Die Schleierkarawane - Ismail Kadare - E-Book

Die Schleierkarawane E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

Ismail Kadare, der »Homer Albaniens«, vermischt Mythos und Geschichte. Hintergründig lakonisch und raffiniert. Ein kleiner Beamter, der noch nie eine unverschleierte Frau gesehen hat, soll auf Befehl des Sultans eine halbe Million Schleier in die unterworfenen Provinzen auf dem Balkan bringen. Die Schönheit der Frauen, die ihre Gesichter nicht verstecken, erschüttert sein Weltbild, und ein gefährlicher Kummer schleicht sich in sein Herz. In drei außerordentlichen Erzählungen wird die grausame Logik totalitärer Macht offenbar, die bis in die kleinsten Winkel des osmanischen Reiches hineinwirkt, ob sie nun die seelischen Regungen des Einzelnen ausspäht, oder gleich die gesamte Elite eines rebellischen Satellitenstaates auslöscht.

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Seitenzahl: 230

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ismail Kadare

Die Schleierkarawane

Erzählungen

 

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

Ismail Kadare ist der fantastische Realist Albaniens. Immer wieder hat er sich von der nahezu unendlichen Geschichte seines Landes inspirieren lassen, von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart. Eine besondere Stellung kommt dabei der fast fünfhundert Jahre langen Herrschaft des osmanischen Weltreiches auf dem Balkan zu: als Prototyp eines tyrannischen Superstaates. Historisches dient als durchscheinende Folie, um von der Dunkelheit und dem Schrecken totalitärer Systeme im 20. Jahrhundert zu erzählen.

 

In drei außerordentlichen Erzählungen wird eine grausame Logik offenbar, die bis in die kleinsten Winkel des osmanischen Weltreichs hineinwirkt. Von den großen Ängsten eines kleinen Beamten, der noch nie eine unverschleierte Frau gesehen hat, und von den Spitzeln, die ihm auf den Fersen bleiben, während er im Auftrag des Sultan eine halbe Million Schleier in die unterworfenen Provinzen des Balkan bringt, erzählt ›Die Schleierkarawane‹. Eine wahre Begebenheit liegt den Ereignissen zugrunde, von denen ›Der Festausschuß‹ berichtet. Fünfhundert albanische Würdenträger fallen einem königlichen Dschihad zum Opfer, als sie auf einem Versöhnungsfest in einen Hinterhalt gelockt werden. Und ›Das Geschlecht der Hankonen im Gang der Zeit‹ legt eine Familienchronik durch drei Generationen vor. Hochzeiten und Geschäftsabschlüsse, Geburten und Todesfälle, Krieg und Frieden, Aufschwung und Niedergang wechseln sich in einer auf das Schicksalhafte herunter- gebrochenen Erzähldynamik ab.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.

Inhalt

Die Schleierkarawane

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

Der Festausschuß

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

6. Kapitel

Das Geschlecht der Hankonen im Gang der Zeit

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

Nachbemerkung

Glossar

Ausspracheregeln des Albanischen, soweit sie vom Deutschen abweichen:

Die Schleierkarawane

I

Noch nie war Hadschi Milet so oft eine gute Reise gewünscht worden wie jetzt Anfang September, da er kurz vor dem Aufbruch auf den Balkan stand. Seit vielen Jahren war er für die Verteilungsstelle im Palast des Scheich ul-Islam als Karawanenführer tätig, so daß Dienstreisen in entfernte Gebiete des Reichs ganz und gar nichts Ungewöhnliches für ihn bedeuteten. Er beförderte alle möglichen Güter, angefangen bei Gobelins, die von den Moscheen der Hauptstadt ausgemustert und daraufhin kleinen Bethäusern in den Provinzen zugeteilt worden waren, bis hin zu Tüchern mit eingewebten Koransuren, die in abgelegene Städtchen, Dörfer oder Garnisonen geschickt wurden, wo solche Stücke, wenn man Mitteilungen der Vorsteher oder anonymen Briefen glauben wollte, nicht in ausreichender Menge vorhanden waren oder gänzlich fehlten.

