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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor und seit Jahren Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis, war Ende der 50er Jahre Student am berühmten Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau. In dieser Zeit wurde er Zeuge der beispiellosen Hetzkampagne in allen Medien gegen Boris Pasternak, der den Nobelpreis nicht entgegennehmen durfte. Illusionslos zeichnet Ismail Kadare ein Bild der Schriftsteller aus allen Teilen des großen Sowjetreichs, denen er im Rahmen seines Studienaufenthaltes am Maxim-Gorki-Institut begegnete. Zu seiner bodenlosen Enttäuschung trifft er überwiegend auf Konformisten, ultraloyale Schmeichler, frustrierte Sozialisten und korrupte Informanten. Die eigenartige Stimmung aus Beklemmung, Misstrauen und gegenseitger Bespitzelung unter den Studenten fängt er in zum Teil surreal anmutenden Szenen ein. Gesteigert wird die klaustrophobische Atmosphäre noch durch den Ausbruch einer Epidemie, die zu einer vollständigen Quarantäne führt. Ein Sinnbild der politischen Isolation, in der sich die Sowjetunion nach der Tauwetterperiode unter Chruschtschow befindet, und ein ahnungsvoller Vorgriff auf die Isolation Albaniens nach der Loslösung vom »Großen Bruder«. »Ismail Kadare hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor.« Daniel Kehlmann
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2016
Ismail Kadare
Die Dämmerung der Steppengötter
Roman
FISCHER E-Books
Wir spielten fast bis um Mitternacht am Meer Pingpong, es war hell genug dafür, auch wenn die weißen Nächte bereits hinter uns lagen. Die letzten Matches nach halb zwölf bestritten die Spieler mit den besten Augen, während der Rest von uns an das hölzerne Geländer gelehnt zuschaute und korrigierend eingriff, wenn einer beim Punktestand mogelte. Nach vierundzwanzig Uhr, wenn alle weggegangen waren und nur noch die Tischtennisschläger auf der Platte lagen, die wir am nächsten Morgen häufig naß vom nächtlichen Regen vorfanden, wußte ich oftmals nichts mit mir anzufangen. Weil mir die nötige Bettschwere fehlte, ging ich noch eine Weile spazieren, umrundete den kleinen Park, in dem die Gebäude des Erholungsheims, die einst einem lettischen Baron gehört hatten, standen, schlenderte zu dem Springbrunnen mit den Delphinen, drehte dann um und ging zurück zum Schwedischen Haus, um schließlich am Ufer der Ostsee zu landen. Es war schön am Wasser, aber nachts auch sehr kalt, so daß man sich nicht lange dort aufhalten konnte.
Dieses Programm wiederholte sich fast jeden Abend. Bei schönem Wetter gingen die Tage mit Schwimmen und Sonnenbaden schnell herum, aber die Nächte waren eintönig, weil die meisten der Erholungsuchenden sich bereits im fortgeschrittenen Alter befanden. Fast alle trugen prominente Namen und bedeutende Titel, aber abends ging es trotzdem langweilig zu. Außerdem war ich der einzige Ausländer.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit begaben wir uns an den Strand und drehten eifrig an den Objektiven unserer Fotoapparate, um die im Meer versinkende Sonne auf Zelluloid zu bannen. Jeden Abend nahm die Wasserfläche eine andere Farbe an, und wir bemühten uns sehr, den stetigen Wechsel der Sonnenuntergänge getreulich festzuhalten. Gelegentlich geriet ein Pärchen, das am Ufer spazierenging, ungewollt vor das Kameraauge, erschien jedoch auf dem Bild, wenn wir es entwickelten, nur als kleiner, in dieser ganzen Weite unbedeutender Fleck. Nach dem Abendessen versammelten wir uns regelmäßig an der Tischtennisplatte, wo ich, das Hin und Her des kleinen weißen Balles beobachtend, bald merkte, wie allmählich mein ganzes Ich unter den Einfluß dieser stetigen Bewegung geriet. Der hypnotisierenden Wirkung zu widerstehen, war trotz aller Anstrengungen fast unmöglich, und nur in knappen Momenten des Aufbegehrens konnte ich mich der Knechtung durch die Plastikkugel entziehen, in deren raschen, klackenden Hüpfern auf der Platte ich etwas Idiotisches entdeckte. In solchen kurzen Phasen der Besinnung wandte ich den Blick jedesmal in einer gleichsam somnambulen Bewegung dem Strand zu, in der schwachen Hoffnung, dort etwas zu entdecken, das sich von dem am Abend zuvor Beobachteten unterschied. Doch in der Dämmerung war das Meeresufer unerbittlich. Es bot sich nur das wahrscheinlich seit der Entstehung der Erde immer gleiche Bild: Silhouetten langsam dahinschreitender Paare. Sie kamen vermutlich aus anderen Erholungsheimen und passierten unser Haus auf dem Weg zu geheimnisumwobenen Stränden, die ihre komisch klingenden, absonderlich betonten Namen von den Haltestellen der elektrischen Vorortzüge hatten: Dzintari, Majori, Dubulti … Ich war diesen Namen schon vorher begegnet: auf Parfümflaschen und Cremedosen in den Auslagen der Geschäfte anderer Städte, ohne allerdings je auf den Gedanken zu kommen, daß sie Haltestellen oder Stränden entliehen sein könnten.
