Chefarzt Dr. Holl 1926 - Katrin Kastell - E-Book

Chefarzt Dr. Holl 1926 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Ihrer Mutter ist es im Streitgespräch einfach so herausgerutscht, diese eine Sache, die Sinas Leben vollkommen aus den Angeln gehoben hat. "Sina ist ein Rettungskind! Sie wurde eigens dafür gezeugt, Marions Krankheiten zu heilen."
Diese Worte hallen seitdem durch Sinas Kopf, in einem harten, unbarmherzigen, ewig wiederkehrenden Echo. Die lebenslustige Biologiestudentin soll mittels Präimplantationsdiagnostik gezeugt worden sein ... Das erklärt, weshalb sie Marions perfekte Spenderin ist - und schon von Kindesbeinen an als lebendes Ersatzteillager für die kranke Schwester herhalten musste. Ach, was ist ein Leben überhaupt wert, das nicht in einer wunderbaren Liebesnacht, sondern im Reagenzglas entstanden ist?
Als Mutter Gabriele nach dieser Eröffnung gleich die nächste Organspende fordert, reißt Sina der Geduldsfaden. Sie verweigert den Eingriff - und wird prompt von der Mutter auf die Straße gesetzt ...


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Inhalt

Cover

Geboren, um zu geben

Vorschau

Impressum

Geboren, um zu geben

Sina soll mit einer Organspende der Schwester das Leben retten

Von Katrin Kastell

Ihrer Mutter ist es im Streit einfach so herausgerutscht, diese eine Sache, die Sinas Leben vollkommen aus den Angeln gehoben hat. »Sina ist ein Rettungskind! Sie wurde eigens dafür gezeugt, Marions Krankheiten zu heilen.« Diese Worte hallen seitdem durch Sinas Kopf, in einem harten, unbarmherzigen, ewig wiederkehrenden Echo. Die lebenslustige Biologiestudentin soll mittels Präimplantationsdiagnostik gezeugt worden sein ... Das erklärt, weshalb sie Marions perfekte Spenderin ist – und von Kindesbeinen an als lebendes Ersatzteillager für die kranke Schwester herhalten musste. Ach, was ist ein Leben überhaupt wert, das nicht in einer wunderbaren Liebesnacht, sondern im Reagenzglas entstanden ist?

Als Mutter Gabriele nach dieser Eröffnung gleich die nächste Organspende fordert, reißt Sina der Geduldsfaden. Sie verweigert den Eingriff – und wird prompt von der Mutter auf die Straße gesetzt ...

Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sich Sina so frei und unabhängig, dass sie ihr Leben und damit den Aufenthalt auf dieser schönen Insel in vollen Zügen genießen konnte. Die familiären Probleme verblassten, belasteten sie von Tag zu Tag weniger. Hier in der unberührten Natur, umgeben von schneebedeckten Bergspitzen, lebte sie in einer anderen Welt.

Ihre Mutter hatte natürlich heftig gegen diese Seminarreise protestiert und immer wieder die dort lauernden Gefahren beschworen.

Doch Sina hatte das mit Sorge ummantelte Verbot ignoriert und war trotzdem gefahren. Sie wollte sich nicht mehr gefallen lassen, wie ein kleines Mädchen behandelt zu werden, das man nicht aus den Augen lassen durfte.

Mama schien noch nicht bemerkt zu haben, dass aus ihrer jüngsten Tochter eine Frau von dreiundzwanzig Jahren geworden war, die ein Recht darauf hatte, auf eigenen Beinen zu stehen.

»Schau, da drüben, da trinken wir was.«

Daniela Holl, Mitstudentin von Sina Herzog, deutete auf ein verlassen wirkendes Straßencafé mit seinen unbesetzten Tischen.

Den ganzen Tag war die Studentengruppe in den Bergen herumgeklettert, um schließlich eine Herde der Mufflons zu erspähen, die von Professor Hanau als die kleinere Variante des europäischen Artgenossen bezeichnet worden waren.

Als die kleine Gruppe später am Tag mit dem Fernglas noch den nur hier heimischen korsischen Kleiber entdeckt hatten, war Professor Hanau ziemlich aus dem Häuschen geraten.

Diese Vögel bauten ihre Nester oft in alten Schwarzkiefern und verließen die Insel auch im Winter nicht. In dieser Jahreszeit ernährten sie sich von den Samen der Kieferzapfen.