Obwohl er also mit derartigen Unternehmungen und dem Seelenzustand vor der Abreise vertraut war, hatte Hadschi Milet diesmal ein ziemlich ungutes Gefühl. Das lag nicht am Ziel der Expedition, er war schon einmal auf der Balkanhalbinsel gewesen, sondern wahrscheinlich an der zu befördernden Ladung – Gesichts- und Körperschleier zur Verhüllung der Frauen, die man dort »Feredsche« nannte – und dem heftigen Getuschel, das die Aufbruchsvorbereitungen begleitet hatte.

Meistens versuchte er, es einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dies war ein dienstlicher Auftrag wie jeder andere, und die zu transportierende Fracht unterschied sich kaum von den kleinen Gebetsteppichen, den Gewändern für die Geistlichkeit und der Vielzahl anderer Güter, die er mit seiner Maultierkarawane ständig auszuliefern hatte. Doch immer, wenn es ihm gelungen war, sich selber zu beschwichtigen, machte ihm die Überschwenglichkeit der Gute-Reise-Wünsche wieder deutlich, daß offensichtlich auch die anderen das Unternehmen für nicht alltäglich hielten und deshalb glaubten, durch ihre Segnungen mögliches Übel von ihm abwenden zu müssen.

Das ging Hadschi Milet im Kopf herum, als er im Zentrallager auf die Aushändigung der Schleier wartete. Es waren viele, fast eine halbe Million, in Ballen verpackt, auf denen die Menge der enthaltenen Tücher vermerkt war. Mürrisch murmelte der Lagerverwalter Zahlen vor sich hin, wobei sein Blick ständig zwischen den Packen und dem Bündel Quittungen in seiner Hand hin und her wanderte.

Eine halbe Million, dachte Hadschi Milet. Wie lange es wohl gedauert hat, bis sie fertig waren?

Angeblich hatten die Frauen aller Schneiderwerkstätten in zehn Städten den ganzen Sommer über daran gearbeitet. Ein mißgünstiges Getuschel in der Öffentlichkeit, hieß es, habe das Zuschneiden und Vernähen des schwarzen Stoffes begleitet. Sollten ruhig auch die bisher unverhüllten europäischen Dämchen auf dem Balkan leiden. Sie hatten über ihre Geschlechtsgenossinnen im Osten gelacht, doch damit war es nun vorbei. Wie freche Stuten waren sie in der Gegend herumgaloppiert, nun würden sie merken, wie es sich anfühlte, einen Schleier vor dem Gesicht zu tragen.

Es gab aber auch genügend Leute, die widersprachen und die Frauen und Mädchen auf dem Balkan bemitleideten: Schade, daß es sie nun auch erwischt hat …

Hadschi Milet bemühte sich, das ganze Getuschel nicht zu beachten. Von sich aus wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, daß es unverhüllte Frauen überhaupt geben könnte. Schleier gehörten zum Leben wie die Nacht zum Tag. Allah hatte die Erde nun einmal so geschaffen, mit Tag und mit Nacht, und nach seinem Ratschluß bestand auch die menschliche Rasse aus zwei Teilen: einem verhüllten und einem unverhüllten.

Hadschi Milet hatte lange gar nicht gewußt, daß es Gegenden im osmanischen Staat gab, wo die Frauen unverschleiert herumliefen, und als er davon erfahren hatte, war er sehr erschrocken. Ein in staatlichen Angelegenheiten bewanderter Freund hatte ihn damit beruhigt, es handele sich um erst relativ spät dazugewonnene Gebiete, in denen das Reich seine Macht erst noch richtig verankern müsse. In den letzten Monaten sei genau um diese Frage ein Krieg zwischen den Köprülü und dem Scheich ul-Islam geführt worden. Der mächtige Köprülü-Clan opponiere ohnehin ständig gegen den Scheich ul-Islam, so daß es nicht verwundern könne, daß er sich auch der Dekretierung des Feredschefermans widersetzt habe. Nach dem Verlust des Großwesirpostens im Frühjahr sei die Position der Köprülü jedoch geschwächt, so daß sie diesmal den kürzeren gezogen hätten. Als dem Scheich ul-Islam auf der entscheidenden Kabinettssitzung bewußt geworden sei, daß sich das Blatt zu seinen Gunsten wendete, habe er den beiden albanischstämmigen Wesiren Köprülu höhnisch zugerufen: »Die Albanerweiber müssen euch nicht leid tun, verdiente Herren. Sie und die anderen Balkanesinnen dürfen uns dankbar dafür sein, daß wir sie vor ihrem eigenen Teufel beschützen. Sie werden sich verhüllen, sie werden sich beruhigen.«

