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Zwei Familien hoch oben in den albanischen Bergen sind seit Jahren miteinander im Blut. Auf dem Friedhof sind je vierzig Opfer bestattet. Jetzt ist Gjorg Berisha an der Reihe zu morden. Nach der Tat bleiben ihm nur 30 Tage Frist, bevor auch er umgebracht wird. »Der zerrissene April« von Ismail Kadare ist ein Roman von archaischer Wucht.
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Roman
In »Der zerrissene April« erzählt Ismail Kadare die Geschichte der albanischen Blutrache, die nach einem tausendjährigen Gesetzeskodex noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein gültig war. Hoch oben in den albanischen Bergen leben zwei Familien, die seit Generationen miteinander im Blut sind. Auf dem Friedhof wurden bereits je vierzig Opfer bestattet. Jetzt ist Gjorg Berisha an der Reihe zu morden. Er weiß, nach der Tat bleiben ihm noch dreißig Tage Frist, in denen sein Leben nicht angetastet werden darf. Nur ein halber März und ein halber April »wie zwei bereifte Hälften eines abgebrochenen Zweiges«.
Mit dem Blutgeld, das er im Turm von Orosh abzugeben hat, streift Gjorg Berisha nach seiner Tat durch das Hochland, höchst empfänglich für alles, was ihm begegnet, für Freude und Leid, für Schmerzen und Glück, für Großes und Kleines. Zur gleichen Zeit befindet sich der Schriftsteller Vorpsi aus Tirana mit seiner Frau Diana auf Hochzeitsreise in dem unzugänglichen Bergland, angezogen von den Mythen und Legenden der Region. Die zufällige Begegnung von Gjorg mit der jungen Städterin wird für beide bedeutsam: während er in ihr den Inbegriff des Lebens sieht, erinnert er, der vom Tod Gezeichnete, sie an die Vergänglichkeit ihres behüteten Daseins.
»Die weitum begeisterten Leser finden in Kadare einmal vereint, was sonst so schwer zusammengeht: Realismus und Magie, das große geschichtliche Thema und seine poetisch subtile Gestaltung.« Karl-Markus Gauss, Neue Zürcher Zeitung
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
Glossar
Ausspracheregeln
Sooft ihm die Füße kalt wurden, bewegte er ein wenig die Knie, und dann hörte er irgendwo unter sich das mißbehagliche Knirschen der Kiesel. In Wirklichkeit war das Mißbehagen in ihm. Niemals in seinem Leben hatte er so lange bewegungslos ausharren müssen. Hinter einem kleinen Hügel an der großen Straße wartete er darauf, daß einer vorbeikäme.
Schon lange schmerzten ihn die Beine vom Knien, und sein rechter Arm war fast fühllos.
Der Tag ging zur Neige. Erschreckt, fast in Panik führte er das Gewehr zum Auge und schaute durch das Visier. In der demnächst einsetzenden Dämmerung würde es nur noch verschwommen zu erkennen sein. Er kommt bestimmt vorbei, noch ehe Kimme und Korn im Dunkeln sind, hatte sein Vater gesagt. Hab nur Geduld und warte.
Langsam schwenkte er den Lauf und ließ das Visier über ein paar Klumpen verharschten Schnees jenseits der Straße gleiten. In das kleine Gehölz drüben mischten sich da und dort wilde Granatapfelsträucher. Flüchtig ging ihm durch den Kopf, daß dies ein besonderer Tag in seinem Leben war. Das Visier des Gewehrs bewegte sich von den Granatapfelsträuchern zurück zu den Klumpen verharschten Schnees. Der Tag, von dem er sich vorzugaukeln suchte, er habe eine besondere Bedeutung für ihn, bestand nun aus nichts anderem mehr als den paar Schneefladen und den wilden Granatapfelsträuchern, die ihn schon seit dem Mittag zu beobachten schienen, um herauszufinden, was er vorhatte.
Bald wird es dunkel, dachte er, dann kann ich nicht mehr zielen. In Wahrheit erwartete er sehnsüchtig den Abend und die Nacht, die danach herabsinken würde, damit er sich endlich aus diesem verfluchten Hinterhalt davonmachen konnte. Doch der Tag schlich nur langsam davon, als bereite es ihm Vergnügen, ihn als Geisel zu halten. Dies war in seinem Leben schon der zweite Hinterhalt, um Blutrache zu üben, doch der Mann, den er töten mußte, war der gleiche wie beim ersten Mal. Also war der zweite Hinterhalt eigentlich die Fortführung des ersten.
Wieder wurden seine Füße kalt, und wieder bewegte er die Knie, als könne er so die Kälte daran hindern, nach oben zu steigen. Doch die Kälte saß schon lange in seinem Bauch, in seiner Brust, ja selbst in seinem Kopf. Es war, als habe sie das Gehirn zu einem Klumpen erstarren lassen, so wie den Schnee dort drüben, jenseits der Straße.
Unfähig, seine Gedanken zu einem vollständigen, logischen Zusammenhang zu ordnen, empfand er nur Feindseligkeit gegenüber den wilden Granatapfelsträuchern und den Schneefladen, und manchmal war ihm, als hätte er den Hinterhalt schon längst verlassen, wären nur sie nicht dagewesen. Doch sie waren da, reglose Zeugen, und so konnte er nicht weggehen.