Seinen Vortrag über den seltenen Vogel hatte Albert Hanau mit dem glückseligen Lächeln eines Forschers gehalten, der nach unermüdlicher Spurensuche doch noch fündig geworden war.

»Gute Idee.« Sina winkte den Bummelanten hinter ihnen, mitzukommen und die Straße zu überqueren.

Die achtköpfige Gruppe Biologiestudenten der Universität München erforschte unter der Leitung von Professor Albert Hanau auf Korsika Pflanzen und Tiere, die nur hier auf der Insel vorkamen.

Sie nahmen auf den Stühlen vor dem Lokal Platz. Sofort kam ein lebhaftes Gespräch über die heutigen Erlebnisse in Gang.

»Ich fahre erst wieder von hier weg, wenn wir den korsischen Gebirgsmolch und wenigstens ein Exemplar vom Feuersalamander gesehen haben«, verkündete einer der Studenten scherzhaft. »Die hat der Professor uns versprochen. Wo ist er überhaupt?«

»Er ist schon in die Unterkunft zurückgefahren und bereitet noch das Videomaterial für heute Abend vor.«

»Ach, ist das schön hier.«

Sina seufzte zufrieden und hielt ihr Gesicht in die Nachmittagssonne, die schon ziemlich tief am strahlend blauen Himmel stand, der von dünnen Wattewolken sanft durchzogen wurde.

Wie sie aus den Medien wusste, herrschte in Bayern schon seit einigen Tagen Nebelgrau im Wechsel mit heftigem Niederschlag.

»Hier lässt es sich gut leben«, pflichtete Daniela Holl ihrer Studienkollegin bei.

»Ach, kommt Leute. Hier Urlaub zu machen, ist ja ganz nett, aber für immer möchte ich hier nicht leben«, mischte sich einer der jungen Männer ein. »Auf der Insel hier ist nichts los. Wenn du es drauf anlegen würdest, könntest du tagelang keiner Menschenseele begegnen! Außerhalb der wenigen Städte gibt es nur eine Handvoll verschlafener Dörfer. Ich brauche die Großstadt. Außerdem, wo wollt ihr hier Jobs für Biologen finden?«

»Aber gerade für unsere Fachrichtung gibt es hier viele Forschungsmöglichkeiten«, widersprach Daniela Holl. Als Tochter eines wohlhabenden Arztehepaares war sie schon überdurchschnittlich viel in Europa herumgekommen. »Die Insel ist geradezu ein Paradies für Entdeckungen.«

»Mag ja sein«, meinte der Kommilitone. »Aber so einen Job muss man erst mal ergattern. Und dazu muss man Korsisch verstehen und sprechen, damit man mit den Leuten reden kann. Und das soll sehr schwer zu erlernen sein.«

Eine Kellnerin nahm die Bestellung der jungen Leute auf. Einige wollten ein Glas Wein, andere einen Tee. Als auch Sina einen korsischen Roséwein bestellte, tauchte sofort die missbilligende Miene ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge auf.

Unwillkürlich musste sie grinsen. Klar, Mama würde aus allen Wolken fallen, wenn sie sähe, dass ihre Tochter Alkohol trank. Sina tat es dennoch mit dem allergrößten Vergnügen. Mamas Reaktion war ihr jetzt vollkommen egal.

»He, was ist mit dir?« Sanft stieß Daniela die Freundin an. »Du bist ganz weit weg. An was denkst du?«

»Ach, an nichts Besonderes«, wich Sina aus.

Dieses wundervolle Gefühl von Gelöstheit wollte sie sich so lange wie möglich bewahren.

Sie standen morgens früh auf, machten anstrengende Bergtouren und durchstreiften Wälder, Schluchten und Torfmoore. Die junge Studentin ließ sich vom Zauber des Moments tragen. Mit allen Sinnen saugte sie die aufregenden Eindrücke in sich auf. Es war wundervoll. Diese neue Welt ließ sie erstmals den Druck vergessen, der auf ihrem Leben lastete, seit sie denken konnte.

Mit einem kleinen Bus fuhren sie in die Gebiete, die eine erfolgreiche Spurensuche versprachen. Wenn sie mit dem Fahrzeug nicht weiterkamen, gingen sie zu Fuß weiter, hielten nach dem korsischen Kleiber Ausschau und erkundeten die Hangmoore im Asco-Tal.