Dann wurde das Dekret veröffentlicht: monumental, von trauriger Feierlichkeit wie ein Leichenbegängnis. Fortan würden die Albanerinnen, die Griechinnen, die Serbinnen, die Rumäninnen, die Bosnierinnen, die Bulgarinnen, die Ungarinnen genauso den Schleier zu tragen haben wie alle anderen Muselmaninnen.

Hadschi Milet hatte staunend zugehört. Aber ja, so war es richtig. Es konnte im gleichen Land nicht zwei Arten von Gesetzen geben und auch nicht zwei Arten von Frauen.

Das Weibergetratsche über die Balkanesinnen klang Hadschi Milet noch in den Ohren, als er in der Lagerhalle die Quittungen prüfte, während der Verwalter noch immer zwischen den Ballen herumstolperte. Eine halbe Million, dachte er. Er war stolz auf den Staat, dessen Beamter er sein durfte. Und dies war ja nur die erste Lieferung. Man würde so lange Schleier in diese Ecke des Reichs schicken, bis alles ordentlich verhüllt war (inzwischen war ihm fast, als gebe es auch am Reichskörper anstößige Teile, die unbedingt verhüllt werden mußten).

II

Noch vor Tagesanbruch verließ Hadschi Milet mit seiner Maultierkarawane die Hauptstadt. Es war frisch, fast kalt. Vom Marmarameer wehte es beständig herüber.

Fast ohne Pause reiste er den ganzen Tag, um noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Orman Çiftlig zu gelangen, wo er die Nacht verbringen wollte. Alle Kuriere oder Beamte, die dienstlich in die westlichen Landesteile unterwegs waren oder von dort zurückkehrten, hatten strengen Befehl, dort zu übernachten. Den Grund dafür kannte keiner. Hadschi Milet, der es ohnehin nicht gewohnt war, über Vorschriften lange nachzudenken, hatte diese Regel wie alle seine Kollegen fest in seinem Kopf verankert. Obwohl es eigentlich schon ein wenig merkwürdig war, daß man seine Reise erst nach einer Übernachtung in Orman Çiftlig fortsetzen durfte, egal, zu welcher Tageszeit man dort ankam. Man mochte sich auf dem Rückweg schon um die Mittagszeit dort einfinden, wichtige Post dabeihaben, sich nach seinen Angehörigen sehnen, trotzdem durfte man nicht mehr am gleichen Tag in die nahe Hauptstadt weiterreisen, sondern mußte in Orman Çiftlig den nächsten Morgen abwarten.

Unterwegs versuchte sich Hadschi Milet die dortigen Örtlichkeiten in Erinnerung zu rufen, doch sein schlichter Verstand kam nicht über den Wald hinaus, der ihnen den Namen gab. Bei der Ankunft in der Dämmerung wirkte alles noch finsterer als sonst. Ein paar Fackeln warfen ihr fahles Licht auf mehrere unbewohnt aussehende zweistöckige Gebäude. Jemand trat vor ihn hin und verlangte Auskunft über den Zweck des Besuchs. Sorgfältig studierte er die gesiegelten Papiere, die Hadschi Milet vorwies. Mehrfach schaute er zu der Maultierkarawane hinüber.

»Gut«, sagte er endlich. »Bring die Maultiere nach hinten.« Er wies mit der Hand nach rechts. »Du schläfst hier.«

Hadschi warf einen Blick auf den roten Ziegelbau.

»Und dann?« fragte er.

Der andere zog erstaunt die Brauen hoch.

»Was ›dann‹? Du weißt selbst wohl am besten, was du zu tun hast. Am Morgen aufbrechen, vermutlich.«

»Ja, doch, natürlich«, sagte Hadschi Milet ein wenig verwirrt.

