Doruntinas Heimkehr - Ismail Kadare - E-Book

Doruntinas Heimkehr E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

»Vor unseren Augen entsteht gerade eine Legende« Es ist mitten in der Nacht, als Doruntina an die Tür ihres Elternhauses klopft. Ganz unerwartet habe ihr Bruder Konstantin sie aus dem fernen Böhmen hierher nach Hause gebracht, erklärt sie ihrer Mutter. Aber Konstantin ist seit zwei Jahren tot, im Krieg gefallen wie alle neun Brüder von Doruntina. Die Mutter bricht zusammen. Doruntina aber beharrt auf ihrer Geschichte, die für immer größere Unruhe im Dorf sorgt. Bezirkshauptmann Stres versucht, das Rätsel um Doruntinas Heimkehr lösen, und wird doch selbst immer weiter hineingezogen in die unerklärlichen Umstände. Ismail Kadares Bearbeitung einer albanischen Volkssage ist eindrückliche politische Metapher, eine brillante Kriminalnovelle und ein spannender Versuch über die Wahrheit in allen Zeiten.

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Seitenzahl: 201

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ismail Kadare

Doruntinas Heimkehr

Roman

 

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

»Eine faszinierende Mischung aus Kriminal- und Gespenstergeschichte« Michael Kleeberg, Die literarische Welt

 

Es ist mitten in der Nacht, als Doruntina an die Tür ihres Elternhauses klopft. Ganz unerwartet habe ihr Bruder Konstantin sie aus dem fernen Böhmen hierher nach Hause gebracht, erklärt sie ihrer Mutter. Aber Konstantin ist seit zwei Jahren tot, im Krieg gefallen wie alle neun Brüder von Doruntina. Die Mutter bricht zusammen. Doruntina aber beharrt auf ihrer Geschichte, die für immer größere Unruhe im Dorf sorgt. Bezirkshauptmann Stres versucht, das Rätsel um Doruntinas Heimkehr lösen, und wird doch selbst immer weiter hineingezogen in die unerklärlichen Umstände.

Ismail Kadares Bearbeitung einer albanischen Volkssage ist eindrückliche politische Metapher, eine brillante Kriminalnovelle und ein spannender Versuch über die Wahrheit in allen Zeiten.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

 

Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 1980 unter dem Titel »Kush e solli Doruntinën?« bei Shtëpia Botuese Naim Frasheri, Tirana.

Die Übersetzung folgt der 1981 in Ismail Kadare »Vepra letrare 8« bei Shtëpia Botuese Naim Frasheri veröffentlichten, leicht überarbeiteten Fassung.

© 1980, Librairie Arthème Fayard

All rights reserved

Die deutsche Erstausgabe erschien 1982 in der deutschen Übersetzung von Joachim Röhm im Residenz Verlag, Salzburg und Wien

Für diese Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Coverabbildung: Arkadivna/iStock by Getty Images

ISBN 978-3-10-492061-0

 

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Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Erstes Kapitel

Stres lag noch im Bett, als er ein Klopfen an der Tür zu hören meinte. In der Hoffnung, das Pochen ersticken zu können, vergrub er das Gesicht tiefer im Kopfkissen, doch es kam wieder. Wer, zum Teufel, will denn zu dieser Stunde etwas von mir, dachte er verdrossen, während er die Bettdecke zurückschlug. Als er die Treppe hinabstieg, pochte es zum dritten Mal, doch diesmal verriet Stres der Schlag des metallenen Türklopfers, wer draußen stand. Er schob den Eisenriegel zurück und öffnete die Tür mit einem Ruck. Auch wenn die Frage »Warum, zum Teufel, weckst du mich zu dieser Stunde?« nicht wirklich fiel, so sprach sie doch aus seinen verquollenen Augen und seiner ganzen Haltung.

»Es ist etwas geschehen«, sagte der Gehilfe schnell.

Stres sah ihn immer noch fragend an, und sein Blick ließ deutliche Zweifel erkennen, ob das Ereignis es wirklich wert sei, dass man ihn mitten in der Nacht störte. Zwar wusste er, dass sich sein Gehilfe in solchen Fällen selten täuschte, und wenn er versucht gewesen war, ihn zu schelten, hatte er stets gut daran getan, seinen Zorn im letzten Moment noch zu zügeln. Jetzt allerdings hätte er große Lust gehabt, ihn gehörig auszuzanken.

