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Zwölf Kurzromane des albanischen Meistererzählers. Schillernd, bunt und prächtig, auf der Grenze zwischen Mythos und Wirklichkeit. Kadare erweist sich auch hier als Seismograph und Chronist der Lebenswelten von Völkern und Kulturen auf dem Balkan. »Ismail Kadare, verschiedentlich als »albanischer Homer« bezeichnet, ist ein grandioser Erzähler, der sich auf epische Tableaus ebenso wie auf poetische Feinarbeit versteht, der historische Recherche mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen verbindet.« Ilma Rakusa, Westdeutscher Rundfunk
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Seitenzahl: 636
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Kleine Romane und Erzählungen
»Das Gerücht, man plane einen Schönheitswettbewerb für Männer, war bereits seit Anfang März im Umlauf, doch es breitete sich nur sehr langsam aus …« Die 17 Kurzromane und Erzählungen, die in dieser Anthologie erstmals auf deutsch erscheinen, bilden eine eigene Schönheitskonkurrenz: Schillernd, bunt und prächtig balancieren sie auf der Grenze zwischen Mythos und Wirklichkeit. Der albanische Meistererzähler erweist sich auch hier als Seismograph und Chronist des spannungsreichen Ineinanders der Völker und Kulturen auf dem Balkan. Kadare spürt dieser besonderen Atmosphäre nach und erfaßt sie in verschiedenen historischen Konstellationen: vor sozialistischer Kulisse, als Panorama des Osmanischen Reiches, im Spiegel der griechischen Antike. Ob mythologisch, grotesk oder tragikomisch – Kadares Erzählungen sind stets Geschichten von der Geschichtlichkeit des Menschen und immer wieder aufs neue eine fesselnde Lektüre.
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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
Die Abschaffung des Berufsstands der Verwünscher
Schönheitskonkurrenz für Männer auf den Verwünschten Almen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Die Grosse Mauer
Der Aufseher Zhong
Der Nomade Kutluk
Der Aufseher Zhong
Der Nomade Kutluk
Der Aufseher Zhong
Der Geist des Nomaden Kutluk
Der Aufbruch des Storchs
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Die Kirche zur Heiligen Weisheit
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Der Blendferman
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Der Reiter mit dem Falken
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Der Adler
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Der Raub des königlichen Schlafs
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
Die Geschichte des albanischen Schriftstellerverbands im Spiegel einer Frau
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Der Abschied des Übels
Agamemnons Tochter
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Prometheus
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
Vor dem Bad
Die Nacht der Sphinx
Der täuschende Traum
Anmerkungen
Wäre zu einem anderen Zeitpunkt bekanntgeworden, daß der Berufsstand der Verwünscher vor der Abschaffung stehe, so hätte die Nachricht bestimmt einen tieferen Eindruck hinterlassen, sowohl im Kreis der erschreckten Betroffe nen, also der Verwünscher samt ihren Angehörigen und Bekann ten, als auch bei den Beifallklatschern, sprich den unver besserlichen Liberalen, notorischen Unruhestiftern und überhaupt dem ganzen Haufen verantwortungsloser Elemente, die sich bei jeder außer Kraft gesetzten Vorschrift, jeder Abschaffung die Hände gerieben hätten, selbst wenn es um das eh renwerte Bäckerhandwerk gegangen wäre. Doch war dies eine Zeit tiefgreifender, das ganze Reich einschließender Reformen, und die Ohren der Leute waren mittlerweile an die tägliche Verkündung von Dekreten und Gesetzen gewöhnt, die auf die komplette Erneuerung des Staatsapparates, des Steuersystems, des Kriegswesens und so fort abzielten, so daß auch die je nach Blickwinkel gute oder schlechte Nachricht von der Abschaffung eines der ehrwürdigsten Gewerbe in dem jahrhunderte alten Staat auf ziemliche Gleichgültigkeit stieß.
Viele hielten diesen Schritt für einen unverzichtbaren Bestandteil der Maßnahmen zur Instandsetzung des in die Jahre gekommenen Staates, vor allem aber der aktuellen Annäherung an Europa, die, das war klar, über kurz oder lang spürbare Auswirkungen auf das gesamte Reichsgebäude haben würde. Tat sächlich wirkte das stumme Verwünschen, also der traditionelle, allein unter Einsatz der Handflächen ausgeübte böse Zauber, äußerst hinterwäldlerisch, wenn man berücksichtigte, daß inzwischen in der Hauptstadt die ersten Zeitungen erschienen waren und der Staat seine Geheimdienste, Botschaften und diplomatischen Empfänge nach europäischem Vorbild organisierte, ganz zu schweigen von der Einführung bis dahin gänzlich unbekannter Verfahren wie der Intoxikation, alles Anleihen bei der verfluchten Christenwelt.
Es hieß, der Großwesir habe wegen der Verwünscher den ganzen Winter über in ständigem Ringen mit dem Scheich ul-Islam gelegen. Seit wieder ein Vertreter der Familie Köprülü den Posten des Regierungschefs innehatte, rechnete man in religiösen und militärischen Kreisen mit allen möglichen Infamien. Auch früher schon hatten die Köprülü in diesem Amt dem Stand der Verwünscher nicht nur schweren Schaden zugefügt, sondern ihn an den Rand der Auslöschung gebracht. An ihren eigensinnigen Anstrengungen lag es, daß die Zahl der Berufsverflucher inzwischen so weit verringert worden war, daß es nur noch in Wohnzentren mit mehr als fünftausend Einwohnern einen von ihnen gab, bei den Landtruppen nur noch einen pro Armeestab, bei der Flotte nur noch einen pro Admiralsschiff, gar nicht zu reden von der Aufhebung des Rechts auf eine einheitliche Dienstkleidung und den beträchtlichen Gehaltskürzungen, bis hin zu dem auf offiziellen Empfängen deutlich wahrnehmbaren Rangverlust des Oberstaatsverwünschers. Doch das alles waren kleine Fische im Vergleich zu der nun erfolgenden Schlußattacke der Köprülü, die es tatsächlich geschafft hatten, den Souverän zur völligen Abschaffung des Berufsstands zu bewegen.
Die Gleichgültigkeit gegenüber dem soeben erlassenen Dekret hielt allerdings nicht lange an. Als in der zweiten Dezemberwoche aus allen Teilen des Reiches Verwünscher in die Hauptstadt strömten, von denen die meisten vielleicht ahnten, die wenigsten jedoch wußten, weshalb man sie herbestellt hatte, verkehrte sich die allgemeine Indifferenz zunehmend in Beklemmung. Die in Kaleschen, Postkutschen und allen möglichen anderen Transportmitteln (den erstbesten, die sie hatten finden können) eintreffenden Verwünscher bewirkten, daß in kaum einer Herberge der Hauptstadt noch ein Schlafplatz frei war. Man sprach von zwölftausend, manchmal auch fünfzehntausend, doch wußte niemand eine genaue Zahl, und auch der Grund der Invasion lag im Dunkeln. Überwiegend wurde davon ausgegangen, es gehe bei der Wanderbewegung wie üblich um die Überbringung einer die Zukunft des Berufsstands betreffenden Eingabe oder Beschwerde an den Souverän. Als dann bekannt wurde, daß die Verwünscher nicht aus eigenem Antrieb gekommen, sondern zur Teilnahme an einer Massenversammlung mit dem Großwesir herbeizitiert worden waren, legte sich die Sorge der Bürger keineswegs, sondern wuchs eher noch. Am Donnerstag, dem Vortag der Versammlung, schlug die Beklommenheit in pure Angst um. Solche Massen von Berufszauberern in einer einzigen Stadt … War das wirklich nötig?
Die Menschen erwachten nun schlagartig aus ihrer fahrlässigen Indolenz. Mußte eine solch bedrohliche Ansammlung von Fluchkundigen wirklich sein, konnte man die blöde Veran staltung nicht anderswo durchführen, oder wenigstens in kleinerem Kreis, oder mit jedem Betroffenen einzeln, in der Stadt, in der er wohnte und verwünschte? Was, wenn sie in ihrem Zorn alles verfluchten?
Wie eine Regenwand zog die Angst über allen Wohnvierteln der Hauptstadt auf. Im Zentrum, hieß es, sei die Kutsche des Oberstaatsverwünschers mit dem Wappen der Großen Kaiserlichen Fluchhand auf den Türen bei wiederholten Fahrten zwischen dem Sitz des Scheichs ul-Islam und dem Sultans palast beobachtet worden. Offenbar hatte er noch Hoffnung, die Maßnahme im letzten Augenblick abwenden oder wenigstens abschwächen zu können.
Die Versammlung zur Verkündung des Dekrets fand auf dem alten Pferdehof des königlichen Palastes statt. Es war bitterkalt. Mit finsteren Mienen hörten viele tausend Verwünscher dem Großwesir zu. Die meisten hatten noch verquollene Augen von der ungemütlichen Nacht in einer unbeheizten Herbergsstube, und ein paar von den älteren waren in den traditionellen Dienst gewändern erschienen, verschossenen Umhängen, auf denen das Zeichen der Fluchhand kaum noch zu erkennen war. In diesem Aufzug sahen sie bereits jetzt wie Bettler aus.
