Chefarzt Dr. Holl 1921 - Katrin Kastell - E-Book

Chefarzt Dr. Holl 1921 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Muttermilch macht Kinder satt, stark und glücklich, heißt es. Sie gilt als die beste Nahrung für Babys. Doch Laura, eine junge, talentierte Schriftstellerin, bezweifelt das. Vorsichtig hält sie ihr neu geborenes Töchterchen an die Brust. Seit Tagen ist ihre Kleine müde, blass und schläfrig - sie schreit noch nicht einmal! Die seltsam dunklen Augen ihrer Tochter schauen sie mit diesem uralten, allwissenden Blick an, der alles sagt - und doch undeutbar bleibt. "Ach, was mache ich nur falsch, Maja? Bin ich dir eine schlechte Mama?", fragt die Wöchnerin unter Tränen. Vor Augen hat sie ihre eigene Mutter, die sie im zarten Alter von sechs Jahren, flatterhaft wie sie war, für immer verließ. Von Ehemann Dr. Michel Platow, Assistenzarzt in der Berling-Klinik, erhält Laura indes nicht die erhoffte Unterstützung, denn er stürzt sich, anstatt zu helfen, Hals über Kopf in die Arbeit.
Von Selbstzweifeln gequält und von ihren Schwiegereltern verleugnet, flieht die unglückliche Mutter schließlich aus der Stadt - und lässt ihr viel zu stilles Kind in der Wiege zurück ...


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Inhalt

Cover

Todesfalle Muttermilch

Vorschau

Impressum

Todesfalle Muttermilch

Seit der Geburt ist Lauras Baby ruhig – zu ruhig?

Von Katrin Kastell

Muttermilch macht Kinder satt, stark und glücklich, heißt es. Sie gilt als die beste Nahrung für Babys. Doch Laura, eine junge, talentierte Schriftstellerin, bezweifelt das. Vorsichtig hält sie ihr neu geborenes Töchterchen an die Brust. Seit Tagen ist ihre Kleine müde, blass und schläfrig – sie schreit noch nicht einmal! Die seltsam dunklen Augen ihrer Tochter schauen sie mit diesem uralten, allwissenden Blick an, der alles sagt – und doch undeutbar bleibt. »Ach, was mache ich nur falsch, Maja? Bin ich dir eine schlechte Mama?«, fragt die Wöchnerin unter Tränen.

Von Ehemann Dr. Michel Platow, Assistenzarzt in der Berling-Klinik, erhält Laura indes nicht die erhoffte Unterstützung, denn er stürzt sich, anstatt zu helfen, Hals über Kopf in die Arbeit.

Von Selbstzweifeln gequält und von ihren Schwiegereltern verleugnet, flieht die unglückliche Mutter schließlich aus der Stadt – und lässt ihr viel zu stilles Kind in der Wiege zurück ...

»Warum so nachdenklich, mein Schatz?«, erkundigte sich Julia Holl bei ihrem Mann, als sie an diesem Morgen ins Esszimmer kam.

Dr. Stefan Holl, der Leiter der renommierten Berling-Klinik, saß ganz allein am Frühstückstisch. Offenbar war er schon vor einer Weile aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geflüchtet. Darauf ließ jedenfalls die zerfledderte Zeitung schließen, die den halben Tisch bedeckte.

Als Stefan die Stimme seiner Frau hörte, hob er den Kopf und lächelte.

»Alles gut!« Er begrüßte sie mit einem Kuss. »Ich musste bei diesem Artikel nur gerade an eine Patientin denken. Laura Herbst hat die Journalistenschule mit Bravour abgeschlossen und findet trotzdem keine Festanstellung.«

Julia beugte sich von hinten über ihn und überflog die Schlagzeile im Wirtschaftsteil.

»So ein Jammer, dass es junge, begabte Menschen auf unserem Arbeitsmarkt so schwer haben oder wenn, dann nur befristete Verträge bekommen. Wie soll man sich da ein Leben aufbauen?«

Sie drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange, ehe sie sich setzte und sich eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte.