»Und was?« fragte er schließlich.

Der Gehilfe streifte das Gesicht seines Chefs mit einem flüchtigen Blick, dann trat er einen Schritt vor, um Bericht zu erstatten:

»Die alte Frau Vranaj und ihre Tochter Doruntina, die gestern Nacht unter gänzlich mysteriösen Umständen hier angekommen ist, liegen beide im Sterben.«

»Doruntina?« stieß Stres verwirrt hervor. »Wie kann das sein?« – Der Gehilfe atmete erleichtert auf: Die Störung war absolut gerechtfertigt gewesen. – »Wie kann das sein?«, wiederholte Stres, wobei er sich die Augen rieb, als gelte es, den restlichen Schlaf daraus zu entfernen. Er hatte wirklich sehr schlecht geschlafen. Noch nie hatte er erlebt, dass die erste Nacht nach einer ausgedehnten, zwei Wochen dauernden Dienstreise so quälend verlief. Kein Schlaf, nur ein einziges Alpdrücken. »Wie kann das sein?« fragte er bereits zum dritten Mal. »Sie ist so weit entfernt verheiratet, dass sie noch nicht einmal in Trauerzeiten heim zu ihrer Familie gekommen ist.«

»Richtig«, sagte der Gehilfe. »Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, dass sie gestern Abend unter gänzlich mysteriösen Umständen hier angekommen ist.«

»Und weiter?«

»Nun, beide liegen im Bett, und zwar in den letzten Zügen.«

»Merkwürdig! Ein Anschlag, ein Verbrechen?«

Der Gehilfe schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht. Es ist wohl eher der Schock.«

»Hast du sie schon gesehen?«

»Ja. Beide reden ziemlich wirr. Die Mutter fragt: Wer hat dich hergebracht, Tochter? Und diese antwortet: Mein Bruder Konstantin.«

»Konstantin, sagt sie? Konstantin, guter Gott, der ist doch schon seit drei Jahren tot, wie seine anderen Brüder auch.«

»Eben, das war auch die Antwort der Mutter, wie mir die Nachbarinnen, die bei ihr wachen, erzählten. Aber das Mädchen beharrt darauf, kurz nach Mitternacht sei sie mit ihm zusammen angekommen.«

»Merkwürdig«, sagte Stres und dachte dabei: Schrecklich!

Einen Moment lang standen sie einander schweigend gegenüber, bis die Kälte Stres daran erinnerte, dass er noch gar nicht angekleidet war.

»Warte«, sagte er und ging hinein.

Drinnen hörte man die verschlafene Stimme seiner Frau, die sich nach dem Grund der Störung erkundigte, und seine Antwort, die unverständlich blieb. Gleich darauf kam er in der Uniform des Bezirkshauptmanns zurück, die ihn noch größer und schmaler machte.

»Gehen wir also hin«, sagte er.

Schweigend legten sie ein Stück Wegs zurück. Vor einer Tür riefen verstreute Blütenblätter einer weißen Rose in Stres bruchstückhaft einen Traum wach, der sich seltsamerweise in seinen aufgewühlten Schlaf verirrt hatte.

»Das ist ja etwas ganz Außergewöhnliches«, sagte er.

»Fast unvorstellbar«, erwiderte der Gehilfe.

»Ehrlich gesagt, zuerst wollte ich es gar nicht glauben.«

»Das kann ich mir denken. Es ist ja auch unglaublich. Ein wahres Rätsel.«

»Mehr als ein Rätsel«, meinte Stres. »Je länger ich darüber nachdenke, desto unfassbarer erscheint es mir.«

»Vor allem muss man herausfinden, wie Doruntina herkommen konnte«, meinte der Gehilfe.

»Was?«

»Der Schlüssel zu dem Geheimnis ist, dass man herausfindet, wie Doruntina hergekommen ist, mit wem, oder besser, auf welche Art.«

»Mit wem«, wiederholte Stres, »auf welche Art … Ganz offensichtlich sagt sie nicht die Wahrheit.«

»Dreimal fragte ich sie, wie sie hergekommen sei, aber sie gab keine Erklärung dafür. Sie verschweigt etwas.«

»Wusste sie denn, dass alle ihre Brüder, Konstantin eingeschlossen, tot sind?« fragte Stres.