Zu Beginn der Versammlung hatten sie mit ihren Blicken das Kortege des Großwesirs vergeblich nach ihrem Meister, dem Oberstaatsverwünscher, durchforscht. In den kurzen Momenten bis zum Beginn der Ansprache des Wesirs gingen Gerüchte durch die Reihen: der Oberverwünscher sei gegen Mitternacht, als sein letzter verzweifelter Versuch, das Dekret aufzuhalten, gescheitert war, verrückt geworden oder habe sogar Selbstmord begangen. Andere hielten flüsternd dagegen, der Großmeister der Gestenverwünschung sei keineswegs dem Wahnsinn verfallen oder durch eigene Hand zu Tode gekommen, sondern zum Botschafter in Wien ernannt worden.
Der Großwesir faßte sich relativ kurz. Er lobte die bedeutenden Anstrengungen zahlloser bekannter und namenloser Verwünscher, die im Verlauf der Jahrhunderte zur Stärkung des osmanischen Staates beigetragen hatten. Vor vielen hundert Jahren, sagte er, hat der einfache Soldat Shahin, schwer verwun det im Sand der Kysylkum-Wüste liegend, seine Hand flächen den anstürmenden Mongolen entgegengereckt und sie dann jäh nach vorne fallen lassen, wodurch mehr Unordnung in den feindlichen Reihen entstand als durch den schlimmsten Hagelsturm. Aus dieser seinerzeit zum ersten Mal zielgerichtet eingesetzten Handbewegung entwickelte sich später die klassische Verwünschungsgeste und das Gestenverwünschen als solches, also ein wichtiges Symbol beziehungsweise Institut unseres großen Staates.
Dann führte der Großwesir die Objekte berühmt gewor dener Verwünschungen an: die Balkangebirge im 13. Jahrhundert, das vor dem Fall stehende Konstantinopel, ganz Europa im Jahr 1377, Polen, Kruja, die Hauptstadt Albaniens, die Steppen der Krim, das Mittelmeer, auf dem die christliche Flotte herangesegelt kam, die Außenministerkonferenz in Paris zehn Jahre zuvor (heimlich), Nordgriechenland, der Winter 1641 und so fort. Dazu kamen Abertausende von verwünschten Bauwerken, Burgen, Brücken, feindlichen Schützengräben und Stacheldrahtverhauen, aber auch Botschafter, Regierungsbanketts und dergleichen. Alle diese Verwünschungen hatten den Sieg der Waffen und der Geisteskraft des osmanischen Menschen einfacher gemacht.
An dieser Stelle legte der Großwesir eine kurze Pause ein. Er holte tief Luft, und alle begriffen, daß der nun folgende Teil der Rede Kälte und Verzweiflung unter sie bringen würde. Und so war es auch. Die bis dahin klare und gut verständliche Ansprache des Wesirs trübte sich plötzlich wie ein Winternachmittag. Die Sätze wurden kompliziert, verschlungen, strotzten von Fremdworten, und dennoch vermochten die Zuhörer aus dem Wortwust herauszuhören, was sie bisher nicht hatten wahrhaben wollen: daß es um ihren Berufsstand endgültig geschehen war.
Keiner konnte sich noch auf die Begründung der Maßnahme konzentrieren. Einige schauten unverwandt ihre Hände an, andere eher verstohlen, aber in allen Blicken lag die Frage: Was sollen wir nun mit euch anfangen? Den meisten wurde wohl auf einmal bewußt, daß diese Hände zu keiner echten Arbeit taugten und daß es zu spät war, noch etwas Anständiges zu lernen. Zauberwerkzeuge, mehr waren diese Körperteile in ihrem Falle nicht. Manche haderten zum ersten Mal mit ihrem Beruf und sich selber, weil sie sich auf ihn eingelassen und sogar eine Menge darin investiert, alle möglichen Tricks und Teufeleien unternommen hatten, um ihn nicht wieder zu verlieren, und auch mit dem Staat, der ihnen nun die Droge wegnahm, von der er sie abhängig gemacht hatte.
Wirklich, wie sollten sie jetzt ihre Kinder satt bekommen?
Der Großwesir schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er gab in zwei kurzen Sätzen Antwort auf ihre angstvolle Frage. Der fürsorgliche osmanische Staat, der selbst den kleinsten ihm geleisteten Dienst nicht vergaß und nie jemand ungerecht behandelte, hatte auch dies bedacht. Ohne Rücksicht auf ihr Lebensalter würden sämtliche Verwünscher von nun an die übliche Beamtenrente beziehen.
Der Wesir schwieg erneut, brachte dann aber, als wolle er das erleichterte Aufatmen im Saal nicht überhandnehmen lassen, seine Ansprache schnell mit schroffer Stimme und deutlich drohendem Unterton zu Ende. Keiner möge glauben, der Staat werde Gerüchtemacherei und die kleinste Nörgelei über das soeben erlassene Dekret dulden. Die Exverwünscher (mein Gott, wie dieses vom Wesir gerade erst erfundene Wort klang!) sollten sich umgehend auf den möglicherweise langen Heimweg in ihre Heimatstädte, -dörfer und -provinzen machen, ohne das Geschehene irgend jemand, nicht einmal sich selbst gegenüber in Frage zu stellen, in vollem Vertrauen darauf, daß der Staat die einzig vernünftige Entscheidung getroffen hatte.
Dies war der Schlußsatz des Großwesirs, nach dem er sich unverzüglich zur rechten Tür wandte und mit seinem Anhang den Saal verließ, ohne noch jemand eines Blickes zu würdigen.
Die auswärtigen Verwünscher reisten noch am gleichen Nachmittag, mit dem erstbesten Verkehrsmittel, das sie fanden, wieder aus der Hauptstadt ab, so wie sie auch gekommen waren. Es herrschte trübes Wetter, ständige Regenschauer und die schlammverschmierten Räder der Postkutschen, für die sich viele entschieden hatten, machten den Abschied noch bedrückender. Die alten Umhänge mit der Schwurhand, von denen sich manche auch jetzt nicht hatten trennen können, wirkten im Dämmerlicht des zu Ende gehenden Tages noch verblichener, fast wie Gespensterkleider.
Trotz ihrer Erleichterung verspürten die Hauptstädter beim Anblick der erschöpften und bekümmerten Gesichter der Abreisenden auch ein gewisses Mitleid. In den folgenden Tagen wurde vor allem in den Ämtern noch oft über sie geredet, dann verstummten die Gespräche allmählich. Sie lebten wieder auf, als man kurze Zeit glaubte, unter den nun bestehenden Verhältnissen werde etwas Neues, Zeitgemäßeres die Fluchhand ersetzen, und sogar anhand von Skizzen allerlei Details diskutierte, bis man einsah, daß es sich nur um Gerüchte handelte. Damit war das Thema Fluchhand und Verwünscher erledigt, und die erste Staubschicht des Vergessens begann sich darüberzulegen.
1983
Das Café Kursaal schloß gewöhnlich spät, vor allem samstags, dennoch vergewisserte sich Gaspër Cara mit einem besorgten, fast ängstlichen Blick in die Saalecke, daß die beiden letzten Gäste tatsächlich noch keine Anstalten zum Gehen machten. Seine irrationale Angst davor, in einem Nachtlokal der letzte zu sein (sie stammte vermutlich aus seiner Kindheit, als er vom Vater im Speisesaal eines Gasthauses lange allein gelassen worden war), nahm im Kursaal wegen der hämischen Blicke eines der Kellner noch schlimmere Formen an. Der zweite Ober indessen verhielt sich liebenswürdig wie stets und war sogar ohne besondere Aufforderung zum Nachschauen in den Pokersaal gegangen.
»Ich glaube, sie hören gerade auf«, sagte er mit gedämpfter Stimme, als er zurückkam.
»Danke, Zef«, antwortete Gaspër mit gleicher Lautstärke. »Ich würde den Doktor bestimmt nicht zu so später Stunde belästigen, wenn es mir nicht wirklich schlecht ginge.«
Er erwog, noch einige Symptome zu benennen, Schwindelanfälle oder schwache Knie vielleicht, doch der boshafte Blick des ersten Kellners drüben dämpfte sein Erläuterungsbedürfnis nachhaltig. Mein Gott, der soll mich in Ruhe lassen, dachte Gaspër, schließlich bin ich nicht aussätzig.
Die Befürchtung, der Arzt werde ihm womöglich übelnehmen, daß er ihn mitten in der Nacht in Anspruch nahm, ließ ihm das Herz vollends in die Hose rutschen, und vielleicht wäre er aufgestanden und gegangen, hätte nicht in diesem Augenblick jemand den kastanienbraunen Wollvorhang zwischen Pokerraum und Café zur Seite gezogen.
Der Arzt wirkte heiter. Die lächelnden Augen, vor allem aber der sich fröhlich über seiner Pfeife kräuselnde Rauch zeigten, daß er zu den Siegern der Partie gehörte. Gaspër Cara wartete, bis der Doktor sich von seinen Mitspielern verabschiedet hatte, und trat erst grüßend an ihn heran, als er sich beim Hinausgehen den Borsalino aufsetzte.
Gut gelaunt unterbrach der Arzt Gaspërs Entschuldigungsbemühungen.
»Hör zu, mein Lieber, als ob … also, wenn ich jemand wäre, der sich vor den Klatschmäulern fürchtet, dann würde ich vielleicht ärgerlich reagieren, aber das bin ich nicht, wie du weißt, deshalb kannst du ganz ruhig sein. Wie sieht es bei dir aus? Ich meine innerlich, sind da immer noch die ganzen see lischen Probleme, die Zweifel, das Leiden unter der Selbstentäußerung?«
Am liebsten hätte ihm Gaspër Cara aus Dankbarkeit die Hände geküßt. Der Arzt war der einzige Mensch, dem er das Herz geöffnet und von seinen Bedrängnissen erzählt hatte. Anders als befürchtet waren ihm gelehrte Ratschläge für den richtigen Umgang mit seiner Veranlagung erspart geblieben. Der Doktor hatte vielmehr mit sichtlichem Mitgefühl einfach zugehört.
