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Welche geheimen Dokumente birgt die Aktentasche des diplomatischen Kuriers Gjergj Dibra, der nachts auf der Route Paris – Bejing unterwegs ist? Dokumente, die er selbst nicht kennt und die seine Frau Silva mit bangen Ahnungen erfüllen. Ismail Kadare entwirft ein prall erzähltes Familienpanorama und verbindet dabei das Tragische und die Dramatik mit der Farce. Erzählt wird von der Annäherung Albaniens an China in den letzten Jahren unter Mao und wie die Albaner, kundig und erfinderisch im Umgang mit einer jahrtausendealten Fremdherrschaft, auch die »gelbe Gefahr« zu meistern verstehen. »Die Chinesen? Es waren keine Chinesen hier. Wir haben sie bloß geträumt …« Ismail Kadare »hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor«. Daniel Kehlmann
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Seitenzahl: 859
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Roman
›Konzert am Ende des Winters‹ gehört zu den gewaltigsten Romanen im Werk Ismail Kadares. Eine weit verzweigte Familien- und Gesellschaftssaga, die zugleich ein präzises Zeitfenster auf ein konkretes Ereignis in der Geschichte Albaniens öffnet: die Annäherungen Albaniens an China und den darauffolgenden Bruch.
Das kleine Albanien wagt es, dem großen Vorsitzenden Mao Zedong in einem Brief Vorschriften zu machen? Dieses Land hat eine Strafe verdient, und Mao Zedong wird dafür sorgen, dass es sie bekommt. Auch wenn es nur ein Tausendstel der Größe Chinas hat und in Europa sein einziger Verbündeter ist. Doch Albanien ist ein Land unterschiedlichster Kulturen, und seine Menschen sind gewitzt im Umgang mit fremden Herrschern. Auch wenn nicht jeder so weit geht wie die alte Hasije, die behauptet: »Es waren keine Chinesen da. Wir haben sie bloß geträumt.«
Ismail Kadare inszeniert ein Drama zwischen Tragödie und Farce und verbindet die große Geschichte mit den Träumen und dem Einzelschicksal seiner Figuren. Dabei gelingt ihm ein ebenso einzigartiges wie bizarres Porträt von Mao Zedong und eine bewegende albanische Familiengeschichte. Sie ist der Ort, an dem sich das Private und die Fäden aus dem Sanktuarium der politischen Macht überschneiden und das alltägliche Dasein verändern.
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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
Das Fenster sah auf die Straße hinab, wo die Schritte der Passanten, vielleicht wegen der winterlichen Kleidung, die sie trugen, rascher wirkten als sonst. Ein kleiner dreirädriger Lieferwagen hielt am Bordstein vor dem Laden, in dem die Chauffeure üblicherweise ihre Zigaretten kauften.
Es kam der alten Hasije so vor, als ob der Lieferwagen dort unten einiges Aufsehen erregte, und so wischte sie die beschlagene Scheibe blank, um besser sehen zu können.
Tatsächlich. Drei oder vier Leute waren stehen geblieben und sahen zu, wie ein großer Blumentopf mit einem Zitronenbäumchen abgeladen wurde. Sie konnte sich denken, was man den Fahrer, der gerade an das Fahrzeug trat, fragte. Wem bringst du die Zitrone? Wo kann man solche Zitronenbäumchen im Topf denn kaufen?
Auf einmal glaubte sie dort unten Ana zu entdecken, hätte gar fast mit dem Finger gegen die Scheibe geklopft und ihren Namen gerufen, als ihr einfiel, dass Ana ja schon lange tot war.
Die alte Hasije seufzte. Neuerdings kam es immer öfter vor, dass sie Zeiten und Ereignisse durcheinanderbrachte, und was wirklich geschah, erlebte sie wie im Traum. Auch mischten sich die Toten unter die Lebenden, doch das störte sie weniger, denn sie war überzeugt davon, dass es allen alten Frauen so ging, wären sie doch sonst keine alten Frauen. Manchmal glaubte sie sogar, dass alte Frauen sich eben dadurch auszeichneten.
Wieder blickte sie auf die Straße hinunter, und Ana war noch dort. Schön wie immer, stand sie ein wenig abseits und sah mit einem verdrossenen Lächeln den Leuten zu, die um das Zitronenbäumchen herumschwirrten. Warum ruhst du dich nicht aus, dort in der Erde, in der man dich begraben hat?, sagte Hasije.
Aus dem Nebenzimmer war die Stimme ihres Enkels zu hören, der seine Hausaufgaben machte. Singe, o Muse, den Ruhm des Peliden Achilles. Immer noch dieser Zorn?, dachte sie. Anstatt zu schwinden, nahm er in letzter Zeit sogar noch zu.
Sie griff zu dem Kaffeetässchen, das sie umgestülpt auf die Untertasse gestellt hatte, und betrachtete es lange. Die Tasse erschien ihr dunkel und unbegreiflich, doch auch das berührte sie nicht mehr. Wie anders sollte die Tasse einer alten Frau auch aussehen. Singe, o Muse, den Ruhm … Ach, sei doch still!, hätte sie ihren Enkel und die ganze Welt am liebsten angeschrien. Seid doch still, ihr ödet uns an mit eurem Gezänk.
Ihr ödet uns an, dachte sie dann, ihr zermürbt uns. Sie sah wieder auf die Straße hinunter, doch da gab es keinen Lieferwagen und kein Zitronenbäumchen mehr und auch keine Leute, die sich danach erkundigten. Wahrscheinlich haben mir meine Augen wieder einen Streich gespielt, dachte sie.
Wieder versank sie in sich selbst, doch war ihr diesmal, als blicke sie hinein ins Innere der Erde. Nicht nur Hohlräume gab es dort, von verdampftem Wasser oder vielleicht auch verschwundenen Toten zurückgelassen, sondern ebenso schwarze Schichten steindurchsetzten Lehms, fugenlos aufeinander sitzend und deshalb von keinem Auge je zu erschauen. Daneben schlummerten die so ungreifbaren Erdbeben und, ach, all die anderen namen- und formlosen Dinge, eines peinigender für die Einbildungskraft als das andere.
Sie nahm ein schwaches Grollen wahr, das aus der Ferne, vom hintersten Rand des Horizonts herandrang Dann wälzte sich kränklich ein schwerfälliger Donner quer über den Himmel.
So poche ruhig, sagte sie und wusste selbst nicht, zu wem sie sprach und warum.
Das Lächeln, mit dem Silva sich anschickte, die ersten Gäste zu empfangen, gefror auf ihren Lippen, als sie auf ein mehrfaches hartnäckiges Klingeln hin endlich die Wohnungstür öffnete. Anstelle der Gäste erblickte sie einen Mann mit einem schweren Topf im Arm, aus dem die Zweige eines Zitronenbäumchens herausragten.
»Bin ich hier bei Familie Gjergj Dibra?«, fragte der Mann.
»Ja«, antwortete Silva ein wenig verlegen. »Ach, die Zitrone ist für uns?«
»Sie haben sie doch bestellt, oder nicht?«
Der Mensch trat einfach in den Flur.
»Wo kommt sie hin?«, fragte er ein wenig ungeduldig. Man merkte, der Topf war schwer.
»Vorsicht!«, sagte Silva. »Hier herüber, bitte.« Und sie öffnete eine Zimmertür.
Mit schweren Schritten ging der Mensch durch das Zimmer und auf den Balkon hinaus, dessen Tür ihm Silva gerade noch öffnen konnte.
»Stellen Sie die Pflanze einfach irgendwo hin«, meinte Silva. »Ich werde mich nachher darum kümmern.«
Der Mann stellte den Topf ab und richtete sich mit einem Seufzer wieder auf.
Im Flur klingelte das Telefon, ohne dass jemand da gewesen wäre, um es abzunehmen. Ach je, dachte sie, ausgerechnet heute muss uns diese Zitrone ins Haus kommen.
»Alle Vierteljahre muss sie gespritzt werden, wegen der Schädlinge. Und alle sechs Monate sollte man sie umtopfen«, leierte der Mann. »Außerdem muss man sie bei Frost mit Cellophan abdecken, sonst erfriert sie über Nacht.«
Silva hörte zerstreut zu. Die Salate waren noch nicht fertig, der Braten noch nicht aufgeschnitten, und tausend andere Kleinigkeiten mussten ebenfalls noch erledigt werden. Dabei konnten jeden Augenblick die Gäste eintreffen. Obendrein musste sie sich auch noch für das Abendessen umziehen und ein wenig Toilette machen.
Offenbar deutete der Mann ihre ungeduldige Geste richtig, denn er sagte:
»Entschuldigen Sie, vielleicht bin ich im unrechten Moment gekommen.«
»Ach«, sagte Silva, »das macht doch nichts.«
Plötzlich schämte sie sich. Der Mann hatte den Topf zwei Treppen hochgetragen, und sie verhielt sich ihm gegenüber so gereizt.
»Darf ich Ihnen vielleicht etwas anbieten?«, fragte sie, von einem jähen Schuldgefühl befallen, im Flur.
»Nein, danke.«
»Ach bitte«, rief sie. »Mir zuliebe. Meine Tochter hat doch heute Geburtstag.«
Als sich die Tür hinter dem Unbekannten geschlossen hatte, ging Silva zu der bereits gedeckten Tafel, um noch das eine oder andere zurechtzurücken, tat dann jedoch gar nichts, außer eine Weile lang die kalt funkelnden Teller und Gläser anzustarren. Die Türklingel riss sie aus ihrer Regungslosigkeit, doch diesmal wusste sie sofort: das war ihre Tochter.
