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Eine Chronik in Stein, das ist die uralte Stadt Gjirokastra im Süden Albaniens. Als der Zweite Weltkrieg Schrecken und Elend verbreitet und wechselnde Besatzungsmächte kommen und gehen, erlebt ein Kind, aus dessen Sicht alles erzählt wird, wie seine Welt aus den Fugen gerät. Im staunenden Begreifen und angstvollen Erkennen sind historische Fakten und mythische Dimension untrennbar ineinander verwoben. Auch wenn Ismail Kadare sich vermutlich gegen eine allzu leichtfertige autobiographische Vereinnahmung sträuben würde, ist ›Chronik in Stein‹ doch nicht nur das kunstvolle Porträt seiner Heimatstadt Gjirokastra, sondern auch der Roman einer Kindheit, in dem sich Weltgeschichte, alte Mythen und kindliches Begreifen auf wundersame Weise vermischen.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Roman
In der uralten Stadt Gjirokastra im Süden Albaniens, sind die Wege so steil, dass sich die Perspektiven beim Gang durch die Gassen auf traumhafte Weise verschieben und die Gesetze der Architektur außer Kraft gesetzt scheinen. An diesem merkwürdigen Ort erlebt ein Kind, wie seine vertraute Welt sich auflöst. Mit dem Schrecken und Elend des Zweiten Weltkriegs, der das Land überzieht, wird auch die Stadt zum Schauplatz verschiedener Besatzungsmächte: Zuerst wechseln Italiener und Griechen sich ab, dann kommen die Engländer und schließlich die Deutschen. Im ängstlichen Begreifen und staunenden Erkennen des Kindes mischen sich historische Wirklichkeit und das überlieferte Wissen eines uralten Volkes. Eine poetische Welt entsteht, in der heitere Szenen mit beklemmenden, grausame mit bizarren, zauberhafte mit tragischen wechseln. Ismail Kadare erweist sich in diesem Roman, der vielleicht sein schönster ist, als ein großer Meister der Verknüpfung.
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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
Es war dies [...]
ERSTES KAPITEL
»Hier hast du [...]
ZWEITES KAPITEL
Zwischen den Wolken [...]
AUS DER CHRONIK
DRITTES KAPITEL
Das Wasser der [...]
AUS DER CHRONIK
VIERTES KAPITEL
Zu Hause und [...]
FÜNFTES KAPITEL
Beim Mittagessen war [...]
Als ich den [...]
AUS DER CHRONIK
SECHSTES KAPITEL
Der Überfall war [...]
AUS DER CHRONIK
SIEBTES KAPITEL
AUS DER CHRONIK
ACHTES KAPITEL
Welch eine Sehnsucht [...]
AUS DER CHRONIK
AUS DER CHRONIK
NEUNTES KAPITEL
AUS DEM BERICHT DER ALTEN SOSA
ZEHNTES KAPITEL
Wieder zogen die [...]
ELFTES KAPITEL
Sie flogen gemächlich, [...]
ZWÖLFTES KAPITEL
AUS DER CHRONIK
DREIZEHNTES KAPITEL
Ein Partisan. Aus [...]
Der Winter schleuderte [...]
VIERZEHNTES KAPITEL
»Junge Burschen und [...]
AUS DER CHRONIK
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Winter. Weißer Terror. [...]
AUS DER CHRONIK
SECHZEHNTES KAPITEL
AUS DEM BERICHT DER ALTEN SOSA
SIEBZEHNTES KAPITEL
Wer seid ihr, [...]
AUS BERICHTEN UNBEKANNTER MENSCHEN
ACHTZEHNTES KAPITEL
ENTWURF EINER GEDENKTAFEL
[Ausspracheregeln]
Es war dies eine seltsame Stadt, die anmutete, als sei sie in einer Winternacht wie ein vorzeitliches Wesen plötzlich im Tal aufgetaucht und habe dann, unter großen Mühen emporklimmend, sich an den Abhang des Berges geschmiegt. Alles an dieser Stadt war alt und steinern, die Straßen und Brunnen ebenso wie die Dächer ihrer mächtigen jahrhundertealten Häuser, die mit grauen, riesigen Schuppen gleichenden Steinplatten gedeckt waren. Schwer zu glauben, daß sich unter diesen festen Panzern das weiche Fleisch des Lebens regte und erneuerte.
In jedem Reisenden, der sie zum ersten Mal erblickte, weckte die Stadt sofort das Verlangen, Vergleiche anzustellen. Doch kaum war ihr der Reisende in die Falle gegangen, machte die Stadt den Vergleich zunichte, denn sie war eine Stadt, die nichts anderem glich. Sie duldete nicht lange einen Vergleich, so wie sie nicht lange Regen, Hagel, Regenbogen und die bunten, fremden Fahnen duldete, die über ihren Dächern auftauchten und wieder verschwanden, so flüchtig und irreal, wie sie selbst dauerhaft und konkret war.
Es war dies eine steile Stadt, vielleicht die steilste auf der ganzen Welt; alle Gesetze der Architektur und des Städtebaus waren von ihr über den Haufen geworfen worden. Weil sie derart steil war, konnte es vorkommen, daß sich die Fundamente des einen Hauses auf der Höhe des Daches eines anderen befanden, und gewiß war dies der einzige Ort auf der Welt, wo jemand, der am Straßenrand ausglitt, nicht in den Graben stürzte, sondern womöglich auf das Dach eines hohen Hauses. Besser als alle anderen wußten dies die Trunkenbolde.
Es war dies wirklich eine sehr seltsame Stadt. Man konnte auf einer Straße gehen und, wenn man wollte, den Arm ein wenig ausstrecken, um seine Mütze über die Spitze eines Minaretts zu stülpen. Vieles war schwer zu glauben, und vieles war wie im Traum.