Auch jetzt spürte er, daß der Blick seines Gesprächspartners milde war, obgleich er ihn nur gelegentlich streifte.
»Ich habe die Ballade vom Zuchthaus zu Reading für dich besorgt«, sagte dieser, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Gestern las ich sie und mußte an dich denken. Wenn man bedenkt, daß man Oscar Wilde in einem zivilisierten Land wie England erbarmungslos durch den Schmutz gezogen und schließlich sogar eingekerkert hat, was soll man dann hier auf dem Balkan erwarten.«
Gaspër Cara konnte nur mit Mühe die Tränen unterdrücken.
»Das ist sehr freundlich«, sagte er leise. Er wußte selbst nicht genau, ob er das besorgte Buch meinte oder einfach nur Dankbarkeit bekunden wollte.
Im fahlen Mondlicht wirkten die Kastanienbäume an der Hauptstraße wie mit Reif überzogen.
»Ich wollte deshalb schon von hier weggehen«, sagte Gaspër Cara. »Doch dann wurde mir klar, daß es anderswo auch nicht viel besser ist.«
»Na ja, schlimmer als in Albanien kann es jedenfalls nirgends sein.«
Gaspër Cara holte tief Luft.
»Schon, aber trotzdem … hier in Albanien … Ich habe heute abend eigentlich nur deshalb auf Sie gewartet, weil ich Ihnen etwas Seltsames erzählen möchte.«
Der Arzt nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Etwas Neues von Lalë Krosi? Oder ein Straferlaß für … Du machst mich neugierig.«
Wie üblich sprach der Arzt Gaspër mit Du an, während dieser ihn siezte.
»Es ist etwas Bedeutsameres, viel Bedeutsameres«, antwortete Gaspër Cara.
Man merkte, daß er über das Thema, von dem er dem Arzt berichten wollte, vorher lange nachgedacht hatte. Dennoch entschied er sich im letzten Augenblick, die zurechtgelegten Worte durch schlichtere zu ersetzen. Trotzdem blieb das, was der Doktor zu hören bekam, mehr als erstaunlich.
»Eine Schönheitskonkurrenz für Männer mitten in den Bergen? Entschuldige, das hört sich doch sehr nach Märchen an …«
»Es ist aber wahr, Doktor, glauben Sie mir. Als man es mir erzählte, war ich erst ziemlich ärgerlich, weil ich mir veralbert vorkam, aber als ich dann Genaueres erfuhr …«
»Hm«, machte der andere und klopfte die Pfeife an der flachen Hand aus. »Daß bei den Hochländern im Norden vor allem von den Männern großer Wert auf Aussehen und Kleidung gelegt wird, weiß ich, aber das hier ist wirklich schwer zu glauben.«
»Man hat sich sogar schon einen Namen ausgedacht.«
»Da bin ich aber wirklich neugierig. Der Begriff ›Konkurrenz‹ dürfte ja bei den Hochländern kaum in Gebrauch sein.«
»Stimmt. Sie nennen es Wettprangen.«
Der Arzt brach in lautes Gelächter aus. Dann schüttelte er mehrfach den Kopf, nahm die Tabaksdose und begann seine Pfeife neu zu stopfen.
»Wettprangen«, wiederholte er. »Wirklich, ein hübsches Wort. Vor etwa zwei Jahren las ich in einer Zeitschrift, der Papst habe, ich glaube, es war im siebzehnten Jahrhundert, eine Bulle gegen die albanischen Frauen erlassen. Darin sei den katholischen Hochländerinnen mit Exkommunikation gedroht worden, wenn sie nicht endlich von ihrer Putzsucht abließen. Was allerdings ihre Männer angeht …«
»Aber, haben Sie nicht eben selber angedeutet, daß die albanischen Männer womöglich eitler und gefallsüchtiger sind als die Frauen?« unterbrach ihn Gaspër Cara zaghaft.
Der Arzt lächelte.
»Ach, daher weht der Wind«, sagte er. »Ich verstehe schon, mein Junge, ich verstehe sogar sehr gut«, fuhr er dann mit nachdenklicher Stimme fort. »Ich versuche gerade nachzuvollziehen, was diese Nachricht wohl für dich bedeutet. Eine Botschaft, ein Zeichen vielleicht? Ein Fünkchen Hoffnung? Ich meine, wenn nicht direkt Akzeptanz, so doch wenigstens ein bißchen mehr Toleranz.«
»Sie sind ein guter Mensch«, sagte der junge Mann mit gerührter Stimme.
»Na ja, ich bin Arzt, Gaspër. Sicher habe ich in Albanien keine moderne, nach dem letzten Schrei der Technik eingerichtete Praxis, aber dafür ist man hier mit dem menschlichen Leid in seiner nacktesten und oft tragischsten Form konfrontiert. Das hat mich vielleicht ein wenig sensibler gemacht.«
»Irgendwie ist bei mir … ein Knoten aufgegangen … etwas ist mir klarer geworden …«
Gaspër sprach langsam und stockend. Offenbar versuchte er Gedanken in Worte zu fassen, die noch nicht richtig Form angenommen hatten.
»Ja, Sie haben schon recht, ein Zeichen vielleicht … ein langgehegter Traum … Und dann, weil es auch noch aus den Bergen kommt …«
»Ich möchte dich wirklich nicht betrüben«, unterbrach ihn der Arzt, »aber vielleicht vor einer Enttäuschung bewahren. Du solltest nicht vergessen, daß in diesen Regionen die ›Liebe gleichen Leibs‹, wie Homosexualität im Kanun genannt wird, noch eine Todsünde ist.«
»Ich weiß«, antwortete Gaspër.
»Außerdem halte ich es für sehr fraglich, daß diese Män nerkonkurrenz, dieses Wettprangen, tatsächlich auf eine, sagen wir, großzügigere Einstellung der Öffentlichkeit schließen läßt, wie wir alle, nicht nur ihr, die Geächteten, sie uns schon lange erhoffen.«
»Geächtete«, seufzte Gaspër. »Das kommt von ›Acht‹, wenn ich mich nicht irre.«
»Ja, sicher«, erwiderte der Arzt. »Das bedeutete ursprünglich ›Ausschluß aus der Gemeinschaft‹. Ich habe übrigens irgendwo gelesen, daß die Worte ›djalë‹, Jüngling, und ›djall‹, Teufel, im Albanischen auf die gleiche Wurzel zurückgehen: Absonderung, Ausschluß.«
Wieder konnte Gaspër Cara einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken.
»Sie fragen sich, ob diese Männerkonkurrenz wirklich etwas mit … uns zu tun hat. Darüber habe ich mir lange den Kopf zerbrochen, das dürfen Sie mir glauben. Vielleicht besteht ja kein direkter Zusammenhang, aber es ist auf jeden Fall ein leiser Widerhall uralter Zustände, ein Zeichen der Sehnsucht nach einer Zeit, als man dies alles noch nicht für eine Verfehlung hielt.«
»Na ja, wenn man es so sehen will«, meinte der Arzt.
»Es könnte doch sein, daß der Wettbewerb weniger eine Erfindung von heute als die Wiederbelebung eines uralten Rituals ist«, fuhr Gaspër Cara fort. »Wenn bei den alten Griechen solche Dinge ganz normal waren, weshalb dürfen wir dann nicht vermuten, daß ihre Zeitgenossen und Nachbarn, also unsere illyrischen Vorfahren, ebenfalls daran Gefallen fanden.«
Beim Sprechen nestelte der junge Mann nervös am Kragen seines schwarzen Gehrocks neuester Mode, wie sie eben erst in den Schaufenstern der albanischen Hauptstadt aufgetaucht war. Er merkte wohl, daß der Doktor sich anschickte, ihn erneut zu unterbrechen, und verstummte unsicher.
Nach kurzem Schweigen ergriff der Arzt wieder das Wort.
»Entschuldige, wenn ich noch einmal zu meinen anfänglich geäußerten Zweifeln zurückkehre. Bist du dir wirklich sicher, daß dieser Wettbewerb stattfinden wird? Möglicherweise hast du etwas falsch verstanden, oder das ganze war nur ein Scherz.«
»Ganz sicher«, antwortete Gaspër. »Es gibt zwar noch keine offizielle Ankündigung und auch keine endgültige Bezeichnung, aber es steht auf jeden Fall fest, daß es sich um eine Schönheitskonkurrenz für Männer handeln wird. Die großen Zeitungen der Hauptstadt sind informiert. Ich habe das ganze von einem Gesellschaftsredakteur. Man hat bei der Presse bereits mit den Vorbereitungen begonnen, und auch die Fotografen machen sich bereit.«
»Erstaunlich«, meinte der Doktor und zündete seine Pfeife wieder an. Wahrscheinlich war es der weiße Seidenschal, der Gaspër Caras Gesicht im flackernden Streichholzlicht so bleich erscheinen ließ.