»Na also. Wenn ich das richtig sehe, hast du eine lange Reise vor dir. In gefährlichen Gegenden gibt man dir gewiß Wächter mit.«

»Ach ja?«

»Ich glaube schon. Deine Fracht ist offensichtlich wichtig.«

»Ja, auf jeden Fall!«

»Mach dir keine Sorgen. Man weiß in den Paschaliks, wie man für die Sicherheit staatlicher Karawanen zu sorgen hat. Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, antwortete der Hadschi.

Erschöpft, wie er war, rechnete er damit, sofort einzuschlafen, doch das war ein Irrtum. Lange wälzte er sich auf seinem Lager herum, und wenn ihm einmal die Augen zufielen, wachte er gleich darauf wieder auf und war noch müder als vorher. Einmal wollte er nach den Maultieren schauen, kam aber nicht weit, weil ihn jemand im Dunkeln ansprach:

»Wo wollt Ihr hin, Aga?«

»Nach hinten. Kurz nach den Maultieren schauen.«

»Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Dieser Ort hier ist sicher.«

»So? Na gut!«

Er kehrte in sein kleines, kahles Zimmer zurück, das im flackernden Licht der Petroleumlampe noch trister wirkte als am Tag. »Der Ort hier ist sicher«, murmelte er vor sich hin. Deshalb schlief er aber nicht leichter ein.

III

Trotz der mehr oder weniger schlaflosen Nacht fühlte sich Hadschi Milet frisch, als er sich im Morgengrauen wieder auf den Weg machte. Vielleicht konnte ich wegen des Waldes nicht schlafen, überlegte er, als die Maultierkarawane Orman Çiftlig hinter sich gelassen hatte und sich auf der Landstraße am Meer in Richtung Westen bewegte. Der Himmel war tiefblau, und das Meer paßte in der Farbe dazu wie das Innenfutter zu einem teuren Gewand. Es wird sicher ein schöner Tag, dachte Hadschi Milet. Je weiter er sich von Orman Çiftlig entfernte, desto befreiter fühlte er sich. Die alten Frauen warnten nicht ohne Grund vor dem drückenden Schatten der Bäume.

Er war schon ein gutes Stück vorangekommen, als die Sonne aufging. Auf seinen Reisen hatte er viele Sonnenaufgänge miterlebt, aber noch nie einen wie diesen. Kleine goldene Pfeile schossen hinter dem Horizont hervor, gegen die sich das Meer mit Tausenden silberner Plättchen, kleinen schwankenden Schilden wappnete. Dann war alles in rote Glut getaucht, und schaumiges Licht ergoß sich in die Welt.

Hadschi Milets Stimmung war heiter, ja entrückt, er fühlte sich leicht wie eine Schwalbe. Erst zwei Stunden später, als er die Karawane anhielt, um etwas zu essen, war er wieder in der Lage, sich den alltäglichen Dingen zuzuwenden, die einen auf einer solchen Reise beschäftigten.

Als er seine Wanderung fortsetzte, war es immer noch Morgen, ein klarer Tag, ganz Licht und Himmel, keine Wolken, so weit das Auge reichte. Auf dieser Seite des Reiches war der Himmel schöner, fand er. Dabei hatte er immer das Gegenteil geglaubt: daß alles kälter und grauer werde, je näher man den Gebieten der Christen kam.

Wunderschön, dachte er, während er auf das blaue Meer hinausschaute. Und plötzlich, ganz unvermittelt, ging ihm die so verrückte wie verdrießliche Frage durch den Kopf, wieviel vom Himmel alle Schleier in seinen Ballen zusammen wohl bedecken würden, wenn man sie aneinandernähte.

Er lachte vor sich hin und versuchte, die unangenehme Vorstellung aus seinem Kopf zu vertreiben. Gleich darauf atmete er tief durch, seufzte und sagte: »Ein Glück!«

Ja, ein Glück, daß weder der Himmel noch das Meer, noch etwas anderes Schönes auf der Welt, verhüllt werden würden. Sonst … Was sollte das heißen, dieses sonst? Weshalb schlug er sich mit solch nutzlosen Gedanken herum? Aber er schaffte es nicht, sich von der Vorstellung zu befreien, daß jemand, er selbst, ein großes Netz, eine riesige schwarze Gardine hinter sich herschleppte, die Seen und Auen bedeckte, wofür ihn die ganze Welt hinter seinem Rücken einen Teufel schalt.