»Würdest du bitte den Salat anmachen und den Braten aufschneiden, mein Schatz, damit ich duschen und mich umziehen kann? Ich glaube, ich rieche nach Küche.«
»Gut, Mama.«
Beim Entkleiden im Bad meinte sie festzustellen, dass sie um die Hüften herum ein wenig voller geworden war, und eine Weile stand sie nachdenklich vor dem Spiegel, als habe sie ganz vergessen, wieso sie eigentlich hergekommen war. Dann klingelte auf dem Flur das Telefon, und Silva drehte, wie aus tiefem Schlaf erwacht, die Dusche auf.
Von der Vorstellung gequält, die Gäste könnten womöglich schon kommen, beeilte sie sich mit dem Duschen. Da alle außer Brikenas beiden Lehrerinnen gute Freunde oder Verwandte waren, hatte sie ihnen keine feste Uhrzeit genannt, was sie nun bereute.
Vor dem Schlafzimmerschrank schwankte Silva eine Weile, welches Kleid sie anziehen sollte. Dann fror sie und schlüpfte, ohne noch lange zu überlegen, in ein lilafarbenes Kleid, das Gjergj besonders mochte. Es saß wie immer, also war ihre Befürchtung, zugenommen zu haben, ganz grundlos. Ich begreife überhaupt nicht, dass du dir Sorgen um deine Linie machst, pflegte Gjergj zu sagen. Du bist in einem Alter, in dem die Frauen, wie es so schön heißt, voll erblühen. (Silva wusste, dass er sorgsam darauf achtete, von »Erblühen« anstatt von »Reife« zu sprechen, wofür sie ihm insgeheim dankbar war.) Vielleicht ist mein Geschmack etwas ungewöhnlich, aber ich kann nicht einsehen, wieso eine Frau in der Blüte ihrer Jahre wie eine Bohnenstange aussehen sollte.
Silva lächelte sich im Spiegel zu. Ein anderes Kleid, und gleich schien der Tag neu zu beginnen. So ging es ihr immer bei solchen Anlässen, Geburtstagen oder anderen Feiern. Zuerst nahm das Chaos der Vorbereitungen einfach kein Ende, doch dann kam der Augenblick, in dem der Festtag sich losriss vom Tag der Mühen. Als Silva ihr Kleid zuknöpfte, spürte sie, dass dieser Augenblick nun da war.
Sie nahm den Kamm und begann sich ohne langes Überlegen so zu frisieren, wie Gjergj es mochte, obwohl er weit fort war. Aber vielleicht tat sie es ja auch gerade deshalb, weil er in der Ferne herumreisen musste.
»Mami, wie schön du bist«, sagte Brikena, als Silva auf den Flur kam.
Silva lächelte ihrer Tochter zu, warf einen Blick zum Tisch hinüber, der nun plötzlich nicht mehr viel mit ihr zu tun zu haben schien, und wanderte ohne rechten Grund eine Weile durch die Wohnung. Sonst saß sie in der Stunde vor dem Eintreffen der Gäste am liebsten einfach da und wartete. Doch weil sie den Fehler begangen hatte, mit den Gästen keine feste Zeit zu vereinbaren, war ihr dieses Vergnügen nun genommen.
»Mama, ich habe den Braten aufgeschnitten, willst du einmal sehen?«, ertönte aus der Küche die Stimme ihrer Tochter.
Silva saß nun doch mit halbgeschlossenen Augen in einem Sessel im Wohnzimmer Der Tag war wirklich anstrengend gewesen, hatte sie doch diesmal auf Gjergjs Hilfe verzichten müssen. Wie gut, dass ich geduscht habe, dachte sie. Das Licht des Oktobernachmittags fiel aschgrau auf das Bücherregal, wo die Statuetten neben den Büchern, Andenken an ihre Zeit als Archäologin, jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung, Boten aus dem Reich der Schatten glichen, die sich unbemerkt herbeigeschlichen hatten. Doch genügte es, wenn jemand eintrat, das kleinste Geräusch, und im Nu büßten sie ihren Anschein geheimnisvoller Lebendigkeit ein und verwandelten sich zurück in Terrakotta oder Stein.
Brikena tauchte in der Zimmertür auf, zu lang und zu dünn für ihre dreizehn Jahre.
»Alles ist fertig, Mami. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Danke, Brikena. Setz dich doch jetzt ein bisschen zu mir.«
Das Mädchen nahm ihr gegenüber Platz.
»Wo Papa jetzt gerade wohl sein mag?«, sagte es.
Silva zuckte mit den Schultern.
»Am Himmel über einer Wüste oder beim Umsteigen auf irgendeinem Flughafen.«
Brikena wollte noch etwas fragen, doch Silva, deren Kopf auf der Sessellehne lag, hatte das Gesicht eines Menschen, der nach einem anstrengenden Tag nur noch Ruhe braucht.
Leise ging Brikena zum Bücherregal, nahm eines der Familienalben heraus und begann, zurück an ihrem Platz, darin zu blättern.
Silva hörte das Rascheln, und obwohl sie eigentlich ganz abzuschalten versuchte, fragte sie sich, auf welchem der Fotos der Blick ihrer Tochter nun wohl ruhen mochte. Jahre, Jahreszeiten, vor allem der Sommer, zuckten als wirre Collage durch Silvas Gedächtnis. Bei ihr zu Hause hatte man viel fotografiert, und an stillen Nachmittagen hatte sie sich gerne auf das Sofa gesetzt und in einem Album geblättert, so wie jetzt Brikena.
Das Rascheln der Seiten hatte aufgehört, und Silva konnte sich gut vorstellen, welche Konzentration jetzt im Blick des Mädchens lag.
»Was für ein Foto schaust du gerade an?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Von Tante Ana.«
Hatte sie es doch gewusst … Fast sicher war sie sich bei ihrer Frage gewesen. Alles in Silva gefror. Quälend durchdrang sie der Schmerz, den sie auch jetzt, elf Jahre nach dem Tod ihrer Schwester Ana, noch brennend empfand, sooft jemand diese erwähnte.
Schließlich war das Rascheln des Albums wieder zu hören, und ohne sich ganz im Klaren darüber zu sein, ob sie aus der Erstarrung, in die ihre Tochter sie ungewollt versetzt hatte, auch tatsächlich erwachen wollte, atmete Silva tief durch.
Es klingelte an der Tür, und diesmal waren es wirklich Gäste: Silvas Mutter und ihr Bruder mit seiner Frau. Schon immer eher schweigsam, war die Mutter nach Anas Tod vollends verstummt. Bei einem Essen oder einer Einladung konnte sie stundenlang am Tisch sitzen, ohne auch nur einmal den Mund aufzumachen, aber auch ohne jemanden mit ihrem Schmerz zu behelligen. Anders als üblich, lag in der Schwärze ihrer Trauer ein grauer Schimmer, etwas, das vielleicht weniger schwer zu ertragen, dafür jedoch unendlich raumgreifend war, erstreckte es sich doch gleichförmig über alle ihre Tage. Manchmal, wenn sie ihre Mutter so sah, empfand Silva, dass nur eine Trauer wie diese Anas würdig war.
Die Großmutter gab Brikena einen Kuss, überreichte ihr ein Päckchen, begrüßte dann Silva und ließ sich schließlich wortlos in ihrem gewohnten Sessel nieder.
»Kann ich dir etwas helfen, Silva?«, fragte die Schwägerin.
»Nein, danke«, antwortete Silva. »Brikena und ich sind schon mit allem fertig.«
Das Ehepaar nahm auf dem Sofa Platz, und Silva setzte sich den beiden gegenüber auf einen Stuhl.
»Draußen ist es grässlich kalt«, meinte die Schwägerin.
»Wirklich?«, sagte Silva und stand auf, um im Kachelofen noch Holz nachzulegen.
Schweigen trat ein, und Silva, die ihren Bruder aus den Augenwinkeln musterte, glaubte in seinem glatten Gesicht einen grämlichen Zug zu entdecken Dann merkte sie, dass er ihren Blick spürte, und sah weg. Gleich darauf nahm sie jedoch wieder diese Spur von Bitterkeit wahr, und sie überlegte, wieso ihr Bruder im Kreis der Bekannten eigentlich stets so wenig beachtet wurde wie heute seine Verstimmung. Er hatte die Militärakademie absolviert und war mittlerweile Panzeroffizier. Trotzdem wunderten sich noch immer fast alle, wenn sie feststellen mussten, dass Silva auch einen Bruder hatte. Damals, vor Anas Tod, war das noch schlimmer gewesen. Die beiden Mädchen, die bei jedermann nur »die Krasniqi-Schwestern« hießen, zehrten die gesamte Aufmerksamkeit der Leute auf, ohne für den Bruder auch nur das kleinste Restchen übrigzulassen. Wenn er erwähnt wurde, staunten die Leute wirklich: Was, ihr habt noch einen Bruder? Einen richtigen Bruder, von der gleichen Mutter? Einen richtigen Bruder!, antworteten sie vergnügt kichernd, denn es kam ihnen sehr lustig vor.