Da es für die Stadt schwierig war, in ihren steinernen Gliedern und unter ihrer steinernen Schale menschliches Leben zu bewahren, fügte sie diesem oft ungewollt Schmerzen zu, Kratzer und Wunden, und das war doch nur natürlich, denn es war dies eine Stadt aus Stein, und jede ihrer Berührungen war hart und kalt.
Es war nicht leicht, in dieser Stadt Kind zu sein.
Draußen hatte die Winternacht alles in Wasser, Nebel und Wind gehüllt. Den Kopf unter der Bettdecke versteckt, vernahm ich nur gedämpft das monotone Geräusch der Regentropfen auf dem großen Dach unseres Hauses.
Ich stellte mir vor, wie unzählige Tropfen, eiligst die steilen Flanken des Daches hinabrollend, der Erde entgegenstrebten, um zu verdampfen und erneut in den weißen Himmel dort hinaufzusteigen. Nichtsahnend näherten sie sich der unbekannten Falle, die an der Traufe auf sie wartete: eine Rinne aus Blech. Just in dem Moment, da sie sich anschickten, vom Dach auf die Erde hinabzuhüpfen, fanden sich die Regentropfen unversehens in dem engen Rohr wieder, gemeinsam mit Tausenden und Abertausenden von Gefährten, die angstvoll fragten: »Wohin sind wir da nur geraten, wo bringt man uns hin?« Und plötzlich, ehe sie die wahnsinnige Fahrt im Rohr noch recht verkraftet hatten, stürzten sie in ein tiefes, finsteres unterirdisches Gefängnis, die große Zisterne unseres Hauses.
So fand das freie und unbeschwerte Leben der Regentropfen ein Ende. Dort unten in der dunklen und verlassenen Zisterne würden sie sich traurig des weiten Himmels erinnern, den sie doch niemals wiedersehen sollten, der merkwürdigen Städte unten und der von Blitzen erhellten Horizonte. Nur ich würde ihnen im Spiel mit einem Spiegel ab und zu einmal ein handtellerkleines Stückchen Himmel hinabschicken, das dann ein Weilchen über die Brust des Wassers tanzte, eine flüchtige Erinnerung an den großen Himmel.
Viele eintönige Tage und Monate würden sie dort unten verbringen, bis dann nach langer Zeit einmal meine Mutter sie, die von der Finsternis Ängstlichen und Beklommenen, in einem Eimer heraufzog, um mit ihnen unsere Kleider, die Treppen und die Fußböden unseres Hauses zu waschen.
Doch davon wußten sie jetzt noch nichts. Jetzt hüpften sie fröhlich und ausgelassen über die steinernen Platten des Daches, und mir, der ich ihnen lauschte, taten sie sehr leid.
Wenn der Regen drei oder vier Tage anhielt, löste mein Vater ein Stück der Dachrinne, damit die Zisterne nicht zu voll wurde. Die Zisterne war riesengroß. Sie erstreckte sich über nahezu die gesamte Grundfläche unseres Hauses, und wenn sie barst, mochte sie zuerst das ganze Gewölbe überfluten und dann die Grundmauern des Hauses völlig zerstören, denn unsere Stadt war steil, und in dieser Stadt konnte alles geschehen.
Während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, für wen es wohl schlimmer sein mußte, eingekerkert zu sein, für den Menschen oder das Wasser, hörte ich im angrenzenden Zimmer die Schritte meiner Großmutter und dann ihre Stimme: »Aufstehen, steht auf! Wir haben vergessen, das Rohr loszumachen.«
Alarmiert sprangen Vater und Mutter sogleich auf. Vater rannte in seinen langen weißen Unterhosen im Finstern durch den Korridor, öffnete das kleine Erkerfenster und löste mit einem langen Stock das Rohrstück. Man hörte, wie das Wasser in den Hof hinunterzurauschen begann.
Mutter hatte mittlerweile die Petroleumlampe angezündet und stieg nun mit Vater und Großmutter die Treppe hinunter. Ich ging zum Fenster und lugte hinaus. Der Wind schlug den Regen wütend gegen die Scheiben und stöhnte in den alten Schießscharten des Hauses.
Ich hielt es nicht mehr aus und lief die Stufen hinunter, um nachzusehen, was unten vor sich ging. In ihrer Sorge bemerkten mich die drei nicht. Sie hatten den Deckel von der Zisternenöffnung genommen und versuchten festzustellen, wie es drinnen aussah. Mutter hielt die Lampe, und Vater blickte angestrengt hinein.
Ich verspürte ein Schaudern und griff nach Großmutters Rock. Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf. Das äußere und das innere Tor klapperten im Wind.
»Was für eine Katastrophe!« sagte Großmutter.
Vater versuchte, weit hinuntergebeugt, in die Zisterne hineinzusehen.
»Bring mir eine Zeitung«, sagte er zu Mutter.
Sie brachte eine. Vater knüllte sie zusammen, zündete sie an und ließ sie in die Zisterne hinunterfallen. Mutter stieß einen kleinen Schrei aus.
»Das Wasser steht bis zur Öffnung«, stellte Vater fest.
Großmutter begann ein Gebet zu murmeln.
»Schnell«, rief Vater, »die Laterne!«
Mutter, leichenblaß, zündete mit zitternden Händen die Laterne an, Vater warf den schwarzen Regenumhang über, ergriff die Laterne und ging, um das Tor zu öffnen. Mutter zog sich ein altes Kleid über den Kopf und folgte ihm.
»Wo gehen sie hin, Großmutter?« fragte ich ängstlich.
»Sie rufen die Nachbarn«, sagte Großmutter.