In der Biegung der Straße tauchte zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag der Todgeweihte auf. Er ging mit kurzen Schritten, und über seiner rechten Schulter ragte tief schwarz der Lauf des Gewehres auf. Der Mann im Hinterhalt fuhr zusammen: das war nun keine Einbildung mehr. Der Erwartete kam wirklich.
Wie schon hundertmal vorher richtete Gjorg den Lauf des Gewehrs auf den herankommenden Mann und zielte auf seinen Kopf. Dieser schien ihn foppen zu wollen und hüpfte immer wieder aus dem Visier, ja, Gjorg glaubte sogar zu erkennen, daß er zuletzt noch spöttisch grinste. Sechs Monate zuvor war ihm das gleiche passiert. Um das Gesicht des Opfers nicht zu entstellen (wovor er im letzten Moment zurückscheute), hatte er den Lauf ein wenig sinken lassen, und aus diesem Grund hatte er es nicht getötet, sondern nur am Hals verwundet.
Der so lange Erwartete näherte sich. Hoffentlich verwunde ich ihn nicht nur, dachte Gjorg flehentlich. Die Buße für die erste Verwundung war gerade erst bezahlt, und eine weitere würde die Familie wirtschaftlich ruinieren. Auf einen Tod dagegen stand keine Forderung.
Der Erwartete kam immer näher. Besser, ich verfehle ihn ganz, als daß ich ihn verwunde, dachte Gjorg. Er versuchte das Denken abzustellen. Das erste Mal hatte er zuviel nachgedacht und die ganze Sache deshalb verdorben. Er hatte Mitleid empfunden, Scham, und im letzten Moment war ihm, gleichsam als Rechtfertigung seines Tuns, noch der alte Spruch in den Sinn gekommen: Wer das Gewehr zur Hand nimmt, muß auch töten!
Es gibt nichts mehr nachzudenken, sagte er sich. Tu, was getan werden muß. Wie hundertmal zuvor das Trugbild, so rief er jetzt auch den herankommenden Mann an, ehe er schoß, genau wie der Brauch es verlangte. Weder in diesem Moment noch später hätte er mit Gewißheit sagen können, ob er tatsächlich gerufen oder ob ihm die Stimme versagt hatte. Tatsache war, daß das Opfer plötzlich herüberschaute. Gjorg nahm eine rasche Bewegung des Armes wahr, die darauf gerichtet schien, das Gewehr von der Schulter zu reißen, und schoß. Er ließ das Gewehr sinken und beobachtete fast verblüfft, was gleich darauf geschah. Der Tote (zwar war der Mann noch auf den Beinen, doch Gjorg wußte sicher, daß er nicht mehr lebte) tat noch einen halben Schritt vorwärts, sein Gewehr fiel auf die eine Seite, und gleich darauf fiel er selbst auf die andere.
Gjorg verließ den Hinterhalt und ging zu dem Erschossenen. Die Straße war völlig leer. Nur seine Schritte waren darauf zu hören. Der Tote lag auf dem Gesicht. Gjorg beugte sich hinab und packte ihn an der Schulter, als wolle er ihn aufwecken. Was mache ich da nur? dachte er. Seine Hand berührte erneut die Schulter des Getöteten, wie um ihn ins Leben zurückzurufen. Warum tue ich das? fragte er sich. Und plötzlich war ihm klar, daß er sich nicht über den Erschossenen gebeugt hatte, um ihn aus dem Schlaf des Todes zu erwecken, sondern nur, um ihn auf den Rücken zu drehen. Ja, er wollte den Leichnam nur umdrehen, wie der Brauch es verlangte. Die wilden Granatapfelsträucher und die Schneeklumpen waren noch da und sahen alles.
Er richtete sich auf und wollte weggehen, da fiel ihm ein, daß er noch das Gewehr an den Kopf legen mußte.
Gjorg handelte wie im Traum. Ihm wurde übel, und immer wieder dachte er: Das Blut hat mich befallen. Dann faßte er sich und ging hastig über die verlassene Straße davon.
Die Dämmerung sank herab. Mehrmals blickte er sich um, ohne zu wissen, warum. Die Straße war immer noch völlig leer. Sie zog sich zwischen Sträuchern und Gehölzen dahin, mitten durch den Tag, der sich dem Ende zuneigte.
Irgendwo vor ihm waren Maultierglocken und dann Stimmen zu hören. Leute kamen ihm auf der Großen Straße entgegen, auf dem Weg zu einem Besuch, vielleicht aber auch Bergbauern, die vom Markt heimkehrten. Schneller als erwartet fand er sich ihnen gegenüber. Männer, dazwischen aber auch junge Frauen und Kinder.
Sie sagten »Guten Abend!«, und er blieb stehen. Noch ehe er sie ansprach, machte er eine Handbewegung in die Richtung, aus der er kam.
»Ich habe einen Mann getötet, dort, an der Biegung der Großen Straße«, sagte er mit erstickter Stimme. »Dreht ihn auf den Rücken und legt ihm das Gewehr an den Kopf, gute Leute!«
In der Gruppe der Wanderer herrschte einen Augenblick lang Schweigen.
»Hat dich das Blut befallen?« fragte jemand.