Auch jetzt, da Ana nicht mehr lebte, erinnerten sich viele Leute an die unvergessliche Zeit Anfang der sechziger Jahre, als die beiden Krasniqi-Schwestern überall nur gemeinsam auftauchten, obwohl Ana schon verheiratet war und Silva noch nicht. Den Bruder dagegen übersah man hartnäckig.
»Wann ist Gjergj denn weggefahren?«, fragte dieser, gleichsam in Abwehr ihres forschenden Blickes.
»Vor vier Tagen.«
»Es ist so schade für ihn«, meinte die Schwägerin.
»Da kann man nichts machen?«, antwortete Silva. Sie wusste, dass alle Gäste, die Mutter ausgenommen, das Gleiche gesagt hätten.
Wieder klingelte es. Es waren die beiden Lehrerinnen Brikenas mit ihren Kindern und mit Geschenkpaketen in den Händen. Während sie im Flur ihre Mäntel ablegten, erkundigten sie sich ebenfalls nach Gjergjs Abreise und meinten: Oh, wie schade!, als die Klingel wieder ging, diesmal ein wenig zaghaft.
»Wer ist es, Brikena?«, fragte Silva, als es im Flur still blieb.
»Veriana«, antwortete Brikena von draußen.
Silva stand rasch auf. Draußen auf dem Flur zog Veriana, rotwangig vor Kälte, zerbrechlich, Ana wie aus dem Gesicht geschnitten, gerade ihren Regenmantel aus.
Silva umarmte ihre Nichte zärtlich.
»Tante Silva, Papa lässt sich entschuldigen, er konnte sich nicht freimachen«, sagte das Mädchen.
»Ach, das tut mir aber leid. Und du bist ganz alleine hergekommen?«
»Ja, mit dem Bus.«
Silva nahm sie bei der Hand und führte sie ins Wohnzimmer.
»Guten Abend«, sagte Veriana.
Alle Blicke richteten sich mit schmerzlicher Neugier auf das Mädchen.
»Wie ähnlich sie doch der armen Ana sieht«, sagte eine der Frauen.
Veriana ging geradewegs zu ihrer Großmutter, die für sie auf dem Sessel ein wenig zur Seite rückte, und begann ihr liebevoll das Haar zu streicheln.
»Besnik hat zu tun und kann deshalb nicht kommen«, beantwortete Silva die unausgesprochene Frage der Gäste.
Jemand sagte: »Ach, wie schade«, aber vielleicht bildete sich Silva das auch nur ein, weil sie selbst so empfand.
Es tat ihr wirklich leid. Wegen Besnik hatte sie Skënder Bermema nicht eingeladen. Silva achtete stets sorgfältig darauf, die beiden niemals gemeinsam bei sich zu Gast zu haben, obwohl sie alle zwei sehr mochte. Besnik Struga stand ihr als der Mann ihrer verstorbenen Schwester natürlich näher, doch auf der anderen Seite verband sich mit Skënder Bermema die Erinnerung an ihre Jugendzeit, an die fast trunkenen Jahre kurz vor der Scheidung Anas von ihrem ersten Mann, als sie, ehe sie Besnik Struga kennenlernte und heiratete, in einer Beziehung zu Skënder Bermema gestanden hatte, die allen, Silva eingeschlossen, bis heute ein Rätsel geblieben war.
Genau der Nachmittag für Erinnerungen, hatte Silva noch vor einer Stunde gedacht. An Herbstnachmittagen wie diesem, vor allem vor Feiern oder Geburtstagen, ließ sie oft ihre Arbeit liegen und dachte, auf dem Fensterbrett sitzend, vor sich, wie ein Bühnenvorhang niedersinkend, die Dämmerung, an alles zurück: an Anas aufsehenerregende Scheidung von Frederik, an die endlosen Mutmaßungen der Leute, was die Gründe der Trennung anbetraf, an Skënder Bermemas absolut rätselhaftes Verhalten, obwohl doch sein Name in dieser Affäre ständig genannt wurde, auch in der Gerichtsverhandlung, die fast zur literarischen Tribüne geraten wäre, weil sich der Richter auf Frederiks mehr als alles andere lächerliche Verlangen hin tagelang mit der Interpretation einiger Seiten aus Skënder Bermemas Buch zu beschäftigen hatte, die sich, wie Frederik hartnäckig behauptete, auf Ana bezogen. Dann die spektakuläre Wende, als klar wurde, dass der Grund für Anas Schritt nicht Skënder Bermema war, in dessen Familie ebenfalls Aufregung herrschte, sondern die Bekanntschaft mit Besnik Struga und ihre wilde Entschlossenheit, ihn zu heiraten. Man wusste nicht genau, ob dies nun Frederiks Pein ein wenig linderte, seine Eifersucht besänftigte, mit der er jahrelang vor allem Skënder Bermema verfolgt hatte, den er für den Hauptschuldigen an der Unbeständigkeit seiner Frau hielt, oder ob im Gegenteil das Auftauchen eines anderen die Empörung des betrogenen Ehemanns eher noch steigerte. Silva hatte nie den Wunsch verspürt, an etwas zu rühren, das ihrer festen Meinung nach besser im Dunkeln blieb. Was sie an dieser Geschichte neben Anas Scheidung am meisten bekümmert hatte, war eben die abgekühlte Beziehung zwischen Besnik und Skënder Bermema. Silva litt sehr darunter, nicht nur, weil sie alle zwei mochte, sondern auch, weil genau das die beiden Menschen waren, mit denen sie nach dem Tod ihrer Schwester die Erinnerungen an Ana am engsten verband. Merkwürdigerweise war es zu dieser Abkühlung gerade in dem Moment gekommen, als man sie eigentlich am wenigsten erwartet hätte, nämlich nach Anas Tod.
Was mochte der Grund dafür sein? Es wäre Silva nur normal erschienen, wenn Ana die Ursache der Entfremdung gewesen wäre, so wie sie es auch für normal gehalten hätte, wäre Besniks Trennung von seiner Verlobten schuld daran gewesen, die immerhin eine Nichte von Skënder Bermemas Frau war. Beide Mutmaßungen erschütterte jedoch die Tatsache, dass die zwei auch nach Besniks Zerwürfnis mit seiner Verlobten und nach dem Skandal um Ana kurz darauf noch Umgang miteinander gehabt hatten.
Obwohl offensichtlich weder im einen noch im andern die Ursache für die Abkühlung gesucht werden durfte, erschien es Silva gleichwohl müßig, nach einem dritten Grund zu suchen. Sie hatte sich lange den Kopf zerbrochen, bis sie zu dem Ergebnis gelangt war, dass beide, also ihre Schwester und Besniks Exverlobte, wenn nicht einzeln, so doch gemeinsam die Ursache waren. Denn wenn auch nicht jede für sich, so überschritten doch beide zusammen das Maß des Erträglichen. Skënder Bermemas Frau hätte das Getuschel über ihres Mannes Beziehung zu Ana wohl noch einigermaßen geschluckt, so wie später auch den Umgang ihres Gatten mit dem Exverlobten ihrer Nichte, nachdem die Trennung bereits vollzogen war. Doch als beides zusammenkam, als Besnik Struga, nachdem er sich von ihrer Nichte getrennt hatte, ausgerechnet die Frau heiratete, deren Name schon lange im Zusammenhang mit ihrem Mann genannt wurde, da war Skënder Bermemas Frau, und wahrscheinlich zu Recht, die Verwirrung wohl endgültig unerträglich vorgekommen. Was dann, so schien es, letztlich zum Bruch geführt hatte.
Plötzlich fiel Silva ein, dass sie ja ihre Gäste allein gelassen hatte, und sie beeilte sich, wieder ins Wohnzimmer zu kommen. Doch schon von der Tür aus konnte sie feststellen, dass man sich dort in eine lebhafte Unterhaltung vertieft hatte, so dass ihre Abwesenheit gar nicht aufgefallen war. Leise ging sie zu der gläsernen Balkontür, hinter der die Dämmerung rasch herabsank. Da stand er, der Topf mit dem Zitronenbäumchen, den der Fremde von der Gärtnerei gebracht hatte: sein erster Abend auf dem noch unvertrauten Balkon. Die Türklingel riss Silva endgültig aus ihren Gedanken. Es waren Gjergjs Schwestern, »die Herde«, wie er die vier zu nennen pflegte, von denen drei schon verheiratet waren, während die vierte noch Medizin studierte.
Der Flur füllte sich mit Stimmen, Armen, die sich rudernd von Mänteln befreiten, und dem Lärm der Kinder, die Geschenkpakete trugen.
»Puh, ist es kalt draußen!«, meinte eine der Schwestern.
»Wirklich?«
»Ein Temperatursturz. Aber ihr habt es ja schön warm.«
»Wie schade, dass Gjergj nicht da ist! Konnte er die Reise nicht verschieben?«
»Unmöglich«, antwortete Silva. »Darauf hat er keinen Einfluss.«
»Es ist schon verständlich«, sagte die Jüngste der Schwestern. »Außerdem pfeifen es ja bereits die Spatzen von den Dächern, dass die Sache mit China einen Punkt erreicht hat …«
»Bitte, hier herein«, sagte Silva und wies auf die Wohnzimmertür.
In der Wohnung ging es auf einmal eng und fröhlich zu. Silva musste fast lachen, als sie im Flur die Garderobe mit all den neben- und übereinander gehängten Mänteln sah. Sie nahm ein paar kleine Plüschjacken, die rittlings auf den Mänteln und Trenchcoats der Erwachsenen zu hocken schienen, und warf sie im Zimmer ihrer Tochter auf die Couch.
