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Ein Diktator benennt seinen Nachfolger. Unmittelbar darauf findet man dessen Leiche mit einer Kugel im Herzen. War es Selbstmord oder Mord, geplant im Kreis der höchsten Machthaber? Kadare erzählt von einem der größten Rätsel in der jüngeren Geschichte Albaniens, dem mysteriösen Tod des Zöglings von Diktator Enver Hoxha. »Von virtuoser literarischer Darstellungskraft, die aus authentischen Ereignissen die Albträume einer gespenstischen Poesie aufsteigen lässt.« Frankfurter Rundschau
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Roman
»Am frühen Morgen des 14. Dezembers wurde der Nachfolger tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden. Das albanische Fernsehen meldete den Vorfall in seinen Mittagsnachrichten in knappen Worten: In der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember hat sich der Nachfolger im Zuge einer Nervenkrise mit einer Feuerwaffe selbst getötet.«
Mit seinem Roman ›Der Nachfolger‹ wendet sich Ismail Kadare dem größten Rätsel in der jüngeren Geschichte Albaniens zu: dem mysteriösen Tod des Zöglings von Diktator Enver Hoxha. Noch heute, ein Vierteljahrhundert nach diesem Todesfall und fast 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Regimes, liegt dieses Geheimnis im Dunkeln. Kadare verleiht dem realen Geschehen die Dimension eines subtilen Albtraums und stellt die Figur des Nachfolgers in eine Reihe mit den großen Archetypen der Weltliteratur wie Judas, Agamemnon, Brutus und Joseph K.
»Von virtuoser literarischer Darstellungskraft, die aus authentischen Ereignissen die Albträume einer gespenstischen Poesie aufsteigen lässt.« Frankfurter Rundschau
»Spannend wie ein Thriller.« Focus
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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
[Hinweis]
Erstes Kapitel Dezember ‒ Der Selbstmord
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Zweites Kapitel Die Autopsie
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Drittes Kapitel Süsse Erinnerungen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Viertes Kapitel Der Sturz
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Fünftes Kapitel Der Führer
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Sechstes Kapitel Der Architekt
Siebtes Kapitel Der Nachfolger
Die hier geschilderten Ereignisse sind nichts anderes als Bestandteile der alle Zeiten umschließenden menschlichen Erinnerung, die, wie es oft geschieht, in unserer Epoche wieder an die Oberfläche gelangt sind. Daher ist eine Ähnlichkeit mit gegenwärtigen Menschen und Umständen unvermeidlich.
Der Autor
Am frühen Morgen des 14. Dezembers wurde der Nachfolger tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden. Das albanische Fernsehen meldete den Vorfall in seinen Mittagsnachrichten in knappen Worten: »In der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember hat sich der Nachfolger im Zuge einer Nervenkrise mit einer Feuerwaffe selbst getötet.«
Die Nachrichtenagenturen auf der ganzen Welt übernahmen die offizielle albanische Version. Erst als im jugoslawischen Rundfunk der Verdacht geäußert wurde, bei dem angeblichen Selbstmord handele es sich eventuell um einen Mord, nahmen die Agenturen am Nachmittag geringfügige Änderungen am ursprünglichen Text vor. Nun fand sich auch die zweite Möglichkeit erwähnt.
Die Nachricht breitete sich aus über einen endlos weiten Dezemberhimmel, in dessen Mitte etwas wie ein Zorn aus Wolken reglos ausharrte.
Wiewohl der Tod das Land erschüttert hatte, war für die Menschen, die überall an den Bildschirmen hingen, nach der ersten Bestürzung durchaus nachvollziehbar, daß auf Änderungen in der Sendefolge des Fernsehens und die Ausrufung nationaler Trauer verzichtet wurde. Dem Land war zwar das Kreuz abhanden gekommen, aber Selbstmord galt wie bei gläubigen Christen als verwerflich. Überdies hatte man bereits den ganzen Herbst über und erst recht seit Eintritt des Winters mit dem Sturz des Nachfolgers gerechnet.
