Der Palast der Träume - Ismail Kadare - E-Book

Der Palast der Träume E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

›Der Palast der Träume‹ steht im Zentrum eines Reiches der Finsternis, in dem nicht einmal mehr die Träume vor staatlicher Sammelwut sicher sind. Mark Alem wird von einer mächtigen und geheimnisvollen Einrichtung angeworben. Ihr Auftrag: Die Träume eines jeden einzelnen zu sammeln, bis in die entlegene Provinz. Sie dann an einem Ort zentral zu hinterlegen, zu analysieren, zu interpretieren, um endlich jenen Traum auszumachen, in dem das Schicksal des Staates und seines Herrschers verschlüsselt sein könnte. Kreis um Kreis ist es Mark Alem bestimmt, im konzentrischen ›Palast der Träume‹ den höchsten Punkt zu erreichen. Selbst ein Mächtiger, wird er verfolgt von der Furcht, in der höllischen Bürokratie zermalmt zu werden, die ihm untersteht. Ismail Kadares Roman ist eine Parabel über staatliche Willkür und Machtmissbrauch, in dessen Zentrum der Archetyp jener Bewusstseinspolizei steht, die ein tyrannisches System am Leben hält.

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Seitenzahl: 285

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ismail Kadare

Der Palast der Träume

Roman

 

Aus dem Albanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

»Ein einziger falsch beurteilter Traum kann nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten, verstehst du?«

 

Mark Alem, Sohn einer berühmten Familie von Staatsdienern, wird von einer geheimnisvollen Institution angeworben. Ihr Auftrag: die Träume eines jeden einzelnen zu sammeln, zu klassifizieren. Die Absicht: in der verschlüsselten Botschaft der Träume das Schicksal des Imperiums und künftige Bedrohungen zu erkennen. ›Der Palast der Träume‹ spielt in einem phantastischen Istanbul und entwirft ein faszinierendes Parallelluniversum zu Kafkas Welt.

 

»Beklemmend, spannend, brisant.« Focus

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.

Inhalt

I Der Morgen

II Die Selektion

III Die Interpretation

IV Der freie Tag

V Das Archiv

VI Die Abendgesellschaft

VII Vorfrühling

»Zur Struktur der Hölle«

Der »Liberalismus« und die Folgen

Die ewigen Strukturen totalitärer Herrschaft

Der historische Hintergrund

Der Aufstieg des Osmanenreiches

Die Köprülü und andere albanische Karrieren

Der erwachende albanische Patriotismus

Die Heldenlieder des Balkan

»Auf der Suche nach einer Struktur der Hölle«

IDer Morgen

Es war ein kalter Morgen mit feuchtem Schnee. Zu beiden Seiten der belebten Straße ragten wuchtige Gebäude auf, deren geschlossene Tore den beginnenden Tag noch grauer erscheinen ließen.

Mark-Alem knöpfte seinen Mantel bis ganz oben zu, so daß der Kragenknopf ihm auf den Kehlkopf drückte. Er schaute auf die von spärlichen Schneeflocken umtanzten eisernen Straßenlaternen, und neuerlich überlief ihn ein Frösteln.

Wie immer um diese Stunde waren die Straßen vor allem von Beamten der obersten Reichsbehörden bevölkert, die zum Dienst eilten. Mark-Alem stellte sich zum wiederholten Mal die Frage, ob er nicht besser eine Droschke genommen hätte, denn zum Tabir Saray war es weiter als gedacht. Außerdem konnte man in diesem matschigen Schnee leicht ausrutschen.

Er kam an der Zentralbank vorüber. Vor einem weiteren vierstöckigen Gebäude, irgendeinem Ministerium, stand eine ganze Reihe reifbedeckter Kutschen. Auf dem Gehsteig rutschte jemand aus. Mark-Alem beobachtete, wie der Mann ins Straucheln kam, aber immerhin vermeiden konnte, der Länge nach hinzuschlagen. Sogleich stand er wieder auf und betrachtete, vor sich hin schimpfend, abwechselnd seine beschmutzte Kleidung und die Stelle, an der er ausgeglitten war. Dann ging er wütend weiter. Vorsicht! dachte Mark-Alem und wußte nicht genau, wen er damit meinte, den Unbekannten oder sich selbst.

Eigentlich hatte er keinen Anlaß, sich zu beunruhigen, denn er war auf keine bestimmte Zeit bestellt und wußte gar nicht, ob man so früh am Morgen überhaupt schon mit ihm rechnete. Im Grunde, das wurde ihm plötzlich klar, hatte er nicht die geringste Ahnung von den Gepflogenheiten und Dienstzeiten im Tabir Saray.

Er wurde das Gefühl nicht los, daß auf seinem Gesicht noch immer das unsichere Lächeln lag, mit dem er heute morgen wahrscheinlich bereits erwacht war. Rascher als sonst war er aus dem Bett aufgestanden, denn immerhin wartete der Tabir Saray auf ihn, jene allbekannte Behörde, die mit dem Schlaf und den Träumen befaßt war, und das hätte vermutlich auch bei jedem anderen an seiner Stelle nicht bloß Unsicherheit, sondern auch ein solches Lächeln hervorgerufen. Wahrscheinlich war dies die letzte Nacht gewesen, in der er sich eines normalen menschlichen Schlafes hatte erfreuen dürfen. Von nun an würde sich sein Leben ändern. Obwohl das alles recht merkwürdig anmutete, war ihm für ein echtes Lächeln zu bange ums Herz.