Sie wohnten in einer schlichten Unterkunft auf eintausendvierhundert Metern Höhe. Die jungen Frauen und Männer teilten sich jeweils zu zweit ein Zimmer. Der Professor hatte eines für sich. Damit war das kleine Hotel in der Zwischenzeit von Sommer- und Skisaison ausgebucht.

Jeden Morgen beim Erwachen blickten sie auf die gewaltigen Berggipfel, die an Dramatik kaum zu überbieten waren. Besonders die Bergseen, durch deren klares Wasser man bis auf den Grund schauen konnte, waren ein ständiges Fotomotiv für die jungen Leute.

Professor Hanau nannte die Insel ein Gebirge im Meer, damit war sie bestens beschrieben. Und das herbstliche Hoch, das sie seit ihrer Ankunft begleitete, machte jede Entdeckungsreise noch schöner.

Die Hotelwirtin kochte auch für die Studentengruppe aus Deutschland. An diesem Abend gab es einen Bohneneintopf mit korsischem Schinken.

Sina ließ es sich schmecken. Zu Hause gab es solche deftigen Gerichte nicht. Ihre Mutter achtete darauf, dass beide Töchter nur die Nahrung zu sich nahmen, die sie für bekömmlich hielt. Bohnen gehörten nicht dazu.

Sie saßen noch beim Essen, als Sinas Telefon läutete. Sie warf nur einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Mutters Gesicht mit den vielen Sorgenfalten lächelte sie an. Jeden Tag rief sie an, doch Sina weigerte sich, heute mit ihr zu sprechen. Sie wusste schon jetzt, was Mama wollte. Sie war nicht bereit, sich Vorwürfe oder Ermahnungen anzuhören. Diese vier Wochen gehörten ihr ganz allein.

So hatte sie es auch mit ihrer Schwester Marion vereinbart. Die Ältere gönnte der Jüngeren von Herzen diese Auszeit.

»Ich wünsche dir viel Spaß, Kleine. Und bitte fotografiere viel, damit ich auch was von deiner Reise habe.«

Schon jetzt schickte Sina ihrer Schwester regelmäßig Fotos, die bei Marion den Wunsch auslösten, diese prachtvolle Landschaft auch eines Tages in natura zu erleben. Aber das würde wohl so bald nicht möglich sein ...

***

»Gibt es Neuigkeiten von unserer Tochter?«, erkundigte sich Stefan Holl bei seiner Frau.

Die Eltern saßen mit dem fünfzehnjährigen Chris und der elfjährigen Juju am Esstisch, in dessen Mitte ein Nudel-Käse-Auflauf sein köstliches Aroma verbreitete.

Danielas Zwillingsbruder Marc kam heute nicht zum Essen. Der Medizinstudent machte zurzeit ein Pflegepraktikum an der Universitätsklinik. Wie sein Vater Stefan hatte Marc sich der Medizin verschrieben, doch bis zum Staatsexamen lagen noch einige harte Semester vor ihm.

»Nur gute Neuigkeiten«, erwiderte Julia. »Unsere Dani ist begeistert von Korsika und möchte, dass wir alle zusammen dorthin fahren.«

»Oh ja, das ist eine super Idee, da möchte ich auch mal hin«, ließ sich Juju vernehmen.

Chris hielt seiner Mutter schon ungeduldig den Teller hin. Er befand sich noch im Wachstum und hatte immer einen Bärenhunger.

»Drängle dich nicht immer vor!«, wies Juju den großen Bruder zurecht. »Das ist unhöflich.«

»Danke für deinen Hinweis, aber ich habe heute schon zwei Stunden Handballtraining gehabt.«

»Und ich musste lernen. Geistesarbeit braucht auch viel Energie«, erwiderte Juju unbeeindruckt.

Hin und wieder kabbelten sich die beiden, aber meistens waren sie ein Herz und eine Seele.

»Der Basti aus meiner Klasse macht mit seinen Eltern Segeltörns im Mittelmeer, auch vor Korsika haben sie schon geankert«, meinte Chris mit einem giftigen Blick auf seine kleine Schwester. »Nächstes Jahr fahren sie wieder dorthin. Er hat mich eingeladen mitzukommen.«

»Kann ich auch mit?«

Obwohl sie ihren Bruder gerade noch als unhöflich bezeichnet hatte, bekam er jetzt ein süßes Lächeln geschenkt.

»Ich denke, das ist nichts für kleine Mädchen«, konterte Chris mit vollem Mund.