»Warum?«
»Sie sollen uns helfen, das Wasser in der Zisterne zu senken.«
»Wie senkt man das Wasser, Großmutter?«
»Mit Eimern, mein Junge.«
Ich ging zur Öffnung und blickte hinunter. Finsternis. Finsternis und Angst.
»Huuuh!« rief ich zaghaft. Doch die Zisterne antwortete nicht. Es war das erste Mal, daß ich von ihr keine Antwort erhielt. Ich mochte die Zisterne sehr und schwatzte, über die Öffnung gebeugt, oft mit ihr über die verschiedensten Dinge. Immer war sie bereit gewesen, mir mit ihrer tiefen und schleppenden Stimme zu antworten …
»Huuuh!« rief ich noch einmal, doch wieder Schweigen. Das bedeutete, daß sie sehr zornig war.
Ich malte mir aus, wie die unzähligen Regentropfen dort unten in der Zisterne ihren Zorn zu einem verschmolzen. Die alten Tropfen, die schon lange schmachteten, schlossen sich in übler Absicht mit den jungen, den wütenden Tropfen des Sturmes dieser Nacht zusammen. Wie dumm, daß Vater vergessen hatte, das Rohr zu lösen. Er hätte nicht zulassen dürfen, daß die Wasser des Sturmes in unsere brave Zisterne eindrangen und sie zum Aufruhr anstachelten.
An der Tür entstand Lärm, und Xhexho, Mane Voco und Nazo mit ihrer Schwiegertochter kamen nacheinander herein, triefend naß. Dann kam Vater, gefolgt von Mutter, die vor Kälte zitterte. Wieder schlug die Tür, und hereingestürmt kamen Javer und Maksut, Nazos Sohn, jeder mit einem großen Eimer in der Hand.
Mir wurde warm ums Herz, als ich all die Leute sah. Es tanzten die Seile, die Ketten, die Eimer. Fast gelang es den klingenden Eimern, die Angst aus meinem Herzen zu vertreiben. Ich stand an der Brüstung und sah den Leuten zu, die geräuschvoll zu arbeiten begannen: Mane Voco, lang und hager, die Haare schon gelichtet; Nazos Sohn und ihre schöne Schwiegertochter mit schlaftrunkenen Augen; Xhexho, die nach Atem rang. Mane Voco, Xhexho und Nazo zogen Eimer um Eimer herauf, während Vater, Mutter, Nazos Schwiegertochter, ihr Mann und Javer das Wasser an der Tür zum Hof ausschütteten. Draußen goß es immer noch in Strömen, und ab und zu sagte Xhexho mit ihrer näselnden Stimme:
»Ach je, ach je, was für eine Katastrophe!«
Bei jedem Eimer, der ausgeleert wurde, sagte ich leise zum Wasser: »So hau doch ab, geh zum Teufel, wenn es dir in unserer Zisterne nicht gefällt!« Jeder Eimer war voll von eingekerkerten Wassertropfen, und ich überlegte mir, wie gut es doch wäre, könnte man zuerst die bösesten Tropfen, die schlimmsten Störenfriede herausholen, um so die Gefahr zu vermindern.
Xhexho stellte den Eimer weg, um auszuruhen, und zündete sich eine Zigarette an.
»Hast du schon gehört?« wandte sie sich an Großmutter, »Çeço Kailis Tochter ist ein Bart gewachsen.«
»Du meine Güte!« antwortete Großmutter.
»Bei meiner Seele«, sagte Xhexho, »ein schwarzer Bart, wie bei einem Mann. Deshalb läßt sie ihr Vater auch nicht mehr aus dem Haus.«
Ich spitzte die Ohren. Ich kannte das Mädchen und hatte es tatsächlich schon lange nicht mehr auf der Straße gesehen.
»O Selfixhe«, seufzte Xhexho, »wir Unglücklichen! Was für schlimme Zeichen schickt uns doch der Herr! Dieses schreckliche Unheil heute nacht!«
Xhexho richtete den Blick auf Nazos schöne Schwiegertochter, die erst vor drei Wochen geheiratet hatte, und flüsterte Großmutter etwas zu. Großmutter biß sich auf die Lippen. Ich schlich mich näher heran, um etwas verstehen zu können, doch Xhexho warf die Zigarette weg und ging zur Brunnenöffnung.
»Wie spät mag es wohl sein?« fragte Mane Voco.
»Mach Mitternacht«, antwortete Vater.
»Ich mache euch einen Kaffee«, sagte Großmutter und nahm mich mit.
Wir stiegen gerade die Treppe hinauf, als man die Tür erneut gehen hörte.
»Es sind noch mehr Leute gekommen«, sagte Großmutter.
Ich streckte den Kopf über das Geländer, um herauszufinden, wer eingetroffen war, konnte aber nichts erkennen. Im Treppenhaus herrschte Halbdunkel, und über die Mauern geisterten wie im Alptraum furchterregende Schemen.
Wir stiegen in den zweiten Stock hinauf. Großmutter zündete im Kaminzimmer ein Feuer an. Ich legte mich schlafen.
Draußen heulte der Sturm. Die Schornsteine auf dem Dach stöhnten wie lebendige Seelen, und ich mußte daran denken, daß die Grundmauern unseres Hauses nicht in der festen und sicheren Erde ruhten, sondern daß sich unter ihnen das böse und treulose Wasser der Zisterne befand.
Schlimme Zeiten, unruhige Zeiten, Schwestern, unbeständige Zeiten sind das. Ein Wirrwarr von Worten und Reden, die ich von den Erwachsenen gehört hatte und deren Sinn fließend war wie das Wasser, ging mir durch den Kopf, während mich beim behaglichen Brodeln des Kaffees der Schlaf übermannte.