Am Morgen darauf suchte das Volk, der Kirchenglocken entwöhnt, nach Zeichen der Trauer dort, wo man auf sie hätte stoßen können: an Amtsgebäuden, bei der Musik im Radio oder in den Gesichtern der Nachbarn, mit denen man gemeinsam um Milch anstand. Daß nirgends eine Fahne auf Halbmast gesetzt wurde und keine Trauermärsche erklangen, ernüchterte schließlich auch jene, die zunächst noch gehofft hatten, das übliche Ritual verzögere sich nur aus irgendwelchen Gründen.
Die ausländischen Nachrichtenagenturen wichen vorerst nicht von ihrer Linie ab, keine der beiden Möglichkeiten, Mord und Selbstmord, auszuschließen.
Offenbar beanspruchte der Nachfolger einen besonderen, gleich zwei Tode umfassenden Abgang von dieser Welt. Ein schwarzer Büffel reichte ihm nicht, um sich ins Jenseits befördern zu lassen, es mußten gleich zwei sein.
In der Hoffnung, Neues über das Ereignis zu erfahren, blätterten die Leute aufgeregt in den Morgenzeitungen, wobei es ihnen wohl vor allem um die Frage ging, welcher der beiden Tode, der frei gewählte oder der durch äußere Einwirkung verursachte, für sie selbst voraussichtlich mit den glimpflicheren Folgen verbunden sein würde.
Da aus der Presse nichts zu erfahren war, mußten sich die Leute mit den am Abend kursierenden Gerüchten begnügen. Fest stand, daß der Nachfolger in einer scheußlichen Nacht den Tod gefunden hatte. Das war keine Frucht der Phantasie, das hatten alle miterlebt. Von einem stürmischen Wind waren dichte Regenschwaden durch die Straßen gejagt worden, begleitet von Blitz und Donner.
Man wußte um die schlechte psychische Verfassung, in der sich der Nachfolger nach einem für ihn alptraumartig verlaufenen Herbst befand. Am Vormittag sollte das Politbüro zu seiner abschließenden Sitzung zusammentreten, auf der man ihm, wie es aussah, nach erfolgter Selbstkritik seine Fehler verzeihen würde.
Menschen neigen, wenn sie mit bedrohlichen Entwicklungen konfrontiert sind, oft zu übereilten Entschlüssen und stürzen deshalb, obwohl sich eine günstige Wendung bereits abzeichnet, doch noch in den Abgrund. Der Nachfolger schrieb einen Abschiedsbrief, in dem er sich für die Art seines Abgangs entschuldigte, und setzte seinem Leben ein Ende.
Alle seine Mitbewohner befanden sich im Haus. Nach dem Abendessen hatte er seine Frau gebeten, ihn am nächsten Morgen um acht Uhr zu wecken, und sich dann in sein Zimmer zurückgezogen. Die Ehefrau, die schon die ganze Woche unter Schlaflosigkeit gelitten hatte, schlief nach eigener Aussage ausgerechnet in dieser Nacht wie ein Stein. Die Tochter sah bis um zwei Uhr morgens Licht im Zimmer ihres Vaters und ging schlafen, als sein Fenster dunkel wurde. Den Schuß hörte niemand.
Dies im wesentlichen war aus dem Haus des Verstorbenen zu erfahren, oder man nahm wenigstens an, daß es von dort stammte. Aus dem üblicherweise als »Block« bezeichneten, vom Rest der Stadt abgeschotteten Wohnviertel der Führung wurden weitere Beobachtungen vermeldet. In der stürmischen, regnerischen Nacht war der Autoverkehr dort ungewöhnlich rege gewesen. Besonders eigenartig mutete an, daß man um Mitternacht oder vielleicht ein wenig später einen Schatten im Hause des Verstorbenen hatte verschwinden sehen. Angeblich ein hoher, sehr hoher Funktionär, aber davon redete man besser nicht. Gott bewahre! Also, ein Funktionär, ein außerordentlich hoher Funktionär war ins Haus gegangen. Und nach einer Weile wieder herausgekommen.