Bis spät in die Nacht saßen von Schlaflosigkeit geplagte Greise im Finstern auf den Holzbänken. Wenn ich spazierenging, hörte ich sie flüstern und gelegentlich trocken husten, oder das Klopfen von Gehstöcken entfernte sich in Richtung Schwedisches Haus, wo die Ältesten und Berühmtesten von uns untergebracht waren.
Während ich ohne besonderes Ziel umherstreifte, beschäftigte mich ein interessantes Faktum: Fast alle der berühmten Schriftsteller, die hier Erholung suchten, hatten sich gegenseitig Werke zugeeignet. Auch manchen der Kinder, die tagsüber lautstark im Park und am Strand herumtollten, waren von Elternteilen Gedichte oder ganze Erzählungen gewidmet worden, und man merkte sofort, welche der Sprößlinge davon wußten und welche nicht. Außerdem tippelten, wie ich wußte, einige der Damen in nunmehr gebrechlichem Alter, die sich die Abende mit trivialem Geplauder vertrieben, unter den Initialen D.V., N. oder einfach als »sie« in schmucken, neuen Stöckelschuhen auf Buchseiten umher. Gelegentlich verbargen sich hinter den Initialen auch Männer, doch das kam seltener vor, und die Betreffenden nahmen im Speisesaal regelmäßig Diätkost zu sich, weil ihnen Magenleiden zu schaffen machten.
Manchmal ging ich abends zum Postamt, in der schwachen Hoffnung, eine freie Leitung nach Moskau zu erwischen, um mit Lida Snegina zu sprechen. Aber gewöhnlich war alles belegt, denn man mußte Telefongespräche einen Tag vorher anmelden.
Lida Snegina war meine aktuelle Freundin in Moskau. Am Tag meiner Abreise nach Riga hatte sie mich im Regen zum Bahnhof begleitet. Als wir langsam über den nassen Bahnsteig gingen, meinte sie, ohne mich anzuschauen, manchmal sei es schwierig, mit einem Ausländer befreundet zu sein, vor allem, wenn er aus einem abgelegenen Land stamme. Ich wollte den Grund wissen, und sie erzählte mir etwas von einer Freundin, die sich mit einem Belgier eingelassen habe, der sich plötzlich ohne ein Wort des Abschieds davongemacht habe. Möglicherweise gilt das nicht für alle Ausländer, meinte sie, aber Tatsache ist, daß einige plötzlich verschwinden. Das habe ich wenigstens gehört.
Darauf mußte ich eine Antwort geben, aber leider reichte die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges nicht aus, um einen (und sei es auch nur kleinen) Streit anzufangen und dann wieder beizulegen. Daher mußte ich mich für eines von beidem entscheiden, den Zank oder die Versöhnung. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit, zügelte meine Streitlust und erklärte, was immer auch geschehe, auf keinen Fall würde ich so weit herabsinken, daß ich mich wie eine Kanaille heimlich verdrückte. Gerne hätte ich ergänzt, daß ich aus einem uralten Balkanland mit beeindruckenden Legenden über das gegebene Wort stammte, doch hätte die immer knapper werdende Zeit keinesfalls für den kompletten Vortrag der anrührenden Sage von Konstantin und Doruntina ausgereicht, an die ich in erster Linie dachte, sondern allenfalls für ein paar magere Bruchstücke.
Zum Postamt ging ich am liebsten allein. Der Weg dorthin war von keinem besonderen Reiz, ich würde sogar sagen, er war äußerst reizlos: ein von spärlichen Schilfhalmen, von Sandhaufen und großen Disteln gesäumter Trampelpfad. Aber so, wie manche nicht übermäßig hübsche Frauen eine ganz besondere, unaufdringliche Anziehungskraft zu entwickeln vermögen, hatte auch dieser Weg seine Geheimnisse, die zum Nachdenken anregten.