»Wie soll ich sagen? Ich glaube nicht.«

»Vielleicht wusste sie es gar nicht«, meinte Stres. »Sie zog nach ihrer Heirat so weit weg … so weit weg …«

Zu seiner Verwunderung spürte Stres, wie seine Kiefer immer schwerer wurden, so dass es ihm plötzlich Mühe machte, Worte zu formen. Was ist das bloß?, fragte er sich. Auch seine Lungen fühlten sich auf einmal so eng an, als sei er in eine Staubwolke geraten.

Er ging schneller, und das half ihm, die Beklemmung zu überwinden.

»Was wollte ich noch sagen?« fuhr er fort. »Ach ja, sie zog nach ihrer Heirat so weit weg, dass sie seither überhaupt nicht mehr zu Hause war. Wenn ich mich nicht täusche, ist dies das erste Mal, oder?«

»Dass sie selbst nach dem schrecklichen Tod ihrer neun Brüder nicht kam, zeigt doch, dass sie von dem Unglück gar nichts erfahren hatte«, sagte der Gehilfe. »Oft genug hat sich die alte Dame darüber beklagt, dass ihre Tochter selbst in diesen dunklen Tagen nicht bei ihr sein konnte, weil sie so weit weg geheiratet hatte.«

»Böhmens Wälder, wo sie mit ihrem Mann lebt, sind wahrhaftig ein ganzes Stück entfernt«, sagte Stres. »Eine Reise von mindestens zwei Wochen, wenn nicht mehr.«

»Wenn nicht noch mehr«, wiederholte der Gehilfe. »Das ist fast im Herzen Europas.«

Wieder fiel Stres’ Blick auf die weißen Rosenblüten, die eine unsichtbare Hand während der Nacht dort an der Straße ausgestreut zu haben schien. Sekundenlang glaubte er zu wissen, wo er sie gesehen hatte. Doch der ganze Traum wollte sich einfach nicht wieder einstellen. Die Stirn schmerzte ihn sogar. Das musste wohl die Stelle sein, an der sich der Traum während der Nacht Zutritt verschafft hatte, um später, vielleicht im Morgengrauen, die frische Wunde noch einmal aufzureißen, damit er sich davonstehlen konnte.

»Trotzdem, mit irgendjemand ist sie ja wohl hergekommen«, sagte er.

»Aber mit wem? Die Mutter glaubt ihrer Tochter natürlich so wenig wie wir, wenn sie sagt, sie sei mit dem Toten gekommen.«

»Aber warum sollte sie denn verheimlichen, wer sie begleitet hat?«

»Ich habe keine Ahnung. Es ist schon sehr verwirrend.«

Wieder legten sie ein Stück Wegs schweigend zurück. Die Herbstluft wehte kalt. Ein paar krächzende Krähen flogen in geringer Höhe vorbei. Stres sah ihnen eine Weile nach.

»Wir werden Nässe bekommen«, sagte er. »Die Krähen schreien so, weil ihnen die Ohren vom heraufziehenden Regen wehtun.«

Der Gehilfe warf einen Blick hinüber, sagte aber nichts.

»Du hast vorhin vom Schock gesprochen, der die beiden auf das Sterbebett geworfen habe«, sagte Stres.

»Ja«, erwiderte der Gehilfe, »er muss heftig (er vermied das Wort ›schrecklich‹, weil ihn der Chef für dessen wahllosen Gebrauch gerügt hatte) gewesen sein. Anzeichen äußerer Einwirkung sind nicht festzustellen, also muss eine ungewöhnliche Erschütterung die beiden in Agonie gestürzt haben.«

»Meinst du, die Mutter hat plötzlich eine schreckliche Entdeckung gemacht?« fragte Stres.

Der Gehilfe sah ihn an. Er selber redet daher, wie es ihm passt, dachte er flüchtig, und den anderen fährt er über den Mund.