In den Archiven hatten die Dossiers über Albanien kräftig Staub angesetzt, was man in den Zentralen der Nachrichtendienste dieser Welt nicht zum ersten Mal zu konstatieren hatte. Es hagelte auf jeden Fall tadelnde Worte der Vorgesetzten, und schuldbewußte Untergebene klemmten sich sofort hinter die Aktenordner, wenn auch ohne die rechte Begeisterung.
Die Auskünfte über Albanien waren weitgehend veraltet und stammten zum Teil noch aus romantischen Quellen. Angeblich bedeutete der Name in seiner albanischen Form, Shqipëria, soviel wie »Land der Adler«. Das Balkanvolk und seine Sprache waren illyrischen Ursprungs, also sehr alt, der Staat hingegen noch ziemlich jung, entstanden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Trümmern des Osmanischen Reichs. Die Nation mit ihren drei Religionen, Katholiken, orthodoxe Christen und Moslems, bekam eine Monarchie mit einem deutschen Regenten vorgesetzt, der als Protestant einer vierten Religion angehörte. Es folgte eine Republik mit einem albanischen orthodoxen Bischof an der Spitze. Dieser wurde in einem Bürgerkrieg von einem anderen Albaner gestürzt, der sich später selbst zum König erhob, aber seinerseits gestürzt wurde, und zwar von einem weiteren Monarchen, dem italienischen nämlich, der sich nach seiner Thronbesteigung »König von Italien und Albanien, Kaiser von Äthiopien« nennen durfte. Nach dieser ein wenig grotesken Staatsverkuppelung, die den Albanern zum ersten Mal in ihrer Geschichte Mituntertanen aus Schwarzafrika bescherte, kam wenig später die kommunistische Diktatur. Neue Freundschaften, merkwürdige Allianzen, unter großem Spektakel geknüpft und in verbissenem Streit beendet.
Was diese Zeit betraf, vor allem die beiden großen Kontroversen mit Rußland und China, so fanden sich in den meisten Dossiers Spuren einer gelegentlichen Aktualisierung. Nach dem Zerwürfnis mit den Russen hatte man neue Blätter mit Analysen, Datenmaterial und Prognosen eingefügt, die oft von anderer Hand am Rand mit Fragezeichen versehen worden waren. Die größte Ungewißheit bestand darin, ob Albanien sich künftig dem Westen anschließen oder weiterhin zum Osten halten würde. Jede Antwort warf schwer zu klärende neue Fragen auf. Lag es überhaupt im Interesse des Westens, Albanien für sich zu gewinnen? In einigen Analysen wurde die Möglichkeit eines Geheimpakts zwischen dem kommunistischen Block und dem westlichen Lager erwähnt: Wir ziehen uns aus Albanien zurück, aber nur unter der Bedingung, daß ihr euch von dort fernhaltet. Irgendwo wurde unter Verweis auf eine wissenschaftliche Arbeit ganz grundsätzlich die Frage aufgeworfen, ob es für den Westen überhaupt sinnvoll sei, den kommunistischen Block dadurch zu verprellen, daß man ausgerechnet das winzige Albanien umgarnte, anstatt wenigstens auf einen fetteren Brocken zu warten, beispielsweise die Tschechoslowakei.
Mit der Zeit ging das Interesse merklich zurück. In den Analysen dominierte wieder das vertraute romantische Szenarium, in dem der König der Vögel, der Adler, eine Hauptrolle spielte. Gelegentlich fand sich auch der Hinweis auf einen uralten Kodex, einen als »Kanon« oder auch »Kanun« bezeichneten Katalog überkommener Normen und Gebräuche.
Viele Jahre später, beim Zerwürfnis mit China, wiederholte sich die ganze Geschichte. Auf die mehr oder weniger gleichen Fragen wurden die mehr oder weniger gleichen Antworten gegeben, wenn auch alles etwas abgedroschen wirkte und statt der Tschechoslowakei eher von Polen die Rede war.