»Vielleicht messe ich dem ganzen einfach viel zuviel Be deutung bei«, sagte der junge Mann. »In einem bin ich mir immer hin sicher: Dieser Lichtschimmer, der aus tiefster Vergangenheit zu uns dringt, dieser Traum, diese Seelenwanderung, wenn das Wort hier angebracht ist, bewegt mich außerordentlich. Vielleicht ist es übertrieben, aber ich möchte darin eine wenn auch noch so vage Regung des Gewissens sehen, eine Art unbestimmter Reue für die jahrhundertelange Unbarmherzigkeit … Ich glaube, Sie wohnen hier. Herzlichen Dank, Doktor, und entschuldigen Sie bitte, wenn ich wieder einmal zuviel geredet habe.«
»O nein, es war mir eine Freude. Gute Nacht, Gaspër.«
Im Licht des Mondes sah das Gesicht des jungen Mannes blaß und sehr schön aus.
Ein echter Narziß, dachte der Doktor, als er die Treppe zum Haus hinaufging. Dann drehte er sich plötzlich um und rief:
»Gaspër, was ich noch fragen wollte: Du hast doch nicht etwa die Absicht, dort hinzugehen?«
»Aber natürlich!« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
Der Arzt wollte noch etwas sagen, zum Beispiel »Sei wenigstens vorsichtig!«, verzichtete aber auf weitere Äußerungen, weil die schwarze Pelerine bereits davonwallte.
Er schaute dem dunklen Flattern eine Weile lang nach, das den Träger des Kleidungsstücks nicht nur vor jeglicher Gefährdung zu schützen schien, sondern ihm sogar eine Ausstrahlung von Drohung und Unheil verlieh.
Gabriel, der Erzengel des Todes, dachte der Doktor und verspürte auf einmal eine undeutliche Angst.
Das Gerücht, man plane einen Schönheitswettbewerb für Männer, war bereits seit Anfang März im Umlauf, doch es breitete sich nur sehr langsam aus, zum einen, weil denen, die es herumtrugen, der eisige Wind stets von vorn ins Gesicht zu blasen schien, vor allem aber, weil sie eine gewisse Scheu vor dem Thema nicht überwinden konnten. Man empfand es als irritierend, irgendwie frivol oder gar sündhaft, und wenn es endlich doch von der Zunge war, blieb ein flaues Gefühl im Magen zurück. Das hatte wahrscheinlich auch mit dem Verschwinden zweier Boten zu tun, denen die Verteilung der Einladungen oblag; eine Lawine begrub sie so tief unter sich, daß ihre Leichen erst nach der Schneeschmelze, als das ganze Unterfangen bereits Geschichte war, aufgefunden wurden. In ihren eisesstarren, vom Tod nicht angetasteten Augen war die freudige Erwartung der Anfangszeit, als das Ereignis erst ein schwa ches Licht vorausgeworfen hatte, gleichsam kristallisiert.
Am Anfang war alles noch recht trübe und in Wolken gehüllt gewesen, als stammte die Idee für die ungewöhnliche Veranstaltung direkt vom Himmel. Man reagierte überrascht, mit spöttischem Lächeln, allerlei Scherzen und anzüglichen Bemerkungen, und natürlich wurde auch der Verdacht geäu ßert, es gehe in Wirklichkeit nicht um einen Schönheitswettbewerb, sondern um etwas ganz anderes. Eine Geheimversammlung zum Beispiel. Und von da fehlte nur noch ein kleiner Schritt bis zu einer Verschwörung gegen den König.
Einige klapprige Greise, die sich noch an weit zurückliegende Geschehnisse erinnern konnten oder solches wenigstens vorgaben, runzelten bedeutungsvoll die Stirn und lie ßen den Blick zu Boden sinken, um endlich die Augen fest zu schließen (vermutlich wären sie sogar bereit gewesen, sich ihre Sehwerkzeuge ganz auszureißen, wenn absolute Blindheit es ihnen ermöglicht hätte, tiefer in den Brunnen der Zeit hinabzutauchen). Aus dem Jahr 1729, erklärten sie sodann, sei dergleichen schon einmal vermeldet worden, wenn es sich damals auch nur um die Neuauflage eines Vorgangs aus dem Jahr 1602 gehandelt habe, der seinerseits der letzte Abglanz eines noch ferneren Ereignisses lange vor dem Einbruch der türkischen Nacht im Vaterland der Arber gewesen sei. Nun gut, aber wie war das genau ge we sen, konnte man wirklich von einem Schönheitswett bewerb für Männer sprechen? Um einen Wettbewerb, eine Ausscheidung oder Auslese hatte es sich gehandelt, daran bestand kein Zweifel, aber ob das ganze ungerüsteten Männern gegolten hatte, Männern unter Waffen oder womöglich sogar bewaff ne ten Männern zu Pferde, das konnte keiner richtig sagen. Mehrheitlich war man allerdings der Meinung, der Wettbewerb sei nur Bestandteil einer weit umfänglicheren Feierlichkeit gewesen.
Erhärtet wurde die Mutmaßung, hinter dem Wettstreit habe sich etwas ganz anderes verborgen, durch eine Information aus Shkodra. Im Archiv der Franziskaner war ein Schriftstück aus dem Jahr 1729 gefunden worden, ein Bericht des Konsuls der Republik Venedig. Es hätten sich die schönsten Männer des Berglands von Hochshkodra im Weiler Bajza eingefunden, damit man den wohlansehnlichsten unter ihnen erküre, und volle drei Monate seien ins Land gegangen, ehe des Türken Späher endlich in Argwohn gefallen, eigentlich möcht sich ganz andre Absicht hinter der Zusammenkunft verstecket haben.
Der Verdacht hatte sich vornehmlich an der äußeren Erscheinung des Schönheitskönigs entzündet, die sich bei näherer Betrachtung doch als recht gewöhnlich erwies. Für die Spione aus Shkodra brachen harte Zeiten an. Ihre Vorsteher wurden zum Wesir zitiert, wo die fürchterlichsten Beschimpfungen auf sie niedergingen, ehe man sie mit Fußtritten aus der Hinterpforte der Festung trieb, durch welche sonst die Wachoffiziere in der Morgendämmerung ihre Hürlein hinausließen. Ihrerseits luden die Angstgepeinigten den angehäuften Zorn auf die eige nen Untergebenen ab, und da ihnen Kränkungen allein (selbst jene, in denen die Mütter der Armen vorkamen) wie üblich viel zu milde dünkten, griffen sie gleich zu den Knuten. Erbarmungslos prügelnd, brüllten sie: Dämliche Arschgesichter, das hat euch wohl noch gefallen, daß der Kerl nicht gerade hübsch war, wie? Auf die Idee, eure Spatzenhirne einzuschalten, um den Grund herauszufinden, seid ihr natürlich nicht gekommen! Und um womöglich sogar Verdacht zu schöpfen, dazu seid ihr sowieso viel zu blöde!
Nach einer Woche tröpfelten in den Amtsstuben der Geheimpolizei die ersten Auskünfte herein. Man leitete sie an den Wesir weiter, der unverzüglich per Eilkurier einen Bericht nach Stambul schickte. Darin wurde der Sieger genau beschrieben, an dem wahrhaftig nichts zu finden war, was die Wahl gerechtfertigt hätte: sein allenfalls mittelgroßer, eher schmächtiger Wuchs, die seltsam geformte Nase und insbesondere die schon reichlich gelichteten Haare standen in völligem Widerspruch zum Idealbild männlicher Schönheit. Es dränge sich deshalb, so der Wesir in seinem Schreiben, der Verdacht auf, unter dem Deckmantel des Schönheitswettbewerbs habe die Versammlung etwas ganz anderes getan, nämlich einen militärischen Anführer bestimmt.
Wieder eine Woche später traf aus der Hauptstadt eine Heerschar zusätzlicher Spione ein, von denen die meisten gerade erst von der Geheimdienstschule abgegangen waren. Neben den üblichen Tarnungen, Zigeuner, blinder Wandersänger und Bettelbruder, kamen auch Marketenderinnen, Käsegroß händler, Epileptiker oder auch englische Aristokratinnen vor, welche das Bestreben, die Vielfalt menschlicher Rassen zu erkunden, in die große weite Welt gelockt hatte.
Alle strömten auf die Bergesalmen, und nachdem sie diese drei Monate lang kreuz und quer durchstreift hatten, war die bevorstehende Erhebung aufgedeckt. Man ließ die Anführer einschließlich ihres Obersten in eine Falle tappen und brachte letzteren mit verhülltem Haupt geradewegs zum Wesir.
Wenn du schon nicht schön bist, soll der Wesir geäußert haben, als man sich anschickte, das Tuch wegzuziehen, dann sag uns wenigstens, was du wirklich bist.
Es war noch viel schlimmer, als man aus den ersten Meldungen der Kundschafter hatte schließen können. Der Mensch litt nicht bloß unter einem Mangel an Ansehnlichkeit, man mußte ihn geradezu als häßlich bezeichnen. Sein Gesicht, in dem wäßrige Augen tief eingesunken lagen, war mit Pockennarben übersät, und die fahle Farbe seiner Haare ließ deren spärlichen Wuchs noch auffälliger wirken.