Er antwortete nicht. Offenbar gab ihm einer Ratschläge, was gegen die Wirkung des Blutes zu tun sei, doch Gjorg hörte nicht zu. Er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Nun, da der Auftrag erteilt war, den Getöteten umzudrehen, empfand er eine gewisse Erleichterung. Ob er selbst den Leichnam auf den Rücken gedreht hatte, wußte er nicht. Der Kanun berücksichtigte die Erschütterung nach dem Mord und gestattete es, Passanten mit etwas zu beauftragen, zu dem man selbst nicht in der Lage gewesen war. Doch den Toten auf dem Gesicht und sein Gewehr irgendwo abseits liegen zu lassen, das war eine unverzeihliche Schande.
Noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichte er das Dorf. Es war noch sein besonderer Tag. Die Tür zum Turm war nur angelehnt. Er stieß sie mit der Schulter auf und trat ein.
»Und«, fragte jemand von drinnen.
Er nickte.
»Wann?«
»Gerade eben.«
Die hölzerne Treppe knarrte unter den Schritten der Herabkommenden.
»Du hast Blut an den Händen«, sagte der Vater. »Geh, wasch es ab.«
Gjorg betrachtete erstaunt seine Hände.
»Das war wohl, als ich ihn umdrehte«, sagte er. Umsonst hatte er sich unterwegs Sorgen gemacht. Er brauchte nur seine Hände anzusehen, um zu wissen, daß er alles, was zu tun gewesen war, auch getan hatte.
Im Turm roch es nach frischgebrühtem Kaffee. Seltsamerweise war er müde. Er mußte sogar zweimal gähnen. Die Augen der kleinen Schwester an seiner linken Schulter glänzten von weit her, wie zwei Sterne hinter einem Hügel.
»Und nun?« sagte er plötzlich, ohne jemand direkt anzusprechen.
»Der Tod muß im Dorf bekanntgegeben werden«, antwortete der Vater. Er war dabei, seine Opanken anzuziehen, wie Gjorg erst jetzt bemerkte.
Als er den Kaffee trank, den ihm die Mutter zubereitet hatte, war von draußen die erste Stimme zu hören:
»Gjorg von den Berisha hat Zef Kryeqyqe erschossen!« Eigenartig mischte sich darin der Tonfall eines Ausrufers von Regierungsverordnungen mit dem Klang eines alten Psalms. Diese nichtmenschliche Stimme riß ihn einen Augenblick lang aus seiner Lethargie. Ihm war, als ob sein Name aus ihm selbst herausgetreten sei, Brustkorb und Haut durchdrungen habe, um draußen grausam zu wüten. Das geschah ihm zum ersten Mal. Gjorg von den Berisha, hallte in ihm die Stimme des gnadenlosen Herolds wider. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, und zum ersten Mal drang sein Name in die Fundamente des Lebens ein.
»Gjorg von den Berisha hat Zef Kryeqyqe erschossen«, wiederholte, aus einer anderen Richtung kommend, eine andere Stimme.
Verwundert nahm er wahr, wie sich in eine Nachricht verwandelte, was noch vor kurzem nicht mehr gewesen war als eine Häufung seiner Bewegungen, dann ein Anruf beim Zielen und schließlich ein wildes Rennen zwischen wilden Granatapfelsträuchern hindurch über gleichgültigen Schnee. Und sein Name, Gjorg, kam ihm auf einmal so alt und gewichtig vor wie die auf dem Torbogen einer Kirche eingravierten, schon moosdunklen Buchstaben einer Inschrift.
Draußen flog dieser Name in Windeseile von einem Herold des Todes zum nächsten.
Eine halbe Stunde später brachte man den Körper des Getöteten ins Dorf. Dem Brauch entsprechend hatte man ihn auf vier Buchenäste gebettet. Man hegte eine schwache Hoffnung, er habe den Geist noch nicht aufgegeben.
Der Vater des Getöteten stand wartend an der Tür des Turmes. Als die Männer mit dem Leichnam noch vierzig Schritte entfernt waren, rief er:
»Was habt ihr mir gebracht? Wunde oder Tod?«
Die Antwort war knapp und eindeutig:
»Tod.«
Seine Zunge suchte tief, sehr tief in der Mundhöhle nach Speichel. Es gelang ihm, die Worte herauszupressen:
»Tragt den Leichnam hinein und gebt den Tod im Dorf und in der Bruderschaft bekannt.«
Im Schellen der Herden, die in das Dorf Brezftoht heimkehrten, im Läuten der Abendglocke, in all den Geräuschen der hereinbrechenden Nacht schien die noch frische Nachricht des Todes mitzuklingen.
In den Straßen und Gassen der Gemeinde herrschte ein ungewöhnlich lebhaftes Treiben. Irgendwo an der Flanke des Dorfes loderten ein paar Feuer kalt im Licht des ausgehenden Tages. Vor dem Haus des Getöteten kamen und gingen die Leute, desgleichen vor dem Haus des Mörders. Andere brachen zu zweien oder zu dreien irgendwohin auf oder kehrten von irgendwoher zurück.
Zwischen den Fenstern der einzeln stehenden Türme flogen die neuesten Nachrichten hin und her:
»Habt ihr gehört, Gjorg Berisha hat Zef Kryeqyqe getötet!«
»Gjorg von den Berisha hat das Blut seines Bruders gerächt.«
»Ob die Berisha wohl das vierundzwanzigstündige Ehrenwort verlangen werden?«
»Ja, bestimmt!«
Von den Fenstern der Türme aus ließ sich das ganze Hin und Her auf den Dorfstraßen überschauen. Die Abenddämmerung war inzwischen hereingebrochen. Das Licht der Feuer wurde zunehmend dichter, schien zu gerinnen. Allmählich nahm es die stumpfe Röte von gerade erst aus geheimnisvoller Tiefe emporgestiegenem vulkanischem Magma an. Die umhersprühenden Funken weckten die Ahnung von künftig verspritztem Blut.