IV

Lange bevor er den Balkan erreichte, entdeckte Hadschi Milet in der Ferne die schneebedeckten Berge, unvergleichlich schroff und himmelblau. Es war der sechste Tag seiner Reise, als hoch über der Straße Dörfer auftauchten, die denen, die er aus anderen Teilen des Reichs kannte, in nichts glichen. Ein unerklärliches Gefühl der Furcht und Verwirrung beschlich ihn. Dann sah er die ersten Kirchen und begriff den Grund. Es waren die Kreuze auf den Türmen, die ihn unsicher machten. Noch nie zuvor hatte er Kirchen zu Gesicht bekommen. Er wußte, daß der kaiserliche Sultan in seiner unermeßlichen Großzügigkeit den Christen eroberter Länder erlaubte, ihre Religion und ihre Bräuche beizubehalten, hätte aber nie vermutet, daß die Kirchen mit ihren schimmernden Kreuzen mitten am Tag ganz offen herumstehen durften.

Dann entdeckte er die Minarette neben den Kirchtürmen und war ein wenig beruhigt. Die neuen Minarette aus weißem, behauenem Stein überstrahlten die alten, von den Jahren und vom Wetter geschwärzten Kirchen. Bei Gott, wie Bräute sehen sie aus, dachte Hadschi Milet voller Bewunderung. Der große Padischah hatte alles wohlbedacht. Neben jeder Kirche war eine Moschee errichtet worden, die junge Braut kämpfte mit der alten Schindmähre, bis sie besiegt war. Ach, die Angelegenheiten des Staates, seufzte er in sich hinein. Er mußte sich deswegen keine Sorgen machen. Es gab fähige Menschen, die alles bedachten und nichts übersahen.

Dennoch nagte weiterhin ein winziger Zweifel wie ein Wurm an ihm: Was war, wenn die krummen Kirchen, diese alten Hexen, über die Minarette herfielen? Er verbot sich diese ketzerische Vorstellung und versuchte, sie durch lautes Pfeifen zu vertreiben. Hadschi Milet war ein einfacher Mensch, er hatte keine Schule besucht und keine Bücher gelesen, so daß Gedanken bei ihm leicht zu verscheuchen waren.

Am nächsten Morgen geschah etwas, das ihn die Kirchen vergessen ließ. Zum ersten Mal in seinem Leben erblickte er fremde Frauen, die unverschleiert daherkamen.

Es war um die Mittagszeit. Er hatte Durst und hoffte schon lange, auf ein Bächlein oder eine Quelle zu stoßen, um sich erfrischen und die Maultiere tränken zu können. Dann vernahm er Frauenstimmen, ohne sich viel dabei zu denken. Die Dörfer und Städte dieser Welt waren voller plappernder Frauen, und manchmal schien ihm sogar, die muselmanischen Frauen redeten unter ihren Schleiern mehr und lauter als nötig. Geradezu erschüttert war der Hadschi aber, als er sie zu Gesicht bekam. An einem großen Quellbecken mit mehreren Ausflüssen schöpften sie lachend und einander neckend Wasser. Hadschi Milet stand da wie vom Donner gerührt. Es waren Frauen und Mädchen mit unterschiedlicher Haartracht, Hälse und Beine unverhüllt, vor allem aber mit entblößten Gesichtern.

Großer Gott! Dieser lautlose Schrei drückte sowohl Bewunderung als auch die Angst und Reue eines Sünders aus. Frauengesichter! Frauen- und Mädchenaugen! Mit dieser Versuchung unvertraut, fürchtete er, ihr zu erliegen. Die Welt hatte sich verändert. Es war, als erwache man eines Morgens im Licht zweier Sonnen: dem großen, allen bekannten Licht- und Wärmespender und einer anderen, in tausend Stücke zerfallen, die wie Perlenschmuck die Frauenstirnen zierte.