Der Wesir betrachtete den Mann nachdenklich, während er die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten ließ. Man brachte die pflichtvergessenen Spione, die seinerzeit den Wettbewerb ohne nachfolgende Warnmeldungen überwacht hatten, und peitschte sie vor seinen und des mit Ketten gefesselten Mannes Augen aus. Sie schworen Stein und Bein, es handele sich keinesfalls um den gleichen Gesellen. Vielleicht habe der Sieger wirklich nicht gut genug ausgesehen, um den Lorbeerkranz zu verdienen, aber so häßlich wie dieser Kerl hier sei er auf keinen Fall gewesen, denn sonst wäre ihnen gewiß sofort ein Licht aufgegangen, und sie hätten Alarm geschlagen. Nein, Wesir, das war er nicht, der Allmächtige sei unser Zeuge.
Aus spöttischen Augen schaute der gefesselte Fremde zu, wie die Knuten niedersausten. Der Wesir saß immer noch nachdenklich da.
Warst du es nun oder warst du es nicht? fragte er schließlich den Gebundenen. Und als nicht sofort eine Antwort kam, setzte er noch hinzu: Du solltest wenigstens ein bißchen Mitleid mit den armen Lumpen haben, die deinetwegen verprügelt werden.
Da antwortete der Mann: Ich war es, Wesir. Aber sie haben trotzdem keine Schuld. Weißt du, damals, als man mich zum Anführer ernannte, sah ich noch besser aus. Der ganze Verdruß danach ist nicht ohne Spuren an mir vorbeigegangen.
In ziemlich höhnischem Ton beantwortete er die Fragen des Wesirs. Es täte ihm schrecklich leid, daß es mit dem Aufstand nicht geklappt habe. Das sei der einzige Kummer, der ihn beim Abschied vom Leben drücke.
Die weiteren Ermittlungen und die durch Folter erzwungenen Aussagen seiner Kameraden ergaben, daß man bei dem Wettbewerb versucht hatte, die Pockennarben zu überschminken und sein Haar fülliger erscheinen zu lassen, also den künftigen Anführer herzurichten wie eine Braut zum Hochzeitsfest.
Im Festungshof, wo auch das erste Verhör stattgefunden hatte, hängten sie ihn auf. Der Überlieferung nach sank, als man ihm die Schlinge um den Hals legte, plötzlich eine so große Schönheit auf ihn herab, daß sich der Wesir ein paarmal verwundert die Augen rieb.
Dies alles stand im Bericht des Konsuls, und auch, daß sich auf dem Grabstein unter dem Namen des Verstorbenen keine Erwähnung von dem Aufstand finde, dessen Anführer er nicht mehr habe werden können, dafür aber die Worte zu lesen seien: Dem schönsten Mann des Hochlands im bitteren Jahr 1729!
Mitte März war auf der ganzen nördlichen Hochebene von nichts anderem mehr die Rede. Zu den Spekulationen über den neuerlichen Wettbewerb, die anders als der dunkel dröhnende Nachhall der früheren Veranstaltung leicht wie Nebel und leise raschelnd wie Seide daherkamen, gesellte sich das Gerücht, eine der Prinzessinnen beabsichtige nach uraltem Brauch, sich in den Bergen, also im Herzen der Nation, ihren prinzlichen Gemahl zu erwählen.
Neben die rosenroten Zukunftsträume drängten sich gelegentlich auch reichlich unvernünftige, einen neuen Balkankrieg oder den möglichen Wiederanschluß Kosovas betreffende Ahnungen.
All dies geisterte über das große Plateau, beladen mit namenlosen Kümmernissen, der blendenden Weiße des Schnees und der Sorge über die Verspätung der Mandelblüte, die wie oft in solchen Fällen als tragisch empfunden wurde.
Derweilen herrschte unter den eiligst aus der Hauptstadt angereisten Kundschaftern des Königs Frustration. Sie begriffen nicht, was sich vor ihren Augen abspielte, und die Informationen, die sie zusammentrugen, widersprachen sich völlig.
Die Bannerherren von Leka und Kruma waren verstimmt. Auch in Luma herrschte Irritation. Was sollte das für ein Wettbewerb sein, und weshalb wollte man ihn ausgerechnet in diesem Frühjahr abhalten? Wer auf diesen lächerlichen Einfall gekommen war, ließ sich nicht mehr ermitteln. Erst verdächtigte man die Frauen von Gromsiqe, doch schnell stellte sich heraus, daß der Weiblichkeit nicht der geringste Vorwurf zu machen war. In Gucia hatte ein Greis, ehe er seine Seele aushauchte, noch ein Vermächtnis hinterlassen: Die Männer des Hochlands stellten immer weniger dar, klagte er, sie vernachlässigten ihre Kleidung, achteten nicht auf ihr Äußeres und ließen sich überhaupt gehen. »Veranstaltet einen Schönheitswettbewerb«, lauteten seine letzten Worte, »ehe es zu spät ist.«
An Kreuzwegen und in Gasthöfen wurden auch noch andere Fragen debattiert. Wo sollte der Wettbewerb stattfinden, wer bestimmte die Jury und nach welchen Gesichtspunkten wurden die Kandidaten ausgewählt?
Allmählich legte sich der Wirbel, und als erstes wurde klar, daß Frauenzimmer auf keinen Fall etwas mitzureden haben würden, weder die Damen von Shkodra noch die Tschengis von Tirana, die sich in der Männerwelt auskannten wie in ihren Handtaschen. Selbst die Prinzessinnen durften nicht auf die Berücksichtigung ihrer Flausen hoffen. Ihr seid vielleicht könig lichen Bluts, herzlichen Glückwunsch, bestimmt gibt es einen Prinzen für euch, aber beim Wettbewerb der Männer habt ihr nichts zu suchen.
Die Oberhäupter der Banner sahen darin keinen Grund, erleichtert zu sein. Sie zeigten deutlich, daß ihnen die ganze Geschichte gegen den Strich ging, wagten allerdings auch keinen offenen Widerspruch, weil sie nicht als mißgünstig erscheinen wollten. Ein Mann, der sich durch sein ansehnliches Äußeres einen Namen verschafft hatte, zog stets den Zorn der Stammes führer auf sich. Ruhe kehrte erst wieder ein, wenn dem von der Natur Begünstigten ein Tort widerfuhr, zum Beispiel seine glatte Haut durch eine Krankheit verunstaltet wurde oder, was für einen Mann der Berge viel wahrscheinlicher war, ihn ein gewaltsamer Tod ereilte. Trost vermochte den Würdenträgern nur die Tatsache zu verschaffen, daß sich diesmal eine Einzelperson den Kranz verdiente und nicht wie gewöhnlich zahlreiche Männer am Ruhm beteiligt waren. Einer allein konnte viel leichter vom Postament gestoßen werden.
Die allerletzte Hoffnung, daß es sich vielleicht doch bloß um die verstörende Wirkung überschießender Frühlingsgefühle handelte, zerstob, als der Schauplatz des Wettbewerbs bekannt gegeben wurde: das Dorf Lugjet e Epërme, das geschlossener war als andere Siedlungen im Hochland und zudem als einzige Ortschaft zwei Gasthäuser besaß. Als Austragungszeit wurde die letzte Aprilwoche bestimmt.
Bald folgten weitere Einzelheiten: die Zusammensetzung der Jury, die Regeln und, was das wichtigste war, die Teilnahmebedingungen. Auf den Altersrahmen hatte man sich schnell verständigt: von neunzehn bis neunundneunzig Jahren. Einzelne Stimmen hatten für eine offene Obergrenze plädiert, doch ließ man den Vorschlag rasch wieder fallen, weil man sich nicht mit Gevatter Tod anlegen wollte. Dagegen war anfänglich recht umstritten, ob auch die Männer aus den Fluchttürmen zum Wett bewerb zugelassen werden sollten. Die einen hielten ihre Teilnahme für unangemessen, um so mehr, als dazu ein besonde res Ehrenwort erlassen werden mußte, wogegen den anderen ein Ausschluß unredlich erschienen wäre. Schließlich sind sie die Blüte des ganzen Männergeschlechts, hatte der Sprecher des Turms von Orosh nach sicherem Vernehmen erklärt, als man ihn wie in solchen Fällen üblich zu Rate zog. Ihnen die Teilnah me nicht zu erlauben bedeutet einen Frevel gegen den Kanun.
Schließlich billigte die Jury die Teilnahme auch von Fluchtturmbewohnern, ohne allerdings über das Ehrenwort hinaus, das ihnen freies Geleit garantierte, Begünstigungen zu gewähren. Egal, ob der Schatten des Todes auf ihn fällt, entweder ist ein Mann schön, oder er ist es nicht, meinte einer der Richter. Was die blasse Hautfarbe der Betroffenen infolge langer Abgeschiedenheit von der Sonne betraf, vertrat man die Meinung, die Strahlung des Himmelgestirns sei vernachlässigbar, da sie die Schönheit eines Menschen sowohl zu steigern als auch zu beeinträchtigen vermöge.
Zuerst entfaltete der Himmel nach dem Winter seine ganze Pracht, als ob der Wettbewerb dort oben stattfinden solle. Innerhalb von drei Tagen klarte er auf, worauf ihn vorübergehend dichter Nebel verschluckte, aus dem er jedoch in noch strahlenderem Blau hervortrat.
Wie immer dauerte es länger, bis sich die Erde erwärmt hatte. Derweil befanden sich die schönen Männer bereits auf dem Weg nach Lugjet e Epërme, die meisten allein. Eine bis dahin ungekannte Angst ließ sie Wege meiden, auf denen sie Mitbewerbern hätten begegnen können. Auch vor den gele gent lich auftauchenden Kirchtürmen graute ihnen.