Als ich erwachte, war im Haus kein Laut zu hören. Vater und Mutter schliefen. Ich erhob mich leise und blickte auf die Uhr. Es war neun. Ich ging ins Nebenzimmer, doch auch Großmutter schlief. Es war das erste Mal, daß zu dieser Stunde alle noch schliefen.
Der Sturm hatte aufgehört. Ich ging zum Fenster des großen Zimmers und sah hinaus. Der Himmel war hoch und kalt, bedeckt mit aschgrauen, reglosen Wolken. Möglicherweise war das Wasser, das man in der Nacht mit Eimern aus der Zisterne herausgeholt hatte, inzwischen verdampft und dort zu den Wolken hinaufgestiegen, von wo es nun finster und mürrisch auf die nassen Dächer und die dunkle Erde herunterschaute.
Als ich einen Blick auf die Unterstadt hinunterwarf, fiel mir gleich auf, daß der Fluß über die Ufer getreten war. Natürlich, er mußte ja über die Ufer treten. Das konnte nach einer solchen Nacht gar nicht anders sein. Die ganze Nacht über hatte er wohl wieder versucht, die Brücke abzustreifen wie ein durchgehendes Pferd den drückenden Sattel. Wie schrecklich sich der Fluß die Nacht über geplagt hatte, davon zeugte vor allem sein blutiger Rücken. Da er nicht vermocht hatte, die Brücke loszuwerden, hatte sich der Fluß wie üblich auf die Landstraße gestürzt und sie verschlungen. Die Straße war nicht mehr zu sehen. Unmäßig angeschwollen durch diesen dicken Happen, mühte sich der Fluß, die Landstraße in seinem Magen zu verdauen. Die Straße war jedoch zäh. An solch plötzliche Überfälle gewöhnt, lag sie nun gewiß ruhig unter den rötlich aufgewühlten Fluten und wartete ab, bis sie sich wieder zurückzogen.
Was für ein dummer Fluß, dachte ich. Jeden Winter versuchte er, die Stadt in die Füße zu beißen. Dabei war er gar nicht so gefährlich, wie er erscheinen wollte. Gefährlicher waren die Bäche, die von den Bergen herabstürzten. Auch sie wollten, wie der Fluß, die Stadt beißen. Doch während sich der Fluß zu Füßen der Stadt eitel aufplusterte und wichtig machte, fielen ihr die Bäche unvermittelt und heimtückisch in den Rücken. Normalerweise führten diese Bäche kein Wasser. An der Flanke des Berges glichen sie verendeten, vertrockneten Schlangen. Doch in Sturmnächten erwachten sie unversehens zu Leben, schwollen an, rauschten, tosten, heulten. Und dann rasten sie mit ihren kurzen Hundenamen (Cullo, Fico, Cfaka) blaß vor Wut bergab, Brocken von Erde und Steinen herabwirbelnd, die sie in den oberen Stadtvierteln im Vorbeistürmen mit sich gerissen hatten.
Ich betrachtete die Landschaft, die sich über Nacht so verändert hatte, und dachte, daß wohl genauso, wie der Fluß die Brücke haßte, die Landstraße den Fluß hassen mochte, die Bäche die Mauern, der Wind die Berge, die ihm seine Wucht raubten, und alle zusammen die Stadt, die naß, grau und voll Verachtung inmitten dieses zerstörerischen Hasses lag. Ich mochte sie, denn in diesem Kampf stand sie allein.
Den Blick fest auf die Dächer geheftet, versuchte ich zu begreifen, welcher Zusammenhang zwischen dem nächtlichen Sturm und Çeço Kailis Tochter, der unheilvoll Bärtigen, die mir plötzlich wieder eingefallen war, wohl bestehen mochte. Dann wanderten meine Gedanken zu der Zisterne. Ich stieg die Treppe hinunter. Der Flur war ganz naß. Die überall herumliegenden Eimer und Seile ließen ihn noch stiller erscheinen. Ich ging zur Öffnung der Zisterne, hob den Deckel und beugte mich hinein.
»Huuuh«, machte ich zaudernd, als fürchtete ich, ein Ungeheuer zu wecken.
»Huuuh«, antwortete die Zisterne widerwillig, mit fremder und rauher Stimme. Das mochte heißen, daß ihr Ärger verflogen war, wenn auch nicht völlig, klang doch ihre Stimme dumpfer als gewöhnlich.
Als ich wieder ins große Zimmer im zweiten Stock hinaufgestiegen war, sah ich mit Freude, daß sich drüben, in unbestimmter Entfernung, ein Regenbogen gebildet hatte, gleich einem gerade erst besiegelten Friedensvertrag zwischen dem Berg, dem Fluß, der Brücke, den Bächen, der Landstraße, dem Wind und der Stadt. Es war unschwer zu erkennen, daß dieser Friede unbeständig und vorübergehend sein würde.