Vier Männer, unter ihnen ein Greis, näherten sich dem Haus des Getöteten.
»Die Unterhändler kommen, um das vierundzwanzigstündige Ehrenwort für die Berisha zu fordern«, hörte man an einem Fenster sagen.
»Wird man es ihnen gewähren?«
»Sicher wird man es ihnen gewähren.«
Unterdessen traf die ganze Sippe der Berisha Schutzmaßnahmen. Überall waren Stimmen zu hören: Murrash, komm schnell ins Haus! Cen, leg den Riegel vor! Wo ist Prenga?
In der ganzen engeren und weiteren Verwandtschaft wurden die Haustüren verschlossen, denn wie die erste Bö eines Sturmes, das wußte man seit Generationen, war die Zeit unmittelbar nach dem Mord die gefährlichste, denn noch hatte die Familie des Getöteten keines der Ehrenworte geleistet. Also wäre es den Kryeqyqe erlaubt gewesen, in blinder Wut über das frischvergossene Blut auf jegliches Mitglied der Berishasippe zu schießen, um sich zu rächen.
An den Fenstern der Türme wartete man darauf, daß die Abordnung das Haus des Getöteten wieder verließe. »Ob sie wohl das Ehrenwort bekommen?« fragten da und dort die Frauen.
Schließlich kamen die vier Unterhändler wieder heraus. Das Gespräch war nur kurz gewesen. Ihr Gang ließ auf nichts schließen, doch ein Ruf verbreitete alsbald die Neuigkeit.
»Die Familie Kryeqyqe hat das Ehrenwort besiegelt.« Alle wußten, daß von dem kleinen, dem vierundzwanzigstündigen Ehrenwort die Rede war. Vom großen, dreißigtägigen Ehrenwort dagegen sprach noch niemand. Dieses konnte nicht von der Familie, sondern nur vom Dorf erbeten werden, und auch das erst nach der Bestattung des Getöteten.
Die Stimmen flogen von Turm zu Turm.
»Die Familie Kryeqyqe hat das Ehrenwort besiegelt!«
»Die Kryeqyqe haben das Ehrenwort gegeben!«
»Gott sei Dank! Wenigstens vierundzwanzig Stunden ohne Blutvergießen!« seufzte hinter einem Fenster eine beklommene Stimme.
Die Totenfeier fand am Mittag des folgenden Tages statt. Die Leidtragenden, die von weit her kamen, zerkratzten sich die Wangen und rauften sich die Haare, wie der Brauch es wollte. Der alte Friedhof bei der Kirche war voll von den schwarzen Umhängen der Trauergäste. Nach der Bestattung bewegte sich der Zug der Trauernden zurück zum Turm der Kryeqyqe. Auch Gjorg war dabei. Er hatte auf keinen Fall gehen wollen. Zwischen ihm und seinem Vater hatte etwas stattgefunden, was, wie Gjorg hoffte, ihr letzter Streit sein würde, auch wenn es sich in den Bergen bestimmt schon tausendmal wiederholt hatte. Aber ich bin der Bluträcher, ich habe ihn getötet, weshalb soll ausgerechnet ich gehen? Gerade, weil du ihn getötet hast, mußt du gehen. Jeder kann heute bei der Bestattung oder beim Leichenmahl fehlen, nur du nicht. Auf dich wartet man am meisten. Aber warum denn, sträubte Gjorg sich ein letztes Mal. Warum muß ich es tun? Sein Vater hatte ihn starr angeblickt, und Gjorg war verstummt.
Nun ging er bleich, mit unsicheren Schritten unter den Trauergästen und spürte, wie ihn von der Seite die Blicke der Männer streiften, um sich dann im Nebel zu verlieren. Die meisten dieser Männer gehörten der Sippe des Getöteten an. Zum werweißwievielten Male seufzte er in sich hinein: Warum muß ich nur hier sein?
Die Blicke der Leute waren ohne Haß, kalt wie dieser Märztag, so kalt und ohne Haß, wie Gjorg es am Tag zuvor in seinem Hinterhalt gewesen war. Jetzt standen das frischausgehobene Grab, die größtenteils zur Seite gesunkenen Kreuze aus Stein und Holz, das trübselige Bimmeln der Glocke, stand alles an diesem Tag in einem direkten Zusammenhang mit ihm selbst. Die Gesichter der Leidtragenden mit den schrecklichen Kratzern, die ihre Fingernägel darauf hinterlassen hatten (O Gott, dachte er, wie ist es nur möglich, daß ihnen innerhalb von vierundzwanzig Stunden so lange Nägel gewachsen sind), die wild zerrauften Haare, die geschwollenen Augen, die monotonen Schritte rings um ihn her, diese ganze Struktur des Todes hatte er bewirkt. Und nicht genug, jetzt war er auch noch gezwungen, zwischen ihnen zu gehen, langsam, kummervoll, so wie sie.