»So klein bin ich nicht mehr. Ich könnte mich nützlich machen auf dem Schiff. So wie eine Stewardess.«

»Und wenn du seekrank wirst?«

Juju schwieg. Daran hatte sie nicht gedacht. Das war tatsächlich schon einmal passiert, auf der Fahrt von der Insel Föhr nach Helgoland. Damals war sie noch nicht zur Schule gegangen, ihr war ziemlich elend gewesen.

»Inzwischen bin ich viel älter und nicht mehr seekrank«, behauptete das jüngste Holl-Kind mit vorgerecktem Kinn.

»Das weißt du erst dann, wenn du auf dem Schiff bist und es richtig schaukelt. So schön auf und ab, hin und her, den ganzen Tag und die ganze Nacht, es hört und hört nicht auf ...«

»Ach, Kinder, zerbrecht euch doch nicht den Kopf darüber, was irgendwann in der Zukunft stattfinden wird oder auch nicht«, riet Julia ihren Sprösslingen. »Jetzt bei den vielen Herbststürmen ist ohnehin nicht die Zeit für Segeltörns. Konzentriert euch auf die Schule. Und nächstes Jahr in den Sommerferien sehen wir weiter.«

Juju stimmte mit einem Nicken zu. Chris schaufelte sich während Mutters Vorschlag noch eine große Portion Nudelauflauf auf den Teller.

Zum Glück wusste Cäcilie, langjährige Köchin und Wirtschafterin im Haushalt der Holls, um den Hunger des Heranwachsenden und bereitete stets die passenden Mengen zu.

Nachdem die Kinder sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, sprachen Stefan und Julia noch über einen Fall, der den Chefarzt der Berling-Klinik nicht zur Ruhe kommen ließ.

Eine Patientin litt an der Fanconi-Anämie, einer seltenen Erbkrankheit, die bei Kindern nicht nur den Prozess der Blutbildung störte, sondern auch die Entwicklung der inneren Organe behinderte.

Julia Holl, selbst approbierte Ärztin für Kinderheilkunde, hatte über diese Krankheit verschiedentlich geforscht und während ihrer Berufsjahre sogar einen kleinen Patienten mit dieser Krankheit behandelt, über dessen Fall sie jetzt berichtete.

Stefan hörte aufmerksam zu. Die wertvollen Ratschläge seiner Frau hatten ihm schon oft neue Wege und Perspektiven aufgezeigt, die ihm bei der Lösung komplizierter Fälle ungemein weitergeholfen hatten.

Bevor das Arztehepaar zu Bett gingen, schickte Julia ihrer Tochter Daniela noch einen Gutenachtkuss über WhatsApp und wünschte ihr für den nächsten Tag viele spannende Eindrücke.

***

»Sina muss zurückkommen«, beschloss Gabriele, während sie aufgeregt im Zimmer hin- und herlief.

»Mama, komm schon. Mach jetzt kein Drama daraus«, bat Marion so sanft wie möglich.

Ihr selbst galten Mutters Sorgen, dennoch war sie nicht bereit, ihrer kleinen Schwester den Aufenthalt auf Korsika zu verderben. Sina, die ihr Leben lang für sie da gewesen war, hatte ein Recht, einmal etwas nur für sich zu tun.

Bis jetzt hatte Sina kein eigenes Leben gehabt, war nur für die ältere Schwester da gewesen und hatte damit den Zusammenhalt in der Familie gesichert. Erst im Laufe ihres Biologiestudiums hatte sie ein paar Freiräume für sich geschaffen.

Gabriele hätte Sina aber trotzdem lieber zu Hause behalten.

Warum wollte das Kind unbedingt studieren und einen Beruf ergreifen? Nötig war das nicht. In der Familie Herzog wurde schon über Generationen hinweg ein beachtliches Vermögen vererbt, zuletzt an Johann Herzog, den erHVater der Töchter, der vor einigen Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen war.

Seit dem tragischen Tod ihres Mannes klammerte sich Gabriele noch mehr an ihre beiden Kinder. Um jeden Preis der Welt wollte sie die Familie beisammenhalten, ganz wie es auch Johanns Wunsch gewesen wäre. Die Eltern hatten sich geschworen, alles für ihre beiden Töchter zu tun, auch wenn ihr Hauptaugenmerk seit jeher auf ihre Erstgeborene Marion gerichtet war, die sie ohne Sina wahrscheinlich längst verloren hätten.