Dann ging sie in die Küche zurück, um einen Blick auf die Tafel zu werfen, die im kalten Funkeln ihrer Löffel und Gläser keinerlei Beziehung zu dem die Wohnung erfüllenden Lärm zu haben schien. Für ihr müßiges Herumgerenne hatten sich die kleineren Kinder mittlerweile vom Wohnzimmer durch den Flur in Brikenas Zimmer eine erste Route geschaffen. Im Wohnzimmer war die Unterhaltung nun in vollem Gange, so dass keine akute Gefahr der Langeweile bestand. Von der Tür aus stellte Silva fest, dass nur ihr Bruder sich nicht am Gespräch beteiligte. Sie rückte einen Hocker neben ihn.
»Was hast du, Arian?«, fragte sie sanft. »Du siehst bekümmert aus.«
»Mir fehlt nichts, Silva.«
Aus der Nähe war ein scharfer Zug in seinem Gesicht zu entdecken.
»Natürlich fehlt dir etwas! Ich sehe doch sofort, dass du etwas hast.«
Er wandte ihr das Gesicht zu und lächelte sie auf eine eigenartige, schmerzlich erstaunte Art gleichsam fragend an: Seit wann ihr? Silva empfand ihr Schuldgefühl fast physisch. Dass er sich mit schweren Sorgen herumschlug, war nicht zu übersehen, er, der als Bruder zweier Schwestern, die voller Probleme steckten, selbst nie Anspruch auf eigene Nöte gehabt zu haben schien.
Silva wurde ans Telefon gerufen und stand auf.
Als sie dann alle an der Tafel Platz genommen hatten und das gedämpfte Klappern von Messern und Gabeln davon zeugte, dass das Abendessen nun wirklich begonnen hatte, atmete Silva erleichtert auf. Sie stellte fest, dass sie neben Arian zu sitzen gekommen war. Wahrscheinlich würde sie sich nicht noch einmal nach der Ursache seiner Verstimmung erkundigen, die ihr, je länger sie damit umging, desto normaler erschien (es gab schließlich genug Gründe für einen Mann, verstimmt zu sein), also würde sie vermutlich nicht mehr darauf zu sprechen kommen, schon gar nicht heute Abend … Doch dann nahm sie, ohne es zu wollen, aus den Augenwinkeln wahr, dass ihr Bruder, ganz gegen seine Gewohnheit, nacheinander zwei Gläser Raki hinunterstürzte. Es war eigentlich gar nicht das Trinken selbst, das ihr auffiel, sondern die Bewegung seiner Hand, die Art, wie er den Kopf wieder in die Senkrechte brachte, nachdem er das Glas geleert hatte, und ganz besonders die Geste, mit der er dieses wieder auf den Tisch stellte. Alles hatte etwas Schroffes, Deprimiertes, etwas, das zu den Worten passte: »Letzten Endes kann man sowieso nichts dagegen tun.«
»Du hast doch etwas, Arian«, sagte ihm Silva mit sanfter Stimme ins Ohr.
»Und?«, antwortete er ruhig. »Nehmen wir einmal an, ich hätte wirklich ein ernsthaftes Problem. Würde ich es dann ausgerechnet dir erzählen, und das auch noch heute Abend, teure Schwester?«
Mehr noch als über seine Worte wunderte sich Silva über das verächtlich-ironische Funkeln in seinen Augen. Es gehörte zu jener Art von zänkischer Ironie, die gerade deshalb so gallig wirkt, weil sie offensichtlich nicht nur dem Angesprochenen allein gilt.
»Und warum nicht?«, fragte sie.
Nun, da er sie nicht mehr ansah, empfand Silva die Bitterkeit in seinem Blick eher noch stärker.
Was mag er nur haben?, überlegte sie, und wieder stachen Schuldgefühle direkt in ihr Herz. Musste wirklich erst etwas Schlimmes geschehen, ehe sie ihm endlich die gebührende Aufmerksamkeit entgegenbrachte?
»Ich möchte dich nicht belasten, Silva«, sagte er. »Ich habe noch mit niemand darüber gesprochen.«
Unwillkürlich wanderte Silvas Blick hinüber zu Arians Frau, die gerade mit Gjergjs kleiner Schwester fröhlich anstieß. Hatte es womöglich mit ihr zu tun? Einen Augenblick lang starrte sie die Schwägerin an. Bestimmt hat es mit ihr zu tun, überlegte sie. Eifersucht, aber sie weiß nichts. Wie sonst ließ es sich erklären, dass bei ihr keine Spur von der Verstimmung ihres Mannes festzustellen war?
»Hat es etwa mit Sonja zu tun?«, fragte sie, und sofort tat es ihr leid.
»Mit Sonja?«, fragte er verblüfft. »Wie kommst du denn darauf?«
Also etwas anderes, Schwerwiegenderes, dachte Silva und war selbst überrascht, dass ausgerechnet sie, die in einer Familie groß geworden war, in der die hauptsächlichen Probleme immer von den Frauen ausgegangen waren, etwas anderes für schwerwiegender halten konnte.
Ein neuer Sturm von Glück- und Segenswünschen fegte über den Tisch.
»Du sollst doch nichts vor mir verheimlichen«, sagte Silva und legte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Mitleid mit dem Bruder wuchs ins Erstaunliche.
Er wandte ihr das Gesicht zu, und seine Augen neben ihrer Schläfe entluden Schmerz.
»Ich werde es dir sagen, weil du so hartnäckig bist, Silva, obwohl ich mir eigentlich das Gegenteil geschworen habe.« Eine Weile lang drehte er sein Glas in der Hand, wobei er es anstarrte, als verdiene das glatte, durchsichtige Gebilde höchste Bewunderung. »Dann sag ich es dir eben, wenn du schon so bohrst. Es ist möglich, oder fast sicher, dass ich demnächst aus der Partei ausgeschlossen werde. Aus der Armee sowieso.«
Silva wäre fast die Gabel aus der Hand gefallen.
»Das ist doch nicht möglich!«, flüsterte sie. »Aber warum denn?«
»Frag mich nicht, Silva, bitte. Das ist eine ganz verflixte Geschichte.«
»Das ist doch nicht möglich!«, sagte sie wieder, diesmal mehr zu sich selbst.
»Eine ganz verflixte Geschichte ist das«, wiederholte er. »Aber was soll’s? Außerdem ist es nichts, was euch wehtun könnte.«
»Wie redest du nur daher!«, sagte Silva. »Schämst du dich nicht, Arian!«
Bitter lächelnd, stocherte er mit der Gabel auf seinem Teller herum.
»Warum nur?«, stieß Silva wieder hervor. »Was ist das bloß für eine dumme Sache?«
Schweigend starrte er eine Weile auf seinen fast unberührten Teller, als sei dort Rat zu finden, ob er sich seiner Schwester nun offenbaren sollte oder nicht.
»Beim letzten Manöver habe ich einen wichtigen Befehl des Stabes gebrochen, oder besser gesagt, ich wollte ihn nicht ausführen«, sagte er schließlich.
Jetzt ist es also heraus!, dachte Silva. Im ersten Moment kam es ihr weniger schrecklich vor, als zu befürchten gewesen war. Er schien ihre Gedanken zu erraten, denn er fuhr fort:
»Im Kriegsfall wird man dafür erschossen. Weil Frieden ist, wirft man mich aus der Armee. Damit hat es sich dann aber. Ich glaube nicht, dass noch etwas nachkommt.«
Silva holte tief Atem. Was sollte noch nachkommen?
Wieder stocherte er auf dem Teller nach einem Fleischstück, doch die Gabel glitt kraftlos davon ab. Silva tat das Herz weh.
»Werden noch andere bestraft?«
»Drei oder vier Offiziere der Panzereinheit. Alle, die sich weigerten, den Befehl auszuführen.«
Noch einmal versuchte er, etwas vom Teller zu nehmen, dann ließ er es sein und füllte das Glas.
»Aber warum hast du das getan?«, fragte Silva.
»Was?«
»Also … den Befehl. Warum hast du ihn gebrochen?«
Er sah sie an, und in seine Augen trat ein harter Schimmer.
»Frag mich nur das nicht. Ich sage es dir auf keinen Fall.«
»Schon gut, schon gut«, meinte Silva. »Was geschehen ist, ist geschehen, daran lässt sich jetzt auch nichts mehr ändern. Reg dich nicht auf.«
Er hob das Glas und trank.
»Eine letzte Frage noch«, sagte Silva. »Fühlst du dich schuldig?«
»Kein bisschen«, antwortete er.
Eine Weile starrte Silva auf den Tisch. Sie wusste nicht genau, war es nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass er sich für unschuldig hielt.
»Vergiss das jetzt«, sagte er und hob das Glas. »Prosit, auf Brikenas Gesundheit, und alles Gute!«
»Zum Wohl«, erwiderte Silva. »Auch für dich.«
Er machte eine Geste, die wohl ausdrücken sollte: Für mich ist die Sache gelaufen, kümmert euch nicht mehr darum.