Er konnte den Blick gar nicht mehr abwenden. Das also waren die Balkanesinnen. Das düstere Raunen Tausender brünetter Frauen seines Landes zog in seiner Erinnerung auf wie eine schwarze Wolke. Er versuchte es wegzudrängen, um das Bild der dunkelblonden Haare vor seinen Augen nicht zu trüben. »Allah«, flüsterte er. Es gab sonnige Tage und Mondnächte, aber es gab auch noch etwas anderes: Frauenaugen am hellen Tag. Heute durfte er es zum ersten Mal erleben. Andere Tage würden folgen, zwanzig, dreißig, solange seine Reise eben dauerte, dann kam der Rückweg, und danach … nichts. Danach begann wieder die Nacht.

Traumversunken näherte sich Hadschi Milet der Quelle. Dann sahen sie ihn. Er hörte besorgte Rufe, verstand aber nur das Wort »Türke«. Er war vorgewarnt worden: Die Frauen und Kinder in dieser Gegend hätten große Angst vor Militärangehörigen und anderen Staatsdienern.

Abrupt blieb er stehen, als wolle er vermeiden, einen Schwarm Vögel aufzuscheuchen. Er versuchte sich ein Lächeln abzuringen und hatte offenbar einigermaßen Erfolg, denn wenigstens ein paar der Frauen musterten ihn ohne Furcht. Die Sprache, in der sie sich unterhielten, war ihm unbekannt, wahrscheinlich Griechisch oder Albanisch. In der Herberge, in der er die letzte Nacht verbracht hatte, war ihm gesagt worden, die Dörfer ringsum hätten eine gemischte griechisch-albanische Bevölkerung.

»Türke«, vernahm er schon wieder. Wahrscheinlich sagten sie: »Schaut euch nur diesen Türken an!« Oder: »Wie uns dieser Türke anstarrt, schnell weg.« Ach nein, so würden sie nicht reden, mit Männerblicken waren sie schließlich vertraut …

O Allah! Hadschi Milet konnte es immer noch kaum fassen. Es war auf dieser Welt also tatsächlich möglich, daß sich die Augen von Männern und Frauen ungehindert trafen, so jetzt seine dunkelbraunen mit den hellen dieser Frauen. Aus den Augenwinkeln schaute er zu seinen Maultieren hinüber, die brav stehengeblieben waren. Diese Karawane würde endlich für Ordnung sorgen! So hatte er vor seinem Aufbruch oft sagen hören. Dem Scheich ul-Islam galt sie angeblich sogar als die »Karawane der Errettung«.

Rasch wandte der Hadschi den Blick von den Maultieren ab und versuchte, nicht mehr an das leidige Gerede zu denken. Er lächelte schuldbewußt, dann tat er vorsichtig, als gehe er über Glasscherben, ein paar Schritte auf die Quelle zu. Die Frauen und Mädchen ließen keine Furcht erkennen. Er war ohnehin keine bedrohliche Erscheinung, außerdem unbewaffnet, und seine Maultiere verstärkten vermutlich den friedlichen Eindruck. Man machte ihm den Weg zum Becken frei, und als er hinging und sich zum Trinken hinunterbeugen wollte, reichte ihm eine Frau ihren Krug. Sie war jung und schaute ihn aus klaren Augen an, so daß es fast ein Wunder war, daß ihm der Tonkrug vor Aufregung nicht aus der Hand rutschte.

»Eyvallah«, sagte er, als er getrunken hatte, mit einer kleinen Verbeugung. »Danke.«

Mit einem unbeschwerten Lächeln nahm die Frau das Gefäß aus seinen bebenden Händen. Auch die anderen lächelten. Hadschi Milet kam sich leicht wie ein Vogel vor. Er mußte sie immer nur anschauen und hätte am liebsten gerufen: Lächelt weiter, um Gottes willen, laßt mich nicht im Stich … Für einen Moment schien es tatsächlich so, als wollten sie zu lächeln aufhören, ihn in Finsternis stürzen, doch das war gleich vorüber. Die Blicke der Frauen und Mädchen wandten sich ab, doch das Lächeln blieb.

Mit Gesten luden sie Hadschi Milet ein, sich das Gesicht zu waschen, dann zeigten sie vergnügt auf die Maultiere, die am Bächlein unterhalb der Quelle zu saufen begonnen hatten.

Wenn ihr wüßtet, mit was sie beladen sind! Er verbannte den peinigenden Gedanken gleich aus seinem Kopf.