»Dabei ist es schon ein Kunststück, überhaupt auf der Journalistenschule aufgenommen zu werden«, berichtete Stefan das, was Laura Herbst ihm während der Behandlung ihrer Gebärmutterhalsdysplasie erzählt hatte. »Wer dort eine Chance haben will, muss sich einem mehrstufigen Bewerbungsverfahren stellen, um einen der rund vierzig Ausbildungsplätze zu ergattern.«

»Sie wird ihre Chance bestimmt noch bekommen.« Julia wäre keine so gute Ehefrau und Mutter gewesen, wenn sie nicht diesen Optimismus ausgestrahlt hätte. Ihrem unerschütterlichen Glauben an das Glück schienen keine Grenzen gesetzt zu sein, eine äußerst vorteilhafte Eigenschaft für das Leben in einer Großfamilie. »Wie hält sie sich denn über Wasser?«

»Momentan schreibt sie auf Honorarbasis Texte für das Online-Magazine. Als sie gestern zur Abschlussuntersuchung bei mir war, hat sie erzählt, dass ihr das aber zu unsicher ist.« Die Zeitung raschelte, als Stefan sie endgültig zusammenfaltete. Er legte sie beiseite und fischte eine Scheibe Brot aus dem Korb. »Deshalb will sie sich nebenher einen Job als Kellnerin suchen. Damit sie wenigstens ein sicheres Einkommen hat.«

Im oberen Stockwerk rumorte es. Die Zwillinge Marc und Dani machten sich für die Uni fertig.

Julia lauschte kurz, ehe sie wissen wollte: »Aber sie bewirbt sich doch bestimmt weiter?«

»Ich denke schon. Frau Herbst ist mit Leib und Seele Journalistin. Das spürt man, wenn sie von ihrem Beruf erzählt.«

»Genau, wie du Arzt aus Berufung bist.« Julias Stimme war warm vor Liebe und Bewunderung für ihren Mann, der sich auch nach so vielen Jahren in seiner Klinik mit unverminderter Leidenschaft für seine Patienten einsetzte. »Ohne dich und deinen unermüdlichen Einsatz wäre sie heute krank und arbeitslos. Nicht auszudenken, wie es ihr damit ergangen wäre.«

»Die Behandlung war kein Hexenwerk. Das hätte jeder andere Kollege auch hingekriegt.«

»Andere Kollegen hätten gleich zum Skalpell gegriffen. Durch deine Besonnenheit ist ihr eine Operation erspart geblieben.«

Doch es war wie immer. Für Stefan Holl war sein Dienst am Menschen eine Selbstverständlichkeit.

»Es gehörte auch ein gutes Quäntchen Glück dazu, dass sich die Gewebeveränderung am Gebärmutterhals von selbst zurückgebildet hat«, erwiderte er bescheiden.

Doch davon wollte Julia nichts wissen.

»Der Rückgang der Dysplasie ist aber wieder einmal der beste Beweis dafür, dass viele Kollegen oft zu ungeduldig sind.«

»Das ist leider dem Zeitgeist geschuldet«, seufzte Stefan. »Wie heißt es so schön? Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger.«

Julia beugte sich zu ihrem Mann hinüber und küsste ihm einen Klecks Butter aus dem Mundwinkel.

»Und trotzdem lässt du dich nicht aus der Ruhe bringen.« Ihre Augen streichelten sein Gesicht. »Du bist wie ein Fels in der Brandung.«

Stefan erwiderte ihr Lächeln. Seine Augen funkelten verdächtig.

»Ehrlich gesagt wäre ich manchmal lieber die Palme am Strand.«

Julias Lachen wehte durchs Haus. Es lockte nicht nur die Zwillinge an den Frühstückstisch, sondern weckte auch die beiden Jüngsten, die zu dieser frühen Stunde noch selig geschlafen hatten.

Angezogen von der ausgelassenen Stimmung gesellten sich die elfjährige Juju und der fünfzehnjährige Chris wenig später zu ihren Eltern und Geschwistern und genossen das gesellige Frühstück, ehe es höchste Zeit wurde, zu Schule, Uni und Arbeit aufzubrechen.

