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Spiritistische Séancen im real existierenden Sozialismus? Eine erst verbotene und dann doch genehmigte Theaterpremiere? Eine französische Delegation auf Besuch? Für den Chef der örtlichen Staatssicherheit bedeuten die scheinbaren Anzeichen einer Tauwetterperiode etwas ganz anderes: Modernste, winzige Wanzen sollen zum Einsatz gebracht werden, die jedem staatsfeindlichen Geflüster auf die Spur kommen und sogar die Verfolgung und Gefangennahme eines Geistes möglich machen. ›Spiritus‹ erzählt eine phantastische Geschichte in einem äußerst realen Rahmen.
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Roman
Als Arian Vogli, Chef des örtlichen Geheimdienstes im kommunistischen Albanien, eine neue Generation modernster Wanzen zur Verfügung gestellt bekommt, genießt er das Hochgefühl totaler Kontrolle, die ihm damit verliehen wird. Die neuen »Ohren des Todes«, euphemistisch auch »Prinzessinnen« genannt, sind so winzig, dass man sie sogar in die Kleidung einnähen kann. Eines der ersten Opfer effektiver Kontrolle ist ein katholischer Priester, der heimlich eine Taufe vorgenommen hat. Und auch der Versuch des Ingenieurs Shpend Guraziu, der eine französische Delegation begleitet und einen Hilferuf ans Ausland richten will, wird vereitelt, denn kurz nach dem Treffen wird er von einem Bulldozer überrollt. Seine Wanze nimmt er mit ins Grab. Getreulich hat sie seine letzte Liebesnacht, den Todesschrei, das Poltern der Erde auf den Sarg und die abschließende Grabesstille aufgezeichnet. Unter dem Verdacht ausländischer Konspiration wird sein Leichnam exhumiert, um zu horchen, was »Prinzessin 017B« vernommen hat. Ein Toter soll wieder auferstanden, ein Geist von der Geheimpolizei ergriffen worden sein. Die Stimme des Ingenieurs, konserviert in einer Wanze, scheint ein ideales Geburtstagsgeschenk für den Führer zu sein, das allerdings seinen Überbringer zu ewigem Schweigen verurteilt.
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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
Erster Teil DAS CHAOS
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Zweiter Teil DIE ENTHÜLLUNG
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Dritter Teil DIE ABLAGERUNG
Wir gelangten von Osten her auf albanisches Gebiet, mitten im Winter. Die mazedonische Hochebene, die hinter uns zurückblieb, war im Frost erstarrt. Wir kratzten die Autoscheiben frei, und die Einheimischen, die uns in Empfang nahmen, meinten lachend, an den Temperaturen werde sich nichts ändern, bis wir in der Nähe der Hauptstadt seien.
Wir waren erschöpft und verzweifelt.
Seit Monaten zogen wir kreuz und quer durch das ehemalige kommunistische Imperium. Keiner begriff, was wir wollten, und jeder Versuch, es zu erklären, wäre von vornherein sinnlos gewesen. Es gab Tage, an denen wir selbst nicht wußten, um was es uns eigentlich ging.
Wir hatten kistenweise Dossiers und schriftliche Zeugnisse zusammengetragen. Es war ein einziger Alptraum: Pläne von Lagern und Gefängnissen, Briefe von Internierten, Geheimbefehle und natürlich eine Menge Zeitungsausschnitte. Eifrig klaubten wir alles auf, doch nur, um wenig später über uns selbst zu staunen, denn es war der immer gleiche, ganz gewöhnliche Kram. Schließlich wagten wir die Erkenntnis, die wir schon lange in uns herumtrugen, auch auszusprechen: Bei aller Unterschiedlichkeit der Länder und Völker, die ihn erlebt und erlitten hatten, war die Geschichte des Kommunismus doch von universaler Einheitlichkeit. So wie dieser Winter. Nun, da sich bereits der Schleier des Vergessens darüberlegte, wurde diese wüstenartige Eintönigkeit noch offensichtlicher.