»Ob die Mutter eine Entdeckung gemacht hat?« sagte er. »Ich glaube eher, beide gleichzeitig haben eine schreckliche Entdeckung gemacht, wie Sie sich auszudrücken belieben.«

Ihre Mutmaßungen über den womöglich wechselseitig verursachten Schockzustand von Mutter und Tochter fortspinnend (Stres’ und des Gehilfen tägliches Handwerk ließ die Unterhaltung dem Stil eines Ermittlungsberichts immer näher kommen), spielten sie die Szene durch, die sich um Mitternacht möglicherweise ereignet hatte. Zu ungewöhnlicher Stunde pochte es an die Tür des alten Hauses, und auf die Frage der greisen Dame, wer denn da sei, ließ sich von draußen eine Stimme vernehmen: Ich bin es, Doruntina. Die alte Frau geht, um die Tür zu öffnen, und ganz überrascht und verwirrt, weil sie nicht recht glauben kann, dass sie wirklich die Stimme ihrer Tochter gehört hat, fragt sie, um den Zweifel zu zerstreuen: Mit wem bist du denn gekommen? Schließlich wartet sie ja nun schon seit drei Jahren auf einen Besuch ihrer Tochter, damit sie ihr im Unglück beistehe, doch sie will und will nicht kommen. Von draußen antwortet Doruntina: Mein Bruder Konstantin hat mich hergebracht. Das ist der erste Schock für die Alte. Trotz ihrer Erschütterung bringt sie aber wahrscheinlich noch die Kraft auf, der Tochter zu sagen: Was redest du da, Konstantin liegt ja nun schon seit drei Jahren unter der Erde, wie alle seine Brüder. Das wiederum ist ein Schock für Doruntina, und falls sie tatsächlich geglaubt hat, mit Konstantin gekommen zu sein, gar ein doppelter: Einerseits erfährt sie nun, dass Konstantin und die anderen Brüder tot sind, andererseits wird ihr klar, dass sie auf ihrer Reise von einem Gespenst begleitet worden sein muss. Währenddessen öffnet die greise Mutter mit letzter Kraft die Tür, noch immer hoffend, dass sie sich vielleicht verhört, dass ihr die Ohren einen Streich gespielt haben. Oder dass es vielleicht doch nicht Doruntina war, die angeklopft hat. Ähnlichen Hoffnungen mag sich draußen auch Doruntina hingeben. Doch nein, die Tür geht auf, beide wiederholen, was schon vorher gesagt worden ist, und der Schock nimmt tödliche Formen an.

»Dennoch ist das alles wenig glaubhaft«, sagte Stres.

»Ich teile Ihre Meinung«, erwiderte der Gehilfe. »Aber eines auf jeden Fall ist Tatsache: Beide ringen mit dem Tod, und das beweist, dass zwischen ihnen etwas vorgefallen ist.«

»… etwas vorgefallen ist«, wiederholte Stres. »Ja, natürlich ist etwas vorgefallen. Aber was? Ein grässlicher Bericht der Tochter und eine genauso grausige Enthüllung der Mutter? Oder …«

»Da ist das Haus«, sagte der Gehilfe, »vielleicht erfahren wir ja hier etwas.«

In der Ferne, am Rande einer Senke, tauchte ein großes, düsteres Haus auf. Die feuchte Erde dorthin war mit gelbem Laub bedeckt. Das Haus, einst eines der größten und stolzesten des Fürstentums, strahlte nun schon von Weitem Verlassenheit und Trauer aus. In den oberen Geschossen waren die meisten Fensterläden geschlossen. Die Gesimse waren an vielen Stellen beschädigt, und der Vorplatz mit den krummen und reichlich vermoderten alten Bäumen wirkte ganz verödet.

