konnte leicht begütigen. In seinem Gesicht war immer ein latentes Lächeln, aus dem man nicht klug werden konnte, ob es angeborener Heiterkeit oder der Neigung zur Ironie entsprang.
Seinen Namen habe ich vergessen; nennen wir ihn Till. Till war nie mürrisch, versah seinen Dienst exakt, war sauber. Aber jedes Mal, wenn ich antreten und stillstehen ließ, was ja bei den Preußen immer mit feierlichem Ernst zelebriert wurde, konnte ich sein Gesicht nicht übersehen; denn auch dann hatte er das respektlose Lächeln im Gesicht. Wenn ich ihn dann ansah, so hatte ich die Empfindung: die leibhaftige Insubordination. Was dachte er wohl! Ich provozierte ihn bei solcher Gelegenheit einmal, nur um dahinterzukommen. Ich sagte, ganz dicht vor ihm: „Im Glied feixt man nicht!“ Zum ersten Mal sah ich ihn einen Augenblick todernst werden und einen bösen Funken in seinen Augen. Dann lachte er wieder.
Als wir der französischen Grenze zufuhren, machte er den ganzen Tag über die Bevölkerung, die begeistert auf den Bahnsteigen brauste, kaltschnäuzige Bemerkungen. Die Kameraden nannten ihn einen alten Meckerer und reagierten nicht weiter auf ihn. Nur einer, ein wohlgenährter Bauernlümmel, mit einem dummen Hammelgesicht, sagte zu mir heimlich: „Das ist ein Anarchist!“ und machte eine Geste, die sagen sollte: Den müssen Sie etwas im Auge behalten. Ich behielt ihn auch im Auge, aber nicht, weil er mir suspekt schien, sondern weil er mich interessierte.
In Aachen auf dem Bahnhof wollte er den „Vorwärts“ kaufen. Der war aber ausverkauft. Er kam in den Wagen und sagte, wie zu sich selber: „Hätte mir doch gern auf deutschem Boden noch ein kaisertreues Blatt gekauft!“
Einige Tage später – wir waren schon auf belgischem Boden – kampierten wir in einem Kloster und tranken Wein. Die Soldaten waren lustig. Nur Till lächelte heut kaum. Der Hammelkopf, wohl in der Absicht, etwas zu provozieren, haute ihn auf die Schulter: „Na, Kamerad, zu Weihnachten sind wir als Sieger zu Hause! “
„Dann gnade uns Gott!“, sagte Till und hob den Kopf nicht.
Der Bauer verstand den Sinn nicht und lachte dumm. Ich verstand ihn auch nicht.
Später, als alle schliefen, ging ich durch den Obstgarten. Da stand Till bei einem alten eingeschüchterten Bauern, die Hände auf dessen Schultern. „Der hat Angst“, sagte er zu mir, „vor den Hunnen. Es hat uns doch einer mal Hunnen genannt. Aber wir sind keine“, lächelte er. „Und Sie sind wohl auch keiner!“, setzte er hinzu.
Wir gingen zurück ins Kloster. Schlafen lohnte nicht mehr; in zwei Stunden war schon Abmarschbefehl.
Unterwegs fragte ich Till: „Was sollte das eigentlich heißen vorhin: Dann gnade uns Gott! Sie wissen, als der Lange Sie ansprach.“ Er zögerte ein wenig mit der Antwort. Dann: „Nun, wenn wir den Krieg gewinnen, dann können wir wieder anfangen, wo wir vor hundert Jahren waren. Dann haben wir nicht bloß einen, dann haben wir tausend Kaisers. Verstehn Sie?“
Ich verstand nicht.
Er sagte, seine Worte überlegend: „Können Sie sich vorstellen, dass man auch ohne Kaiser und ohne Fabrikbesitzer und ohne Rittergüter und ohne Aktionäre auskommen kann? Und ohne Krieg?“
„Das kann ich mir schon vorstellen. Und die Zeit wird ja auch mal kommen.“
„Von allein kommt sie nicht!“
Das verstand ich wieder nicht.
„Also sind Sie doch so was wie ein Anarchist?“ ,fragte ich ihn.
„Im Gegenteil“, sagte er. Das verstand ich nun schon gar nicht.
„Aber“, warf ich ein, und kam mir mit diesem Argument besonders intelligent vor, „sehen Sie mal, wenn wir den Krieg verlieren, dann werden unsere Feinde Deutschland einfach zur Kolonie machen, dann können wir als Sklaven für andere Herren schuften.“
„Dann erklären wir ihnen den Krieg.“
„Aber Sie sind doch gegen den Krieg.“
„Nicht gegen den. Ich bin bloß gegen Kriege, die uns nichts angehen.“
„Wen – uns?“
Er antwortete nicht. Dann, plötzlich, dienstlich: „Gestatten Sie abzutreten. Ich muss noch meinen Mantel packen.“ Er ging.