»Hier hast du Frankreich und Kanada, gib mir dafür Luxemburg.«
»Ach nein! Luxemburg willst du?«
»Wenn du möchtest.«
»Wenn du mir Abessinien für die beiden Polen gibst, wollen wir mal sehen, was sich machen läßt.«
»Abessinien geb‹ ich dir nicht. Du bekommst Frankreich und Kanada für die beiden Polen.«
»Nein.«
»Dann will ich aber das Indien zurück, das ich dir gestern für Venezuela gegeben habe.«
»Indien? Meinetwegen, nimm nur. Zu was brauch‹ ich Indien? Wenn du’s genau wissen willst, schon gestern abend hab‹ ich’s bereut.«
»Reul es dich auch wegen der Türkei?«
»Die Türkei hab‹ ich verkauft, sonst könntest du sie zurückhaben.«
»Gul, dann bekommst du von mir auch nicht die Deutschland, die ich dir gestern versprochen habe. Lieber zerreiß‹ ich sie, als daß ich sie dir gebe.«
»Glaubst du, ich bin scharf auf deine Deutschland?«
Schon seit einer Stunde zankten und schacherten wir mitten auf der Straße um Briefmarken, und wir stritten uns noch immer, als Javer vorbeikam und uns lachend zurief:
»Ihr teilt wohl die Welt neu auf, was?«
Xhexho und Mutter Pino waren zu Besuch gekommen. Sie saßen auf der Polsterbank im großen Zimmer, schlürften Kaffee und schwatzten mit Großmutter. Xhexho blickte sorgenvoll. Großmutter schien gelassener, obwohl auch sie eine innere Unruhe nicht verbergen konnte. Mutter Pino, schmal und ganz in Schwarz gekleidet, wiegte unentwegt den dürren Kopf und murmelte nach jedem Wort, das Xhexho von sich gab, erschüttert: »Eine Katastrophe!« Ihre Unterhaltung interessierte mich sehr, und ich lauschte gebannt. Sie sprachen über Mane Vocos ältesten Sohn Isa, der seit vergangener Woche etwas Unerhörtes tat: er trug eine Brille.
»Ich wollte es gar nicht glauben, als man es mir erzählte«, sagte Xhexho. »Dann nichts wie aufgestanden, das Kopftuch übergezogen, und schnell zu Mane Voco. Der arme Mane nahm sich ja zusammen, aber die Frauen: so eine Leichenbittermiene. Sie saßen herum wie vor den Kopf geschlagen. Ich wollte fragen, aber es ging nicht. Kein Wort brachte ich über die Lippen. Und dann, leibhaftig, stand er da! Diese Brille, wie sie blitzte! Wie geht’s denn so, fragte er mich. Um Himmels willen! dachte ich. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals. Daß ich nicht laut geschrien habe, es ist ein wahres Wunder. Er nimmt ein paar Bücher aus dem Regal und blättert sie durch, dann geht er zum Fenster, setzt sich hin und – na, was glaubt ihr wohl – nimmt die Brille ab und legt sie aufs Brett. Dann reibt er sich die Augen. Die Mutter und die Schwestern starren ihn immerfort an, mit zitternden Lippen. Ich, nicht faul, strekke die Hand aus, nehme die Brille und setze sie auf. Was soll ich euch sagen, Frauen. Fast hätte ich den Verstand verloren! Dieses Glas war verflucht. Die ganze Welt begann sich zu drehen, ein richtiger Hexenkessel. Ein Wakkeln, ein Wirbeln, ein Wuseln. Alles purzelte durcheinander, als hätte der Teufel hineingepustet. Ich nichts wie die Brille herunter und dann wie verrückt auf und davon.« Xhexho holte tief Luft. Großmutter stülpte ihre Tasse um.
»Warum Isa das nur tut«, sagte sie bekümmert. »So ein netter, kluger Junge. Wäre er ein Vagabund wie Lame Kareco Spiri, ja, aber Isa …«
»Eine Katastrophe!« sagte Mutter Pino.
»So ist das, Selfixhe«, fuhr Xhexho fort, »und da beschweren wir uns noch über all das Unheil. Wir sind ganz selber schuld. Gestern bauen sie Häuser aus Papier, heute setzen sich die jungen Burschen Brillen auf, und morgen, wer weiß, was morgen passiert. Doch der da oben«, Xhexho hob den Finger zum Himmel, und ihre Stimme wurde drohend, »er sieht alles, er merkt sich alles. Und er wird es uns schon heimzahlen.«
»Eine Katastrophe«, sagte Mutter Pino.
Als Xhexho das Haus aus Papier erwähnte, wanderte mein Blick unwillkürlich zum Gjobekviertel hinüber, dorthin, wo dieses ungewöhnliche Bauwerk aus Preßpappe, das die Italiener einige Wochen zuvor für ihre Nonnen errichtet hatten, fremd und unpassend zwischen den stattlichen Steinbauten stand. Der Bau dieses Hauses stürzte eine große Zahl von Menschen für lange Zeit in tiefste Unruhe. Was ist das bloß für ein Haus aus Papier? fragten alte Frauen, die überall herumgekommen und sogar schon in der Türkei gewesen waren. Wir haben schon viel erlebt, aber ein Papierhaus? Davon hat man ja noch nie gehört. Das ist Teufelswerk.
Jetzt urteilten sie über Mane Vocos Sohn mit den gleichen Ausdrücken des Entsetzens wie damals über das Haus aus Pappe. Du Unglückseliger, warum willst du die Welt nicht sehen, wie sie ist!? Warum lehnst du dich so auf, jagst uns einen solchen Schrecken ein?!!