***

Das Maxi war ein kleines Café in der Nähe des Englischen Gartens in München. Laura stand neben der großen Schaufensterscheibe und tat so, als würde sie die Speisekarte studieren.

Heimlich beobachtete sie die Gäste an den wild zusammengewürfelten Tischen und Stühlen. Genauso bunt war das Publikum selbst. Studenten saßen neben Professoren, Eltern beaufsichtigen ihre Kinder in der Spielecke. Dazwischen tummelten sich ein paar Leute, die ganz offensichtlich nicht hierhergehörten.

Die Besitzerin hatte ein Herz für Menschen, mit denen es das Leben nicht ganz so gut meinte. Für solche Leute bot sie reduzierte Speisen und Getränke an und verschenkte auch schon mal Backwaren vom Vortag.

Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Café mit angeschlossener Bäckerei aber bei den Ärzten der nahe gelegenen Berling-Klinik.

Laura gab sich einen Ruck und ging hinein. Es war wie der Eintritt in eine andere Welt. Das Glöckchen über der Tür klingelte hektisch. Ein unwiderstehlicher Duft nach Vanille und Zucker begrüßte sie. Darüber lag ein Hauch von Kaffee. Die Luft war erfüllt von Stimmen, ab und zu riss ein Lachen aus und tanzte hinauf an die Decke.

Obwohl sie nichts kaufen wollte, reihte sich Laura in die Schlange ein. Während sie wartete, ließ sie ihren Blick schweifen.

Trotz des frühen Vormittags waren fast alle Tische besetzt. Der Kellner und seine Kollegin hatten alle Hände voll zu tun, um die Wünsche der Gäste zufriedenzustellen. Ein gutes Zeichen? Laura konnte es kaum erwarten, bis sie an die Reihe kam.

»Kann ich den Chef sprechen?«, fragte sie.

»Der steht vor Ihnen«, erklärte die Frau mit den streichholzkurzen Haaren hinter dem Tresen grinsend.

Schlagartig schoss Laura das Blut in die Wangen.

»Oh, tut mir leid.« Um doch noch Boden gutzumachen, hob Laura das Kinn in einer Art, wie sie es in alten Filmen mit Julia Roberts gesehen hatte. Vielleicht wirkte dieser Trick auch bei einer Frau. »Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht eine Stelle als Kellnerin zu vergeben hätten?«

»Du meinst, du willst einen Job?«, fragte die Inhaberin zurück. Ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass sie keine Kellnerin brauchte, schon gar keine ohne Erfahrung. Wahrscheinlich brauchte sie im Moment noch nicht einmal eine Putzhilfe. »Tut mir leid«, lautete dann auch die Antwort.

***

Eigentlich hätte Laura das Café danach wieder verlassen können. Aber warum eigentlich? Hier war es gemütlich, und dieser Ort fühlte sich ein bisschen an wie das Zuhause, das sie seit dem Tod ihres Vaters so sehr vermisste.

Kurz entschlossen suchte sich Laura einen Platz an einem der Tische und bestellte heißen Kakao. Sie nahm die abgegriffene Kladde aus dem Rucksack und begann, an der Geschichte weiterzuschreiben, an der sie gerade arbeitete. Es ging um eine junge Frau, die an Gebärmutterhalskrebs erkrankt war, sich aber unbedingt ein Kind wünschte.

Schon bevor Laura lesen und schreiben konnte, hatte sie Geschichten erfunden. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass sie schon als Kindergartenkind ihre Freunde um sich geschart und von waghalsigen Abenteuern in schwebenden Baumhäusern und Freundschaften mit unsichtbaren Waldkobolden berichtet hatte.

Als Laura sieben Jahre alt gewesen war, hatte ihr Vater ihr von einem Geschichten-Wettbewerb erzählt. Sofort hatte sie sich damals an den Tisch gesetzt und ein fantastisches Märchen geschrieben. Ihre Mutter Marlies hatte es heimlich fortgeschickt. Als der Brief angekommen war, in dem der Verlag Laura zu ihrem Talent gratuliert und ihr einen Sonderpreis verliehen hatte, war Marlies schon mitsamt dem Märchen ihrer Tochter verschwunden.