Es war bereits das zweite Mal, daß ich in einem Schriftstellererholungsheim Urlaub machte, so daß ich mit den für solche Einrichtungen typischen Gebräuchen und Heimlichkeiten ganz gut umzugehen verstand. Meine Winterferien hatte ich in Jalta verbracht, wo Konstantin Paustowski mein Zimmernachbar gewesen war. Bei ihm brannte stets bis um Mitternacht Licht, er arbeitete, wie wir alle wußten, an seinen Lebenserinnerungen, und jedesmal, wenn ich auf den Flur kam, fand ich dort den »Starost« meines Lehrgangs am Gorki-Institut vor, einen gewissen Ladonschtschikow, der ebenfalls zur Erholung im Hause weilte und offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als zu überwachen, wie lange bei Paustowski das Licht brannte. Er seufzte, schlug sich auf die Brust und teilte, als habe er vor einer schrecklichen Gefahr zu warnen, jedem, der ihm über den Weg lief, mit, der da drinnen, also Paustowski, erwecke in seinen Memoiren diese ganzen Juden wieder zum Leben. Jalta war mir wegen des nicht enden wollenden Regens in Erinnerung geblieben, wegen des Billardtischs, an dem ich dauernd verlor, ein paar tartarischen Inschriften und der steten Mißgunst auf Ladonschtschikows Gesicht, das bei all seinem wichtigtuerischen, tiefe Sorge um das Vaterland vorgaukelnden Ausdruck gewöhnlich wirkte. Ich hatte mir vom Erholungsheim in Riga eine etwas vergnüglichere Atmosphäre versprochen, was ich aber vorfand, waren ein Gutteil der Urlauber aus Jalta, eine Tischtennisplatte anstelle des Billardtischs und abermals Regengüsse, die Puschkins Bonmot, der Sommer im Norden sei bloß eine Karikatur der südlichen Winter, unwiderlegbar machten, und in Anbetracht der praktisch gleichen Gespräche, Gesichter und Initialen (lediglich Paustowski und seltsamerweise Ladonschtschikow fehlten) war der Eindruck unvermeidlich, daß sich alles ständig im Kreis bewegte. Dem Heimleben haftete etwas längst Vertrocknetes, man könnte sagen, Anthologisches an, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich wie in Jalta das Gefühl hatte, in einer mehr als absonderlichen Welt gelandet zu sein, einer hybriden Zeit, in der das Lebendige mit bereits Gestorbenem vermengt und verwoben war, genau wie in der alten Balkanlegende, die ich Lida Snegina nicht mehr hatte erzählen können. Daß ich die Leute unwillkürlich in einen Bezug zu ihren mir seit längerem bekannten Roman- und Dramenfiguren brachte, verstärkte diesen Eindruck noch. Dem schimpflichen Bedürfnis, die Sätze, Gesten und sogar Gesichter der Autoren mit denen ihrer Geschöpfe zu vergleichen, hatte ich schon im vergangenen Winter in Jalta nicht widerstehen können. Damals war mir plötzlich klargeworden, daß Geld in den Werken zeitgenössischer sowjetischer Künstler praktisch nicht vorkam. Das hatte schon etwas zu bedeuten. Jetzt, in Riga, entdeckte ich, daß außer dem Geld auch viele andere Alltäglichkeiten in ihren Büchern nicht erwähnt wurden, während umgekehrt seitenlang von Dingen die Rede war, die in ihrem eigenen Leben überhaupt keine Rolle spielten. Dieser Widerspruch ärgerte mich, und um so mehr, als diese Erfindung einer Parallelwelt etwas Furchterregendes oder sogar Widernatürliches an sich hatte. Gelegentlich fühlte ich mich sogar an die in Spiritus eingelegten mißgebildeten Wesen erinnert, vor denen ich im Naturkundemuseum gestanden war.
Alle meine Versuche, aus diesem erstarrten Leben zu entfliehen, das ich zunehmend als eine Art antiquiertes Stützgerüst empfand, waren gescheitert, hatten am Billardtisch (vergangenen Winter in Jalta) und (hier in Riga) an der Tischtennisplatte geendet. In beiden Fällen, sowohl beim winterlich ernsten Billard als auch beim sommerlich unbeschwerten Pingpongspiel, hatte ich nur Niederlagen erlebt.