Silva stellte das Glas ab und ließ ihren Blick über die Tafel schweifen. Nichts hatte sich am Gang des Essens verändert, seit sie zum letzten Mal darauf geachtet hatte. Es wird schon nicht so schlimm sein, sagte sie sich und versuchte, nicht mehr an ihren Bruder zu denken. Alle waren vergnügt, der Rotwein glitzerte nagellackfarben in den Gläsern, Geschnatter und Gelächter begleitete harmonisch das Öffnen der Sprudelflaschen. Schwer vorstellbar nach einem solchen Festmahl, wie hartnäckig das Böse doch sein konnte.
Plötzlich wachte Silva auf. Zuerst meinte sie, es dämmere bereits, doch dann stellte sie fest, dass es nur der Mond war, der das Fenster mit einem monotonen, eisigen Glanz erhellte. Brrr, kalt!, dachte sie und begriff im gleichen Moment, dass sie gerade wegen dieser Kälte aufgewacht war. Sie tastete nach dem Knopf der Nachttischlampe und machte Licht. Es war Viertel nach vier. Eine Zeitlang lag sie bewegungslos da, die Augen gegen die nackte Zimmerdecke gerichtet. Dann fror sie wieder. Die Fensterscheiben waren beschlagen. Draußen herrschte sicher Frost. Sie dachte an Brikena und Veriana, die drüben im anderen Zimmer schliefen.
Schnell stand sie auf, legte sich eine Strickjacke um die Schultern und ging leise auf den Flur hinaus. Die Zimmertür stand halboffen. Silva stieß sie vorsichtig auf und trat ein. In dem bläulichen Schimmer, der von draußen hereindrang, entdeckte Silva die Schöpfe beider Mädchen auf dem gleichen Kissen. Offensichtlich hatte Veriana in der Nacht wegen der Kälte die Couch, auf der Silva ihr eine Schlafstatt bereitet hatte, verlassen und war zu Brikena unter die Decke gekrochen. Silva lächelte vor sich hin. Wie sie so vor dem Bett stand und auf die friedlichen Gesichter der Mädchen hinunterschaute, musste sie an ihre Mutter denken, die stets zu sagen pflegte, schlafende Menschen dürfe man nicht betrachten. So strich sie das Federbett über den Schultern der beiden Mädchen glatt, nahm dann eine Decke vom Sofa und breitete sie vorsichtig darüber aus.
Auf Zehenspitzen ging Silva in den Flur hinaus, doch irgendetwas hielt sie davon ab, ins Schlafzimmer zurückzukehren. Stattdessen machte sie kehrt, um noch einen Blick auf den Ort des Abendessens zu werfen. Im Schein der Lampe, der nun bei Nacht wie üblich kräftiger wirkte, stand der Tisch noch genauso da, wie er nach dem Essen zurückgelassen worden war. Platten, Teller und Gläser standen herum, manche leer, einige noch nicht, gerade so, wie die Gäste sie zurückgelassen hatten, als sie zum Kaffeetrinken ins Wohnzimmer gegangen waren. Eine Weile betrachtete Silva die Tafel, als versuche sie sich zu erinnern, wo die einzelnen Gäste gesessen hatten. Wie lange das Abendessen schon zurückzuliegen schien. Sie sah Arians fast unberührten Teller und seufzte. Obwohl sie keine Müdigkeit mehr spürte, war sie doch nicht fähig, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Sie starrte auf die Teller und Gläser, und Gesprächsfetzen, mit Scherzen und Gelächter vermischt, fielen ihr wieder ein, die über diese Menge an Porzellan, all dieses Gläserne hinweggeweht waren. In einem Teil der Unterhaltung, und zwar jener, bei dem das Lachen nur oberflächlich Sorge kaschiert hatte, war es um die Beziehungen zu China gegangen. Jemand vertrat die Meinung, in letzter Zeit sei zwar eine gewisse Zuspitzung festzustellen, so wie vor einigen Jahren während der Kulturrevolution schon einmal, doch werde sich dies schon wieder einrenken, die dunklen Wolken würden sich wieder verziehen. Ein anderer widersprach: diesmal sehe es ernster aus, und die Krise sei nicht so leicht zu beheben. Die Annäherung der Chinesen an die Amerikaner konnten wir doch unmöglich akzeptieren. Die Krise war also vorauszusehen. Silvas Blicke flogen blitzschnell auf dem Tisch hin und her, als versuche sie die Flugbahnen von Rede und Gegenrede nachzuvollziehen, die rasch und fließend erfolgt waren. Ein paarmal hatte Silva einen Blick von Arian aufgefangen, der die Debatte mit dem unverhohlen abschätzigen Lächeln eines Mannes verfolgte, der besser Bescheid weiß und sich gerade deshalb heraushält.
Die Krise war doch vorauszusehen, wiederholte einer der Schwäger. Der zweite wies darauf hin, dass die Beziehungen zu China, anders als das Verhältnis zu den Sowjets, das schlagartig und endgültig in sich zusammengebrochen war, noch niemals anders denn als heikel hatten bezeichnet werden können, so dass auch die jüngste Krise nicht überraschend gekommen war. Erinnerst du dich, dass wir dieses Thema schon einmal hatten, damals, als das Volkstheater während der Kulturrevolution Tschechows »Möwe« aufführte? Silva konnte sich sehr gut daran erinnern. Ein Winternachmittag, man rechnete mit Schnee. Ganz Tirana redete nur noch von der Vorstellung. Die Vorbereitungen der Leute auf den Theaterbesuch, das Klingeln der Telefone, alle waren aufgeregt: Findet die Premiere auch wirklich statt, heute Mittag hieß es noch, sie wird abgesetzt? Dann, schon im Theater, an der Garderobe, wieder Getuschel mit Bekannten. Die Chinesen, erzählte man sich, hätten interveniert, um eine Absetzung zu erwirken (in China war Tschechow ebenso wie Shakespeare verboten), einige Beamte im Ministerium für Bildung und Kultur seien sogar ihrer Meinung gewesen. Dennoch, die Premiere wurde zu aller Freude doch gegeben … Schon damals hat sich gezeigt, dass wir und die Chinesen ganz verschiedene Auffassungen haben, sagte Sonja. Wenn es nach mir ginge, dann hätten wir mit diesen Chinesen schon lange Schluss gemacht, meinte Gjergjs kleine Schwester. Ich kann schlicht und einfach ihre Gesichter nicht mehr sehen. So leicht ist das nun auch wieder nicht, antwortete einer der Männer. Es geht doch nicht um die Gesichter … Genau, für ihre Gesichter können sie nun wirklich nichts, warf ein anderer ein. Ich bin nicht mit den Leuten einverstanden, die sich angewöhnt haben, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu demonstrieren, wie wenig sie von ihnen halten. Immerhin sind sie ein großes Volk mit einer beeindruckenden Kultur … Trotzdem, China ist und bleibt ein Mysterium, fuhr der andere fort. Wenn ihr Chinas Politik verstehen wollt, hat Zhou Enlai einmal gesagt, dann müsst ihr in Bejing ins Theater gehen … Auf der Bühne wimmelt es von unergründlichen Symbolen, Affen, Schlangen …
Silva begann Teller und Gläser abzuräumen, als wolle sie damit zugleich auch die Reste dieser Unterhaltung fortschaffen. Rasch war der halbe Tisch leer. Sie nahm Arians Teller, und wieder versetzte es ihr einen Stich im Herzen, als sie das fast unberührte Bratenstück sah, von dem die Gabel nur ein paar Fasern abgezupft hatte. Oh, wenn er das alles nur gut übersteht!, dachte sie.
Das vertraute Plätschern des Wassers im Spülbecken lenkte sie ein wenig ab. Ganz in Gedanken hatte sie damit begonnen, die Teller abzuwaschen, doch dann wurde ihr klar, was für ein Unsinn dies morgens um halb fünf war, und sie hörte wieder auf damit.
Silva fror und knöpfte ihre Strickjacke zu. Auch hier in der Küche waren die Fensterscheiben beschlagen. Draußen muss es wohl Frost geben, dachte sie, und plötzlich fiel ihr wieder ein, was der Mann von der Gärtnerei am Nachmittag über das Zitronenbäumchen gesagt hatte: Bei Frost muss man es abdecken, sonst erfriert es über Nacht. Die Vorstellung, bei dieser Kälte auf den Balkon hinauszumüssen, erschien ihr verrückt, aber als sie im Flur das Licht löschte, um zurück ins Schlafzimmer zu gehen, blieb sie dann doch an der Tür stehen. Irgendetwas musste sie auf jeden Fall tun. Schließlich machte es keine große Mühe, ein kleines Zitronenbäumchen zuzudecken. Kurz entschlossen ging sie ins Zimmer und öffnete das obere Fach des Kleiderschranks, um einen großen Plastikbeutel hervorzuholen, den sie, wie sie sich entsann, im Sommer dort verstaut hatte. Da bist du ja!, sagte Silva und zerrte daran, als ihr jäh wieder einfiel, dass der Plastikbeutel voll gestopft war mit allen möglichen Sachen, die sie eigentlich gar nicht mehr brauchte, von denen sie sich aber trotzdem nicht trennen konnte. Ein wenig verdrossen über das unerwartete Hindernis, begann sie Stück für Stück auszupacken. Da waren Röcke und Blusen von Brikena, aus denen sie längst herausgewachsen war, ein weites Strickkleid, das Silva während ihrer Schwangerschaft getragen hatte, ein bisschen Spitze, etwas Seidengarn, ein paar Knäuel bunter Kaschmirwolle, die von irgendwelchen Pullovern übriggeblieben waren, dazu noch allerlei Kleinkram, alles zart, hübsch, ein wenig verloren und seltsam sehnsuchterweckend.