Ich machte mir viel Gedanken über den Mann. Ehrlich war er ohne Zweifel. Aber ein Wirrkopf. In allem widerspricht er sich. Alles unklar, was er sagt. Gegenteil von einem Anarchisten? Und dann eine geradezu nihilistische Auffassung von allen Dingen. Aber er hat Mut, solche Dinge überhaupt zu sagen, noch dazu mir gegenüber, der ich doch sein Vorgesetzter bin und von dem er gar nicht weiß, wie er politisch denkt. Als ich so über ihn nachdachte, wurde ich plötzlich von einer tiefen Besorgnis ergriffen: Wenn er mit anderen so spricht wie mit mir, besonders mit dem Hammelgesicht, dann wird er bald mit dem Kriegsgericht zu tun kriegen.
Am nächsten Tag, auf dem Marsch, ging ich neben ihm. Ich sagte, weil ich nicht wusste, wie ich anders schicklich an die Sache herankommen konnte: „Da haben sie gestern bei der Fußartillerie einen verhaftet, der hat die Leute gegen den Krieg aufgehetzt, der hat gesagt, dass wir den Krieg doch nur für die Reichen führten. Das kommt von unüberlegten Diskussionen.“
Er sah mich an und lachte. Ich war nun so klug wie vorher. Seine Undurchdringlichkeit begann mich zu ärgern. Ich wurde ziemlich grob: „Und wenn ich völlig von der Richtigkeit Ihrer Weltanschauung überzeugt wäre, die ich zwar noch nicht kapiere, so würde ich Ihnen dennoch empfehlen, darauf zu achten, mit wem Sie diskutieren.“
Er lächelte weiter. Aber sein Lächeln war jetzt wärmer. „Das tu ich auch“, sagte er schlicht.
Von diesem Augenblick an empfand ich einen Respekt vor dem Mann und fühlte mich irgendwie durch sein Vertrauen geehrt; und er wusste doch gar nicht, ob ich‘s verdiene.
Einige Tage später habe ich Till zum ersten Male mit einem bösen und gehässigen Gesicht gesehen. Das war, als der Hauptmann uns hatte antreten lassen und eine Hurrarede hielt. In Tills Blick war ein grenzenloser Hass.
Beim ersten Gefecht war der Hauptmann der 3. Kompanie gefallen. Von hinten erschossen, sagten die Soldaten. Der Hauptmann war der gehassteste Menschenschinder schon in der Garnison gewesen.
Till kam zu mir: „Haben Sie gehört, Hauptmann Konick ist gefallen. Von einer feindlichen Kugel.“ Das letzte sagte er mit singender Betonung.
„Na, von was denn sonst?“, fragte ich.
„Das wollte ich ja auch nur sagen“, lachte Till.
Und dann, nach einer kurzen Pause: „Es werden noch viele Hauptleute ins Gras beißen müssen.“
In diesen Tagen kamen wir auseinander. Till kam mit der Ruhr ins Lazarett. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. So geht es ja im Kriege, die Menschen werden wie die Blätter vom Wind der Zeit zusammen- und wieder auseinandergeweht.
Heute, wo das schmächtige Gesicht des kleinen Till mir wieder vor die Augen tritt, heute weiß ich, wer Till war. Das war schon 1914 einer von den ganz wenigen, die den sogenannten gesunden Menschenverstand wie Ärzte untersuchen, die sich auch vom blühenden Äußeren eines Menschen nicht irreführen lassen, die keine noch so ehrwürdigen und patentierten Wahrheiten, mit denen wir geboren werden, kritiklos gelten lassen.
Aber wenn die heutigen Kaiser Deutschlands ihre Arbeiter wieder in den Krieg jagen, dann werden die patentierten Wahrheiten noch weit weniger Gewicht haben, weil sie noch hohler geworden sind, und es wird tausendmal so viele Tills geben, die wissen, dass man herrlich ohne Kaiser, Fabrik- und Rittergutsbesitzer und ohne Kriege auskommen kann und dass das alles nicht von allein kommt und dass noch viele Hauptleute von feindlichen Kugeln sterben müssen.
Gegen Ende Oktober wurde ich aus meiner Garnison das letzte Mal mit einem Transport, den ich zu führen hatte, an die flandrische Front abgeschoben.
Die Stimmung bei uns war heiterer als sonst, wenn es ins Feld ging. Das kam daher, dass wir uns alle der Hoffnung hingaben, der Krieg sei schon zu Ende, wenn wir nach Flandern kämen. Ganz offen besprachen sich die Soldaten, dass sie, wenn es anders kommen sollte, sich schon vorher dünnemachen würden.
In der Gegend von Hannover, der Zug hielt auf freier Strecke, sah ich zwei Soldaten seelenruhig ihren Affen aufladen und den Zug verlassen. Sie winkten mir zu. Ich fragte: „Wo wollt ihr denn hin?“ – „Wir haun ab!“, sagten sie und marschierten ohne Gewehr querfeldein. Ein Sergeant kam gelaufen und eiferte: „Herr Feldwebel, da desertieren zweie! Müssen wir gleich der nächsten Bahnhofskommandantur melden!“ Ich lachte und sagte: „Lassen Sie man das Ihre Sorge nicht sein!“
Nun fingen die Soldaten in den Abteilungen zu diskutieren an, wie und wo sie am besten verduften könnten. Fast jedes Mal, wenn der Zug auf freier Strecke hielt, sah ich einen oder zweie in die Gegend wandern. Wir lachten nur.