Die Litzen ihrer Filzhosen waren den seinen ganz nahe, schwarze Schlangen mit Köpfen voll Gift, zum Zubeißen bereit. Beim Gehen berührten sie sich fast. Doch er war völlig ruhig. Das vierundzwanzigstündige Ehrenwort schützte ihn besser als alle Schießscharten von Wehrtürmen oder Festungen. Die Läufe der Gewehre ragten senkrecht über den schwarzen Umhängen auf, doch vorläufig hatten sie noch nicht das Recht, auf ihn zu schießen. Morgen, übermorgen … vielleicht. Wenn allerdings das Dorf um das dreißigtägige Ehrenwort für ihn bat, dann blieben ihm noch vier Wochen eines unbehelligten Lebens. Danach jedoch …
Einige Schritte vor ihm schwankte prahlerisch der Lauf eines Mannlicher-Gewehrs. Links ein kurzer, stumpfer Lauf. Andere Läufe rings umher. Welcher davon wird … In seinem Kopf schwächten sich die Worte »mich töten« im letzten Moment in ein »auf mich schießen« ab.
Der Weg vom Friedhof bis zum Haus des Getöteten erschien ihm endlos. Aber die viel schwierigere Prüfung des Leichenmahls stand ihm erst noch bevor. Er hatte sich mit der Verwandtschaft des Getöteten an den Tisch zu setzen, man würde ihm Brot und Speisen reichen, Löffel und Gabel vor ihn hinlegen, und dann mußte er essen.
Einige Male war er nahe daran, diesen sinnlosen Zustand zu beenden und wegzulaufen aus der Schar der Trauergäste. Sollten sie doch schimpfen, sollten sie ihn doch verspotten, sollten sie ihm doch vorwerfen, er habe vielhundertjährigen Brauch verletzt. Und wenn sie wollten, konnten sie ihn auch einfach in den Rücken schießen, Hauptsache, er kam weg von hier, nur weg. Doch er wußte, daß er niemals würde weglaufen können. So wenig, wie sein Großvater, sein Urgroßvater, sein Ururgroßvater hatten weglaufen können, fünfzig, fünfhundert, eintausend Jahre zuvor.
Sie näherten sich nun dem Turm des Getöteten. Aus den schmalen Fenstern über dem Türbogen hingen schwarze Tücher. Wo gerate ich da nur hinein, dachte er bekümmert, und obwohl die niedrige Tür des Turms noch hundert Schritt entfernt war, zog er schon jetzt den Kopf ein, um sich nicht an dem steinernen Bogen zu stoßen.
Das Leichenmahl verlief streng nach den Regeln. Die ganze Zeit über mußte Gjorg an sein eigenes Totenessen denken. Wer von ihnen würde dort erscheinen, so wie er heute hierhergekommen war?
Die Gesichter der Trauergäste waren noch zerkratzt und blutig. Der Brauch verlangte, daß sie sich das Gesicht weder im Dorf wuschen, in dem der Todesfall eingetreten war, noch auf dem Heimweg, sondern erst nach der Rückkehr in ihr eigenes Dorf.
Die Kratzwunden auf Stirn und Wangen ließen an Masken denken. Gjorg versuchte, sich die Angehörigen seiner eigenen Sippe mit den Spuren des Kummers im Gesicht vorzustellen. Ihm war nun, als sei das Leben so vieler Menschengenerationen nichts als ein einziges endloses Leichenmahl gewesen, zu dem beide Seiten einander abwechselnd aufsuchten. Und jeder band sich, ehe er zu dem Mahl aufbrach, die blutige Maske vors Gesicht.
Am Nachmittag nach dem Leichenmahl begann das ungewohnte Kommen und Gehen aufs neue. In wenigen Stunden endete das kleine, das vierundzwanzigstündige Ehrenwort für Gjorg Berisha, und schon jetzt machten sich die Dorfältesten bereit, den Regeln entsprechend im Turm der Kryeqyqe vorzusprechen, um im Namen des Dorfes für Gjorg das große, das dreißigtägige Ehrenwort zu erbitten.
Vor den Türen der Türme, in den von den Frauen bewohnten ersten Stockwerken, am Brunnen und auf der Dorfwiese wurde von nichts anderem mehr gesprochen. Es war der erste Blutrachefall in diesem Frühjahr, deshalb wurde natürlich alles, was damit zusammenhing, ausführlich beschwatzt. Der Mord hatte den Regeln entsprochen, und alles, die Beisetzung, das Leichenmahl, das vierundzwanzigstündige Ehrenwort, war nach dem uralten Kanun geschehen. Wenn sich also nun die Dorfältesten anschickten, bei den Kryeqyqe um das dreißigtägige Ehrenwort nachzusuchen, so wurde es gewiß auch gewährt.