Stres musste an die Bestattung der neun Brüder Vranaj vor drei Jahren denken. Schicksalsschläge gab es immer wieder, viele schlimm oder noch schlimmer und manche gar so, dass man meinen mochte, allein der Wahnsinn könne einen vor der Erinnerung daran bewahren. Doch eine solche Tragödie, neun Söhne desselben Hauses innerhalb einer Woche im Sarg, das hatte es, seit man sich erinnern konnte, noch niemals gegeben. Und das nur fünf Wochen nach der prächtigen Hochzeit der einzigen Tochter, Doruntina. Unerwartet war ein normannisches Heer eingefallen, und die neun Brüder mussten in den Krieg gehen. Schon oft, und in größeren und blutigeren Kriegen, waren Brüder gemeinsam ins Feld gezogen. Doch niemals war auch nur die Hälfte von ihnen dort geblieben. Doch das feindliche Heer war diesmal von anderer Art. Die Pest ging darin um, so dass alle, Sieger wie Besiegte, gleichermaßen dahingerafft wurden, manche in der Schlacht, andere, nachdem sie schon beendet war. Viele Familien hatten zwei, drei und manchmal sogar vier Todesfälle zu beklagen, doch neun Opfer gab es nur in einem Haus, bei den Vranaj. Niemandem war ein größeres Begräbnis erinnerlich. Alle Grafen und Barone des Fürstentums waren anwesend, auch der Herrscher selbst, und sogar Grafen und Herzöge aus den benachbarten Fürstentümern hatten sich eingefunden.

Stres konnte sich noch gut an alles entsinnen, und besonders deutlich war ihm das allgemeine Getuschel in Erinnerung: Dass die einzige Tochter, Doruntina, in diesen schweren Tagen nicht bei der Mutter war! Sie allein hatte nämlich von der Tragödie nichts erfahren.

Stres seufzte. Wie rasch waren diese drei Jahre verflogen. Die gewaltigen, an mehreren Stellen angefaulten Türflügel aus Holz standen halb offen. Hintereinander überquerten sie den Hof, vorne Stres und dahinter der Gehilfe, um dann das Haus zu betreten, aus dessen Tiefen Seufzer und schwache Geräusche drangen. Ein paar betagte Frauen, offenbar aus der Nachbarschaft, blickten den Eindringlingen fragend entgegen.

»Wo sind sie?« fragte Stres.

Mit dem Kinn wies eine der Frauen auf eine Tür. Stres ging voran in das geräumige, nur schwach erleuchtete Gemach, in dem, an entgegengesetzten Enden stehend, die beiden Betten zuerst ins Auge sprangen. An jedem Bett saß, vor sich hinstarrend, eine Frau. Die Ikonen an den Wänden und zwei große kupferne Kerzenleuchter auf dem Sims des schon lange nicht mehr benutzten Kamins brachten einen letzten Funken Glanz in die Düsternis des Raumes. Eine der Frauen sah zu den Ankömmlingen herüber. Stres verharrte noch einen Moment, dann winkte er sie heran.

»Wo liegt die Mutter?« fragte er leise.

Die Frau schaute auf eines der Betten.

»Und nun lasst uns ein wenig allein«, ordnete Stres an. Die Frau öffnete den Mund, um zu widersprechen, verzichtete dann aber mit einem Blick auf Stres’ Uniform darauf. Sie ging zu ihrer hochbetagten Freundin, und beide verließen schweigend das Zimmer.

Vorsichtig, um laute Geräusche zu vermeiden, trat Stres an das Bett der alten Dame. Ihr Kopf steckte in einer weißen Haube.

»Gute Frau«, sagte Stres leise. »Frau Mutter (so rief man sie seit dem Tod ihrer Söhne gewöhnlich). Ich bin Stres, erkennen Sie mich?«

Sie öffnete ihre Augen, die kalt waren vor Entsetzen und Trauer. Eine Weile hielt er ihrem Blick stand, dann beugte er sich noch weiter zu dem weißen Kopfkissen hinab und flüsterte:

»Wie geht es Ihnen, Frau Mutter?«

Das Zeichen, das sie mit den Augen gab, war nicht zu deuten.

»Doruntina ist gestern angekommen?« fragte Stres.

Die Augen der Liegenden bestätigten es. Dann sahen sie Stres weiter an, als wollten sie etwas von ihm. Der überlegte eine Weile.

»Und wie?« fragte er ganz leise. »Wer hat sie hergebracht?«

Die alte Dame schlug die Hand vor die Augen, und der zur Seite sinkende Kopf zeigte, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. Stres griff nach ihrem Handgelenk. Der Puls war kaum zu spüren. Aber er war da.