Trotz seines schlichten Wesens spürte Hadschi Milet, daß er nicht länger bleiben durfte, wenn er dieses Wunder nicht durch seine verdrießliche Anwesenheit zerstören wollte.

Er spritzte sich noch einmal Wasser ins Gesicht, wischte es mit dem Taschentuch ab, entfernte sich ein paar Schritte von der Quelle und verbeugte sich höflich vor der Schar der Frauen. Sie lächelten ihn an, nickten freundlich mit den Köpfen und sagten etwas, das er nicht verstand. Wahrscheinlich wünschten sie ihm eine gute Reise.

Hadschi Milet hatte sich noch nie beschwingter gefühlt. Die Welt kam ihm wie frisch gewaschen vor. Obwohl er bereits über dreißig war, wußte er wie die meisten Männer seines Landes nicht, was Liebe ist. Er war verheiratet, wie es sich gehörte, die Ehe war durch Vermittlung zustande gekommen, er hatte zwei Kinder, mehr ließ sich dazu nicht sagen. Liebe hatte bei seiner Heirat keine Rolle gespielt. Von Liebe durfte man erst sprechen, wenn die Frau sich ungehindert umschauen konnte und dann unter allen Mannsbildern gerade das eine, dich, erwählte.

Hadschi Milet war immer noch wie betrunken. Hatte er sich womöglich in diese Balkanesinnen verliebt? Niemals war er aus so vielen Frauenaugen freundlich angeschaut worden. Er spürte, die Welt hatte sich für ihn verändert. Frauen hatten ihn angelächelt. Er gefiel ihnen …

Ihm war danach, seine Freude laut hinauszubrüllen. Er schaute sich um, nur lauter öde Steine ringsum, also konnte er seinem Bedürfnis nachgeben. Er fing so schallend an zu singen, daß ihm die Brust weh tat. Es war ein eintöniges Lied, und der dazugehörige Text fiel ihm nicht ein. Doch das war gleichgültig. Ihm reichten zwei Worte, die er ständig wiederholte: »Welt, Liebe … Welt, Liebe …«

Er merkte, wie er heiser wurde, und hörte zu singen auf. Als er sich umschaute, war die Quelle nicht mehr zu sehen. Er würde sich den Ort merken und auf dem Rückweg die Frauen noch einmal besuchen. Dann fielen ihm seine Schleier ein. Wahrscheinlich würden sie schon verhüllt sein. Doch dies verdarb ihm nicht lange die Laune, noch war die rosige Erinnerung zu frisch. Vielleicht konnte diese Gegend bis dahin nicht versorgt werden, weil die Schleier nicht ausreichten, und er würde seine Glücksquelle unversehrt vorfinden.

Hadschi Milet wollte gerade wieder zu singen anfangen, als in der Ferne Dächer auftauchten. Dies war bestimmt die Hauptstadt des Paschaliks, die er als erste zu beliefern hatte. Seine linke Hand ging zu seiner Jackentasche, wo er die Listen und Übergabebelege verwahrte, und aus seiner schon für den Gesang geweiteten Brust drang ein tiefer Seufzer.

V

Er hatte sieben Städte bereits hinter sich gelassen und noch elf vor sich. Ein Teil der Maultiere trug keine Ladung mehr. Das Wetter hatte sich verschlechtert, vor allem war es kalt geworden, und noch größer war die Kälte in den Lagerhallen, in denen er bei der Übergabe der Schleier viele Stunden verbrachte. Die Augen taten ihm weh, weil er mit mißtrauischen Verwaltern die Zahlenkolonnen auf den Listen und Lieferscheinen immer wieder durchgehen mußte.

Ach, es war eine verdrießliche Arbeit. Lieber verbrachte er Hunderte von Kilometern auf der Straße, als sich mit diesen übellaunigen Erbsenzählern herumzuschlagen.

Wenn er wieder draußen war, atmete er stets erleichtert auf. Blieb ihm vor der Weiterreise noch etwas Zeit, schlenderte er gerne durch die fremden Städte. Überall traf man Frauen, auf den Kreuzungen, vor den Haustoren, auf dem Markt. Er schaute sie aus geröteten, trüben Augen an. Inzwischen lösten sie bei ihm nicht mehr die gleichen Empfindungen aus wie an der Quelle. Die Freude, die in ihm aufblitzte, wurde sofort von einem unerklärlichen Groll verdrängt. Ihm war, als empfände er zur gleichen Zeit Liebe und Haß, ohne daß er sich diese Gefühlsverwirrung erklären konnte.