Aus dem Fluchtturm von Agripa e Keqe kam Prenk Curri herausgeschwankt wie ein Betrunkener. Seine Knie waren weich, seine Augen fast blind vom gleißenden Tageslicht. Seine erste Regung war, sofort wieder umzukehren, doch hinter der Tür des Turms bildeten die Kameraden eine unüberwindliche Mauer. Die ganze Nacht über hatten sie auf ihn eingeredet, um ihn zur Teilnahme am Wettbewerb zu bewegen. Aber ich bin doch überhaupt nicht schön, sagte er, ich bin ein häßlicher Kerl. Sie würdigten seine Bescheidenheit, bevor sie mit ihren Lobeshymnen fortfuhren. Keine Frage, du bist der schönste Jüngling weit und breit, sagten sie, die Bannerherren und Kapitäne werden vor Neid erblassen, an ihren Fingernägeln kauen, sich vor Kummer betrinken, und die Mädchen im ganzen Hochland werden beim Gedanken an dich nachts in ihren Betten seufzen. Und was habe ich davon? antwortete er. Ich muß mich hier verkriechen, selbst wenn ich gut aussehen würde, es nützte mir überhaupt nichts! Ich bin zur Dunkelheit verdammt, lebendig begraben. Das kann man nie wissen, antworteten seine Kameraden. Eines Tages passiert da draußen vielleicht etwas, und du bist wieder frei … Soll vielleicht ein anderer an meiner Stelle sterben und ich nur herauskommen, um wieder zu töten? Nein danke, dann bleibe ich lieber hier.
Doch sie ließen nicht locker. In schmeichelndem Ton redeten sie auf ihn ein, wie man einen Säugling in den Schlaf lullt: Also, es heißt, des Königs jüngere Schwester hat sich zum Wettbewerb angesagt, sie will dort ihren Prinzen fürs Leben finden, und du heißt schließlich Prenk, was im alten Albanisch »Prinz« bedeutete, bist also gewissermaßen vom Schicksal für diesen Tag auserwählt worden. Wenn du gewinnst, heiratet sie dich bestimmt und nimmt dich mit in die ferne Hauptstadt.
Er schüttelte bloß den Kopf, um das ganze Gerede loszuwerden. Was ist nur mit euch los? preßte er hervor. Hört endlich auf, mich verrückt zu machen und euch selbst dazu. Es kann euch doch egal sein, ob ich gehe, ihr hockt trotzdem weiter hier in der Dunkelheit … Mein Gott, was soll der ganze Unsinn?
Zum ersten Mal fiel ihnen keine Antwort ein. Ihre Augen blickten ins Leere. Es brachte ihnen tatsächlich nichts, keinen Vorteil, keine Hoffnung, allenfalls die Genugtuung, aus der Finsternis, in der sie sich wie blinde Fledermäuse verkrochen hatten, einen Lichtstrahl in die Welt hinaussenden zu können.
Und außerdem, wie soll das gehen mit meinen ungeschnittenen Fingernägeln, dem dreckigen Hemd und meinen Haaren, die seit einer halben Ewigkeit keinen Kamm mehr gesehen haben?
Ach was, du findest unterwegs bestimmt eine klare Quelle, in der du dich anschauen, waschen und kämmen kannst.
Schließlich hatten sie ihn praktisch hinausgeworfen auf die Gasse, wo das Unkraut aus dem Pflaster wuchs, und unsicher wie ein frisch aus dem Käfig entlassener Vogel machte er seine ersten Schritte.
Noch nie hatte in Lugjet e Epërme ein solcher Trubel geherrscht. Die Hochländer, die an Fremde nicht gewöhnt waren, verfolgten die auswärtigen Besucher, die sich zwischen den beiden Gasthäusern, der Kirche und dem Fuß eines Felsabsturzes ergingen, mit interessierten Blicken.
Was die Neugier der Einheimischen betraf, liefen die Gäste aus der Hauptstadt anfänglich sogar den Bewerbern um die Schönheitskrone den Rang ab. Natürlich hatten sich auch Foto reporter der bedeutendsten Blätter eingefunden. Eine der Zeitungen, der »Albanesische Anzeiger«, hatte in Ermangelung einer Mode- und Schönheitsbeilage zunächst den Redakteur des Gesellschaftsteils entsandt, wenig später aber aus irgendwel chen Gründen, vielleicht, weil man der eigenen Entscheidung nicht traute, zusätzlich noch einen weiteren Journalisten abgestellt, der sonst für die Kriminalberichterstattung verantwortlich zeichnete.
Xhilda, Besitzerin eines Friseurgeschäfts, das als verkapptes Bordell verschrien war, der berühmte Fotograf Marubi aus Shko dra sowie der englische Hilfskonsul, ein Amateurethnologe, gehörten zu den prominenten Gästen. Dazu kamen Freunde der Journalisten, Mitglieder des Vereins »Albanische Gärung« und alle möglichen Tagediebe, nicht zu vergessen die Schar der traurigen jungen Männer, die aus der Langeweile der Hauptstadt ausgebrochen waren, um nach neuen Ergötzungen zu suchen.
Die Ansässigen bemühten sich zwar redlich, ihr Staunen zu verbergen, wurden aber gelegentlicher neugieriger Blicke auf diese Leute nicht Herr, in deren Augen weder der Schrecken der Lawinen noch der Kummer des ungerächten Blutes Spuren hinterlassen hatte, dafür aber ein ganz ungewohntes Funkeln zu entdecken war.
Nach zwei Tagen ging das Interesse für die Auswärtigen zurück und konzentrierte sich angemessenerweise auf die Bewerber der Schönheitskonkurrenz. Da diese sich im Fokus der Aufmerksamkeit gleich zweier Gruppen befanden, der Einheimischen und der angereisten Städter, mußten sie sich bemühen, doppelt unbeteiligt zu wirken. In ihren schönen Trachten schritten sie langbeinig dahin, ständig verfolgt von den Fotoreportern, einer lärmenden Kinderschar und natürlich auch den prüfenden Blicken der Jurymitglieder.
Die Zusammensetzung des Preisgerichts war geheimgehalten worden. Niemand kannte auch das gewählte Verfahren. Es hieß, die Juroren überprüften von den schmalen Schießscharten der Wehrtürme aus mit Ferngläsern die äußere Erscheinung, den Gang und das Benehmen der Kandidaten. Zudem lauschten sie bei den Festessen, welche die vornehmen Familien all abendlich für die ortsfremden Gäste ausrichteten, den Gesprä chen, um sich der Geistesgaben und des maßvollen Urteils der Kandidaten zu vergewissern.
An den beiden ersten Tagen hatte man vergeblich darauf gewartet, daß sich die Wettbewerber im Hauptraum einer der beiden Herbergen einfänden, den ein Grammophon mit den Klängen des Tango Jalousie füllte. Schließlich fand man sich jedoch damit ab, daß eine solche Versammlung nicht vorge sehen war, zumal es ja auch klar und deutlich geheißen hatte, dies sei kein Frauenkränzchen, sondern ein Männerwettstreit, in den jeder so hineinzugehen habe wie in den Hinterhalt oder Tod, also allein.
Befreit von der drückenden Aufmerksamkeit der ersten Tage verhielten sich die Bewerber immer ungezwungener, einige rangen sich gelegentlich sogar ein Lächeln ab. Es gab zwei Sorten von ihnen: die einen waren aus den Weilern des Hochlands gekommen, die anderen aus den Fluchttürmen. Die Journalisten bezogen aus diesem Umstand die Inspiration für poetische Höhenflüge, was zu Wendungen wie »Wesen von hinter dem Mond«, »Gespenster auf Urlaub« oder »Fürsten des Schattenreichs« führte. Einer, der Polizeiberichterstatter des »Albanesischen Anzeigers«, verstieg sich gar dazu, von »den Infernalischen« zu sprechen, womit er sich den Zorn der Allgemeinheit zuzog.
Tatsächlich bestand ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Insassen der Fluchttürme und den anderen Bewerbern (fast hätte man von unterschiedlichen Rassen sprechen können), nicht nur wegen ihres dramatischen Schicksals, das sie natürlich besonders attraktiv machte, sondern auch wegen ihrer Gesichtsfarbe und ihrem Gang. Ihre Haut war durch den Ausschluß des Tageslichts ungewöhnlich bleich, und das ständige Sitzen während des Eingeschlossenseins hatte Folgen für die Kniesehnen gehabt, so daß ihre Schritte unsicher, schlingernd und schlecht auf den Untergrund abgestimmt wirkten.
Um die Wochenmitte wurde klar, daß der Wettbewerb bereits in vollem Gange war. Jetzt konnte man nur noch auf den krönenden Abschluß, die Preisverleihung, warten. Ein anderer, allerdings wesentlich bescheidenerer Höhepunkt würde es sein, wenn die Jury am Schlußtag ihr Inkognito lüftete.
Im Neuen Gasthaus erschallte derweilen weiter das Grammophon, und oft mußte sich Xhilda, nachdem sie vergeblich um einen Partner geworben hatte, zu den traurigen Klängen des Tangos allein im Tanze drehen.
Völlig im dunkeln blieben die Kriterien, die man bei der Vergabe des Siegerkranzes anzulegen gedachte. Die meisten waren fest überzeugt, am Ende müsse das äußere Erscheinungsbild entscheiden, doch eine Minderheit ließ sich trotz der Bezeichnung »Schönheitskonkurrenz« nicht von der Meinung abbringen, der den Augen verborgene Teil, also die Intelligenz und vor allem das beim ernsten Gespräch im Männergemach geäußerte Urteil des Kandidaten werde den Ausschlag geben. Eine gewichtige Rolle spielten fraglos auch das Auftreten und die Taten des Bewerbers, vor allem auch, welchen Stutzens er sich bedient hatte, um vergossenes Blut zu rächen, eines prächtigen oder eines eher unansehnlichen.