Untereinander beratschlagend, wartete man also auf die jüngsten Neuigkeiten über das dreißigtägige Ehrenwort. Erinnerungen an Ereignisse und Fälle wurden dabei wach, bei denen gegen Vorschriften des Kanun verstoßen worden war, in längst vergangener Zeit und vor kurzem, im eigenen Dorf und in der Gegend, sogar in weit entfernten Gebieten am Rand des endlosen Hochlands. Man erinnerte sich an Kanunverletzer und die harten Strafen, die über sie verhängt worden waren. Einzelner Männer entsann man sich, die von ihren Familien, ganzer Familien, die vom Dorf, und sogar ganzer, verrückt gewordener Dörfer, die von einer Gruppe anderer Dörfer, auch Banner genannt, bestraft worden waren. Heute aber, Gott sei Dank …, seufzte man erleichtert. Im eigenen Dorf waren schon seit geraumer Zeit keine derart schändlichen Dinge mehr vorgekommen. Stets waren die alten Regeln beachtet worden, und es war schon lange her, daß jemand es gewagt hatte, sie zu brechen. Auch das jüngste Blut war nach dem Brauch vergossen worden, und Gjorg Berisha, der Bluträcher, hatte sich trotz seiner Jugend gut gehalten, bei der Beisetzung des Blutfeinds genauso wie beim Leichenmahl. Fraglos würden ihm die Kryeqyqe das dreißigtägige Ehrenwort gewähren, zumal das Ehrenwort in dieser Form vom Dorf, von dem es erwirkt worden war, auch wieder aufgehoben werden konnte, wenn der Bluträcher die ihm bewilligte befristete Gunst dazu mißbrauchte, durch das Dorf zu rennen und sich mit der Bluttat zu brüsten. Aber Gjorg Berisha war nie ein Wichtigtuer gewesen. Im Gegenteil, stets hatte er als zurückhaltend und nachdenklich gegolten, so daß man mit einer solchen Dummheit vielleicht bei allen anderen, niemals jedoch bei ihm rechnen mußte.
Am späten Nachmittag (kurz bevor die Frist des kleinen ablief) war es dann soweit: die Kryeqyqe erteilten das große Ehrenwort. Einer der Dorfältesten, der bei den Kryeqyqe gewesen war, erschien im Turm der Berisha und unterrichtete sie von der Gewährung des dreißigtägigen Ehrenworts. Dabei nutzte er die Gelegenheit, noch einmal die notwendigen Ermahnungen auszusprechen: Gjorg möge sich davor hüten, das Ehrenwort zu mißbrauchen, und so weiter.
Der Abgesandte ging wieder, und Gjorg saß wie erstarrt in einem Winkel des Turmes. Nun hatte er noch dreißig gefahrlose Tage vor sich. Danach lauerte allenthalben der Tod auf ihn. Wie eine Fledermaus mußte er sich dann im Finstern bewegen, stets auf der Hut vor Sonne, Vollmond und allen Feuern.
Dreißig Tage, dachte er. Ständig im Haus verkrochen, draußen nur in der Dunkelheit, wie ein Dieb. Der Schuß dort an der Biegung der großen Straße hatte sein Leben plötzlich in zwei Teile zerrissen: einen sechsundzwanzigjährigen Teil, der bis zum heutigen Tag reichte, und den nun beginnenden dreißigtägigen Teil vom siebzehnten März bis zum siebzehnten April. Danach kam das Fledermausleben, das für ihn schon jetzt nicht mehr zählte.
Aus den Augenwinkeln betrachtete Gjorg den Fetzen Landschaft in dem schmalen Fenster. Draußen war März, halb lächelnd, halb eisig, mit dem ihm eigenen gefährlichen Gebirgslicht. Dann kam der April oder, besser gesagt, nur seine erste Hälfte. Gjorg spürte einen Schmerz in der linken Hälfte seiner Brust. Schon jetzt kleidete sich ihm der April in bläuliche Qual. Doch war ihm der April nicht eigentlich schon immer so erschienen, als ein Monat, in dem sich nichts erfüllt? Der April der Liebe, wie es in den Liedern hieß. Sein eigener unvollendeter April. Und trotzdem, besser, daß es so gekommen ist, dachte er, ohne selbst zu wissen, was denn nun besser so gekommen war: die blutige Rache für den Bruder oder die Zeit der Blutrache.
Kaum eine halbe Stunde zuvor war ihm das dreißigtägige Ehrenwort gewährt worden, und er hatte sich bereits an die Vorstellung gewöhnt, daß sein Leben in zwei Teile gerissen war. Nun schien ihm sogar, es sei schon immer so bestimmt gewesen: Zuerst ein langes Stück, sechsundzwanzig Jahre eines geruhsamen, bis zum Überdruß geruhsamen Lebens, sechsundzwanzig Märze und Aprile samt ebenso vielen Wintern und Sommern, und dann ein kurzes, stürmisches, in Windeseile ablaufendes Stück von vier Wochen, mit nur einem halben März und einem halben April wie zwei bereifte Hälften eines abgebrochenen Zweiges.
Was sollte er mit den ihm noch verbleibenden dreißig Tagen tun? Üblicherweise beeilten sich die Menschen während der Frist, die ihnen das große Ehrenwort setzte, das zu Ende zu bringen, was sie im anderen Teil ihres Lebens nicht hatten abschließen können. Und wenn ihnen nichts Besonderes zu erledigen geblieben war, dann hatten sie es eilig bei ihren alltäglichen Geschäften. War es Zeit für die Aussaat, dann wollten sie mit der Aussaat rasch fertig werden, war Erntezeit, banden sie die Garben, und war weder das eine noch das andere, beschäftigten sie sich mit dem Allerüblichsten, brachten das Hausdach in Ordnung oder reparierten den Viehstall. Und wenn auch das nicht nötig war, dann streiften sie einfach durch die Berge, um noch einmal den Flug der Störche oder den ersten Reif im Oktober zu sehen. Die Ledigen heirateten gewöhnlich in dieser Zeit. Gjorg jedoch würde nicht heiraten. Seine Verlobte aus einem fernen Banner hatte er nie kennengelernt. Vor einem Jahr war sie krank geworden und gestorben, so daß er nun nicht mehr gebunden war.