Bis heute fragte sich Laura, ob Marlies ihre Geschichte eingepackt hatte, weil sie ihre Tochter selbst nicht hatte mitnehmen können. Eine Antwort auf diese Frage hatte sie nie bekommen. Das war einer der Gründe, warum Laura den Gedanken an ihre Mutter weit wegschob. Für sie war Marlies gestorben, und auf gewisse Weise stimmte das ja auch.

Schwungvoll setzte Laura einen Punkt hinter den letzten Satz, klappte die Kladde zu und nippte am inzwischen lauwarmen Kakao. Sie ließ die Augen durch das Café schweifen, als sie ihn am Nebentisch entdeckte ...

Michel spürte den Blick auf seinem Gesicht. Er hob die Augen von seinem Handy und sah Laura direkt an. Während ihrer Behandlung in der Berling-Klinik waren sich die beiden ein paarmal auf einem der Flure über den Weg gelaufen.

Schon bei der ersten Begegnung war Laura aufgefallen, dass er die blauesten Augen hatte, die ihr je untergekommen waren. Vielleicht lag es ja nur an dem starken Kontrast zu seinem dunklen Haar, aber auch jetzt hatte sie wieder das Gefühl, direkt durch ihn hindurch in den Himmel zu blicken.

Ein Lächeln legte die Haut um seine Augen in feine Fältchen.

»Wir kennen uns, stimmt's?«

»Ich war ein paarmal in der Berling-Klinik. Du bist dort Arzt, soweit ich das mitbekommen habe.«

»Woher weißt du das?«

Laura lachte. »Dein Kittel sah nicht nach Kochschürze aus.«

Sie lachten zusammen. Michel dachte kurz nach. Dann stand er auf und kam an ihren Tisch.

»Darf ich?« Er deutete auf den freien Stuhl und lächelte so schüchtern, dass Laura schwach wurde.

»Natürlich.«

Er setzte sich und stellte sich vor. Es stellte sich heraus, dass Michel sein Studium erst vor Kurzem beendet und in der Berling-Klinik seine erste Stelle als Assistenzarzt ergattert hatte.

»Du bist auch Studentin, oder?«

Er deutete auf die Kladde in ihren Händen.

»Journalistin ohne Anstellung«, antwortete Laura lakonisch. »Und nachdem das mit dem Job als Kellnerin nicht geklappt hat, träume ich – wie alle anderen übrigens auch – davon, einen Bestseller zu schreiben«, scherzte sie, doch etwas Wehmut klang in ihrer Stimme mit.

Michels Augen leuchteten auf.

»Ich lese für mein Leben gern.« Er deutete auf die Kladde. »Darf ich dein erster Kritiker sein?«

Am liebsten hätte Laura abgelehnt. Aber mit dieser Einstellung würde sie nie ein Profi werden. Schließlich schrieb sie für ihr Publikum und nicht für sich selbst.

»Klar.« Sie schob ihm das Buch über den Tisch.

Während er las, ließ sie ihn nicht aus den Augen. Gebannt verfolgte sie jede noch so kleine Regung in seinem Gesicht. Sie sah sein Schmunzeln und bemerkte mit Genugtuung die Bestürzung, die kurz darauf in seine Augen trat.

»Das ist gut, sehr gut sogar. Und schrecklich traurig«, seufzte er ein paar Minuten später und klappte die Kladde zu. »Eines Tages wirst du reich und berühmt sein.«

»Schneller geht es wahrscheinlich, wenn ich einen Arzt heirate«, platzte Laura heraus und schämte sich im nächsten Moment dafür.

Zum Glück hatte Michel Humor. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte.

Später bestellte er noch mehr Kaffee und Kakao und begann zu erzählen. Laura erfuhr von seinen Eltern, die beide Ärzte waren und entsprechende Hoffnungen in ihren einzigen Sohn setzten. Diese zu erfüllen, fiel Michel leicht. Die Leidenschaft für den Arztberuf war ihm in die Wiege gelegt worden, und an Talent mangelte es ihm auch nicht, wie sein Chef Dr. Stefan Holl bereits ein paarmal lobend erwähnt hatte. Das verriet er Laura natürlich nicht. Auf keinen Fall sollte sie denken, er sei ein Angeber.