Nachdem sich bei ihnen der Streß der ersten Tage ein wenig gelegt hatte, setzten die Spione des Königs ihre Nachforschungen fort. Es war höchste Zeit, hinter die geheimen Ziele des Wettbewerbs zu kommen. Wenn es welche gab.
Noch ein anderer forschte in großer Anspannung (Hoff nung mischte sich darin mit vorauseilender Enttäuschung über die Unerfüllbarkeit des gehegten Traums) nach eventuellen Hintergründen der Festlichkeit: Gaspër Cara. Er war gemeinsam mit dem Redakteur des »Albanesischen Anzeigers« angereist und schritt nun, unvermeidlich Aufsehen erregend, im schwarzen Überrock mit schneeweißem, originell geschlungenem Seidenschal versonnen durch das Dorf.
Bei Windstößen bauschte sich der Überzieher, wodurch Gaspërs Gang ein wenig schlingernd wirkte und der unsicheren Fortbewegungsweise der Fürsten des Schattenreichs glich, deren Knie sich von dem langen Kauern im Halbdunkel der Türme noch nicht wieder erholt hatten.
Gegen Ende der Woche stieg die Spannung deutlich an. Das Publikum teilte sich in Anhängergruppen, und es verdichtete sich das Gerücht, die königlichen Schwestern träfen noch rechtzeitig zur Preisverleihung am Abschlußtag im Ort ein. Erst rechnete man mit allen dreien, dann nur noch mit der jüngsten, bis sich schließlich erwies, daß nicht nur keine der Prinzessinnen, sondern überhaupt niemand vom Königshof den Anlaß mit seiner Teilnahme zu ehren gedachte.
Das Preisfieber füllte bis zu einem gewissen Grad das Vakuum, das durch das Fernbleiben der Königsschwestern entstanden war.
Ein großer roter Webteppich, den man auf der Veranda des Neuen Gasthauses aufgehängt hatte, zeigte den Leuten, daß dort der Sieger verkündet werden sollte.
Irgend jemand hatte endlich auch das Grammophon mit einer neuen Schallplatte bestückt, so daß nun anstelle des melancholischen Tangos der Radetzkymarsch erscholl.
Da der genaue Zeitpunkt der Preisverleihung weiterhin unbekannt war, tröpfelten die Zuschauer bereits seit den frühen Morgenstunden vor dem Wirtshaus ein. Trotz aller gespielten Gleichgültigkeit merkte man, daß sich auch die Kandidaten von der Aufregung hatten anstecken lassen. Sie standen in kleinen Gruppen, meist jedoch allein herum, erkennbar an einer roten Nelke am Kragenaufschlag.
Gaspër Cara musterte sie aufmerksam. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm schließlich, einen Blick des besonders bleichen Jünglings einzufangen, der in Gedanken versunken ein wenig abseits stand. Ungewißheit plagte den Gast aus der Hauptstadt, und aus seinen Augen sprachen widerstreitende Empfindungen, Bitte und Bewunderung, Forderung, Drohung und Schmerz. Sie verdichteten sich und machten seinen Blick scharf wie einen Meißel, als vermöge er nur so die Schicht aus hartem Glas über den Pupillen des Hochländers zu durchdringen. Nein, nicht, hätte er fast laut aufgeschrien, als er merkte, daß dieser wegschaute. Es war eine wilde Aufwallung, in der sich so schattenhaft wie unvernünftig und unerklärlich Empörung und tödliche Warnung mischten.
»Wer mag wohl dieser junge Mann dort rechts sein?« fragte er den neben ihm stehenden Redakteur.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete dieser. »Aber seiner Hautfarbe nach kommt er wahrscheinlich aus einem der Flucht türme.«
Der Journalist fragte jemand anderen, und beide unterhielten sich daraufhin mit einer dritten Person.
»Es stimmt, er gehört zu ihnen«, wandte er sich dann wieder Gaspër zu. »Sein Name ist Prenk Curri, und man zählt ihn zu den aussichtsreichsten Kandidaten. Angeblich hat das Preisgericht die ganze Nacht hindurch getagt.«
Gaspër Cafa schlug den Kragen seiner Pelerine hoch, da ihm der Wind auf einmal kälter zu wehen schien.
Die Jury ließ auf sich warten. Kurz vor Mittag flackerte ein letzter vager Hoffnungsschimmer auf, die Prinzessinnen würden sich vielleicht doch noch einfinden, aber er erlosch sogleich wieder. Ferner Donner ließ die Anwesenden sich umdrehen und Ausschau halten, indessen waren nirgends Anzeichen eines Gewitters zu entdecken, und es begann auch nicht zu regnen.
Endlich, in den frühen Nachmittagsstunden, präsentierten sich die Preisrichter. Allenthalben herrschte verblüfftes Kopfschütteln, weil sich erwies, daß die meisten sich die ganze Zeit unter den Zuschauern aufgehalten hatten, und schwer nachvollziehbar war, wann sie sich zu ihren geheimen Beratungen getroffen hatten. Mit dem Fotografen Marubi und dem Vikar war fest gerechnet worden, doch die Vorstellung aller anderen war von erstaunten Ausrufen im Publikum begleitet.
Die Bekanntgabe der Entscheidung, das Erscheinen des Siegers auf der Gasthausveranda, wo ihn alle sehen konnten, die feierliche Beglückwünschung, die Salutschüsse, das Festbankett zu den Klängen des Grammophons und Xhildas Tanz einlage mit dem englischen Hilfskonsul, alles war wie im Märchen.
Am frühen Abend begann sich das Dorf allmählich zu leeren. Als erste gingen die enttäuschten Mitbewerber, nachdem sie sich erbost die Nelken vom Hemd gerissen und auf den Boden geworfen hatten. Danach reisten die Besucher aus der Hauptstadt ab, einige Zeit später die Gäste aus dem näher ge lege nen Shkodra und schließlich die Hochländer aus den benachbarten Dörfern. Am schwersten fiel es den Spionen, sich loszureißen. Erst als sich die Erkenntnis, daß hinter dem »Wettprangen« samt Preisgericht und Gewinner keinerlei Geheimnis lauerte, zur Endgültigkeit verfestigt hatte, traten sie den Heimweg an.
Den Sieger Prenk Curri geleitete man bis zu den Grenzen seines Banners. Erst hatte man darauf gedrungen, ihm auch noch bis zu seinem Wohnort Gesellschaft leisten zu dürfen, doch er wollte lieber alleine gehen, schließlich stand er unter dem Ehrenwort des Gastfreunds und durfte deshalb ganz unbesorgt sein.
Ein gutes Stück Wegs war sein Kopf ganz leer, sein Gehirn gleichsam gelähmt von allem, was auf ihn eingestürmt war. Erst die Überraschung, als er seinen Namen hatte nennen hö ren, dann die vielen Glückwünsche und die ganzen Fragen der Zeitungsleute, die für ihn nicht sehr aufrichtig geklungen hatten. Das lag jetzt hinter ihm, und auch die Grammophonmusik, die ihm recht auf die Nerven gegangen war, oder die gif tigen Blicke einiger Mitbewerber, und er kam sich wieder viel freier vor.
Als er dann am Kuckucksloch vorbei war und der Weg auf einmal wieder endlos erschien, merkte er, wie ihn eine Art Rausch ergriff. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er war also schön. Und obendrein der schönste Mann der Berge … Das hatte er den ganzen Nachmittag über sagen hören, aber erst jetzt begriff er so richtig, was es bedeutete. Seit diesem Mittag war er berühmt, und dieser Ruhm breitete sich schneller aus als der Nebel um ihn herum. Vielleicht würde man sogar von den Hügeln herunter laut seinen Namen rufen, wie wenn die Ankunft des königlichen Amtsboten bekanntzugeben war, der Erlaß einer Blutschuld oder der Preis für ihre Abgeltung. Oheee … so hört, ihr Männer, Prenk Curri heißt der schönste Mann des Hochlands … Oheee …
Er stellte sich vor, wie man in den steinernen Türmen die Neuigkeit aufnehmen würde, und ging dabei unwillkürlich schneller. Wer ist gestorben, mein Junge? fragten die schwerhörigen Greise bestimmt ihre Neffen, und diese antworteten: Niemand ist gestorben, Onkel, nur, es ist jetzt ein sehr schöner Mann erschienen, überhaupt der schönste von allen, und er heißt Prenk …
Eine ganze Weile beschäftigte ihn diese Frage, vor allem, was die Männer wohl sagen würden, seine Kameraden aus dem Fluchtturm, die bestimmt ungeduldig auf ihn warteten, aber auch die restliche Männerwelt der Berge. Dann fielen ihm auch die Mädchen und Frauen ein, aber weil er noch nie Gelegenheit gehabt hatte, mit dem weiblichen Geschlecht nähere Bekanntschaft zu schließen, blieb das Bild ein wenig blaß. Er kannte ja nicht die Wörter, mit denen sie sich über die Männer ihrer Träume unterhielten. In den unbehaglichen Nächten im Flucht turm, wenn der trockene, kalte Nordwind, den sie Murrlan nannten, um das Gemäuer pfiff, hatte er viele Geschichten über sie gehört, besonders über den süßen Schlitz zwischen ih ren Schenkeln, der feucht wurde, wenn ihn ein Mann berührte. Allerdings wurde fast nie erwähnt, was Frauen geäußert hatten, als seien sie alle stumm.