Sie ließen sich lange aus über diese Geschichte, und ich hörte aufmerksam zu, denn was Mane Vocos Sohn tat, hatte mit einem meiner eigenen Geheimnisse zu tun. Auch ich griff dann und wann zu einem jener verfluchten Gläser. Ich hatte es in Großmutters alter Truhe entdeckt und eines Tages beim Spielen vors Auge gehalten. Mit Verblüffung stellte ich fest, daß die Welt sich schlagartig veränderte. Ihre Konturen rückten jäh zusammen, schlossen sich, wurden auf erbarmungslose Weise klar. Lange stand ich da mit dem Glas vor dem einen Auge, während das andere geschlossen blieb, und blickte in die Weite, die sich von unserem Haus aus öffnete. Das war ein merkwürdiges Bild. Es schien, als sei die Welt von unsichtbarer Hand blankgewischt worden wie eine beschlagene Scheibe, so daß sie sich mir nun ganz neu und klar darbot. Trotzdem gefiel mir die Welt so nicht. Ich war daran gewöhnt, sie stets durch einen Nebelschleier wahrzunehmen, in dem ihre Konturen ungezwungen verschmolzen und sich voneinander lösten, ohne die Regeln der Grenzziehung sehr zu beachten. Es war, als fordere niemand von den Dachfirsten, den Straßen, den Telefonmasten Rechenschaft, wenn sie ein wenig von ihrer angestammten Position abwichen. Nun aber, durch das runde Glas, schien mir die Welt geschrumpft, voll kleinlicher Regeln, die nichts über das wirklich Existierende hinaus zuließen. Sie glich nun einem Haushalt, in dem man über alles: öl, Wasser und Mehl, haargenau Buch führt, in dem nichts übrigbleibt und nichts versehentlich weggeschüttet wird.
Allerdings war das Glas sehr nützlich, wenn ich mir Filme anschaute. Bevor ich ins Kino ging, wusch ich es mit Wasser und steckte es in die Tasche. Wenn dann im Kino das Licht erlosch, zog ich es rasch hervor, schloß das linke Auge und hielt das Glas vor das rechte. Wenn ich dann vom Kino nach Hause kam, konnte sich niemand recht erklären, warum eines meiner Augen so starr zu blicken schien. Eines Abends weckte ich, als ich das Glas aus der Tasche zog, die Neugier zweier Zigeuner, die im Kino neben mir saßen, und später, während des Films, hörte ich sie dann mehrmals miteinander flüstern: »Womöglich ist er ein Spion!«
»Eine Katastrophe!« sagte Mutter Pino schon wieder, doch diesmal hatten sie die übliche unerfreuliche Unterhaltung über die wirtschaftliche Misere begonnen, der ich nie zuhören mochte. So grübelte ich wieder darüber nach, woher es wohl kommt, daß der Mensch nur mit den Augen sieht und nicht auch mit den Fingern, den Wangen oder irgendeinem anderen Körperteil. Schließlich waren die Augen auch nichts anderes als ein Stück Fleisch unseres Körpers. Wie kommt es, daß die Welt durch die Augen Zutritt findet? Warum platzt der Mensch nicht von dieser ganzen Masse Licht, Weite und Farben, die unentwegt durch die Augen in uns hineinströmt? Schon lange beschäftigte mich das Rätsel des Sehens. Schwer tat ich mir vor allem mit der Erklärung der Blindheit, vor der ich mich schrecklich fürchtete. Diese Furcht rührte womöglich daher, daß sich ein Großteil der Flüche, die ich zu hören bekam, auf die Augen bezog. Einmal erschien mir das verstopfte Abflußloch eines Waschbeckens wie ein erblindetes Auge. Genauso setzen sich die Augen zu, dachte ich. Das Wasser des Lichts mit all den darin aufgelösten Bildern kann nicht mehr durch die Löcher der Augen fließen, das ist dann Blindheit. In den Augenhöhlen des blinden Vehip, des Stadtbarden, fand sich die gleiche dunkle Feuchtigkeit.
Sehen. Welch unerklärlicher Vorgang! Ich wende mein Gesicht der Unterstadt zu, und wie zwei starke Pumpen beginnen meine Augen Licht und verschiedene Bilder aufzusaugen: Dächer, Schornsteine, ein einsamer Feigenbaum, Straßen, Passanten. Spüren sie, daß ich sie aufsauge? Ich schließe die Augen. Stop. Der Strom reißt ab. Ich öffne die Augen. Es strömt weiter.
Nach einer anstrengenden Nacht schienen die Giebel ganz eng zusammengerückt. Die Dächer waren feucht. Die Platten aus Stein lagen in Reihen von quälender Eintönigkeit. Stumpfes Licht fiel auf sie herab. Durch die Straßen und Gassen, die sich zu Füßen der Dächer wanden, gingen vereinzelt Passanten, ein Bauer mit seinem Pferd, ein Priester, schwarzgekleidete alte Frauen unterwegs zu einem Besuch.
Die Varoshistraße schleppte sich mühsam bergan, während zu ihrer Linken die Gjobekstraße auf der Flucht vor dem Papphaus der italienischen Nonnen herabsauste, als herrsche dort die Pest, und mit der Varoshistraße zusammenprallte, wobei beide vom Aufprall verbogen wurden. Ein Stück weiter stürzte die Narrengasse blind und stur auf die zierliche Gymnasiumsstraße los, doch diese vermied im letzten Moment die Kollision, indem sie listig ein wenig zur Seite wich. Daraufhin schoß die Narrengasse mitten durch das Viertel bergab, als suche sie Streit, und vollzog während ihres rasenden Laufs einige völlig unerwartete und überraschende Wendungen.
Ich wartete nun darauf, daß in diesen Kehren Ilir auftauchte, Mane Vocos jüngerer Sohn und mein bester Freund. Als ich ihn kommen sah, rannte ich die Treppe hinunter auf die Straße.
»Gehen wir zum Schlachthof?« fragte Ilir. »Dort waren wir noch nie.«
»Zum Schlachthof? Was sollen wir denn dort?«
»Was wir dort sollen? Uns die Zeit vertreiben. Zuschauen, wie sie die Kühe und Hammel abstechen.«
»Was gibt’s denn bei den Schlachtern schon zu sehen?! Wir waren ja schon bei ihren Läden. Fleisch am Haken, mal mit den Füßen nach unten, mal mit dem Kopf.«
»Die Läden sind etwas ganz anderes«, sagte Ilir. »Der Schlachthof läßt sich damit gar nicht vergleichen. Dort sieht man, wie die jungen Stiere geschlachtet werden. Da gibt es gar keine Läden. Verstehst du? Dort ist nur das Schlachten.«
Das Wort »Schlachten« gehörte zu den Wörtern, die in letzter Zeit immer häufiger und in ziemlich unbestimmter Bedeutung verwendet wurden.