Silva warf einfach alles auf einen Haufen, um es dann am Morgen aufzuräumen, ging auf den Flur hinaus und zog sich, bevor sie die Balkontür öffnete, noch den Mantel über.
Auf dem Balkon war es wirklich sehr kalt. Der bernsteinfarbene Schimmer eines in einsamer Stille ausgezehrten Mondes machte die Kälte noch eisiger. Die Blätter des Zitronenbäumchens waren wie verzaubert von diesem wächsernen Glanz, der ringsum hoffnungslose Benommenheit verbreitete. Fast bestürzt hob Silva den Kopf. Was war das nur für ein schrecklich flacher, wie aus einem fremden Universum entlehnter Himmel? Sie zitterte innerlich bei dem Gedanken, dass Gjergj womöglich gerade dabei war, diese tückische Fläche mit dem Flugzeug zu überqueren.
Das Zitronenbäumchen wäre heute Nacht bestimmt erfroren, wenn ich es zuzudecken vergessen hätte, dachte sie. Vorsichtig stülpte sie die Hülle wie eine Kapuze über die kleine Krone und freute sich, dass die Tüte nicht nur die ganze Pflanze, sondern auch noch einen Teil des Topfes bedeckte. Die Plastikfolie hüllte die Zitrone in verträumten Nebel.
Silva schickte sich an, wieder hineinzugehen, doch irgendetwas hielt sie noch für einen Augenblick auf dem Balkon fest. Es war die wächserne Maske des Himmels, deren Lockung sie sich nur schwer entziehen konnte.
Als sie dann drinnen wieder in das immer noch schlafwarme Bett kroch, hörte sie nicht auf zu zittern, und zwar weniger wegen der Kälte als wegen dieser entsetzlichen Leere. Sie konnte nicht einschlafen. Immer kunterbunter wirbelten ihr Sätze, die während des Abendessens gefallen waren, durch den Kopf, Spekulationen über das künftige Verhältnis zu China, die Probleme ihres Bruders. Wollt ihr China verstehen, dann geht in Bejing ins Theater … Es wimmelt da von grässlichen Symbolen, Affen, Schlangen … Silva wälzte sich im Bett. Affen, Schlangen, dachte sie wieder und spürte, wie in ihrem Gehirn etwas feste Form anzunehmen versuchte. Ach ja, etwas, das sie vor Jahren aus Besnik Strugas Mund gehört hatte. Es ging um Schlangen, die er, wie man im Traum ein Unglück vorausschaut, kurz vor dem Bruch mit den Sowjets im Sumpf von Butrint gesehen hatte. Verstehst du, ich war nie abergläubisch, hatte Besnik gesagt, aber als sich die Dinge mit der Sowjetunion dann überschlugen, musste ich immer wieder an diese Schlangen denken. Und weißt du auch, was mir dann ein paar Monate später, nach dem endgültigen Bruch mit den Sowjets, passiert ist? Dann berichtete Besnik Struga, wie er am Abend eines Festtags, oder genauer, am Abend des ersten Nationalfeiertags nach dem Bruch, gerade auf der Straße unterwegs gewesen war, als sich der Himmel mit dem langersehnten und eben frisch aus China eingetroffenen Feuerwerk gefüllt hatte, über das man schon seit Tagen redete. Mit in den Nacken gebeugten Köpfen standen die Menschen da, belustigt und zugleich verwirrt von diesem Feuerwerk, das, wie man erwähnen muss, anders war als sonst, ein ziemlich fremdartiges, vergilbtes, schrill pfeifendes Feuerwerk, bei dem man fast den Eindruck haben konnte, die Raketen unterhielten sich miteinander: Was ist das nur für ein Land, dort, hier, da unten …? Und nicht genug, nach ständigem Krachen und Blitzen tauchten am Ende auch noch Feuerschlangen wie aus der chinesischen Mythologie am Himmel auf, hingen in der Luft und zuckten, bis sie dann nach und nach erloschen und dem Himmel nur tiefe Schwärze hinterließen. Die Leute riefen: »Schlangen! Schlangen!«, und ich dachte mit klopfendem Herzen: Was für ein böses Omen! Wieder Schlangen! Und denke, Silva, es war der erste Feiertag nach diesem denkwürdigen Kälteeinbruch.
All dies ging Silva durch den Kopf, wie sie so, in ihre Decken gehüllt, dalag, und zum x-ten Male fragte sie sich, warum diese Reise ausgerechnet jetzt hatte sein müssen. Sie sah die schwarze Aktentasche mit den Geheimdokumenten vor sich, um derentwillen sie in dieser Nacht durch die halbe Welt getrennt waren. Was mochte sich wohl in dieser Tasche befinden, die Gjergj durch den Himmel beförderte, ebenfalls ohne zu wissen, was darin verschlossen war? Diese Reise … Sie dachte daran, wie überraschend der Auftrag zur Reise gekommen war, wie man ihn ins Ministerium beordert hatte, wie er sich eiligst sein Visum hatte besorgen müssen. Die Erkenntnis, dass man ihm etwas Außergewöhnliches anvertraut hatte, machte sie nicht eben fröhlicher. Besser, er wäre nicht gefahren, dachte sie erneut, und beim Einschlafen trudelten in einem Knäuel Besnik Strugas Schlangenfeuerwerk, des Bruders drohender Parteiausschluss und Gjergjs rätselhafte Aktentasche durch ihren Kopf. Ein paarmal wachte sie auf, doch im Zwielicht des Zimmers, vor dessen Fenster der Herbstmorgen graute, waren sie wie mit unsichtbaren Fäden aneinander gefesselt immer noch da.
Der Himmel, der in dieser Nacht Ende Oktober über der Erde hing, war unvorstellbar verlassen. Ein paar hundert landende und startende Flugzeuge, über all die Flughäfen verteilt, ein paar Milliarden Vögel, drei Meteoriten, die in der Verlorenheit des Ozeans niedergingen, ohne von jemand wahrgenommen zu werden, ein paar Spionagesatelliten, die in großem Abstand voneinander einsam ihre Bahn zogen. Doch selbst alles zusammen war noch schrecklich wenig im Vergleich zum Himmel über der Welt, der trübselig war und leer. Zusammengenommen besaßen die Vögel ein wenig mehr Gewicht und Volumen als die Flugzeuge, doch alle, Vögel, Flugzeuge, Meteoriten und Satelliten, waren vereint noch nicht genug, um auch nur einen kleinen Winkel des Himmels zu füllen. Dieser war wie ausgestorben. Keiner jener geschweiften Kometen, in denen die Menschen Unheilsboten sehen, zog nun, Ende Oktober, dort oben seine Bahn. Aber auch wenn sich tatsächlich ein geschweifter Komet an diesem Himmel gezeigt hätte, wäre die Geschichte des Himmels selbst unter Einschluss sämtlicher Vogelleben, Flugzeuge, Satelliten und Kometen, aber auch von Blitz und Donner aller Zeiten, dennoch armselig und unbedeutend gewesen im Vergleich zur Geschichte der Welt.
In der ungeheuren Leere dieses Himmels gingen die vereinzelten Signale eines Spionagesatelliten fast unter. Er übermittelte die Namen des chinesischen Politbüros, und zwar in der Reihenfolge des jüngsten Staatsakts: Mao Zedong, Zhou Enlai, Wang Hongwen, Ye Jianying, Deng Xiaoping, Chang Chunqiao, Wei Quoqing, Liu Bocheng, Jiang Qing, Xu Shiyou, Hua Guofeng, Ji Dengkui, Po Po, Wu De, Wang Dongxing, Chen Yonggui, Chen Xilian, Li Xiannian, Li Decheng, Yao Wengyuan, Wu Xueqian, Su Zhenhua, Ni Zhifu, Sajfudin, Song Qingling.
Angesichts der Dimensionen des Himmels, den sie durcheilten, waren diese Namen trotz all ihres Bestrebens, sich in Götternamen zu verwandeln, doch nur eine Hand voll erbärmlichen Staubes, und gleichermaßen erbärmlich nahm sich jene Liste von Machthabern aus, die durch die wüste Leere flatterte. Und doch mühten sich in Dutzenden geheimer Ämter Hunderte von Menschen, sie zu deuten, so wie man einst aus der Beobachtung von grässlich geschwänzten Kometen, Doppelsternen oder anderen Himmelszeichen Hinweise zu gewinnen versucht hatte. Über eine Hand voll Schriftzeichen gebeugt, die eben aus der Kälte des Himmels herabgeregnet waren, versuchten sie (durch den Vergleich mit früheren Listen) in ihrer Anordnung ein Zeichen, eine Weissagung oder Warnung auszumachen, was die Zukunft eines Teils der Menschheit, wenn nicht gar des gesamten Menschengeschlechts anbetraf.
Währenddessen rotierte die Erde mitsamt ihrem Himmel, ohne von alledem etwas zu ahnen. Zwei Meteoriten, die einander eine Verfolgungsjagd zu liefern schienen, gingen in irgendeinem Winkel des Ozeans nieder, ohne Spuren zu hinterlassen. Hunderte von Blitzen entluden sich in verschiedenen Teilen des Himmels, erschöpfte Vögel stürzten ab und starben, und mitten durch alles hindurch reiste der Brief eines kleinen Staates an einen großen Staat.