Ohne den Blick von der im Nebel versinkenden Landschaft draußen abzuwenden, überlegte er, was er mit den ihm noch verbleibenden dreißig Tagen anfangen sollte. Manchmal kamen sie ihm kurz vor, mehr als kurz, ein Spritzer Zeit, nicht genug, um darin etwas zustande zu bringen. Doch ein paar Minuten später erschienen ihm diese dreißig Tage schrecklich lang, ewige, nutzlose Tage.
Siebzehnter März, murmelte er vor sich hin. Einundzwanzigster März. Achtundzwanzigster März. Vierter April. Elfter April. Siebzehnter April. Achtzehnter April … tot. Und dann so weiter: toter April, toter April und kein Mai mehr. Nie mehr Mai.
Er murmelte Tage vor sich hin, einmal April, dann wieder März, als er seinen Vater aus dem oberen Stockwerk des Turmes herabkommen hörte. In der Hand hielt er einen Beutel aus gewachstem Leinen.
»Hier sind die fünfhundert Blutgroschen, Gjorg«, sagte er und hielt ihm den Beutel hin.
Gjorg starrte ihn aus erschreckten Augen an, die Hände hinter dem Rücken verborgen, weit weg von dem verfluchten Beutel.
»Was?« fragte er mit tonloser Stimme. »Weshalb?«
Der Vater sah ihn verwundert an.
»Wie weshalb? Hast du vergessen, daß die Blutsteuer entrichtet werden muß?«
»Ach«, stieß Gjorg fast erleichtert hervor. »Ach ja!« Der Beutel schwebte noch vor ihm, und er griff danach. »Übermorgen mußt du zum Turm von Orosh aufbrechen«, fuhr der Vater fort. »Es ist eine Tagesreise von hier.«
Gjorg verspürte nicht die geringste Lust, irgendwo hinzugehen.
»Hat das nicht noch Zeit, Vater? Muß denn gleich bezahlt werden?«
»Ja, mein Sohn. Das kann nicht warten. Die Blutsteuer muß entrichtet werden, sobald das Blut vergossen ist.«
Der Beutel lag nun in Gjorgs rechter Hand. Schwer wie Blei. Das Ersparte vieler Jahreszeiten war darin gesammelt worden, Woche um Woche, Monat um Monat, in Erwartung des Tages der Blutrache.
»Übermorgen«, wiederholte der Vater. »Zum Turm von Orosh.«
Er war ans Fenster getreten und blickte angestrengt hinaus. In seinen Augenwinkeln lag ein froher Schimmer.
»Komm her«, sagte er sanft zu seinem Sohn.
Gjorg trat heran.
Unten, an der Wäscheleine im Hof des Turmes, hing ein einziges Hemd.
»Das Hemd deines Bruders«, sagte der Vater fast flüsternd. »Mëhills Hemd.«
Gjorg starrte wie gebannt darauf. Weiß flatterte, tanzte, blähte sich das Hemd fröhlich an der Leine.
Ein und ein halbes Jahr nach der Ermordung des Bruders war von der Mutter nun endlich das Hemd gewaschen worden, das der Unglückliche an jenem Tag getragen hatte. Ein und ein halbes Jahr hatte es, im oberen Stockwerk des Turmes hängend, wie der Kanun es verlangte, darauf gewartet, nach vollzogener Blutrache, jedoch keinesfalls vorher, gewaschen zu werden. Es hieß, wenn die Blutflecken auf dem Hemd gelblich zu verblassen begannen, sei dies ein sicheres Zeichen dafür, daß der Tote, weil noch immer nicht gerächt, allmählich zornig wurde.
Wie oft war Gjorg in einsamen Stunden in den leeren Raum hinaufgestiegen, um das Hemd zu betrachten. Mehr und mehr verfärbte sich das Blut ins Gelbliche. Das bedeutete, daß der Tote keine Ruhe fand. Oft hatte Gjorg im Traum das Hemd in Wasser und Seifenschaum weißer und weißer werden sehen, bis es schließlich strahlte wie die Frühlingssonne selbst. Doch am Morgen hing es wieder da, voll rötlicher Flecke getrockneten Blutes, und wieder starrte er darauf, bis seine Augen müde wurden. So bemühte er sich wochenlang, die Signale zu erfassen, die der Tote aus dem Schoß der Erde, in dem er lag, heraufschickte.
Nun endlich blähte sich das Hemd auf der Leine. Doch merkwürdigerweise verspürte Gjorg keine Erleichterung. Unterdessen wurde im obersten Stockwerk des Turmes der Kryeqyqe das blutige Hemd des gerade erst Getöteten aufgehängt, so wie nach dem Einholen der alten Fahne eine neue aufgezogen wird.
Kalte und warme Jahreszeiten würden auf die Farbe des getrockneten Blutes einwirken, auch die Art des Stoffes würde das ihrige tun. Doch keiner würde das so sehen wollen. Alle Veränderungen würde man als geheimnisvolle Botschaften begreifen, denen sich niemand widersetzen konnte.
Schon seit einigen Stunden wanderte Gjorg über die Hochebene, doch nirgends war ein Hinweis darauf zu erkennen, daß er dem Turm von Orosh näher kam.