Zu seiner Linken schlug im Nebel mit eigentümlich bronzenem Klang eine Uhr. Er ging schneller. Obwohl der Pelzkragen seines Mantels bereits hochgeklappt war, vollführte seine Hand noch einmal die Bewegung des Hochstellens. Es fror ihn nicht nur am Hals, sondern auch in der Rippengegend. Mit einem raschen Griff in die Brusttasche überzeugte er sich davon, daß er sein Empfehlungsschreiben dabeihatte.

Die Zahl der Passanten auf der Straße hatte unterdessen erkennbar abgenommen. Alle Beamten sitzen wahrscheinlich längst an ihren Schreibtischen, dachte er erschrocken. Dann fiel ihm ein, daß er ja noch gar kein Beamter war, und er beruhigte sich wieder.

In der Ferne meinte er einen der Seitenflügel des Tabir Saray auszumachen, und beim Näherkommen stellte er fest, daß er sich nicht getäuscht hatte. Er war es wirklich, mit seinen in einer fahlen Farbe getünchten Giebeln, die einst ein helles Blaugrün gewesen sein mochte.

Mark-Alem umrundete einen fast verwaisten Platz, an dem sich eine Moschee mit zwei seltsam dünnen Minaretten erhob. Die beiden Seitentrakte des mächtigen Gebäudes waren im Schneetreiben kaum zu erkennen. Der mittlere Teil wich nach hinten zurück. Mark-Alems Beklommenheit wuchs. Er sah eine lange Reihe gleichmäßig dimensionierter Portale vor sich, aber als er näher heran war, stellte er fest, daß es sich nicht um Eingänge handelte, denn die nassen Flügeltüren waren offenbar lange nicht geöffnet worden.

Im Vorübergehen betrachtete er aus den Augenwinkeln die Flucht unbenutzter Türen. Ein Mensch, dessen Hände und Nase von der Kälte gerötet waren, stand plötzlich vor ihm.

»Wo ist denn hier der Eingang?« erkundigte sich Mark-Alem.

Der Mensch zeigte nach rechts. Der Ärmel seines Kaftans war so weit, daß er an der Bewegung des Arms gar nicht beteiligt schien. Meine Güte, immer noch diese Maskerade, dachte Mark-Alem, während er sich in die Richtung wandte, die ihm der dünne Arm in dem gewaltigen Ärmel gewiesen hatte. Gleich darauf hörte er Schritte neben sich. Es war schon wieder der Mensch im Kaftan.

»Dort«, sagte er. »Der Personaleingang ist dort drüben.«

Mark-Alem fühlte sich geschmeichelt, daß der andere ihn zum Personal rechnete. Dann stand er endlich vor dem Eingang. Die Türen wirkten wuchtiger, als sie wirklich waren. An allen vier Flügeln gab es die gleichen massiven Bronzegriffe. Mark-Alem drückte gegen einen, und zu seinem Erstaunen schwang die Tür auf. Er trat ein und fand sich in einer kalten Eingangshalle wieder, die so hoch war, daß man, wenn man nach oben blickte, in ein tiefes Loch zu schauen glaubte. Auf allen vier Seiten gab es Türen. Mark-Alem drückte eine Klinke nach der anderen herunter, bis schließlich eine der Türen aufging und er in einem nicht ganz so kalten Korridor landete. Hinter einer Glasscheibe steckten mehrere Leute die Köpfe zusammen, vermutlich die Türhüter oder Beamte, die zum Dienst an der Pforte eingeteilt waren, jedenfalls trugen alle Monturen vom fahlen Blaugrün der Palastfassade. Einen Augenblick glaubte Mark-Alem auf den Gewändern sogar Flecken zu erkennen, wie er sie von weitem draußen auf den Mauern gesehen hatte, aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Blauberockten unterbrachen ihr Gespräch und schauten ihn fragend an. Mark-Alem öffnete den Mund zu einem Gruß, doch in ihren Blicken entdeckte er so viel unverhohlenen Ärger über die Störung, daß er nicht guten Morgen sagte, sondern nur den Namen des Beamten nannte, bei dem er sich vorzustellen hatte.

»Aha, ein Einstellungsgespräch«, sagte einer der Männer. »Erster Stock rechts, Zimmer elf.«

Wie jeder, der sich bei einer wichtigen Behörde bewirbt und Angst hat, abgewiesen zu werden, wäre Mark-Alem froh über ein paar aufmunternde Worte gewesen, doch diese Leute hier konnten es gar nicht erwarten, endlich zu ihrer verwünschten Unterhaltung zurückkehren zu können, bei der er sie gestört hatte, so daß er sich, als er in die Richtung ging, die man ihm gewiesen hatte, von ihren Blicken geradezu geschoben fühlte.

»Doch nicht dorthin, nach rechts«, hörte er hinter sich rufen. Ohne sich umzuschauen, wechselte er die Richtung. Nur die Aufregung, das kalte Zittern, das immer wieder seinen Körper überlief, bewahrte ihn davor, sich gekränkt zu fühlen.