Wir suchten etwas anderes. Etwas Besonderes, Zusammenfassendes, ein Ereignis oder Phänomen, in dem sich eine Wahrheit von solcher Weitläufigkeit bis an die Grenzen des Möglichen verdichtet fand. Nach unserer Überzeugung konnte es keine annähernd die Hälfte des Erdballs einschließende Schreckensherrschaft geben, bei der nicht Anzeichen einer neuen, noch nie dagewesenen, über die Grenzen dieses Lebens hinausweisende Qualität zu erkennen gewesen wären.
Gelegentlich befanden wir uns am Rande der Verzweiflung. Wie konnten wir angesichts der Tatsache, daß die Himmelskörper bei allen äußerlichen Unterschieden am Ende doch aus der gleichen Materie bestanden, darauf hoffen, ausgerechnet auf diesem Planetlein einen neuen Stoff zu entdecken, der auch noch aus dem 20. Jahrhundert stammte?
Jetzt, am Ende unserer Reise, sahen wir ein, daß wir zu viel Hoffnung auf den Schrecken gesetzt hatten, im irrigen Glauben, in seiner dichtesten Form vermöge er jenseits der Grenzen des Möglichen Ereignisse und Phänomene zu erzeugen, für die es auf dieser Welt noch keinen Namen gab. Wir stellten sie uns als Taten vor, die eigentlich nicht hätten geschehen dürfen, die aufgrund eines Versehens oder einer Unaufmerksamkeit durch die Sperren des Schicksals gelangt und nach entsetzlichen Geburtswehen aus dem finsteren Schoß der jenseitigen Welt geschlüpft waren, so wie Ödipus irrtümlich aus dem Bauch seiner Mutter, doch nur, um wieder in jene Finsternis zurückzukehren.
Wenn es überhaupt solche Komprimierungen gegeben hat, dachten wir manchmal, dann nur für einen kurzen Moment, und es war niemand da, der sie hätte bemerken können. Oder es bemerkte sie jemand, konnte aber nichts damit anfangen.
Es gab Tage, da dünkte uns, in kalten Gebieten, wo Schnee die Erde monatelang vom Licht der Sonne abschnitt, sei am ehesten zu finden, wonach wir suchten. An anderen Tagen schien uns das Gegenteil wahrscheinlicher. Bot nicht die sandige Wüste, die einst das Leben aus ihrem Bauch hervorgepreßt hatte, viel bessere Voraussetzungen? War nicht die unter der sengenden Sonne flirrende Luft stets bereit, trügerische Spiegelungen hervorzurufen?
Im ehemaligen Herrschaftsbereich des Kommunismus gab es alle Arten von Erde und Wasser. Den schläfrigen Sümpfen, über denen ein fahler Mond stand, schien nur noch wenig zu fehlen, bis sie imstande waren, Zeugnis abzulegen. Sehr wenig: vielleicht ein wenig Trauer, das Krächzen eines Raben, ein verlorener Schmuck. Aber auch sie gaben uns nichts.
Manchmal glaubten wir, das Übel, nach dem wir suchten, zeige sich nicht, weil wir nicht nach ihm greifen durften. Vielleicht mußte es auf dieser Seite der Erdkugel bleiben, um sie nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen oder eine Achsverschiebung zu bewirken.
All dies ging uns natürlich im Kopf herum, während wir tiefer in das Gebiet der Albaner vordrangen. Wohl wußten wir, daß es sich um ein uraltes Land der Legenden handelte. Doch nach all den Enttäuschungen, die wir in dem ausgedehnten Ex-Imperium bereits erlebt hatten, entzündete sein hinterster Winkel, Albanien, wahrhaftig nicht die Kerze der Hoffnung in uns.
Das Auto kroch eine Bergstraße hinauf. Links und rechts ließen dunkle Höhlen und Spalten die schneebedeckten Flächen wie tragische Masken erscheinen. Wir konnten nicht wegschauen, wahrscheinlich, weil wir den Eindruck hatten, es fehle nur noch wenig, bis sie auch noch zu sprechen anfingen.
In Albanien fanden wir im wesentlichen vor, was wir erwartet hatten. Höchstens, daß die Hotels noch ein Stück trostloser und die Cafés verräucherter waren.