Es war Samstag. Wir maßen uns wie immer im ausreichend hellen Abendlicht, und obwohl mich die drohende dritte Niederlage in Folge einigermaßen nervös machte, nahm ich die Gegenwart von etwas gleichermaßen Vertrautem wie Unbekanntem neben uns wahr. Es handelte sich um ein platinhelles Leuchten, das mich sofort an Lidas Haar erinnerte. Die Vorstellung war so real, daß ich mich erst mit einer gewissen Verzögerung umschaute, als wollte ich der Unbekannten Zeit geben, sich wirklich in Lida zu verwandeln. Dieser kurze Moment reichte aus, um mir klarzumachen, daß ich genau davon die ganze Zeit heimlich geträumt hatte: daß sie durch die Weiten des Himmels und der Steppen hierher an die Tischtennisplatte käme, leise wie ein Monduntergang.
Der unartig hüpfende Tischtennisball traf mein rechtes Ohr, und als ich mich hinunterbeugte, um ihn aufzuheben, betrachtete ich verstohlen die auf dem Gelände des Erholungsheims erstmals wahrgenommene Besucherin. Sie hatte sich unauffällig unter das ständige Pingpongpublikum gemischt, das jeden falsch gezählten Punkt sofort bemängelte. Jetzt nur nichts Lächerliches tun, dachte ich im klaren Bewußtsein, daß sich das Spielglück längst gegen mich gewendet hatte. Das stille Leuchten inmitten der lärmenden Zuschauerwand war überwältigend.
Ich verlor und warf wütend den Schläger weg. Trotz meiner üblen Laune gesellte ich mich zu der Unbekannten, wobei ich mir mit dem Handrücken über die Stirn fuhr. Die dritte Niederlage hintereinander machte mir wirklich zu schaffen, bestimmt hatte wieder jemand beim Zählen geschummelt. Während ich mir also den Schweiß abwischte, schaute ich sie genauer an: Die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, stand sie da und betrachtete verächtlich die Tischtennisplatte.
Es war inzwischen schon später Abend. Die Spaziergänger am Strand schienen ihre äußere Gestalt abgelegt und sich in Schatten verwandelt zu haben, obwohl wir wußten, daß es dieselben Leute waren, die wir noch vor einer Stunde auf unsere Filme gebannt hatten.
Nun, da mein Ärger allmählich verflog, nahm ich erst richtig wahr, was für schönes Haar dieses Mädchen hatte. Man bekam solches Haar hier oft zu sehen. Es ließ einen an die Mattigkeit des Herbstes denken und an ferne Dinge, die mit dem Mond zu tun hatten. Vor allem aber erinnerte es mich an Lida. Ein Bekannter in Jalta hatte mir sogar einzureden versucht, manche Hunde heulten solche Haare an wie den Vollmond über der Steppe. Später gelangte ich zu der Einsicht, daß in dieser Behauptung, so absurd sie sich anhören mochte, ein Funken Wahrheit steckte. Allerdings handelte es sich wohl eher um eine menschliche als eine hündische Regung, und mein Freund aus Jalta hatte auf die Vierbeiner übertragen, was ihm selbst widerfahren war. Man durfte das mit dem Heulen natürlich nicht wörtlich nehmen, es ging eher um einen inneren Vorgang, ein stimmloses Erbeben ohne Ende, das, warum auch nicht, fast die Qualität einer Symphonie erreichte.
»Habt ihr Tanz heute nacht?« fragte das Mädchen plötzlich, wobei sie mir kurz das Gesicht zuwandte. Ihre grauen Augen waren ebenfalls schön und ernst.
»Bei uns gibt es nie Tanz«, entgegnete ich.
Sie lächelte.
»Und warum nicht?«
Ich zuckte die Schultern.
»Das weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Wir haben nur Ruhm anzubieten.«
Sie lachte, den Blick weiterhin auf die Tischtennisplatte gerichtet. Ich war stolz auf meinen Spruch, der ziemlich gut anzukommen schien, obwohl ich keinesfalls das Urheberrecht dafür beanspruchen durfte, denn ich hatte ihn am Tag meiner Ankunft von einem Taxifahrer gehört. Ich konnte mich sogar noch an sein Nummernschild erinnern. Was für unwichtige Dinge sich einem doch einprägten.
»Sind Sie Ausländer?« fragte das Mädchen.
»Ja.«
Sie schaute mich neugierig an.