In dem kalten Dezember, in dem der Nachfolger zu Tode kam, mußte man zum dritten Mal mit dem Staubwedel über die Albanien-Dossiers gehen. Diesmal hatten die Vorgesetzten noch mehr an ihren Untergebenen herumzumäkeln. Es reicht jetzt endgültig! Was soll dieser ganze folkloristische Kram? Wir brauchen keine Märchen mit Adlern und sonstigem Raubgeflügel, sondern endlich ernsthafte Analysen. Auf dem Balkan drohen Unruhen. Die Empörung im albanischen Nordosten, von einigen »äußeres Albanien« beziehungsweise »albanisches Außenterritorium«, von den anderen Kosova oder Kosovo genannt, war soeben niedergeschlagen worden. Hatten die jüngsten Ereignisse in Albanien mit diesem Aufstand zu tun?
Auf einem der Schriftstücke hatte eine nervöse Hand den Satz »Manchmal ist von einer Million Albanern die Rede, manchmal aber auch von sieben« rot umkringelt. Daneben stand ein Fragezeichen, gefolgt von einem Ausrufezeichen, und darunter die Bemerkung »Sehr sonderbar!«.
Sonderbar erschien dem anonymen Sachbearbeiter wohl die Verschwommenheit der betreffenden Aussage. Ein paar Zeilen weiter unten war die Textstelle »ob es sich nun um Christen oder Moslems handelt« am Rand mit einem ähnlichen Fragezeichen und der handschriftlichen Notiz kommentiert: »Wollte man einmal annehmen, daß es nicht nur zwei Millionen Albaner ausschließlich islamischen Glaubens gäbe, wie von jugoslawischer Seite immer wieder behauptet, sondern drei, vier oder sogar noch mehr, daß also die albanische Nation in etwa die gleiche Kopfzahl hätte wie die meisten anderen Nationen auf der Halbinsel auch, und wenn diese, sagen wir, etwa sieben Millionen Albaner nicht nur aus Moslems bestünden, sondern katholischer, orthodoxer und moslemischer Religionszugehörigkeit wären, so ergäbe sich daraus eine völlig neue geopolitische Beurteilung des Balkans.«
Einem transatlantischen Nachrichtendienst fiel als erstem auf, daß das Spionagenetz in Albanien von seiner personellen Zusammensetzung her an völliger Vergreisung litt und daß überdies ein Gutteil der Spione infolge einer altersbedingten Beeinträchtigung des Wahrnehmungsvermögens zum albanischen Staatssicherheitsdienst, dem »Sigurimi«, übergelaufen war. So gesehen war es kein Wunder, daß am Tag nach dem Ableben des Nachfolgers nur total abstruse Informationen aus Albanien eingingen.
Derweilen wurde auf dem Westfriedhof der albanischen Hauptstadt im schneidend kalten Dezemberwind der Nachfolger unter die Erde gebracht. An der Beerdigung nahmen außer der Familie noch zwei Dutzend hohe Amtsträger und Parlamentsabgeordnete teil. Minister waren da, dazu die Chefs diverser staatlicher Einrichtungen, unter denen der Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften mit seinem weiß wallenden Haarschopf hervorstach. Militärangehörige und Funktionäre trugen Kränze. Die Trauerrede verlas mit erstickter Stimme der Sohn des Verblichenen: »Mögest du in Frieden ruhen, Vater!« Es gab weder Salutschüsse noch eine Musikkapelle. Alles zeigte, daß der Selbstmord nach wie vor mißbilligt wurde.
Die hereinbrechende Dämmerung hatte es eilig, den Kranz der Hügel um Tirana herum zu verschlucken. Am Kopf- und Fußende des frisch aufgeschütteten Grabhügels stand jeweils ein bewaffneter Soldat. Andere Uniformierte waren auf der weitläufigen städtischen Begräbnisanlage nicht zu sehen. Im Schutz der Dunkelheit wachten allerdings rund zwanzig Schritte vom Grab entfernt hinter ein paar Büschen weitere Männer in Zivilkleidung.
Wie immer, wenn ein Leichnam endlich unter der Erde ist, machte sich auch in diesem Falle bei den Menschen Erleichterung breit, und aus begreiflichen Gründen war sie diesmal sogar noch größer als sonst.