Der Korridor, in den er geriet, war lang und finster. Dutzende von hohen Türen gingen davon ab, die alle keine Nummer trugen. So zählte er bis elf und blieb dann stehen. Er hätte gerne noch einmal nachgefragt, ob dies auch wirklich das richtige Büro war, aber weit und breit ließ sich keine Menschenseele entdecken. Mark-Alem atmete tief durch, hob die zur Faust geballte Hand und klopfte leise an. Drinnen blieb es still. Er schaute nach links und nach rechts, dann klopfte er noch einmal, diesmal ein wenig fester. Wieder rührte sich drinnen nichts. Nach dem dritten Klopfen drückte er gegen die Tür, und sie ging auf. Erschrocken langte er nach der Klinke, um die Tür, die traurig quietschend immer weiter aufschwang, wieder zuzuziehen, aber dann stellte er fest, daß der Raum völlig leer war. Er zögerte, die verlassene Amtsstube zu betreten, schließlich war er mit den für solche Fälle gültigen Verhaltensmaßregeln oder Vorschriften nicht vertraut. Endlich hörte die Tür auf zu quietschen. Unschlüssig stand er eine Weile auf der Schwelle und starrte auf die langen Bänke an den Wänden, dann berührte er mit der Hand das Empfehlungsschreiben in der Innentasche seiner Jacke, gab sich einen Ruck und trat ein. Zum Teufel damit! Er dachte an das stattliche Haus am Königsboulevard, in dem seine mächtige Sippe oft nach einem gemeinsamen Mahl den Abend im Salon ausklingen ließ. Er dachte daran, daß es erst knapp zwei Stunden her war, seit er die mit einem roten Läufer bedeckte Treppe ins Erdgeschoß hinuntergegangen war, wo ihn im Speisezimmer seine Mutter und die Haushälterin mit dem Frühstück erwarteten. Vorher stattete er aber noch der geräumigen Bibliothek einen Besuch ab, weil der hellblaue Teppich, mit dem sie ausgelegt war, beruhigend auf ihn wirkte, wenn er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Heute hatte selbst das nichts geholfen. Er war vor das Bücherregal getreten und hatte wie so oft den dicken Folianten zur Hand genommen, auf dessen Ledereinband ein goldenes »Q« samt der Inschrift »Die Generationen der Qyprilli« eingeprägt war. Weiter unten hatte eine Hand, die offenbar mit zu vielen Ringen geschmückt gewesen war, um noch sicher die Feder führen zu können, in krakeligen Buchstaben auf Französisch hingeschrieben: »Chronique«.

Mark-Alem holte tief Luft. Der Gedanke an seine Familie, bei dem er gerne noch eine Weile Zuflucht gesucht hätte, verflüchtigte sich unter dem Druck der Angst. Menschliche Stimmen drangen an sein Ohr, doch er konnte nicht genau feststellen, woher sie kamen. Er schaute sich um und bemerkte, daß es noch eine weitere Tür im Zimmer gab. Dahinter wurde gesprochen. Eine Zeitlang lauschte er, doch er konnte nichts verstehen, weil zu leise geredet wurde. Er war nun ganz auf die Tür konzentriert, hinter der, wie ihm schien, mehr Wärme herrschte.

Mit den Händen auf den Knien saß er lange Zeit unbeweglich da. Was immer ihn noch erwarten mochte, er befand sich auf jeden Fall schon einmal in einem Gebäude, zu dem nur wenige Auserwählte Zutritt hatten. Wie es hieß, kamen hier selbst Minister nur mit einer Sondergenehmigung herein.

Er mußte erneut an den Folianten zu Hause in der Bibliothek denken. Deutlicher als ganze Zeilen hatte er einzelne Buchstaben in unterschiedlichen Handschriften vor Augen. In den meisten Fällen waren die Verfasser wohl schon in den Herbst ihres Lebens eingetreten gewesen, oder Katastrophen hatten sich am Horizont abgezeichnet, so daß es ihnen nötig erschienen war, für die Nachwelt Zeugnis abzulegen.

Immer wieder schaute er zu der Tür hinüber, hinter der die Stimmen zu hören waren, aber es war ihm klar, daß er auf keinen Fall einfach hingehen und sie öffnen durfte, auch wenn dies womöglich bedeutete, daß er stunden- oder gar tagelang auf dieser langen Bank saß und dem gütigen Schicksal die Ehre erwies, dem er das unerwartet leichte Vordringen in dieses Wartezimmer verdankte. Nein, korrigierte er sich sofort, so leicht ist es nun auch wieder nicht gewesen. Erst der lange Fußmarsch durch den nassen Schnee, dann die versperrten Tore und schließlich die Beamten in ihren vitriolblauen Röcken, die über die verwaiste Pforte wachten – das konnte man nun wirklich nicht einfach nennen!

Er seufzte tief.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Mark-Alem sprang auf die Beine. Jemand streckte den Kopf heraus, entdeckte ihn und zog den Kopf wieder zurück, ließ aber die Tür einen Spalt offenstehen. Drüben wurde geredet.

Später hätte Mark-Alem nicht mehr zu sagen gewußt, wie lange er wartend dagestanden hatte. Die Tür blieb angelehnt, aber es waren keine Stimmen mehr zu hören, sondern nur noch ein merkwürdiges Scharren. Schließlich tauchte ein kleingewachsener Mann in der Tür auf. Er hielt ein Bündel Akten in der Hand, das mindestens die Hälfte seiner Aufmerksamkeit beanspruchte, wie Mark-Alem dankbar konstatierte. Immerhin erntete er einen fragenden Blick. Er war nahe daran, sich dafür zu entschuldigen, daß er den Beamten aus seiner bestimmt behaglich warmen Amtsstube gelockt hatte, aber der Blick des Kleinwüchsigen ließ es ihm dann doch geraten erscheinen, den Mund zu halten. So beschränkte er sich darauf, mit einer vorsichtigen Bewegung das Empfehlungsschreiben aus der Brusttasche zu ziehen und es dem anderen hinzustrekken. Dieser griff erst danach, zog die Hand dann aber hastig wieder zurück, als fürchtete er, sich an dem Blatt die Finger zu verbrennen. Immerhin dehnte er ein wenig den Hals, um einen Blick auf das Geschriebene zu werfen. Als er den Kopf wieder zurückzog, meinte Mark-Alem in seinen Augen ein spöttisches Funkeln zu entdecken.