»Ruf eine der Frauen«, wies Stres leise seinen Gehilfen an. Der verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit einer Frau zurück. Stres ließ die Hand der Greisin los und ging mit den gleichen vorsichtigen Schritten wie vorhin zu Doruntinas Bett hinüber. Auf dem Kopfkissen waren nun ihre blonden Locken zu erkennen. Ein vager Schmerz regte sich in seiner Brust, doch blieb er ein wenig abseits, ohne sich mit dem jüngst Geschehenen zu verbinden. Er war alt und ging zurück auf die Hochzeit vor drei Jahren. Als sie inmitten des Hochzeitsgeleits auf dem Brautschimmel davongeritten war, hatte er, Stres, in seinem Herzen einen tiefen, ihm selbst nur schwer erklärlichen Kummer verspürt. Alle waren ja ein wenig traurig, nicht nur die Mutter und die Brüder, sondern die meisten Leute, denn es war das erste Mal, dass ein Mädchen so weit weg heiratete, doch Stres’ Kummer war von anderer Art. Und im Augenblick des Abschieds begriff er plötzlich, dass jenes süße Gefühl, das er ihr seit einiger Zeit entgegengebracht hatte, nichts Anderes als Liebe gewesen war, doch keine gewöhnliche, sondern transparent wie Nebel über einer unermesslichen Weite, nirgendwo verdichtet und von ihm selbst in Ruhe eingedämmt. Sie war wie Morgentau, der nur in den ersten Minuten des Erwachens niedergesunken ist und sich dann in den übrigen Stunden des Tages und der Nacht ganz zurückgezogen hat. Nur einen einzigen Augenblick lang hatte dieser bläuliche Nebel begonnen, sich zu einem Wölkchen zusammenzuziehen: bei ihrem Abschied. Doch war dieser Augenblick kurz gewesen und bald in Vergessenheit geraten.

Stres stand ein Weile vor dem Bett und betrachtete Doruntinas Gesicht. Es war so schön wie damals, wenn nicht noch schöner, mit jener Zeichnung der Lippen, die sie schwer und leicht zugleich erscheinen ließ.

»Doruntina«, sagte er leise.

Sie schlug die Augen auf, in denen eine durch nichts auszufüllende Leere war. Stres rang sich ein Lächeln ab.

»Doruntina«, sagte er noch einmal. »Willkommen!«

Sie starrte ihn weiter an.

»Wie fühlst du dich?« fragte Stres langsam und ergriff in einem plötzlichen Impuls ihre Hand. Sie war glühend heiß. »Doruntina«, fuhr er leise fort, »du bist nach Mitternacht angekommen, oder?«

Ihre Augen bestätigten es ihm. Stres wollte die Frage, die ihn quälte, noch ein wenig hinausschieben, doch sie kam ganz von selbst:

»Und wer hat dich hergebracht?«

Ihr Blick unter dem seinen blieb regungslos.

»Wer hat dich hergebracht, Doruntina?« wiederholte er. Seine Stimme klang ihm selbst fremd. Und so schrecklich war die Frage, dass er sie gerne zurückgenommen hätte. Doch es war zu spät.

Ihr Blick, immer noch hoffnungslos leer, ließ ihn nicht los.

Nun gibt es kein Zurück mehr, dachte er.

»Du hast der Mutter gesagt, dein Bruder Konstantin habe dich hergebracht, oder nicht?«

Wieder stimmten ihre Augen zu. Stres suchte nach Zeichen des Wahnsinns darin, doch sie waren noch immer bloß leer.

»Aber ich glaube, du hast inzwischen erfahren, dass dein Bruder seit drei Jahren nicht mehr unter uns ist«, sagte Stres mit der gleichen erloschenen Stimme. Noch ehe er ihre Tränen sah, spürte er sie in sich, denn sie waren von besonderer Art, halb sicht-, halb fühlbar. Unter den Tränen rückte ihr Gesicht noch weiter fort. Was geschieht nur mit mir, fragten ihre Augen, warum glaubt ihr mir denn nicht …?

Stres drehte sich langsam zu seinem Gehilfen und der Frau um, die drüben am Bett der alten Dame standen, und bedeutete ihnen, hinauszugehen. Dann beugte er sich wieder über die junge Frau und streichelte ihre Hand.