»Aber jetzt habe ich genug von mir erzählt. Wie sieht es mit dir aus?«, verlangte er zu wissen.

Länger als nötig rührte Laura in ihrem Kakao. Je mehr Michel von sich erzählt hatte, umso kleiner und schäbiger fühlte sich ihr Leben an. Nicht, dass sie sich für ihren Vater geschämt hätte, aber Fritz war eben kein Arzt, sondern nur Handwerker gewesen. An ihre Mutter wollte sie lieber gar nicht erst denken. Und obwohl sie die Journalistenschule mit Auszeichnung beendet hatte, saß sie ohne feste Arbeit am helllichten Vormittag im Café.

»Ach, da gibt es nicht viel zu erzählen«, winkte sie ab. »Mein Vater hatte eine kleine Schreinerei bei uns im Haus. Das war ganz praktisch, weil er sich dann um mich kümmern konnte. Leider ist er letztes Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.«

Michel zog eine Augenbraue hoch.

»Und deine Mutter?«

Diesmal antwortete Laura wie aus der Pistole geschossen.

»Die ist schon tot, seit ich sieben bin.«

Ihr Plan ging auf.

Michel entschuldigte sich und fragte nicht weiter nach ihren Eltern.

Erleichtert darüber, diese Klippe umschifft zu haben, berichtete Laura vom Rest ihres unspektakulären Lebens.

»Nach dem Gymnasium bin ich direkt auf die Journalistenschule gegangen. Im Nachhinein wäre es aber besser gewesen, Schreinermeisterin zu werden.« Sie schnitt eine Grimasse. »Jetzt habe ich eine ganze Werkstatt, mit der ich nichts anfangen kann.«

»Ich ziehe meinen Hut, dass du dir selbst treu geblieben bist«, erwiderte Michel völlig ernst.

Laura lächelte. »Bis jetzt hat sich diese Treue leider nicht wirklich ausgezahlt.«

In ihre Worte hinein ertönte ein Klingeln. Michel zog sein Smartphone aus der Tasche.

»Tut mir leid, da muss ich rangehen«, erklärte er nach einem Blick auf das Display.

Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Ich muss los.« Das Bedauern stand Michel ins Gesicht geschrieben. »Ein Kollege hat sich einen Magen-Darm-Infekt eingefangen und gefragt, ob ich seinen Dienst übernehmen kann.«

»Kein Problem.« Laura lächelte ihr Julia-Roberts-Lächeln.

Dieses Verständnis für seine Arbeit raubte Michel den Verstand. Anders war nicht zu erklären, warum er sich über Laura beugte und ihre Wangen so leicht mit den Lippen berührte, dass sie schon beim Gedanken daran fürchtete, ohnmächtig zu werden.

Als Laura bemerkte, dass Michel sich bewegte, klingelte schon das Glöckchen über der Tür. Vor dem Schaufenster drehte er sich noch einmal um und winkte. Dann war er auch schon verschwunden. Laura dagegen saß noch lange danach einfach nur am Tisch und fragte sich, was gerade passiert war.

***

Im Gegensatz zu Laura war Michel Platow als Wunder geboren worden. Neun lange Jahre hatten seine Eltern versucht, ein Kind zu bekommen, als sie endlich mit einem Sohn beschenkt worden waren.

Als wollten sie einen Ausgleich für all die Kinder schaffen, die sie nicht gehabt hatten, verwöhnten sie Michel nach Strich und Faden. Ihr Sohn enttäuschte sie nicht. Seit er fünf Jahre alt war, wollte er Arzt werden wie seine Eltern.

Michel schloss sein Abitur mit Bestnote ab und marschierte mit einer Leichtigkeit durch das Medizinstudium, die an Lässigkeit nicht zu überbieten war.

Und auch sonst wanderte er auf der Sonnenseite des Lebens. Er sah gut aus und die schönsten Frauen der gehobenen Gesellschaft, in der er mit seinen Eltern verkehrte, machten ihm Avancen. Doch war es diese junge Journalistin aus dem Café, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.