»Letzte Woche ist ein Jungstier den Schlachtern entwischt und wie wild davongerannt«, sagte Ilir. »Die Schlachter sind alle hinterhergelaufen und haben auf ihn eingeprügelt, wie sie nur konnten, bis der Stier eine Treppe hinuntergestürzt ist und sich das Genick gebrochen hat. Dort gehen viele Erwachsene hin, wenn sie was zu sehen bekommen wollen.«
Tatsächlich konnte man die Orte in der Stadt, wo es etwas zu sehen gab, an den Fingern einer Hand abzählen. Sieht man vom Kino ab, das nur von unseriösen Leuten und Kindern besucht wurde, blieben nur noch zwei sichere Orte, an denen man sich Prügeleien anschauen konnte, vor allem sonntags: das Zigeunerviertel und den Platz hinter der Moschee am Markt, wo die Lastträger ihre Einkünfte teilten. Die übrigen Prügeleien brachen zufällig aus und nie dort, wo man sie erwartete. Außerdem waren in letzter Zeit viele der Prügeleien nicht so verlaufen, wie es die Kampfhähne selbst noch zu Beginn des Streites versprochen hatten. Zwei oder drei Mal hatte ich Gaffer seufzend sagen hören: »Zu meiner Zeit, da tanzten noch die Stöcke!«, ehe sie enttäuscht davongingen. Nur die Zigeuner und ganz besonders die Lastträger schlugen sich noch ohne faule Tricks und hielten fast alles, was am Anfang versprochen worden war.
Der Schlachthof war offenbar eine neue Belustigung, und so sträubte ich mich nicht länger.
Als wir die gepflasterte Straße hinaufgingen, begegneten uns Javer und Maksut, Nazos Sohn, die von oben herunterkamen. Sie sprachen nicht miteinander und sahen überhaupt wütend aus. Auch mit uns sprachen sie nicht. Nazos Sohn hatte ein wenig hervorquellende Augen, und ich ekelte mich bei seinem Anblick sehr. Einmal hatte ich eine Frau zweimal zu ihrer Nachbarin sagen hören: »Die Augen sollen dir herausfallen!«, und gleich waren mir die Augen von Nazos Sohn in den Sinn gekommen. Seither fürchtete ich jedesmal, wenn ich ihm begegnete, seine Augen könnten womöglich auf das Pflaster fallen und mir vor die Füße rollen, so daß ich versehentlich darauf trat und sie zum Platzen brachte.
»Was hast du?« fragte Ilir. »Warum ziehst du so eine Miene?«
»Wegen Nazos Sohn. Er ist mir so widerlich.«
»Isa kann ihn auch nicht leiden«, sagte Ilir. »In letzter Zeit verzieht er immer das Gesicht, wenn sein Name fällt, genau wie du jetzt.«
»Wirklich? Heißt das, Isa glaubt auch, daß ihm einmal die Augen herausfallen?«
»Was sagst du da?«
Ich ging lieber nicht weiter darauf ein.
Mit einer Decke über der Schulter und einem zusammengeknüpften Taschentuch mit Brot in der Hand kam uns Llukan Burgamadhi entgegen.
»He, Llukan, bist du wieder raus aus dem Gefängnis?«
»Ja, ja, ich bin wieder raus.«
»Und wann kommst du wieder rein?«
»Na ja, Männer gehören eben ins Gefängnis.«
Schon seit der Türkenzeit hatte Llukan Burgamadhi wegen kleinerer Vergehen ein paar dutzend Male im Gefängnis gesessen. Alle kannten ihn so, wie er mit seiner braunen Decke und dem Taschentuch mit Brot vom Gefängnis zurückkam.
»Bist du wieder raus?« fragte ihn ein anderer.
»Sicher, mein Freund.«
»Warum läßt du deine Decke eigentlich nicht gleich im Gefängnis, du kommst doch sowieso wieder rein.«
Llukan begann zu schimpfen. Je weiter er sich entfernte, desto lauter wurde er.
Wir gingen weiter auf das Zentrum der Stadt zu. Die Straßen waren voll fremdartiger Geräusche. Es war Markttag. Von allen Seiten strömten die Bauern dem Marktplatz zu. Die Hufe der Pferde hallten, schürften, schlugen Funken auf dem Pflaster. An steilen Stücken packten die Bauern ihre Pferde am Zügel und halfen ihnen, mit Schwung die Steigung zu nehmen, wobei ihr eigener Körper, ihr Schweiß und ihr Keuchen mit dem Körper, dem Schweiß und dem Keuchen des Pferdes verschmolz.
Die Fenster der großen Häuser auf beiden Seiten der Straße waren fest verschlossen. Dahinter klagten die Damen der Agas, auf weichen Pfühlen ruhend, gewiß über den Gestank der Bauern, der von der Straße hereindrang; sie hielten sich die Nase zu, wurden ganz blaß, mußten sich fast übergeben. Sie waren korpulent, hatten weiße, feiste Gesichter und gingen ganz selten aus. Sie sagten, sie hätten sehr darunter zu leiden, daß die Grenze zu Griechenland geschlossen war und sie keinen Aal aus Joannina mehr essen konnten, der so gut gegen Rheumatismus half. Außer den Bauern, die sie alle Kiço riefen, ohne je zu vergessen, vor den Namen Kiço ein »Mit Verlaub!« zu setzen, wie sie es taten, wenn sie den Abort erwähnten, mißfielen ihnen, wie sie sagten, vor allem die Zeiten, in denen sie leben mußten, und so harrten sie, auf ihren Pfühlen aufgereiht und unentwegt ihr Täßchen Kaffee schlürfend, der Wiederkehr des Königreiches.