»Komm mit«, sagte der Beamte und ging voraus zur Tür. Mark-Alem folgte ihm hinaus auf den Korridor. Eine Weile versuchte er sich den Weg einzuprägen, doch dann gab er auf. Es war einfach unmöglich.

Der Flur war wesentlich länger, als er zunächst angenommen hatte. Durch Seitengänge fiel ein schwaches Licht herein. In einen davon bogen sie schließlich ab. Der Beamte blieb vor einer Tür stehen, klopfte an und trat in den Raum, ohne sie hinter sich zu schließen. Mark-Alem zauderte, doch der andere bedeutete ihm durch ein Zeichen, zu folgen.

Mark-Alem roch das Feuer, noch ehe er die Wärme spürte, die von ihm ausging. Ein mit glühender Holzkohle gefülltes Kupferbecken stand in der Mitte des Raumes. Hinter einem hölzernen Schreibtisch saß ein ungewöhnlich langgesichtiger, mürrisch blickender Mensch. Mark-Alem hatte den Eindruck, die Augen des Mannes seien schon lange vor ihrem Eintreffen wartend auf die Tür gerichtet gewesen.

Der kleine Mann, zu dem Mark-Alem inzwischen ein gewisses Zutrauen gefaßt hatte, flüsterte dem Langgesichtigen, der weiter unverwandt auf die Tür starrte, als werde dort ständig angepocht, etwas ins Ohr. Er hörte sich die geflüsterten Erklärungen des Bediensteten an, dann murmelte er mit regloser Miene eine kurze Antwort. Mark-Alem rechnete inzwischen damit, daß man ihn trotz aller familiärer Bemühungen in seiner Sache wieder fortschickte, daß selbst das Empfehlungsschreiben in den aus unerfindlichen Gründen immer nur auf die Tür gerichteten Augen dieses Menschen nichts wert sein würde.

Er vernahm Worte, die an ihn gerichtet zu sein schienen. Seine Hand kämpfte mit den feindlichen Falten des Mantels, bis es ihr endlich gelang, das Empfehlungsschreiben hervorzuziehen, das Mark-Alem dann allerdings sofort wieder zu verbergen versuchte, weil ihm das Gesicht, das er vor sich hatte, nun noch mürrischer zu werden schien und er sich überhaupt verhört zu haben glaubte. Doch der kleingewachsene Beamte streckte schon die Hand nach dem Papier aus. Mark-Alem faßte wieder Mut und reichte ihm das Schreiben. Er hatte sich allerdings zu früh gefreut. Der Beamte vermied es erneut, das Blatt zu berühren. Seine Hand bewegte sich nur durch die Luft, um dem Schreiben seine Bestimmung zu weisen. Der völlig verwirrte Mark-Alem begriff schließlich, daß er den Brief dem anderen Beamten zu übergeben hatte, der offensichtlich einen höheren Rang einnahm als sein Begleiter.

Zu seinem Erstaunen nahm der Hochrangige das Schreiben auch wirklich entgegen, wandte seinen Blick von der Tür ab (worauf Mark-Alem schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte) und begann zu lesen. Mark-Alem starrte ihn an und versuchte seine Miene zu deuten. Plötzlich geschah etwas Furchtbares. Mark-Alem hatte den Eindruck, die Erde unter ihm reiße auf wie bei einem Erdbeben, es öffne sich ein Loch des Schreckens, und tatsächlich brach etwas ein, obwohl es eigentlich eher nach dem Gegenteil aussah. Der mürrische Funktionär erhob sich, ohne mit dem Lesen aufzuhören, in einer langsamen, fließenden Bewegung, die Mark-Alem besonders bestürzte. Das Aufstehen schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Mark-Alem war, als käme das Haupt des furchtbaren Funktionärs, in dessen Hand sein Schicksal lag, der Zimmerdecke immer näher und werde sie schließlich dagegenstoßend zum Bersten bringen, um sich dann, ganz zerkratzt und mit Gips bestäubt, Stockwerk um Stockwerk nach oben zu bohren, bis es endlich zum Dach hinausragte. Genug, hätte Mark-Alem fast laut hinausgeschrien, ich erhebe ja gar keinen Anspruch auf Einstellung mehr, man soll mir nur einfach meinen Brief zurückgeben, Hauptsache, dieser Funktionär erhebt sich nicht weiter, doch auch stumm geblieben schien sein Aufschrei erhört zu werden, denn das Aufstehen nahm ein Ende.

Der andere war, wie Mark-Alem nun verwundert feststellte, nur von mittlerem Wuchs. Er wollte bereits erleichtert aufatmen, doch es war zu früh. Kaum stand der Funktionär nämlich aufrecht da, begann er auch schon, sich so fließend wie vorher von der Stelle zu bewegen. Er entfernte sich vom Tisch und begab sich in die Mitte des Raumes. Der Bedienstete, der Mark-Alem herbegleitet hatte, ahnte offenbar, was gleich geschehen würde, und machte Platz. Mark-Alem fiel endgültig ein Stein vom Herzen. Der andere war bloß aufgestanden, weil er steif war vom langen Sitzen, weil ihm Hämorrhoiden oder ein Krampf zu schaffen machten, und er hatte sich schon wieder das Schlimmste ausgemalt. Seine Nerven waren in letzter Zeit wahrhaftig nicht die besten.