Dauernd stolperten wir über Exkommunisten, auf denen der Kummer wie eine Staubschicht zu liegen schien. Auch die ehemaligen Häftlinge schüttelten ihre ergrauten Köpfe, doch schon nicht mehr zornig. Die meisten schienen zu erschöpft, sogar die Verrückten. Müde waren auch die vom Regime Enteigneten nach all den Gängen ins Rathaus, zum Anwalt und vor allem ins Katasteramt. In manchen der alten Grundbücher gab es noch Stempel von längst nicht mehr existierenden Staaten, manchmal sogar in einer fremden, nirgends mehr gebräuchlichen Schrift oder einer Sprache, die nicht zu den indoeuropäischen gehörte.
Mehr, um das Ritual einzuhalten, ein wenig aber auch, um unser Gewissen zu beschwichtigen, versuchten wir unseren einheimischen Begleitern zu erklären, was wir suchten. Wir hatten die Worte so oft ausgesprochen, daß sie uns allmählich anödeten: ein Ereignis, das so entsetzlich gewesen war, daß es einen Riß in der Mauer verursacht hatte, die unsere von der jenseitigen Welt trennte. Wenigstens einen kurzen Blick wollten wir hinüberwerfen. Drüben etwas sehen, das vom Stoff der Träume war. Entstanden durch qualvolle Schrumpfung. Unfaßbar für unseren Verstand. Sich selbst aufsaugend … während wir … also, wir … wir wollten versuchen, ihm eine andere Richtung zu geben … es von dort wegzuholen … der Finsternis zu entreißen.
Man sah, wie sie beim Zuhören regelrecht litten. Sie wollten uns wirklich helfen. Doch es war etwas in ihren Augen, eine Sperre, die dem glich, was wir auch in den Löchern und Schrunden im Schnee entdeckt zu haben glaubten.
Es dauerte ein paar Tage, bis sich der Erfolg einzustellen begann. Wir merkten es an dem, was sie uns mitteilten. Es war nun nicht mehr das übliche Zeug: Familiendramen, an denen der Staat schuld war, Psychosen vor Beginn von Terrorkampagnen als Folge wiederkehrender Phasen von etwas wie Selbstentzündung beim Diktator. Die Vorfälle, die man uns berichtete, wurden immer eigenartiger. Ein Mensch, den man tot geglaubt hatte, war nach langer Zeit wieder aufgetaucht. Genau wie in den alten Balladen. Natürlich, und das wußten alle, war der Tod, der ihn geholt und dann wieder entlassen hatte, nur eine Erfindung der Geheimpolizei. Wir wollten ihnen das Herz nicht brechen, deshalb verschwiegen wir, daß diese Geschichte bei allen kommunistischen Geheimdiensten vorgekommen war. In Tobolsk in Rußland, wo es zu den gebräuchlichen Foltermethoden gehörte, Lebende für mehrere Stunden zu einem frisch Verstorbenen ins Grab zu legen, war es gar zu einer Verwechslung gekommen. Man hatte den eines natürlichen Todes Gestorbenen statt des Gefolterten wieder herausgeholt, was allerdings erst nach mehreren Jahren bewiesen wurde, als die Angehörigen endlich die Erlaubnis zur Exhumierung erhielten.
Wir sammelten solche Ereignisse, besonders wenn sie die Erinnerung an uralte Verwünschungen wach werden ließen, die Familien über Generationen hinweg verfolgt hatten. Eine starke Ähnlichkeit mit dem Klassenkampf unter der Diktatur des Proletariats war dabei unübersehbar.
Die Ereignisse waren beklemmend, doch es fehlte ihnen eine Menge zur echten Legende. Einzig die überlieferten Mythen hätten als Gefäß dienen können, um das ganze Unheil, die ganze finstere Nacht aufzunehmen, und sie waren da, gleich antiken Vasen, die von Archäologen aus der Erde geholt worden sind. Nur fanden die Geschehnisse von heute nicht den Weg in sie hinein.
Seit langem spürten wir, daß ein Ereignis, um den Zustand zu erreichen, an den wir dachten, einen Panzer bilden mußte. Außerdem waren die Geschichten, mit denen wir es zu tun hatten, noch zu unfertig. Unreif sozusagen. Es würde mindestens zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Jahre dauern, bis die nötige Ausdörrung und Schrumpfung zur Legende erreicht war.