»Man hört es an Ihrem Akzent«, sagte sie. »Ich spreche zwar auch nicht gut Russisch, aber ich merke schon, wenn jemand aus dem Ausland kommt.«
Sie war vor zwei Tagen eingetroffen, wohnte mit ihrer Familie in einer Villa neben dem Erholungsheim, und ihr war schrecklich langweilig. Als ich erklärte, ich stammte aus einem ziemlich abgelegenen Land, nämlich Albanien, und mir sei aus vielleicht nachvollziehbaren Gründen noch langweiliger als ihr, da leuchtete ihr das ein. Allerdings war sie ein wenig verwundert, denn sie hatte noch nie einen von uns getroffen und sich die Albaner dunkelhäutig wie die Georgier vorgestellt, mit Hakennasen und einer Leidenschaft für orientalische Lieder, die sie ihrerseits abgrundtief haßte.
»Und wie kommen Sie zu dieser Vermutung?« fragte ich leicht deprimiert.
Sie zuckte die Schultern.
»Keine Ahnung, wahrscheinlich ist eine Ausstellung letztes Jahr in Riga schuld.«
»Hm!«
Ich beschloß, dieses Thema zu beenden. Ich wußte inzwischen, daß Sowjetmenschen nicht anders konnten, als die Bewohner anderer sozialistischer Länder mit den Bürgern ihrer eigenen sechzehn Republiken zu vergleichen. Waren die Fremden hellblond, sahen sie aus wie Letten oder Esten, hatten sie eine gebogene Nase, wie Georgier, und wenn sie melancholisch dreinschauten, wie Armenier. Und so fort. Manche glaubten ernsthaft, die Türkei sei eine Provinz von Aserbeidschan, die sich nur aus Versehen außerhalb der Grenzen der Sowjetunion befand, und an einem deprimierenden Nachmittag hatte mir ein betrunkener Weißrusse sogar einzureden versucht, die Armenier seien eigentlich Moslems, die sich nur deshalb für Christen ausgaben, weil sie die Aserbeidschaner ärgern wollten, aber das werde nicht mehr lange funktionieren.
»Waren Sie schon in Riga?« fragte sie mich. »Und gefällt es Ihnen dort?«
Ich beteuerte, Städte wie Riga gefielen mir ganz besonders.
»Kommen sie Ihnen nicht ein bißchen grau vor?« fragte sie weiter.
Ich schüttelte den Kopf.
»Wie sind denn die Städte bei Ihnen?«
»Weiß«, antwortete ich, ohne nachzudenken.
»Interessant«, sagte sie. »Weiße Städte sind mein Traum.«
Ich war nahe daran zu behaupten, unsere Städte seien eigentlich himmelblau, wie ich es vergangenen Winter in Jalta einem ukrainischen Mädchen gegenüber getan hatte, aber ich fand sie äußerst anziehend und hatte deshalb beschlossen, meine Worte genau abzuwägen. Ihre Art, mir zuzuhören, war etwas seltsam, eine Mischung aus Konzentration und Teilnahmslosigkeit, und ihr lächelnder Blick war stets in die Ferne gerichtet, als käme ihr die Ursache des Lächelns nie näher als zwanzig Schritte.
An das Geländer gelehnt, unterhielten wir uns eine Weile, während die Leute an der Tischtennisplatte lärmten und mit erstaunlicher Leidenschaft um den Punktestand stritten.
»Sehen Sie die korpulente Frau mit dem Schal, die ihren Sohn so wütend anfährt?« fragte ich.
»Die Grauhaarige?«
»Ja. Ihr ist das bekannte Gedicht ›Einst, in blauer Dämmerung‹ gewidmet.«
»Wirklich? Woher wissen Sie das?«
Ich erzählte es ihr.
Anstatt sich darüber zu freuen, daß ich Interna aus der Welt der Literatur ausgeplaudert hatte, verzog sie die Lippen.
»Ich muß mich schon über Ihren Ton wundern«, erklärte sie. »Man kann ihn getrost zynisch nennen. Entschuldigung!«
»Zynisch?!« rief ich.
Zugegeben, ich war, als ich die vollschlanke Damme entdeckt hatte, froh über das attraktive Gesprächsthema gewesen, hatte aber keinesfalls mit dem Vorwurf gerechnet, ich machte mich über den Alterungsprozeß bei Frauen lustig.
Ich erwog, ein klärendes Wort abzugeben, aber mir fiel ein, daß Erklärungsversuche in solchen Fällen stets nur neue Mißverständnisse hervorriefen, deshalb hielt ich lieber den Mund. Ihre Miene war wieder stolz und verächtlich.
Lange Zeit standen wir schweigend da, und mit jeder Sekunde wurde der Eindruck bei mir stärker, daß wir uns einander in fatalem Tempo wieder entfremdeten.
Verfluchte Matrone, dachte ich, weshalb mußt du mir gerade jetzt über den Weg laufen, zum Teufel?