Zum ersten Mal an diesem Morgen getraute sich Mark-Alem, seinem Gegenüber direkt in die Augen zu schauen. Der Funktionär hatte das Empfehlungsschreiben noch immer in der Hand. Mark-Alem rechnete fest damit, daß er »Ja, ich weiß Bescheid, natürlich wirst du eingestellt« sagte oder ihm doch wenigstens Hoffnung auf eine positive Entscheidung in den kommenden Wochen oder Monaten machte. Immerhin hatte seine weitverzweigte Verwandtschaft mehr als zwei Monate lang auf diesen Termin hingearbeitet. Er hatte vor diesem hohen Funktionär ganz ohne Grund gezittert, denn der war auf gute Beziehungen zu Mark-Alem und seiner mächtigen Sippe bestimmt viel mehr angewiesen als umgekehrt. Gewissermaßen als Echo auf diese Überlegung fiel ihm ein, was er in der »Chronique« gelesen hatte: Der erste unserer Sippe, also ihr Stammvater, war Met Qyprilli aus Roshnik bei Berat im mittleren Albanien, geboren im Jahr 1575. Er übernahm das Amt des Premierministers nur unter der Bedingung, daß der Sultan ihm bei seinen Dekreten freie Hand ließ. Sein ältester Sohn Fazil Ahmed Pascha folgte dem Vater im Amt des Premierministers nach. Er stellte die osmanische Herrschaft über Kreta wieder her, unternahm den Feldzug gegen Ungarn und führte Krieg gegen Polen, wobei er die Hälfte der Ukraine für das Osmanische Reich eroberte.

Gelassenheit erfüllte Mark-Alem, als er den Funktionär anschaute, sogar ein Lächeln schien möglich, und es wäre wahrscheinlich auch zu einem gekommen, hätte sich nicht unvermutet etwas Gräßliches ereignet. Vor ihm stehend, entfaltete der Beamte bedächtig das Empfehlungsschreiben, und gerade als sich Mark-Alem auf eine wohlwollende Bemerkung einstellte, zerriß er es in vier Stücke. Mark-Alem war wie vom Blitz getroffen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht auch nur, um nach Luft zu schnappen, als der Funktionär gerade so, als habe das Zerreißen des Briefes noch nicht gereicht, auch noch einen Schritt zum Kohlebecken tat und die Papierfetzen in die schläfrige, durch die dünne Aschenschicht darüber gleichsam ergraut wirkende Glut warf, worauf eine kleine Flamme aufzuckte, die allerdings gleich wieder in sich zusammenfiel und nur ein paar verkohlte Fetzen übrigließ.

»Der Tabir Saray akzeptiert grundsätzlich keine Empfehlungen«, sagte der Funktionär mit einer Stimme, die Mark-Alem an das Dröhnen einer Turmuhr um Mitternacht erinnerte.

Er war wie vor den Kopf geschlagen. Was sollte er tun? Einfach weiter so dastehen, auf der Stelle die Flucht ergreifen, sich entrüsten oder womöglich gar um Entschuldigung bitten? Als wäre er imstande, Gedanken zu lesen, verschwand der kleinwüchsige Bedienstete, der ihn herbegleitet hatte, geräuschlos aus dem Amtszimmer, und die beiden blieben allein zurück. Das Glutbecken zwischen sich, standen sie einander gegenüber, doch es dauerte nicht lange, und der Funktionär begab sich mit den gleichen träge fließenden Bewegungen, die ihn hergebracht hatten, zurück an seinen Platz hinter dem Schreibtisch, so langsam, daß es schien, er werde nie ankommen. Als er seinen Platz schließlich erreicht hatte, ließ er sich nicht gleich nieder, sondern setzte hüstelnd zum Sprechen an. Sein Blick wanderte zwischen Mark-Alem und der Tür hin und her, als er sagte:

»Der Tabir Saray akzeptiert keine Empfehlungsschreiben, weil dergleichen, also Gefälligkeit irgend jemand gegenüber, im krassen Widerspruch zum Wesen des Tabir Saray steht.«

Mark-Alem verstand nicht.

»Nicht Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen, sondern die Abschottung dagegen, nicht Durchdringung, sondern Absonderung sind die Grundprinzipien des Tabir Saray. Oder anders ausgedrückt: nicht die Empfehlung, sondern die Nichtempfehlung. Trotzdem wirst du heute eingestellt.«

Wie war das? Hatte er richtig gehört? Ungläubig schaute Mark-Alem zu den verkohlten Papierresten auf der greisen, schläfrigen Glut hinüber.

»Ja, du wirst von nun an hier arbeiten«, wiederholte der Funktionär, dem offenbar Mark-Alems schneller Seitenblick nicht entgangen war.

Er holte tief Luft, stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte (erst jetzt bemerkte Mark-Alem, daß diese mit Akten überhäuft war) und begann zu sprechen:

»Der Tabir Saray oder Palast der Träume, wie man ihn in heutiger Sprache nennt, ist eine der tragenden Säulen unseres Königreichs.«

Er legte eine kurze Pause ein, wobei er Mark-Alem prüfend anschaute, als traue er dem Neuling nicht ohne weiteres zu, daß er ihn auch verstand. Sein Ton war so gestelzt, daß er selbst als Redner bei einer offiziellen Festveranstaltung damit aufgefallen wäre. Mark-Alem konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Ansprache, die an ihn gerichtet wurde, in eine ganz andere Zeit und in einen Kreis von im Dienst ergrauten Beamten gehörte, die gerade in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet wurden. Ein Anfänger konnte jedenfalls wenig damit anfangen.