Dass sich ihre jüngere Tochter nun für vier Wochen einfach Gabrieles Aufsicht entzogen hatte, machte sie unangenehm nervös. Ja, sie hatte regelrecht Panik. Dieses Gefühl mischte sich mit der fortwährenden Trauer um ihren Mann. Bis heute hatte sie seinen Tod nicht verschmerzt. Er war ihr immer eine große Stütze gewesen und hätte gewusst, wie sie Sina zur Vernunft bringen konnten.

»Aber du weißt doch, wie schnell bei dir eine Behandlung eingeleitet werden muss. Sina ist erst zwei Wochen weg. Was, wenn du schon in den nächsten Tagen eine wichtige Therapie beginnen solltest, für die deine Schwester gebraucht wird? Wie du weißt, mache ich mir immer große Sorgen um dich. Du isst viel zu wenig. Und meiner Meinung nach hast du trotzdem schon wieder zugenommen. Das ist kein gutes Zeichen. «

Gabriele gab einen hörbaren Seufzer von sich. Im Laufe der vielen Jahre, die sie ihre Tochter nun schon pflegte und betreute, merkte sie sofort, wenn sich bei Marion wieder gesundheitliche Probleme einstellten.

»Aber Sina muss doch nicht für alle meine Krankheiten herhalten. Wir haben schon viel zu viel von ihr verlangt. Ich fühle mich so schlecht dabei. Ach, Mama, ich bin dieses Leben manchmal so leid.«

Gabriele unterbrach ihre Wanderung und schaute ihre Tochter schockiert an.

»Was willst du damit sagen?«

Marion schlug sofort die Augen nieder. »Nichts«, flüsterte sie.

»Bitte, Schatz, sag mir, was dich bewegt.«

Die junge Frau vermied es weiterhin, ihrer Mutter in die Augen zu schauen.

»Wäre es wirklich so schlimm, wenn ich ein paar Jahre vor der Zeit sterbe?«

»Was redest du denn da?« Gabriele griff sich an die Brust. »Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einjagen? Du bist das Liebste, das ich habe.«

»Sina ist doch auch noch da.«

»Ich weiß, aber um sie muss ich mir keine Sorgen machen. Sina ist gesund. Weil du krank bist, liegst du mir natürlich ganz besonders am Herzen. Du warst mein erstes Baby. Ich war so glücklich, als ich dich endlich das erste Mal in den Armen halten konnte. Schon damals habe ich mir geschworen, alles für dich zu tun. Ich hätte sogar mein Leben für dich gegeben, wenn es möglich gewesen wäre.«

»Ach, Mama«, schluchzte Marion auf.

Sie saß auf einer breiten Couch und lehnte den Kopf nach hinten. Gabriele setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm.

»Weine nicht, mein Kind. Irgendwann wirst du gesund sein und das Leben so genießen können wie andere Menschen in deinem Alter. Verliere nicht den Mut.«

»Daran glaube ich schon lange nicht mehr«, erwiderte Marion mit belegter Stimme. »Ich bin abhängig von Sina. Und Sina ist dazu verdammt, mir immer wieder aus der Patsche zu helfen. Das ist für uns alle drei nicht gut. Und es kann auch nicht auf ewig so weitergehen.«

»Woher kommt plötzlich deine negative Einstellung?«

»Ich sehe mein Schicksal immer klarer. Die Dinge sind nun mal so, wie sie sind. Daran ändern wir nichts. Ich hab dich sehr lieb und danke dir für deine Fürsorge. Auch was Sina für mich schon getan hat, ist im Grunde unbezahlbar. So was macht man nur aus tiefster Zuneigung. Aber das kann nicht so weitergehen. Ich will ...«

Sie stöhnte auf und krümmte sich.

»Marion!«, rief Gabriele erschrocken. »Sag mir, was du hast. Wo tut es weh?«

Automatisch griff sie nach Marions Stirn, auf der sich Schweiß gebildet hatte.

»Ich rufe den Notarzt an«, entschied Gabriele. »Du musst sofort in die Klinik. Schon längst hättest du wieder durchgecheckt werden müssen.«

»Bitte nicht, Mama.« Marion zitterte am ganzen Körper. »Das ist nur eine vorübergehende Schwäche.«

Doch Gabriele ließ nicht mit sich handeln. Sie wählte den Notruf, dann eilte sie in Marions Schlafzimmer, wo immer ein gepackter Koffer für den Fall bereitstand, dass ihre Tochter wieder eingeliefert werden musste.

***