Nach Tagen der Angst kehrte, ganz ungewohnt für diese Jahreszeit, Stille ein.
Unter dem gelassen sich dehnenden Dezemberhimmel wirkte alles, was eben noch die Gemüter der Menschen so heftig bewegt hatte, plötzlich viel weniger kompliziert und mißlich. Selbst die große Frage, ob es Selbstmord oder Mord gewesen war, wog nun, da der Nachfolger das Geheimnis mit ins Grab genommen hatte, geringer als vorher.
Verflogen war das Fieber, in das der mittlerweile in der Finsternis verschwundene Leichnam des Nachfolgers die Leute versetzt hatte, und ihre Köpfe waren wieder klar genug, um gründlich zu bedenken, was sich in diesem schier endlosen Herbst alles abgespielt hatte. Das Ereignis erschien ihnen nun in einem anderen Licht.
Alles hatte bereits im September begonnen. Als die Leute aus den Sommerferien in die Hauptstadt zurückkehrten, brodelte diese von Neuigkeiten, die man in früheren Zeiten wahrscheinlich der Kategorie »mon-dän« zugeordnet hätte. Der Nachfolger hatte seine einzige Tochter verlobt. Außerdem war er eben in sein neues Haus eingezogen, auf dessen Fertigstellung ganz Tirana gespannt gewartet hatte. Eigentlich konnte von einem Neubau nicht die Rede sein, er bewohnte die Villa schließlich seit vielen Jahren, doch war sie während des Sommers so trefflich hergerichtet worden, daß man sie kaum wiedererkannte. Eine alte Weisheit, die sämtliche Kampagnen zur Bekämpfung des Aberglaubens überlebt hatte, nämlich daß ein neues Haus Unglück bringe, erwies sich in diesem Herbst erneut als zutreffend. Ob der Nachfolger den Spruch gekannt hatte, ließ sich nachträglich nicht mehr feststellen, doch daß er die Verlobung seiner Tochter schon am Tag des Einzugs feierte, löste überall verwunderte Kommentare aus. Es schien, als habe er mit diesem Schritt dem Haus Freude aufzuzwingen versucht, gewissermaßen als vorgezogenen Akt der Auflehnung gegen das Schicksal oder wenigstens als Hinweis an dieses, daß er nicht ohne weiteres bereit war, sich ihm zu ergeben.
Alle waren da: die Familie, fast die komplette Regierung, die Angehörigen des Bräutigams und der Bräutigam selbst, der im Laufe des Abends zur Gitarre griff, außerdem der für den Umbau verantwortliche Architekt, der zuviel trank und daraufhin zu weinen anfing. Die Gläser klangen, die Blitzlichter blitzten, man lachte und war gerührt. Als die Lüster am Ende gelöscht wurden und der Führer des Landes, dessen Gratulationsvisite die allgemeine Hochstimmung in Euphorie verwandelt hatte, sich zu Fuß nach Hause begab, begann plötzlich ein eiskalter Wind zu wehen.
War ihm auf dem kurzen Weg vom Haus des Nachfolgers bis zu seinem eigenen Haus eine Mitteilung überbracht worden? Vielleicht, man wird es niemals erfahren, erwartete sie ihn auch an seiner Haustür, als er gebeugt von der Last seines langen schwarzen Mantels mit unsicheren Schritten eintrat. Jedenfalls begann noch am gleichen Abend das Gerücht umzugehen, die vom Nachfolger abgesegnete Verlobung seiner Tochter habe Anstoß erregt, sei für politisch falsch befunden worden. Zwar durfte der Vater des Bräutigams, der namhafte Seismologe Besim Dakli, dank der unermeßlichen Nachsicht und Güte der Partei an der Universität lehren, doch dies änderte nichts daran, daß die Familie Dakli für »deklassiert« gehalten wurde. Bei einem Kader minderen Ranges hätte man vielleicht ein Auge zudrücken können, auf gar keinen Fall aber beim Nachfolger.