»Die Welt ist schon seit langer Zeit vertraut mit der Bedeutung, die Träume für das Schicksal von Staaten und Herrschern haben können«, sprach der Beamte. »Du wirst, wie ich vermuten darf, vom Orakel von Delphi im alten Griechenland gehört haben, und hoffentlich auch von den zu großem Ruhm gelangten römischen, assyrischen, persischen und mongolischen Traumauslegern. In alten Schriften können wir nachlesen, wie sie unheilvolle Entwicklungen vorausgesehen und so geholfen haben, sie abzuwenden. Natürlich erlebten sie auch Mißerfolge: Manchmal glaubte man ihnen nicht oder doch erst, wenn es bereits zu spät war. Ich spreche also davon, daß Ereignisse ihren Schatten vorauswarfen und in ihrem Gang beeinflußt wurden, so man die Vorzeichen richtig deutete, oder auch nicht, wenn dies versäumt wurde. Wir haben es hier unstreitig mit einer höchst bedeutsamen Tradition zu tun, doch im Vergleich zur titanenhaften Leistung des Tabir Saray ist sie nicht mehr als ein trübes kleines Lichtlein. Unser kaiserlicher Staat hat die Traumdeutung auf eine ganz neue Stufe gehoben, indem er sie zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit institutionalisierte.«

Mark-Alem hörte verwirrt zu. Er hatte sich von all den Überraschungen dieses Morgens noch nicht erholt, und die so geschliffenen wie komplizierten Sätze, die auf ihn niederprasselten, waren zuviel für ihn.

»Einstmals ging es ja nur um einzelne Träume von einzelnen Menschen, denen man auf diesem Gebiet aus verschiedenen Gründen ein Exklusivrecht zugestand, die also praktisch das Monopol auf Weissagung vermittels ihrer Kontakte zu den Göttern für sich in Anspruch nehmen konnten. Dagegen ist unserem Palast der Träume, der auf persönliche Weisung unseres allmächtigen Sultans gegründet wurde, als Aufgabe der ›totale Tabir‹ übertragen worden, also die Erfassung und Erklärung der Träume von ausnahmslos allen Staatsbürgern. Vor diesem gewaltigen Unterfangen müssen das Orakel von Delphi und die Wahrsager- oder Magierkasten früherer Zeiten in ihrem Tun kümmerlich und lächerlich erscheinen. Unser Gebieter ließ sich bei der Einrichtung des Tabir Saray von dem Grundgedanken leiten, daß Allah sinnträchtige Träume genauso beliebig über dem Erdball ausgießt, wie er Regenbogen spannt und Blitze verschleudert oder plötzlich Kometen in unsere Nähe schickt, die er aus den geheimnisvollen Tiefen des Weltenraums hervorgeholt hat. Das heißt, er schüttet seine Warnungen über den Globus aus, ohne darauf zu achten, wo sie niedergehen, denn er hat dort oben einfach nicht die Zeit, sich um solche Nebensächlichkeiten zu kümmern. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die Träume einzusammeln und aus Millionen und Abermillionen davon die wenigen wichtigen Botschaften herauszusuchen, so wie man im Wüstensand nach Edelsteinen gräbt. Denn ein Traum, der wie ein herumfliegender Funke zufällig im Gehirn eines bestimmten unter vielen Millionen schlafender Menschen gelandet ist, kann dazu taugen, Unheil vom Staat und von unserem allgewaltigen Gebieter abzuwenden, einen Krieg oder den Ausbruch der Pest zu vermeiden, und manchmal vermag man auch neue Ideen und Lehren daraus zu gewinnen. Deshalb ist der Palast der Träume selbst durchaus kein Traumgespinst, sondern eine der tragenden Säulen des Staates. Wesentlich besser als alle wissenschaftlichen Forschungen und Abhandlungen, alle Protokolle, Rapporte oder Untersuchungsberichte der Polizei, alle Bulletins der Gouverneure von Paschaliks ist er geeignet, ein Bild vom wirklichen Zustand des Reiches zu vermitteln. Denn auf dem nächtlichen Subkontinent des Schlafes sind das Licht und die Finsternis, der Honig und das Gift, die Größe und das Elend der Menschheit versammelt. Alles, was jetzt oder in eine paar Jahren oder Jahrhunderten als suspekt und gefährlich zu gelten hat, ist in den Träumen der Menschen schon vorher in Umrissen zu erkennen. Es gibt keine Erregtheiten und arglistigen Gedanken, keine Schicksalswendungen und Katastrophen, keine Aufrührereien und anderen Freveltaten, die nicht ihren Schatten weit vorauswerfen. Deshalb ist es der Befehl unseres allmächtigen Padischah, daß dem Tabir Saray kein einziger Traum entschlüpfe, der an irgendeinem Tag von irgend jemand geträumt worden ist, und sei es auch an den entferntesten Grenzen des Staates der allergeringste unter Allahs Dienern gewesen. Noch ernster zu nehmen ist seine Weisung, daß das Bild, das aus der Erfassung, Sichtung und Erforschung der Träume vieler Tage, Wochen und Monate gewonnen wird, so genau wie möglich zu sein habe und für Mißdeutungen keinen Raum biete. Dazu bedarf es nicht nur bedeutender Anstrengungen bei der Untersuchung des Gegenstandes, wichtig ist auch, daß sich der Tabir Saray gegen jegliche äußere Einflußnahme abschirmt. Außerhalb des Tabir Saray gibt es nämlich Kräfte, die aus dem einen oder anderen Grund fest entschlossen sind, ihr Gedankengut hier einzuschmuggeln, um dann später ihr eigenes Wollen, ihre Geistesgüter und Gemütsaufwallungen als heilige Funken feilbieten zu können, die angeblich Allah in die Gehirne schlafender Menschen gepflanzt hat. Daher akzeptiert der Tabir Saray keine Empfehlungsschreiben.«