Dieser Brief befand sich in der Aktentasche des diplomatischen Kuriers Gjergj Dibra, der in dieser Nacht mit einer Passagiermaschine auf der Route Paris – Bejing unterwegs war. Seit einigen Stunden flog die Maschine über der Wüste Saudi-Arabiens dahin. Hätte undurchdringlich schwarze Nacht geherrscht, wäre das Gefühl der Verlassenheit für Gjergj Dibra leichter zu ertragen gewesen. Doch es war mondhell, und der sich unter dem Flugzeug gewaltig dehnende Hohlraum (doppelt freudlos, wenn man daran dachte, dass sich an ihn wieder ein leerer Raum voll taubem Sand anschloss) entblößte sich unglücklicherweise unter dem Licht des Mondes.
Mehrmals wandte sich Gjergj Dibra brüsk vom Flugzeugfenster ab, fest entschlossen, nicht mehr in diesen winselnd mondigen Schlund hineinzublicken, doch gleich darauf beugte er sich dann doch wieder zu der Scheibe hinüber. Ein gutes Dutzend Kilometer unter der Maschine wanderte der Mond über die wüste Fläche, als sei er ihr totes Auge. Ein Ausdruck kalter Ironie lag in diesem Auge, in dessen Netzhaut der Himmel geronnen war, so wie angeblich auf der Netzhaut eines Sterbenden das Bild seines Mörders erstarrt (schließlich war es ja der Himmel gewesen, der dieses Gebiet der Erde in Wüste verwandelt und damit getötet hatte).
Fast ruckartig zog Gjergj Dibra den Kopf vom Fenster fort, und weil ihm nichts Besseres einfiel, bestellte er bei der Stewardess Kaffee. Es war schon sein vierter, doch das war ihm egal. Auf Schlaf wagte er sowieso kaum zu hoffen.
Als er mit seinem Kaffee fertig war, kostete es ihn große Mühe, nicht aus dem kleinen Fenster zu blicken. Aber auch ohne den Blick nach unten blieb die Lockung der Wüste spürbar. Um sich abzulenken, versuchte er sich schon zum zehnten Mal vorzustellen, wie es nun zu Hause zuging, das Geburtstagsessen der Tochter, die Gäste. Er sah auf die Uhr. Das Abendessen müsste nun eigentlich vorbei sein, dachte er. Trotzdem konnte er es nicht lassen, sich Szenen auszumalen, Silva und Brikena, die durch die Wohnung eilten, einen Strauß frischer, ganz frischer Blumen auf dem Tisch, das Eintreffen fröhlicher Gäste und das Klingen der Gläser. Bestimmt hatten sie an ihn gedacht. Er versuchte sich in die Unterhaltung bei Tisch hineinzudenken, doch das war schwierig. Leichter als ihre Worte konnte er sich das Lächeln oder auch laute Lachen vorstellen. In Gedanken listete er die Gäste auf, die sich vermutlich eingefunden hatten: seine Schwestern samt ihren Ehemännern und Kindern, Silvas Bruder, ihre Mutter, Veriana, die Nichte, Besnik Struga … oder Skënder Bermema? Lange überlegte er, welcher der beiden wohl gekommen war. Eigentlich schien es unvorstellbar, dass einer fehlen sollte. Vielleicht sind ja doch alle zwei …, dachte er und näherte (es ging einfach zu schnell, als dass er sich noch hätte kontrollieren können) das Gesicht der Fensterscheibe. Der Nachtschlund ringsum dehnte sich im fahlen Licht des Mondes wie ein grässlicher Röntgenschirm. Bestimmt sind alle beide da, dachte er schläfrig. Alle menschlichen Leidenschaften erschienen so winzig und unbedeutend, wenn man diese ungeheure Leere vor sich hatte.
Eine Weile hielt er die Augen geschlossen. Seine Hand streichelte abwechselnd den Griff der Aktentasche und das Metallschloss mit dem roten Siegel des Außenministeriums darauf. Während all der Stunden dieser düsteren Reise hatte er die Mappe kein einziges Mal losgelassen. Er wusste, dass sich ungemein wichtige Regierungsdokumente darin befanden, nicht aber, welche.
Halb im Dösen versuchte er wieder zum Geburtstagsessen seiner Tochter zurückzufinden, doch irgendetwas stand zwischen ihm und den anderen. Es hielt ihn wie festgenagelt auf der Schwelle, ein wenig zaudernd, ein wenig fremd, kalte Wehmut in den Augen. Wenn er sich vorstellte, wie er bei seiner unerwarteten Heimkehr vor der Tür der Wohnung stand, in der Leute aßen, tranken und lachten, wenn er an die vertrauten Gesten dachte – die Klingel drücken, Silva und die Tochter umarmen, die Gäste begrüßen –, dann gab es immer einen Moment, in dem seine Hände ganz steif wurden und er all dies nicht mehr tun konnte. Er begriff schließlich, dass es an der Aktentasche lag, die er noch immer in der Hand hielt. Was hast du da in deiner Mappe, Gjergj?, schienen ihre Blicke zu fragen. Was ist darin eingeschlossen?
Gjergj schüttelte den Kopf und schlug die Augen auf. Er war tatsächlich eingedöst. Seine Hand, die sich im Schlummer noch fester um den Griff der Mappe geschlossen hatte, war eingeschlafen. Eine Weile saß er bewegungslos auf seinem Sitz, mühevoll gegen die Versuchung ankämpfend, einen Blick in den Abgrund der Nacht hinauszutun, und wieder fiel er in einen flachen Schlummer Die gleiche Collage von Bildern wie vorher (nur noch bruchstückhafter) stellte sich ein und brachte ihn zurück zum Geburtstagsessen der Tochter.
Und jedes Mal war es die Aktentasche, die ihn davon abhielt, einzutreten und an der Tafel Platz zu nehmen. Ich hätte sie nicht mitbringen sollen, schoss es ihm durch den Kopf, doch im gleichen Moment besann er sich auf die eherne Regel, die Tasche keinesfalls aus der Hand zu geben. Und der Gedanke beschäftigte ihn, dass es auf dem ganzen Erdball für diese Tasche keinen anderen Platz gab als seine Hand.
Als er die Augen wieder öffnete, nahm er seitlich vom Flugzeug, fern, sehr fern, womöglich im Zentrum des asiatischen Himmels, so etwas wie Risse wahr. Der Morgen war da.
Er erkundigte sich bei der Stewardess nach der augenblicklichen Flugposition und erfuhr, dass sie schon seit geraumer Zeit über China schwebten. Es dämmerte. Drunten, unter den Dunstschichten, dehnte sich der größte und älteste Staat der Erde. Gjergj starrte in den Abgrund, ohne etwas erkennen zu können. Drüben mühte sich ein rötlicher Klecks, die Sonne vielleicht, dem roten Siegel auf seiner Aktentasche erstaunlich ähnlich, über den Horizont zu steigen. Endlich glaubte er ein paarmal die Erde zu entdecken, doch ganz sicher war er sich nicht. Die Triebwerke des Flugzeugs stöhnten müde, und mit nach wie vor auf das Fenster geheftetem Blick fragte er sich: Wie kann man diesem Staat überhaupt Briefe bringen? Dann, verwundert über diesen plötzlichen Einfall, saß er eine Weile starr da, ein Bote aus uralter Mythologie, dem Reich der Tauben und Stummen Kunde bringend, und seine Augen suchten vergeblich die Erde, an deren Vorhandensein er schon fast nicht mehr glauben mochte.
Tatsächlich breitete sich elf Kilometer unter dem Flugzeugbauch die Erde Chinas aus, bewohnt von fast einer Milliarde Chinesen. Mehrere Milliarden weiterer Chinesen lagen unter der Erde, die meisten schon lange zu Lehm geworden. Von der einen Milliarde lebender Menschen befand sich nur einer ohne besonderen Grund unter der Erde, das heißt, er saß an diesem Herbstmorgen in einer Höhle. Das war der Vorsitzende des chinesischen Staates, Mao Zedong.
Schon seit ein paar Tagen saß er dort, ganz allein und fern von allem. Er wusste, immer wenn er in seiner Höhle Zuflucht suchte, versuchten alle, die davon erfuhren, den Grund herauszufinden. Er tut es aus Angst, sagten seine Feinde, so wie er während der Kulturrevolution in Löchern und Gräben herumgekrochen ist. Damals war das noch einigermaßen begreiflich, wandten andere ein, doch warum tut er es jetzt, nachdem sich alles wieder beruhigt hat? Vielleicht möchte er sich mit dem Sterben vertraut machen, meinten wieder andere, immerhin steht er schon lange an der Schwelle des Todes. Und der Rest zuckte einfach mit den Schultern: Vielleicht ist es das, vielleicht geht es aber auch um etwas ganz anderes, an das wir gar nicht denken. Er wird es schon selber wissen.
Ihm war seit langem nicht mehr klar, warum er es tat. Die speziellen Berichte über das Getuschel, das stets um seine Höhlenaufenthalte entstand, las er so aufmerksam, als seien dort die wirklichen Gründe zu finden, die er selbst schon längst vergessen hatte. Früh hatte er begriffen, dass es für einen Staatsführer am günstigsten ist, wenn die anderen seine Handlungen nicht verstehen und er selbst auch nicht. Es gab eine Unmenge von Erklärungsversuchen. Stets würden Leute in rätselhaftem Verhalten irgendeinen Sinn entdecken, und stets würden andere die entgegengesetzte Auffassung vertreten. Noch andere würden dann kommen, die beide Meinungen für korrekturwürdig hielten, und schließlich solche, die gegen alles waren, und so fort. Die Tat selbst jedoch würde im Schutz des Nebels der Unklarheit fortleben, wohingegen Hunderte klarer, logischer und nützlicher Handlungen in völlige Vergessenheit gerieten.