Gleich wird sie weggehen, dachte ich. Ohne mir auch nur eine gute Nacht zu wünschen. Ich wollte aber auf keinen Fall, daß sie wegging. Vor einer halben Stunde hatte ich noch nichts von ihrer Existenz gewußt, und nun kam mir ihr drohender Abschied vor wie eine Mondfinsternis. Der Grund für diese Herzensangst war mir selbst nicht klar. Wahrscheinlich hatte sie mit der nervtötenden Eintönigkeit der gemeinsam mit lauter Initialenträgern verbrachten Urlaubstage zu tun, die herumliefen wie Gedenksteine mit Inschrift. Das hatte sich auf meine Gemütsverfassung ausgewirkt. Nun tauchte plötzlich ein lebendiger Mensch im Umkreis dieser musealen Erstarrung auf, und dieser Neuankömmling hatte obendrein auch noch eine verblüffende Ähnlichkeit mit Lida Snegina, besonders was das Haar und den glatten Hals anbetraf.
Der Tischtennisball hüpfte umher wie ein kleiner Teufel und tötete mit seiner leeren Leichtigkeit jeden Gedanken. Unser Schweigen zog sich endlos hin, und ich rechnete jeden Augenblick damit, daß sie wegging und mich in diesem muffigen Archiv allein zurückließ.
Aber sie ging nicht weg. Sie betrachtete weiterhin ruhig und verächtlich die Tischtennisplatte. Ihre platinblonden Haare glänzten neben mir wie ein zufälliger Sonnenuntergang, und ich mußte an das Geheul oder auch die Symphonie der Hunde denken, von der man mir im vergangenen Winter in Jalta erzählt hatte. Einmal war ich kurz davor wegzugehen, aber ich riß mich zusammen. Die Mädchen hier sind nun einmal so, dachte ich, außerdem war es durchaus möglich, daß einem nach den aufgeschlossenen Moskauer Mädchen alle anderen Mädchen der Welt unnahbar erschienen.
»Gehen wir ein Stück spazieren?« fragte ich sie unvermittelt.
»Wohin?« antwortete sie, ohne den Kopf zu wenden.
»Na, dort hinüber. Vielleicht wird ja irgendwo anders getanzt.«
Wortlos marschierte sie in Richtung Meer davon, und ich folgte ihr. Der Sand knirschte unter unseren Sohlen. Wir redeten nicht. Ihre Hände waren immer noch in den Hosentaschen vergraben, und ihre lila Bluse wirkte nun fast schwarz.
Links von uns lag das Meer, rechts waren die das Ufer säumenden Pinien als dunkle Schemen zu erkennen, und gelegentlich sah man in einigem Abstand Gebäude, Erholungsheime oder Bahnhöfe der Vorortbahn. Manchmal ragten zwischen den Pinien seltsame kleine Kirchen auf, wie ich sie noch nie gesehen hatte, schmalbrüstig und mit im Verhältnis zur Größe des Baus sehr hohen Glockentürmen. Ich zerbrach mir die ganze Zeit den Kopf, wie ich ein Gespräch mit ihr anfangen konnte, und dachte dabei sehnsüchtig an die ukrainischen Mädchen in Jalta, die nicht nur die unglaublichsten Flunkereien für bare Münze nahmen, sondern einem danach auch noch jedesmal um den Hals fielen.
Das beiderseitige Schweigen wurde immer drückender, und ich hatte fast schon alle Hoffnung auf ein Gespräch aufgegeben, als sie mich plötzlich nach Fadejew fragte. Eine bessere Frage hätte ich mir nicht wünschen können. Als ich stolz erzählte, daß ich in Moskau jeden Tag an seinem Haus vorbeikam, stieß sie ein anerkennendes »Ach!« aus.
»Es ranken sich ja viele Gerüchte um seinen Selbstmord«, sagte sie. »Sie müßten eigentlich etwas mehr wissen, wenn Sie schon aus der Hauptstadt kommen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte ich und berichtete, was ich in den Moskauer Schriftstellercafés aufgeschnappt hatte. Sie hörte aufmerksam zu. Mir fiel ein, was bei einem Ausflug zum Mittagessen ins Umland von Moskau über Fadejews Entziehungskur im Kremlspital erzählt worden war. Es war eine sehr traurige Geschichte. Nachdem alle anderen Versuche gescheitert waren, den Schriftsteller von seiner Alkoholsucht zu heilen, hatte man an ihm eine neue Methode ausprobiert. Sie bestand darin, daß er jeden Tag so viel Wodka trinken mußte, bis sein Organismus streikte. So geisterte jeden Morgen ein großgewachsener Mann im Klinikschlafanzug mit glasigem Blick durch die stillen Flure des Krankenhauses, unansprechbar, niemanden wiedererkennend, alle Türen verwechselnd. Die Krankenschwestern, Pfleger und Reinemachefrauen schauten ihm neugierig nach, dann steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten: »Heute hat er dreihundert Gramm bekommen, morgen wollen sie die Dosis weiter erhöhen.« Die meisten hatten Mitleid, aber manche labten sich mit der Schadenfreude kleiner Geister am Verfall dieses großen Mannes, des einstigen Stolzes der Sowjetliteratur, den niemand mehr erkannte, der gefallen war, in dessen Kopf es nur noch Leere und Alkoholdunst gab.