Natürlich stellte sich die Frage, die man ob ihrer Gefährlichkeit jedoch lieber nicht aussprach, sondern mit vielsagenden Blicken bekundete, weshalb so spät reagiert worden war, obwohl man um die Absicht des Nachfolgers, schwägerliche Beziehungen zu den Dakli herzustellen, zum Zeitpunkt der Gratulationsvisite des Führers schon seit mindestens zwei Wochen gewußt hatte. So ließ sich dieser Besuch nur als Absegnung der Verlobung von allerhöchster Seite werten. Hätte sonst am fraglichen Tag so überschäumende Freude geherrscht? Folglich mußte, kurz nachdem sich der Führer verabschiedet hatte, etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein. Hatte es neue Erkenntnisse über die Familie Dakli gegeben? Waren (womöglich von außerhalb) schockierende Hinweise auf Tatsachen eingegangen, die der Geheimdienst in zwei Wochen gründlicher Durchforstung der Akte Dakli übersehen hatte?
Menschen, die von riskanten Fragen umgetrieben werden, neigen oft dazu, besonders eifrig über Dinge zu reden, die sie für gerade noch zulässig halten. So kam man denn auf das Problem zurück, ob einem Nachfolger gestattet sein dürfe, was anderen verboten ist. Die Mehrheit war nicht dieser Meinung, und man konnte auf genug Fälle verweisen, wo die falsche Wahl der angeheirateten Verwandtschaft komplette Familien oder sogar Sippen in den Abgrund gerissen hatte. Allerdings waren auch andere Stimmen zu hören: Das Land verdanke dem Nachfolger viel, er sei dem Führer mit rührender Ergebenheit durch alle Stürme gefolgt, so daß ein kleines Zugeständnis noch im Rahmen des Erlaubten sei. Außerdem werde sich nach dieser Erfahrung die Einstellung zu dem betreffenden Problem womöglich ändern. Was jemandem an Schmerzlichem widerfahren sei, lasse sich sicherlich nicht mehr rückgängig machen, aber immerhin würden viele andere profitieren. Das ist ja gerade das Schlimme, meinten die ersten, das Beispiel macht Schule.
Die Diskussionen fanden ein schlagartiges Ende, als die Auflösung der Verlobung bekanntgegeben wurde. Man hatte also doch noch eingesehen, wie falsch sie gewesen war. Das reinste Gift. Nein, noch viel heimtückischer als Gift. Ein Krebsgeschwür, todbringend für Albanien. Eine Abschwächung des Klassenkampfs. Eine Verhöhnung von allem, was dem Land vierzig Jahre lang heilig gewesen war. Seine Widerstandskraft beruhte schließlich auf dem Prinzip: Mehr Härte, immer, Milde niemals! Das war der Schlüssel zu allen Erfolgen. Sämtliche Siege, der ganze Ruhm gründeten darauf. Die ehemaligen Freunde, die inzwischen Feinde waren, hatten ohne Ausnahme Verrat begangen, und zwar genau deshalb, weil sie sich zur Milde hatten hinreißen lassen. Bei uns dagegen … Gebe der Himmel, daß dies nur ein Ausrutscher des Nachfolgers gewesen ist! Aber davon konnte man getrost ausgehen, bestimmt würde ihm so etwas nie mehr passieren. Daß die Verlobung unverzüglich gelöst worden war, bewies seine tiefe Reue. Es war ja in Albanien wahrhaftig nicht ganz einfach, ein Eheversprechen zurückzunehmen. Damit hatte er, wie man volkstümlich zu sagen pflegte, die Schande mit Löffeln gefressen, sich also vor dem ganzen Volk unmöglich gemacht. Seit tausend Jahren war es in diesem Land absolut verpönt, von einmal getroffenen Heiratsvereinbarungen wieder abzurücken. Man konnte bei vielem ein Auge zudrücken, aber eine Hochzeit abzusagen oder auch nur zu verschieben, nein, das war ganz und gar unmöglich. Der Nachfolger hatte mit seiner Entscheidung bewiesen, daß ihm die Treue zur Partei und zum Führer nach wie vor wichtiger war als alles andere. Eine starke Leistung! Er hatte bewiesen, daß er zu Recht der Nachfolger war.