Ihr armen Vögelchen, dachte er im ersten Augenblick bedauernd, doch dann schwappte in ihm oft eine Wut hoch, die seinen Blick verdunkelte.

Keine von euch wird davonkommen, dachte er zornig, keine. Wenn ihr dreizehn Jahre alt werdet, steckt man euch in den Schleier. Wie Krähen werdet ihr aussehen.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er dachte: Es geht mir nicht gut. Noch nie hatte er so etwas erlebt.

Doch nicht nur er war verstimmt. Ein Unruhe stiftender Wind ging der Karawane voraus, denn offenbar bewegte sich das Gerücht von der baldigen Ankunft der Schleier schneller als die Maultiere, erreichte im Regen versunkene Städte, pfiff durch die alten Schlote und wirbelte mit den Blättern auf den Straßen auch den Schlaf der Menschen auf.

Seit der Verkündung des Feredschefermans waren bereits mehrere Monate vergangen, doch offenbar erfaßten die Leute erst jetzt bei der Ankunft der Karawane seine wahre Bedeutung. Bei der Weiblichkeit wurden düstere Gefühle geweckt, doch noch größer war das Unbehagen unter den Männern. Das war offensichtlich. Die Augen der Frauen hatten nicht mehr den Glanz, der ihm an der Quelle aufgefallen war. Sie blickten leer. Die Augen der Männer waren blicklos geworden.

Wahrscheinlich würden sie ihn in Stücke reißen, wenn sie mitbekamen, daß er die Karawane führte. Aber der Staat war zum Glück vorsichtig gewesen und hatte ihm für den größten Teil seiner Wanderung durch die Paschaliks Wächter mitgegeben.

Hadschi Milet fühlte sich todmüde. Er hatte Nordgriechenland, Monastir, Ohrid hinter sich gelassen, und andere Städte mit fremdartigen, seltsamen Namen lagen vor ihm: Durrës, Shkodra, Sarajewo, Belgrad, die Städte Ungarns und dann … O Herr, wann hatte diese Reise endlich ein Ende.

Die Welt war voller Frauen, und er mußte das linnene Tuch, unter dem sie verschwinden würden, überall verteilen. »Überall«, flüsterte er vor sich hin. An jeden Ort, an dem Hunde bellten und Schornsteine rauchten, wie es in einem alten Spruch hieß. Dies war des kaiserlichen Sultans Wille und Befehl, und was er sagte, mußte ausgeführt werden.

In den heruntergekommenen, verwanzten Absteigen, in denen er seine Nächte verbrachte, versuchte Hadschi Milet im Kopf auszurechnen, welche Strecke er noch zurücklegen mußte, aber es gelang ihm nicht. Er hatte kaum die Schule besucht und konnte die Landkarten nicht richtig lesen. Wenn er nach den Entfernungen zwischen den Städten fragte, erhielt er jedesmal eine andere Antwort. Eines Abends schwor er sich auf der wettergeschwärzten Veranda einer verlotterten Herberge, keinen mehr zu fragen. Es lohnte sich nicht. Er würde einfach weiterziehen und die bleischweren schwarzen Schleier dorthin schleppen, wohin ihn sein Weg führte, bis ans äußerste Ende des Reichs, wo sich eine Stadt namens Wien befand … »Bis dorthin, ja«, murmelte er vor sich hin, und müde sank sein Kopf herab.

VI

Es war bereits spät am Nachmittag, als er in einer kleinen, im Schlamm versinkenden Stadt ankam, deren fremdartiger Name den Anblick noch trostloser machte. Obwohl sich dahinter noch ein gutes Stück ungarischer Steppe dehnte, war dies der letzte Ort, den er mit Schleiern zu beliefern hatte. Seine Arbeit war also getan. Die nächste Reise würde vielleicht noch ein Stück weiter gehen, aber für diesmal reichte es ihm. Hadschi Milet war völlig erschöpft.