Unwillkürlich warf Mark-Alem einen Blick auf das verkohlte Blatt, das inzwischen, schon ganz dünn geworden, wie ein Spukwesen über der Glut tanzte.

»Die Abteilung, in der du zu arbeiten beginnst, ist die Selektion«, sprach der Beamte im gleichen Ton weiter. »Neulinge werden gewöhnlich mit weniger wichtigen Aufgaben befaßt, du jedoch fängst gleich in der Selektion an, denn du genießt unser Wohlwollen.«

Aus den Augenwinkeln warf Mark-Alem einen mißbilligenden Blick auf das immer noch herumtanzende verkohlte Blatt: Wann verschwindest du endlich?

»Das erste und wichtigste Gebot für dich«, fuhr der Beamte fort, »heißt absolute Verschwiegenheit. Vergiß nie, daß der Tabir Saray eine nach außen abgeschottete Einrichtung ist.«

Er erhob die Hand vom Tisch, sonderte einen der Finger von den anderen und vollführte damit in der Luft eine drohende Gebärde.

»Viele Leute aus allen möglichen Lagern haben den Tabir Saray schon zu infiltrieren versucht, aber er ist ihnen nie auf den Leim gegangen. Einsam ragt er aus dem Gewimmel der Menschen hervor, er hält sich heraus aus Parteiengezänk und Machtgezerre, er gestattet anderen nicht, ihm hineinzureden, und mischt sich selbst in fremde Angelegenheiten nicht ein. Du magst alles vergessen, was ich dir gesagt habe, mein Sohn, aber eines niemals, und das ist die Pflicht zur Verschwiegenheit. Nimm dies nicht bloß als guten Rat. Es ist das eherne Gesetz des Tabir Saray. Und nun geh an die Arbeit. Du kannst draußen nach dem Weg zur Selektion fragen. Dort weiß man Bescheid. Viel Glück!«

Mark-Alem schwirrte immer noch der Kopf, als er draußen vor der Tür stand. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, bei der er sich nach der Selektion hätte erkundigen können, also marschierte er aufs Geratewohl los. Die Worte des Funktionärs klangen ihm noch in den Ohren. Ärgerlich schüttelte er den Kopf, um sie loszuwerden, aber sie verfolgten ihn deshalb nur noch hartnäckiger. Von den Wänden und Säulen der leeren Flure kamen sie vervielfacht als drohendes Echo zurück. Du fängst gleich in der Selektion an, denn du genießt unser Wohlwollen.

Unwillkürlich ging Mark-Alem schneller. Se-lek-tion. Er zerlegte das Wort in seine Silben, und nun, da er allein war, klang es noch viel merkwürdiger. Weit hinten entdeckte er eine Gestalt, ohne genau feststellen zu können, ob sie sich entfernte oder näher kam. Mark-Alem wollte rufen, mindestens aber ein Zeichen geben, doch die Entfernung war zu groß. Er ging schneller, rannte fast, war bereit zu schreien, nur um sich dem Menschen bemerkbar zu machen, der ihm in diesem gottverlassenen Korridor als die einzige Rettung erschien. Plötzlich waren linker Hand Schritte zu hören. Er blieb stehen und lauschte. Die Schritte kamen aus einem Seitengang, der ein Stück hinter ihm in den Hauptgang mündete. Das Geräusch war von bedrohlicher Regelmäßigkeit. Mark-Alem schaute sich um und erblickte eine Gruppe von Männern, die mit großen Aktenbündeln in den Händen schweigend herankamen. Die Aktendeckel hatten alle dieselbe Farbe, es war das blasse Vitriolblau der Fassaden und der Röcke der Pförtner.

»Ach bitte, wie komme ich zur Selektion?« fragte Mark-Alem mit bebender Stimme, als ihn die Männer überholten.

»Dreh um und geh zurück«, sagte einer mit heiserer Stimme. »Man merkt gleich, daß du neu bist.«

Mark-Alem wartete geduldig ab, bis der andere einen längeren Hustenanfall überstanden hatte und ihm mitteilen konnte, daß er den vierten Quergang rechts nehmen mußte, um zu der Treppe zu gelangen, die ins erste Obergeschoß hinaufführte, wo er sich erneut erkundigen sollte.

»Vielen Dank, mein Herr!« sagte Mark-Alem.

»Keine Ursache«, antwortete der Unbekannte. Mark-Alem hörte ihn hinter sich husten und dann sagen: »Ich habe mich wirklich böse erkältet!«

Es dauerte lange, bis Mark-Alem die Selektion gefunden hatte.

»Sie sind also Mark-Alem?« fragte ihn der erste, der ihm dort begegnete. Der seltsame Name amüsierte ihn offenbar.