Immer neue namenlose oder ihm doch unbekannte Felswüsten, nackt und voller Trübsal, traten aus dem feinen Nieselregen hervor. Dahinter lagen die Berge, nur schwer auszumachen in dem Nebel, der vor ihnen hing und eher an die blasse, wie in einer Fata Morgana vervielfachte Widerspiegelung eines einzigen Berges denken ließ als an eine Ansammlung gewaltiger Massive. Merkwürdig. Wie materielos der Nebel die Berge auch erscheinen ließ: so wirkten sie bedrückender als bei schönem Wetter, wenn Felsen und Abstürze ihre Maske ablegten.
Die Schottersteine unter Gjorgs Opanken knirschten leise. Es gab nur wenige Weiler an der Straße und noch weniger Gemeinden der Unterpräfektur oder Herbergen. Aber auch wenn sie zahlreicher gewesen wären, Gjorg hatte nicht im Sinn, irgendwo haltzumachen. Er mußte unbedingt so schnell wie möglich den Turm von Orosh erreichen, denn beim Blut, so sagte sein Vater, und allem, was mit ihm zusammenhing, also auch der Steuer, war stets Eile geboten.
Meistens war die Straße fast verlassen. Ab und zu tauchten im Nebel einsame Hochländer auf, irgendwohin unterwegs wie er. Aus der Ferne wirkten sie wie alles an diesem Nebeltag namen- und körperlos.
Die Siedlungen lagen so schweigend da wie die Straße. Da und dort waren Häuser zu erkennen, flockiger Rauch über den schrägen Dächern. Ob Turm, Hütte oder was auch sonst: ein Haus heißt Haus, wenn aus dem Schornstein einer Heimstatt Rauch aufsteigt. Immer wieder ging ihm diese Festlegung des Kanun, die er seit seiner Kindheit kannte, im Kopf herum, warum, das wußte er nicht. Niemand darf ein Haus betreten ohne Zuruf und Antwort. Aber ich habe doch gar nicht vor, irgendwo anzuklopfen und um Einlaß zu bitten, schimpfte er mit sich selbst.
Der Regen wollte nicht aufhören. Schon zum dritten Mal begegnete ihm eine Gruppe von Bergbauern. Unnatürlich gebeugt unter der Last der Maissäcke, die sie auf dem Rücken trugen, zogen sie im Gänsemarsch die Straße entlang. Wahrscheinlich ist der Mais feucht geworden, dachte er.
Die schwerbeladenen Bauern blieben zurück, und er war wieder allein auf der großen Straße. Die Ränder auf beiden Seiten waren oft nur undeutlich zu erkennen. Regengüsse und Erdrutsche hatten an manchen Stellen den Weg verengt. Die Straße muß so breit sein wie ein Fahnenschaft lang, dachte er bereits zum zweiten Mal und bemerkte so, daß ihm die Bestimmungen des Kanun über die Straße schon seit einiger Zeit im Kopf herumgingen. Der Mensch benutzt die Straße, und so auch das Vieh; der Lebende benutzt sie wie der Tote.
Er lächelte vor sich hin. Was er auch immer tat, diesen Vorschriften konnte er nirgends entgehen. Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Der Kanun war viel mächtiger, als es den Anschein haben mochte. Überall lag er da, kroch an den Feldrainen herum, hockte in den Grundmauern der Häuser, in Gräbern, Kirchen. Auf den Straßen war er zu finden, den Märkten, auf Hochzeiten. Er kletterte hinauf zu den höchsten Almen, ja sogar noch weiter, bis zum Himmel. Und von dort kam er wieder herab als Regen, der die Wasserläufe füllte, um derentwillen ein Drittel aller Morde geschah.
Alles hatte, ohne daß er es noch richtig begriff, an jenem unvergeßlichen Tag begonnen, an dem ihm klargemacht worden war, daß er einen Menschen töten mußte. Der Sommer ging zu Ende. Er saß mit zwei Freunden vor der Haustür und beobachtete die Glühwürmchen, deren Funkeln zunahm, je dunkler es wurde, als seine Mutter ihn rief: Dein Vater will etwas von dir.
Als er dann aus dem obersten Stock des Turms zurückkam, war seine Miene so düster, daß ihn die Freunde fragten: Was hast du denn? Er rechnete eigentlich damit, daß sie ihn bemitleideten, nachdem sie alles erfahren hatten, aber sie sagten kein Wort, sondern schauten ihn nur seltsam an, so daß er gar nicht wußte, ob sie ihn nun bedauerten oder bewunderten.
An diesem Abend war er ein anderer geworden. Sein Vater hatte ihm zunächst befohlen, das Blut seines Bruders zu rächen, und dann in knappen Sätzen die Regeln eingeschärft, die er beim Töten zu beachten hatte, damit der Sippe keine Schande erwuchs und die Leute nicht sagen konnten, Gjorg Berisha habe den Mörder seines Bruders einfach abgeknallt wie ein Straßenräuber. Vergiß nicht, ihn anzurufen, ehe du abdrückst, waren seine Worte gewesen. Dies ist die erste Hauptregel. Vergiß nicht, den Leichnam umzudrehen und ihm das Gewehr an den Kopf zu legen. Das ist die zweite Hauptregel. Alles andere ist einfach, ganz einfach.
Diese Sätze hatten sich in seinem Kopf festgesetzt wie die Ermahnungen des Priesters in der Sonntagspredigt.