Ich bemühte mich bei meinem Bericht um größtmögliche Anschaulichkeit und hatte offenbar Erfolg, denn als ich fertig war, fing ich wie ein Betrunkener zu schwanken an. Sie hakte sich bei mir ein, und ich spürte, wie sie sich ganz leicht anlehnte.
»Aber warum?« fragte sie mit brüchiger Stimme.
Mit dieser Frage war zu rechnen gewesen, so daß ich schon mit den Schultern zuckte, als sie gerade erst den Mund aufmachte. Nein, ich hatte keine Ahnung, warum er sich, gerade aus dem Krankenhaus entlassen, umgebracht hatte.
Lange gingen wir schweigend nebeneinander her, und ich spürte, daß mein Verstand sich in einem Zustand völliger Erstarrung befand. Hindurch trabte neuerlich das Pferd aus der Ballade von Konstantin und Doruntina, auf dem der Tote und die Lebendige zusammen unterwegs waren.
»Was Sie mir da erzählt haben, war sehr traurig«, sagte sie. »Lassen wir dieses Thema besser.«
Ich nickte, und wir sprachen nicht mehr darüber. Dann fiel uns ein, daß wir auf der Suche nach einer Musikveranstaltung waren. Wir schauten nach links und rechts und merkten jetzt erst, wie weit wir uns schon vom Erholungsheim entfernt hatten. Gesträuch bedeckte das Ufer, so weit man schauen konnte. Die einzige Regung von Leben in der Dunkelheit war das gelegentliche schwache Funkeln der Wellen. Auf der anderen Seite zeichneten sich da und dort mattweiß Kirchtürme ab. Das Pfeifen einer Lokomotive war erst weit entfernt, dann ganz in der Nähe zu hören. Ich mußte wieder an Lida denken, den Rischski woksal, also den Rigaer Bahnhof in Moskau, zu dem sie mich begleitet hatte, und an die Legende, die ich ihr nicht mehr hatte erzählen können.
»Woran denken Sie?« wollte meine Begleiterin wissen.
»Kennen Sie Bürgers Ballade Lenore?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder Schukowskis Ludmila?«
»Die ja, die haben wir in der Schule durchgenommen.«
»Es handelt sich eigentlich um die gleiche Geschichte«, erklärte ich. »Schukowski hat Bürger nur nachgedichtet.«
»Ja, ich erinnere mich, unser Lehrer hat es erwähnt«, sagte sie. »Die Russen hören so etwas allerdings nicht gerne.«
Man merkte, daß sie nicht viel für die Russen übrig hatte.
»Aber auch Bürger hat nicht das Original geliefert«, fuhr ich fort. »Beide haben sich bei anderen bedient, allerdings ist das Ergebnis beim einen schlechter als beim anderen.«
»Bürger war Deutscher, oder nicht?« fragte sie.
»Ja.«
»Und woher hatte er den Stoff?«
»Von uns!« lag mir auf der Zunge, aber ich beherrschte mich, weil ich nicht wie einer jener typischen Vertreter kleiner Nationen erscheinen wollte, die unablässig sich selber lobten. Ihre blasierte Selbstgefälligkeit erschien mir bemitleidenswert, zumal deutlich zu merken war, daß sie selbst nicht glaubten, was sie den anderen weismachen wollten.
Also bemühte ich mich um Zurückhaltung. Zwar sei es allgemeiner Brauch geworden, die Balkanhalbinsel zu schelten und zu verteufeln, sogar bei den Eskimos, aber in Wahrheit handele es sich um ein uraltes Kulturgebiet mit einer großen Tradition der Dichtkunst. Vor allem gebe es dort Legenden von erhabener Schönheit, und eine davon, in der jemand aus dem Grab aufersteht, um ein Versprechen einzulösen, habe Bürger für seine Lenoren-Ballade benutzt, wenn auch auf recht unvorteilhafte Weise. Varianten dieser Legende, so fuhr ich fort, seien bei allen Völkern der Halbinsel zu finden, aber ich dürfe ohne jede Überheblichkeit sagen, daß die albanische am anrührendsten und also schönsten sei. Daran lasse sich nicht rütteln. Sogar ein griechischer Dichter, der mit mir zusammen in Moskau studiere, habe dies ohne Wenn und Aber zugegeben.