Wie es immer ist bei schlechten Nachrichten, sprach sich die Auflösung der Verlobung schneller herum als ihre Bekanntgabe. Die meisten gingen von einer bloß episodischen Krise aus und glaubten, der Vorfall habe die Moral der Bevölkerung eher gestärkt als untergraben. Schließlich hatten das Land und sein Führer wieder einmal den Beweis geliefert, daß sie fähig und entschlossen waren, selbst den stärksten Erschütterungen standzuhalten. Wie damals beim Bruch mit den Jugoslawen und später den Russen. Und natürlich den Chinesen.
Die Aufregung flaute ab, und man widmete sich den sentimentalen Details, die, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, überall herumerzählt wurden. Der telefonische Kontakt zwischen den vormals Verlobten war rigoros unterbunden worden. In weite Mäntel gehüllt, so hieß es, hatten der Bräutigam und sein Vater Besim Dakli vor dem Haustor des Nachfolgers auf eine Erklärung gewartet. Die verzweifelte Tochter verließ seit Tagen ihr Zimmer nicht mehr und verweigerte überdies jegliche Nahrung. Der junge Mann wiederum hatte, um seinen Schmerz zu bezwingen, wieder einmal zur Gitarre gegriffen und ein Lied komponiert, das mit den Worten begann: »Sie haben das Band zerschnitten, das so fest uns zusammenhielt …«
Daß die wichtigsten Feiertage in Albanien im Herbst begangen wurden, erwies sich nicht gerade als Vorteil für den Nachfolger. Es war ihm nämlich unmöglich, den Fernsehkameras aus dem Weg zu gehen. Tausende kontrollierten am Bildschirm sein Gesicht auf Spuren der Ereignisse. Einige fanden, er wirke noch verkniffener als sonst, während die anderen ihm größere Gelassenheit bescheinigten. Beides war nicht gut, das zweite Urteil aber weitaus gefährlicher, weil es die Interpretation zuließ, er schere sich einen Dreck um die Meinung der Leute.
Was als Skandälchen begonnen hatte, weitete sich am Nationalfeiertag zum Drama aus. Zwar traten der Führer und der Nachfolger wie üblich gemeinsam auf, doch unterblieben die kurzen Plaudereien, zu denen sie früher während des Festakts gelegentlich lächelnd die Köpfe zusammengesteckt hatten. Des Führers Miene war eisig. Nicht nur, daß er sich kein einziges Mal dem Nachfolger zuwandte, er unterstrich seine demonstrative Verachtung sogar noch dadurch, daß er zweimal mit dem Innenminister zu seiner Linken ein paar Worte wechselte.
Im ganzen Land saßen die Menschen mit schreckgeweiteten Augen vor den Bildschirmen. Obwohl die anstößige Verlobung längst aufgelöst war, gab es keinerlei Hinweis darauf, daß dem blamierten Nachfolger auch nur ein bißchen Nachsicht oder gar Mitleid zuteil wurde. Im Gegenteil, der Zorn des Führers wurde offenkundig immer größer.
Was früher als die Einheit von Partei und Volk untergrabende Gerüchtemacherei bekämpft worden war, wurde erstmals in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Altgediente Parteimitglieder machten sich Sorgen. Nach schlaflos verbrachten Nächten erhoben sie sich im ersten Morgengrauen mit verquollenen Augen, jammerten ein wenig über ihre schmerzenden alten Knochen und beklagten sich dann bei ihren ergrauten Gattinnen in bitterem Ton über einen Kummer, den sie im Kaffeehaus nicht offen ansprechen durften: Wirft man so eine vierzigjährige Freundschaft weg?
Die größten Optimisten konnten den nächsten Feiertag kaum erwarten, weil sie hofften, bis dahin werde alles wieder ins Lot gekommen sein. Als dann bei der Festveranstaltung nicht nur nichts wieder im Lot war, sondern sogar ein noch eisigeres Klima herrschte, krampfte sich ihnen das Herz zusammen, sie seufzten tief und stießen schließlich kummervoll hervor: »Daß uns auch nichts erspart bleibt!«