Er hörte Flügelrauschen oder das ferne Ächzen eines Astes und drehte sich um. Sein Auge erhaschte drüben am Buchenwäldchen einen kurzen Blick auf etwas, was eine menschliche Gestalt sein mochte oder doch eher ein wehender Umhang, wie ihn der junge Mensch mit den müden Augen beim Wettbewerb getragen hatte.
Das ist doch nicht möglich, dachte er und schaute noch einmal hin, aber am Buchenhain war nichts mehr zu entdecken. Da haben mir meine Augen wohl einen Streich gespielt, sagte er sich und ging schneller.
Oheee, so hört, Prenk Curri, Rrok Curris Sohn, wurde zum stattlichsten Mann des Hochlands erwählt, oheee …
Er mußte lächeln bei dem Gedanken, daß der Nebel die langgezogenen Rufe von einem Berghang zum nächsten noch wattiger und pappiger klingen ließ. Das Lächeln hielt auch den Worten seines Großvaters stand, die ihm plötzlich einfielen: Sei bloß nicht allzusehr auf Ruhm erpicht, mein Junge, er ist gefährlich wie eine Schlange. Doch er saß ja im Fluchtturm, da gab es für niemand Grund zur Mißgunst. Außer seinen Kameraden und den steinernen Wänden des Turms bekam ihn keiner zu Gesicht. Die Söhne der Bannerherren würden, wenn sie sich auf der Männerwiese tummelten oder sonntags vor der Kirche die Mädchen neckten, froh sein, daß er nicht da war.
Ihr dürft euch gerne brüsten, dachte er, von mir habt ihr nichts zu befürchten. Die Vorstellung, wie sie mit wehenden Locken herumstolzierten, machte ihn eher traurig als ver dros sen.
So legte er ein Stück Wegs zurück. Vielleicht hätte ihn die plötzliche Erkenntnis, daß man ihn, den künftig Unsichtbaren, wenigstens als stattlich in Erinnerung behalten würde, ein wenig getröstet, wenn sie nicht so schnell an seinem Bewußtsein vorübergehuscht wäre.
Wieso er sich schon wieder umdrehte, wußte er selbst nicht. Diesmal war die menschliche Gestalt, die er kurz zu sehen glaubte, allerdings nicht mehr in einen dunklen Umhang ge hüllt.
Er rieb sich die Schläfen. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Schließlich konnte es unmöglich sein, daß der zufällige Wanderer, oder der neugierige Verfolger, oder der Wächter, der ihn unauffällig bis zur Grenze des Nachbarbanners begleiten sollte, sich ihm in unterschiedlicher Erscheinung zeigte.
Daß er müde und erschöpft war, ließ sich nicht leugnen. Aber das war bei der Anspannung während der ganzen Woche, besonders aber am letzten Tag mit all den Glückwünschen, der ständigen Fotografiererei und den aufdringlichen Fragen der Zeitungsleute auch kein Wunder.
Er griff nach dem Gewehrgurt. Als ihm einfiel, daß er durch das allgemeine Ehrenwort geschützt war, atmete er auf, fuhr jedoch liebkosend über den Lauf, bis er das Visier be rührte. So hatte er im Traum eine Frau gestreichelt. Seiner Büchse, dieser treuen Gefährtin, war nicht weniger als seinem Aussehen, seinen Locken, seinen Augen und der regelmäßigen Form seiner Nase zu verdanken, daß er den Siegerkranz gewon nen hatte. Weder Marubi in seiner Festansprache noch all die anderen, die nach ihm das Wort ergriffen, hatten vergessen, neben seiner äußeren Erscheinung und seinem ziemlichen Verhalten auch die schöne Büchse zu erwähnen, die er abgefeuert hatte, als der Kanun es verlangte.
Also richtete er die zärtlichen Worte, die einer Frau zu sagen ihm bisher verwehrt gewesen war, an die Waffe: Meine Schöne, meine Süße, meine Getreue!
Zu seinem Erstaunen drückte ihn nun, da er der Schönste war, der Kummer, über den er mit seinen Kameraden im Unglück vor allem in den langen Nächten des Heiligenmonats oft gesprochen hatte, also durch die Turmhaft vom Umgang mit Frauen ausgeschlossen zu sein, nicht mehr gar so sehr. Schlimmer war, daß er nicht auf die Männerwiese gehen oder einem Hilferuf folgen oder einfach am Ostersonntag unter den schwelenden Blicken der Leute durch den Weiler schlendern konnte.
Bestimmt war es sogar besser, daß ihn der Fluchtturm nun vor der Verbindung mit einer gewöhnlichen Frau bewahrte, wäre doch sonst womöglich der Kranz des Erwählten befleckt worden. Schließlich hatten er und seine Mitbewerber in all den Tagen und Nächten des Wettprangens von den Prinzessinnen träumen dürfen, deren Eintreffen tuschelnd angekündigt worden war. Ja, und dann dieser Abend, als nach dem Mahl einer der Auswärtigen, er kam aus der Hauptstadt, von einem Schönheitswettbewerb für Jungfrauen gesprochen hatte, und sie alle in schallendes Gelächter ausgebrochen waren. Ein Wettprangen für Weibsbilder? Etwas Unmöglicheres, Unsinnigeres und Verwerflicheres ließ sich auf dieser Welt gar nicht denken. Da waren sie alle einer Meinung, und von dem ganzen Gewieher schwollen ihnen die Halsadern, sie mußten um Wasser bitten und sich die Brust besprengen, um den ins Stocken geratenen Atem wieder in Gang zu bringen.
Es war wirklich besser, sich zu zügeln. Allerdings, wenn plötzlich eine Bergfee aufgetaucht wäre, wer weiß …
Fast ängstlich schob er den Gedanken weg. Das war ein alter Traum. In Winternächten erzählte man sich an den Feuerstellen oft von Liebschaften zwischen Männern oder Burschen und Bergfeen, das hatte er selbst gehört. Doch solche Fälle kamen selten vor, vielleicht einmal in zwanzig oder dreißig Jahren. Außerdem waren sie sehr gefährlich.
Nun, Elfen und Feen gab es überall, und konnte es nicht sein, daß er als Schönheitskönig ihre Neugier weckte? Rasch streckte er den Rücken und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann, angetrieben von der gleichen Regung, schaute er sich um und sah ihn wieder.
Teufel noch mal, dachte er und langte nach dem Büchsengurt. Wenn ihn seine Augen nicht trogen und es wirklich dieser schamlose Kerl war, der ihm vor allem am letzten Tag ständig nachgestellt hatte, dieser Hauptstädter mit den verwirrten Augen, die einmal kalt waren wie Eis und dann wieder Funken sprühten wie Feuerstein, er wußte nicht, ob er sich dann noch beherrschen konnte …
Wieder schaute er sich um, diesmal ganz vorsichtig, um den anderen zu überraschen, doch nichts war zu sehen. Bestimmt habe ich das kalte Fieber, dachte er.
Langsamer gehend, suchte er mit den Augen die strauchbedeckten Hügel nach dem zweiten Verfolger ab, dem Mann aus den Bergen. Verächtlich lachte er vor sich hin: Sollte er sich vor diesem Jüngelchen aus der Stadt fürchten?
Er ist beunruhigt, dachte Gaspër Cara, der ihn aus zweihundert Schritten Abstand beobachtete. Offenbar suchte Prenk nach seinem heimlichen Bewacher. Aber da das Banner bereits hinter ihnen lag, war dieser wohl umgekehrt.
Jetzt sind nur noch wir beide übrig, sagte Gaspër laut und griff nach dem Revolver unter seiner Pelerine.
Der einzelne Maulbeerbaum am Wegesrand sagte Prenk, daß er schon fast am Kalten Weiher angelangt war, den als Spiegel zu benutzen ihm seine Gefährten beim Abschied ge raten hatten.
Es war, als sei er einem alten Bekannten begegnet. So schob er die Trugbilder weg und marschierte mit frischem Schwung voran. Es war verlockend, sich nun als Schönheitskönig wieder über die blanke Oberfläche zu beugen. Das klare Wasser hatte ihm Glück gebracht, er fühlte sich ihm nahe. Andererseits drängte es ihn, so schnell wie möglich im Fluchtturm Bericht zu erstatten, loszuwerden, was ihm die ganzen Tage über im Kopf herumgegangen war.
Du möchtest also zum Weiher, um dich darin anzuschauen, dachte Gaspër Cara. Vorsicht, Narziß!
Sie gingen nun hintereinander her. So wie sie sich fortbewegten, der eine wegen seiner Kniesehnen, der andere mit dem sich blähenden Umhang, hätte ein unbeteiligter Beobachter sie wahrscheinlich für Vertreter einer fremden Rasse gehalten.
Wir sind ganz allein, und du wirst mir meine Frage beantworten, Narziß, fuhr Gaspër Cara, immer noch die Hand am Revolver, mit seinem Selbstgespräch fort. Schließlich verlangte er nichts Unmögliches, bloß einen Hinweis auf die Botschaft, die der andere, ob er es wollte oder nicht, nun einmal in sich trug. Ein Zeichen der Hoffnung …