Vor der Kinoreklame standen ein paar italienische Soldaten und musterten die Passanten. Ein Ladenschild folgte dem anderen. Klempner, Friseure, die Trinkhalle »Addis Abeba«. Sattelmacher. Essig. Ein Plakat, das mit den Worten »Ich ordne an« begann.
Wir gingen weiter. Der Schlachthof war nun nicht mehr weit. Kein Blöken von Schafen war zu hören, kein Blutgeruch zu spüren, keine Tafel, die auf den Schlachthof hinwies; trotzdem fühlte man, daß der nun ganz nahe war. Das Schweigen der Pflaster ringsum und die Verlassenheit der Straßenecken konnte nichts anderes bedeuten, als daß wir rasch näher kamen. Wir begannen eine Treppe aus Beton hinaufzusteigen, eine nasse, schlüpfrige Treppe, die gar nichts von einer gewöhnlichen Steintreppe hatte. Sie war sehr steil, und keine der Stufen war verziert oder auch nur mit einem einfachen Muster versehen. Wir stiegen mühsam hinauf. Oben herrschte Grabesstille. Weder menschliche noch tierische Laute. Was taten die dort oben? Schließlich kamen wir an. Alles war bereit. Sie standen mit kalten, gleichgültigen Gesichtern da und warteten. Sie waren gut gekleidet, trugen weiße Hemden mit steifen Kragen und Krawatten. Einige hatten Borsalinohüte auf dem Kopf. Einer trug einen alten Zylinder. Er sah auf die Uhr.
Wir hörten Wasser plätschern. Ein Mann spülte den Hof mit einem schwarzen Gummischlauch ab. Ein anderer beförderte das Wasser mit einem Besen in die Abflußrinnen an den Seiten. Ein Schwung Wasser schwappte bei unseren Füßen auf den Boden. Wir schauten hinunter, zuckten zurück, doch zu spät. Der Platz war blutig. Alles, das war nun klar, hatte sich schon vor unserem Eintreffen abgespielt. Dennoch rührten sich die Leute nicht vom Fleck. Das hieß, daß eine neue Schlachtung vorbereitet wurde. Das Wasser schäumte heftig über die großen Blutfladen hinweg, löste sie vom Beton und nahm sie mit sich, ehe sie noch antrocknen konnten.
Dann sahen wir alles. Ein einstöckiges Gebäude, ebenfalls aus Beton, umschloß den Hof von allen Seiten. Unter dem Dach hingen Hunderte von Eisenhaken. Darunter sah man die Schafe und zwischen ihnen die Bauern, alle in schwarzen Filz und gleichfalls schwarze Umhänge gekleidet. Sie beugten sich tief über die Rücken der Schafe und hatten die Hände fest in der Wolle verkrallt. Auch sie warteten.
Die Schaulustigen hatten es nicht eilig. Einige hatten ihre Gebetsketten hervorgezogen und ließen sie langsam durch die Finger gleiten. Ich hatte keinen von ihnen vorher je gesehen. Der mit dem Zylinder blickte auf die Uhr. Nun schien es soweit zu sein.
Plötzlich sahen wir die weißgekleideten Schlachter mit ihren schmalen, geröteten Händen. Sie standen neben der Pumpe, genau in der Mitte des Hofes. Als die Bauern das Vieh aus allen Verschlägen auf sie zuzutreiben begannen, rührten sie sich nicht. Uns war, als sei ein gedämpfter Ton zu hören, das leise Scharren von vielen tausend Tierklauen auf dem Boden. Der Ton war tief, rhythmisch und hielt lange an. Als die Reihen der Tiere an der Pumpe anlangten, wo die Schlachter warteten, blitzten in deren Händen plötzlich Messer auf. Es begann.
Ich spürte Schmerz in meiner rechten Hand. Ilirs Fingernägel bohrten sich in mein Fleisch. Mir wurde speiübel.
Gehen wir.
Keiner sprach es aus, trotzdem versuchten wir, die Hände vor die Augen geschlagen, blindlings die Treppe zu erreichen.
Endlich waren wir unten. Liefen weg. Je weiter wir uns vom Schlachthof entfernten, desto mehr belebten sich die Straßen. Menschen kamen mit Kohlköpfen in der Hand vom Markt zurück. Andere waren auf dem Weg zum Markt. Ob sie wohl wußten, was oben im Schlachthof vor sich ging?
»Wo wart ihr denn?« grollte plötzlich, wie vom Himmel herab, eine Stimme. Wir hoben die Köpfe. Vor uns stand Mane Voco, Ilirs Vater. In der Hand hielt er ein Maisbrot und einen Bund Frühlingszwiebeln.
»Wo wart ihr?« fragte er wieder. »Und wieso seid ihr so blaß?«
»Wir waren dort oben … beim Schlachthof.«
»Beim Schlachthof?«
Die Zwiebeln in seiner Hand zuckten wie Schlangen.
»Was habt ihr denn beim Schlachthof zu suchen?«
»Nur so, Papa, zum Vergnügen.«
»Vergnügen?«
Die Zwiebeln beruhigten sich, und ihre Schwänze hingen träge herab.
»Nie mehr geht ihr mir zum Schlachthof, hört ihr!« sagte Mane Voco sanft.
Seine Finger kramten in der Westentasche nach etwas. Schließlich fand er es. Ein halber Lek.
»Da, nun geht mal ins Kino, ihr beiden.«