Mark-Alem nickte.

»Kommen Sie mit«, sagte der andere, »der Chef erwartet Sie bereits.«

Gehorsam folgte ihm Mark-Alem durch eine Flucht von Sälen, in denen an langen Tischen Dutzende von Bediensteten über Akten gebeugt saßen. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit.

Der Abteilungsvorsteher saß wie alle anderen an einem langen Tisch und hatte zwei Dossiers vor sich liegen. Mark-Alems Begleiter ging zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mark-Alem hatte den Eindruck, daß der Angesprochene überhaupt nicht zuhörte. Sein Blick wanderte weiter über das beschriebene Blatt, allerdings glaubte Mark-Alem in seinen Augenwinkeln ein Flackern zu erkennen, das dem verblaßten Rand eines Schreckens glich, dessen Zentrum weit entfernt war.

Eigentlich hätte Mark-Alem erwartet, daß sich sein Begleiter ein weiteres Mal zum Chef hinabbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, doch er dachte gar nicht daran. Er stand bloß da und wartete, bis der Abteilungsvorsteher sich endlich um ihn kümmerte. Aber das dauerte. Mark-Alem gab schon alle Hoffnung auf. Wahrscheinlich standen sie noch in ein paar Stunden so da, möglicherweise sogar über den Dienstschluß hinaus. Tiefste Stille herrschte. Außer einem leisen Rascheln beim Umblättern war kein einziges Geräusch zu hören. Plötzlich bemerkte Mark-Alem, daß der Chef zu lesen aufgehört hatte. Sein Blick war zwar noch auf das vor ihm liegende Dossier geheftet, doch er war nicht mehr konzentriert. Offenbar dachte der Mann über das Gelesene nach. Dieses Nachdenken dauerte genauso lange wie das Lesen selbst. Schließlich rieb sich der Chef die Augen, dann schaute er Mark-Alem an. Der schwach flackernde Schrecken war aus seinem Blick verschwunden.

»Du bist also der Neue?«

Mark-Alem nickte. Wortlos stand der Chef auf und ging den beiden anderen zwischen den langen Tischen hindurch voraus. Sie durchquerten ein paar Säle, die Mark-Alem bereits kennengelernt hatte.

Seinen künftigen Arbeitsplatz entdeckte er schon von weitem. Vor einem leeren Stuhl lag ein ungeöffnetes Dossier. Der Chef blieb an dem Tisch stehen und zeigte mit dem Finger auf den freien Platz.

»Hier arbeitest du«, sagte er.

Mark-Alem blickte auf den grünlichblauen Aktendeckel. »Die Selektion besteht aus vielen solchen Sälen«, erklärte der Abteilungsvorsteher mit einer weit ausholenden Gebärde seines rechten Armes. »Wir sind hier in einer der wichtigsten Abteilungen des Tabir.« Er sprach im gleichen Tonfall wie der Funktionär vorhin. Es war, als hätten all diese Leute irgendwo eine alte Rede ausgegraben und dann wie ein Rudel Hyänen untereinander aufgeteilt. »Manche meinen, die Interpretation sei das Herz des Tabir Saray. Aber das stimmt nicht. Die Interpretierer halten sich für die Aristokraten des Tabir. Sie schauen auf uns Selektierer herunter, um nicht zu sagen, sie verachten uns. Allerdings, das solltest du wissen, ist ihre Überheblichkeit ganz unbegründet. Jeder, der seinen Verstand einigermaßen beisammen hat, erkennt sofort, daß die Interpretation ohne uns, die Selektion, nichts anderes wäre als eine Mühle ohne Mühlbach. Sie hängen völlig von uns ab.«

Der Chef machte eine kreisende Bewegung mit der Hand. »Was soll’s! Du arbeitest nun hier und wirst es bald selbst merken. Ich darf annehmen, daß man dich in groben Zügen bereits eingewiesen hat. Es wäre eine unnötig große Belastung für dich, wollte ich dir heute schon alles erklären. Deshalb beschränke ich mich für den Anfang auf das Wichtigste. Den Rest wirst du im Lauf der Zeit selber lernen. Das hier ist Saal eins.«

Der Chef vollführte erneut eine kreisende Handbewegung.

»Wir nennen ihn den Erbsensaal«, fuhr er fort. »Hier werden nämlich die Träume vorverlesen. Hier fängt alles an. Hier …«

Seine Augen wurden ganz schmal, als er versuchte, den verlorenen Faden wiederzufinden.

»Egal«, sagte er nach einer Weile. »Genaugenommen wird ja schon in unseren Dienststellen an der Basis vorverlesen. Es gibt im ganzen Reich eintausendneunhundert davon, und jede hat wieder eigene Außenstellen, und ehe die Träume an die Zentrale weitergeleitet werden, trifft man dort eine Vorauswahl. Doch das ist natürlich nicht ausreichend. Richtig verlesen wird erst hier. Wir trennen die Spreu vom Weizen, also die wertlosen Träume von den wertvollen. Diese Trennung, diese Reinigung ist die wesentliche Aufgabe der Selektion. Verstehst du?«

Inzwischen hatte sich der Chef in Enthusiasmus hineingeredet, seine Augen blitzten. Er rang nun nicht mehr um jede einzelne Formulierung, vielmehr standen ihm jetzt offenbar sogar mehr Worte zur Verfügung, als für seine Gedanken eigentlich nötig waren, so daß er immer schneller redete, um ja keines ungenutzt zu lassen.