»Wie bist du nur hergekommen, Doruntina? Wie hast du diesen langen Weg geschafft?«

Etwas mühte sich ab, ihre unnatürlich geweiteten Augen zu füllen.

 

Nach einer Stunde brach Stres wieder auf. Er war blass. Wortlos und ohne sich noch jemand zuzuwenden, ging er zur Haustür. Der Gehilfe folgte ihm. Ein paarmal erwog er zu fragen, ob Doruntina etwas gesagt habe, doch er wagte es nicht.

Als sie an der Kirche vorbeikamen, war Stres nahe daran, auf den Friedhof zu gehen, doch im letzten Moment verzichtete er dann doch darauf.

Der Gehilfe spürte die neugierigen Blicke der Leute, die sie auf ihrem Weg begleiteten.

»Die Sache ist nicht eben einfach«, sagte Stres, ohne den Gehilfen anzusehen. »Ich denke, es wird sich herumsprechen und einiges Aufsehen erregen, deshalb muss ich auf jeden Fall der Kanzlei des Fürsten berichten.«

An die

Kanzlei des Fürsten

Dringend!

 

Ich erachte es für geboten, Sie über ein Ereignis in Kenntnis zu setzen, das sich eben, in der Morgenfrühe des elften Oktober, im edlen Haus der Vranaj zugetragen hat und das von kaum zu ermessender Tragweite sein könnte.

Am Morgen des elften Oktober fand man die alte Dame Vranaj, welche seit dem Heldentod ihrer neun Söhne bekanntlich alleine lebt, in einem Zustand tiefster seelischer Erschütterung auf, und desgleichen ihre Tochter Doruntina, welche gegen Mitternacht angekommen war, und zwar, wie sie angibt, in Begleitung ihres Bruders Konstantin, der freilich gleich seinen Brüdern vor drei Jahren ums Leben gekommen ist.

Nachdem ich den Ort des Geschehens in Augenschein genommen und versucht habe, die unglücklichen Frauen zu befragen, bin ich, obgleich keine der beiden Anzeichen von Wahnsinn erkennen lässt, dennoch zum Ergebnis gelangt, dass alles, was sie angeben oder andeuten, undurchsichtig und kaum glaubhaft ist. Es sei hier erwähnt, dass sich beide noch unter der Wirkung eines heftigen Schocks befinden, den sie sich gegenseitig zugefügt haben: Die Tochter, indem sie der Mutter gegenüber angab, von ihrem Bruder Konstantin hergebracht worden zu sein, und die Mutter, indem sie ihrer Tochter mitteilte, dass Konstantin wie seine Brüder schon lange nicht mehr von dieser Welt ist.

Ich versuchte mich mit Doruntina zu unterhalten, und was sich ihrem verworrenen Bericht entnehmen ließ, ist in etwa Folgendes:

Es sei vor einigen Tagen gewesen (wann genau, konnte sie nicht mehr sagen), als sie des Abends in der kleinen Stadt in Mitteleuropa, wo sie seit ihrer Hochzeit mit dem Gatten lebt, davon unterrichtet worden sei, dass ein unbekannter Reisender sich nach ihr erkundigt habe. Sie sei vors Haus getreten und habe den Ankömmling, auf einem Pferd sitzend, erblickt, in dem sie trotz des Staubes der langen Reise Konstantin zu erkennen gemeint habe. Als ihr dann der Reisende vom Pferd herab erklärt habe, er sei Konstantin und wolle sie, um sein vor der Hochzeit gegebenes Versprechen einzulösen, zu ihrer Mutter bringen, da sei auch der Rest ihres Zweifels geschwunden. (An dieser Stelle ist es vielleicht gut, an das Aufsehen zu erinnern, das Doruntinas Verlöbnis mit einem Mann aus einem derart fernen Land damals erregte, an die Einwände der meisten Brüder und insbesondere der Mutter, die ihre Tochter nicht so weit fortgeben wollte, an Konstantins hartnäckiges Bestehen auf der Verlobung, der sich schließlich damit durchsetzte, dass er ehrenwörtlich versprach, der Mutter die Tochter zuzuführen, sooft sie ihrer bedürfe.)