Die Berichte ließen darauf schließen, dass die Gerüchte um seine Höhlenaufenthalte großenteils mit Religion oder Mythologie zu tun hatten. Man mutmaßte, da er alles, was über der Erde gesprochen wurde, bereits wisse, wolle er nun auch erfahren, was unter der Erde gemunkelt wurde, wo seine Anhänger nicht in der Mehrheit waren. Im Großen und Ganzen gefielen ihm die Vermutungen, die sich in irgendeiner Weise auf die Mythologie bezogen, besser als jene, die auf Wirklichkeit abzielten. Die Vorstellung war ihm angenehm, ein Weilchen unter der Erde zu schlafen, um dann im Frühling wieder zu erwachen, so wie einst die alten Götter am Ende des Winters zusammen mit dem knospenden Gras wieder erschienen.
Dieser Zustand halben Totseins, den er in seiner Höhle auskostete, schien für ihn am geeignetsten. Ausgestreckt zwischen Sein und Nichtsein, von den Vorteilen des einen profitierend und die Tücken des anderen meidend, verbrachte er Tage ohnegleichen zwischen Paradies und Hölle. Das Denken vereinfachte sich bei dem Versuch, zu den Fundamenten des Bewusstseins hinabzusteigen. Ringsum waren nur Lehm und Steine, da befanden sich die Erde und er, der Leiter des größten Staates auf dem ganzen Planeten, in unmittelbarer Berührung miteinander, ohne irgendwelche Mittler, ohne Theorien, Bücher, Beamte dazwischen. Wo anders als hier hätte man den Begriff »Reich der Mitte« besser auskosten können? Die Tage flossen dahin, ein regelloses Durcheinander von Morgen und Abenden; ein Tag, der nur aus dem Nachmittag bestand, oder eine Nacht, der die Mitte fehlte oder die, umgekehrt, nur Mitternacht war wie ein Teller, auf dem allein das Herz einer Frucht serviert wird. Er schlief und erwachte, döste und schlief. Erwachte und erwachte wieder. Manchmal hielt er sich für tot, manchmal für neu belebt, manchmal meinte er unter Drogen zu stehen, manchmal dünkte er sich heilig.
Er hatte sich jede Störung verbeten, doch nun riss ihn ein Murmeln vom Eingang der Höhle her aus seinem Dämmerzustand. Wahrscheinlich waren es die Wachen, die ihm etwas mitzuteilen hatten. Was mochte geschehen sein? Krieg? Das Gewisper kam näher. Wenn sie es wagten, seine Ruhe zu stören, dann hatte sich wirklich etwas Wichtiges ereignet. Was ist los?, fragte er, ohne die Augen zu öffnen. Von einem Brief sprach man murmelnd. Ob sie denn nicht wüssten, dass er in seiner Höhle keine Briefe empfing? Doch sie fuhren fort zu murmeln, und aus dem Gemurmel hörte er den Namen Jiang Qing heraus. Ein Brief von ihr also. Legt ihn da hin, meinte er sich sagen zu hören, während er die Worte in Wirklichkeit nur dachte.
Ein Brief von dort, dachte er, als sei das Schreiben aus einer anderen Welt. Was ist nur los, haben sie denn immer noch nicht genug davon?
Zwischen dem Lehm und den Steinen der Höhle tauchte feindselig der fremde Brief auf. Wäre er nicht von seiner Frau gewesen, er hätte ihn nie geöffnet. Es dauerte lange, bis er so weit war. Ein kurzer Brief. Sie berichtete über die jüngsten Ereignisse in der Hauptstadt, über Zhou Enlais Krankheit, und am Ende erwähnte sie noch, der Chef Albaniens habe einen Brief geschickt …
Leichtfertiges Frauenzimmer, dachte er und sah von den Schriftzeichen auf. Hat man je von Briefen gehört, die unter die Erde geschickt werden?
Vom ganzen Erdball kommen Briefe,
doch unter die Erde steigen sie nie hinab …
Er wusste nicht ganz genau, ob er diese Verse gelesen oder sie sich selbst ausgedacht hatte.
Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass mir nichts verhasster ist, als hier unten Briefe zu bekommen. Und ihr, nicht nur, dass ihr mir trotzdem welche schickt, nein, ihr müsst darin auch noch andere erwähnen. Wirklich, von allen guten Geistern seid ihr verlassen dort oben.
Der Brief in seiner Hand raschelte, so dass er wieder darauf schaute.
Der Chef Albaniens hatte ihn also mit einem Brief beehrt. Einem offiziellen Brief ohne alle Glückwünsche an seine Adresse … Im Gegenteil, etwas Unangenehmes schrieb er ihm, etwas sehr Unangenehmes …
Die Schriftzeichen am Schluss waren die unerfreulichsten. Albanien war gegen den bevorstehenden Besuch des Präsidenten der USA in China und verlangte ziemlich unverblümt die Annullierung.
Mao Zedong schüttelte sich. Leichtfertiges Frauenzimmer, haderte er mit ihr, das hättest du mir gleich am Anfang schreiben sollen. Der Zorn, der sich unter anderen Umständen auf der Stelle seiner bemächtigt hätte, umkreiste ihn nun, ohne einen Zugang zu entdecken. Einzig seine kalte Glut war zu spüren, sonst nichts. Der Lehm und die Steine der Höhle hatten das Ihre getan.
Ein Brief aus Albanien, murmelte er ein paarmal vor sich hin. Ein Brief von weither also. Hm. Hm. Er spürte, dass es noch mindestens einen halben Tag dauern würde, bis er richtig in Wut geraten war. So lange hatte er Zeit, die Sache noch einmal in Ruhe zu durchdenken. Also aus Albanien kommt er, der Brief, dachte er, um seine Gedanken einigermaßen zu ordnen. Er versuchte, so einfach wie möglich zu denken, doch auch wenn er das Gegenteil gewollt hätte, es wäre ihm in diesen Höhlentagen nicht gelungen. Manchmal sprach er laut aus, was er dachte, als sei ihm daran gelegen, dass ihn der Lehm und die Steine der Höhle verstanden. Das war eine der Annehmlichkeiten des Aufenthalts hier. Der Höhle alles so einfach wie möglich zu erklären, damit auch sie in die Affären der Welt eingeweiht wurde. Der Brief kommt also von weither, dachte er, aus Albanien. Das ist ein kleines Land auf einem abscheulichen Kontinent, den man Europa nennt. Dort leben weiße Menschen, die wir nicht mögen und die uns nicht mögen. Albanien macht eine Ausnahme, denn immerhin ist es mit uns verbündet. Unser einziger Verbündeter auf diesem schauerlichen Kontinent. Und dieser Staat, der vielleicht ein Tausendstel der Größe Chinas hat, wagt es, mir einen Brief zu schreiben. Nicht irgendeinen, sondern auch noch einen unangenehmen Brief. Dieser Staat verweigert mir nicht nur den Gehorsam, er versucht sogar, mir seinen Willen aufzuzwingen. Dieses Land hat eine Strafe verdient. Und diese Strafe werde ich ihm erteilen.
Mao Zedongs Schläfen schmerzten. Offensichtlich ermüdete ihn diese plötzliche Gedankendichte nach so vielen Tagen der Selbstverlorenheit. Ich hätte den Brief langsamer lesen sollen, überlegte er und versuchte, seine Gedanken davon loszureißen und in die tibetanische Hochebene zu schicken, die ihm vielleicht gerade deshalb so besonders leer erschien, weil er nie dort gewesen war. Du solltest dem Dach der Welt einen Besuch abstatten, hatte seine Frau ihm mehrmals geraten. Du musst. Er hatte sie ausgelacht, eitel genannt, insgeheim aber doch über eine Reise dorthin nachgedacht. Eine Zeitlang hatte er sich sogar in die Lektüre des tibetanischen Bettelmönchs Milaraspa vertieft, dessen mit allen Schrecken des Himalaja angereicherter Verse er sich so dunkel entsann wie der Namen der Höhlen, in denen er Zuflucht gefunden hatte. Sogar ein paar tibetanische Begriffe fielen ihm wieder ein, die er sich extra wegen dieser Reise, die dann nie zustande gekommen war, von ihm hatte lehren lassen … Shos dbying, womit der Urzustand jenseits von Leben und Tod bezeichnet wurde, eine Art Chaos, das ihn stets angezogen hatte, dge-beu, die zehn guten Dinge, und mi-dge-beu, die zehn Übel, die er dann später, um sich nicht unnütz mit ihnen beschäftigt zu haben, in die Ratschläge an junge Kommunisten (die einen) und die Dienstordnung der Armee (die anderen) einbaute.
Shi-gnas, sagte er laut, wobei er allerdings spürte, dass er sich bei der Formel des Bettelmönchs, die ihn eigentlich hätte beruhigen sollen, umso deutlicher des Briefes erinnerte. Shi-gnas, sagte er wieder, um dann in Sanskrit zu wiederholen: Samatha