»Keine Sorge, ich glaube es ja«, sagte sie. »Meinen Sie etwa, ich sei für die griechische Variante? Warum?«
»Homers wegen«, antwortete ich. »Schließlich war er Grieche …«
»Da haben Sie allerdings recht«, sagte sie. »Aber wie wäre es, wenn Sie mir endlich die Legende erzählten.«
Darauf hatte ich nur gewartet. In diesem Sommer war die Zeit endlich reif, und wenn ich die Geschichte nicht schon Lida Snegina am Rigaer Bahnhof in Moskau erzählt hatte, dann nur deshalb, weil ich sie mir noch nicht für einen perfekten Vortrag zurechtgelegt hatte.
Ich holte tief Luft und richtete meine noch nicht voll entfaltete Konzentration darauf, ihr zu vermitteln, was es für eine albanische Mutter mit neun Söhnen bedeutet hatte, ihre einzige Tochter weit weg zu verheiraten, in jenes fremde Land hinter den drei Gebirgen. Ich merkte, daß sie aufmerksam zuhörte, vielleicht half auch die Ostsee etwas mit, diese kalte, abweisende Wassermasse mit ihrem nördlichen Rauschen. Die Mutter hatte also Bedenken, sie fürchtete, Doruntina nicht rechtzeitig erreichen zu können, wenn ihre Anwesenheit erforderlich wurde, zum Beispiel bei einer Hochzeit oder wenn jemand starb. Doch als ihr jüngster Sohn Konstantin versprach, die junge Frau gegebenenfalls aus der Fremde herbeizuholen, koste es, was es wolle, ließ sie sich erweichen. Bald kamen jedoch ein großer Winter und ein großer Krieg, und in diesem Krieg fanden alle neun Söhne den Tod, und die verzweifelte Mutter hatte niemanden mehr, der ihr durch den fürchterlichen Winter helfen konnte.
»Daran kann ich mich aber nicht erinnern«, sagte sie.
»Das haben sie alles weggestrichen«, erwiderte ich in grimmigem Ton, als seien Bürger und Schukowski schäbige kleine Pferdediebe gewesen.
Sie schaute mich gespannt an.
»Naß und lehmig war Konstantins Grab, weil er sein Wort gebrochen hatte«, fuhr ich fort, »denn ein Ehrenwort wiegt bei uns schwerer als alles andere, und es zu brechen, war früher für die Leute der schlimmste Frevel. Verstehst du? Der unredlichen Eiche verdorren die Äste, sagt man bei uns. «
»Wie schön!« rief sie.
Ich fuhr fort zu erzählen. »Wie jede Woche ging die Mutter an einem Sonntag auf den Friedhof, um die Gräber ihrer neun Söhne zu besuchen. Am Grab ihres jüngsten Sohnes zündete sie zwei Kerzen an, nicht nur eine wie bei den anderen. Als sie die Kerzen an der Kopfseite des Grabes aufstellte, rief sie schmerzlich aus: ›Konstantin, was ist aus deinem Versprechen geworden, meine Tochter, deine Schwester, bei einer Hochzeit oder einem Trauerfall herbeizuholen?‹ Und dann tat sie, was eine albanische Mutter kaum jemals tut: Sie verfluchte ihren toten Sohn. ›Wortbrüchiger, dein Leib soll nicht im Grab verwesen!‹«
Bei den Worten »Als die Nacht kam …« ergriff sie meine Hand und sagte: »Wie beklemmend das alles ist! «
Um die Atmosphäre etwas aufzulockern, setzte sie hinzu: Davon sei in der Ballade, die sie kenne, aber nicht die Rede gewesen.
»Ja, diese Schufte«, rief ich zornig aus und fuhr fort: »Also, als dann die Nacht anbrach und der Mond sein Licht auf den Friedhof warf, hob sich langsam die Platte auf Konstantins Grab, und heraus kroch, bleich und mit lehmigem Haar, der verfluchte Tote.«
Ihre Hand zitterte, aber ich hörte nicht auf.
»Konstantin erstand aus dem Grabe auf, weil, wie man bei uns glaubte, das gegebene Wort über den Tod hinaus gilt. Verstehst du?«