Wir fragten zahlreiche Albaner nach dem wiederauferstandenen Toten, von dem ständig die Rede war, weil wir herausfinden wollten, ob wenigstens ein Teil der Leute glaubte, daß es sich um eine Erscheinung aus der anderen Welt gehandelt hatte. Jedesmal ernteten wir nur ein Lächeln: Wie naiv wäre es gewesen, so etwas zu glauben! Schließlich kamen in den Dossiers der Staatssicherheit viel merkwürdigere Dinge vor. Sie waren jedermann vertraut. Sie waren tägliches Gesprächsthema, wie das Wetter …
Wir lächelten ebenfalls, wenn auch bitter. Erst wenn das Dossier verwelkt am Boden lag wie herbstliches Laub, würde das Ereignis das erste Häutlein der schützenden Rinde bilden, dann das zweite, das dritte, bis es schließlich in der geheimnisvollen Schale des Mythos geborgen war.
Aber dafür war unser menschliches Leben viel zu kurz. Zwar beeilten wir uns ständig, doch das änderte nichts daran, daß unsere Verzweiflung stieg, ob wir uns nun im polnischen Tiefland befanden, inmitten der Monotonie der ungarischen Pußta oder auch im kohlestaubgepuderten Tschechien. Wir konnten nur auf ein Wunder hoffen, auf einen Fall überlebensgroßen Schreckens. Oft führten wir als Beispiel die Opfer gräßlicher Unglücksfälle an, deren Haar über Nacht schlohweiß geworden war, anstatt im Verlauf von dreißig, vierzig Lebensjahren allmählich zu ergrauen.
Eines Abends glaubte einer von uns, als er schon am Einschlafen war, einen kalten Blitz über den Himmel schleichen zu sehen, und zwar auf der linken Seite der Stadt. Er wartete ein paar Augenblicke lang auf weitere Zeichen eines Gewitters, und als sie ausblieben, gab er schluchzend einem alten Kummer nach.
Ein andermal fanden wir unseren Chef in die Broschüre »Die albanische Sprache – Grundwissen für Touristen« vertieft vor. Er behauptete ständig, die Sprache eines Volkes sei der Schlüssel zu seinen Geheimnissen, doch da dies schon in St. Petersburg und sogar in Budapest von ihm zu hören gewesen war, ohne daß er versucht gehabt hätte, sich des Russischen oder des Ungarischen zu bemächtigen, trauten wir ihm nicht zu, daß er es mit der schwierigen Sprache der Albaner ernster meinte.
Unser Chef ist ein Mensch, dessen eigensinnige Erscheinung durch spärliches Haupthaar noch unterstrichen wird. Er brannte darauf, daß endlich ein paar Einheimische kamen, die er mit seinen komplizierten Fragen löchern konnte. Gott allein weiß, wo er auf schlichtweg unübersetzbare Ausdrücke wie »Nimmerleinstag« gestoßen war. Besonders hatte es ihm eine Konjugationsform des Verbs im Albanischen angetan, die sich »Optativ« nannte und sonst höchstens noch im Altgriechischen vorkam. Sie, so behauptete er, sei das Werkzeug, um allen Verben im Albanischen eine günstige oder ungünstige Richtung zu geben oder, anders ausgedrückt, einen positiven oder negativen Beiklang.
Die Einheimischen reagierten kaum weniger verwirrt als wir. Zwar gehörte diese Konjugationsform ohne Frage zu ihrem täglichen Sprachgebrauch, doch hatten sie sich nie große Gedanken darum gemacht.
Unser Chef maß sie mit spöttischen, manchmal sogar höhnischen Blicken. Die bösartige Seite des Geists der albanischen Sprache schien auf ihn abgefärbt zu haben. Natürlich habt ihr euch nicht den Kopf darüber zerbrochen, verkündete er, weil es euch nämlich egal ist. Ihr kapiert nicht, daß diese Maschinerie all die Flüche und Segnungen produziert, an denen eure Sprache so reich ist wie keine andere. Jetzt starrt mich nicht so an! Wißt ihr nicht, daß eure Vorfahren glaubten, die kleinen Gottheiten, also die Feen und Elfen, wanderten ständig umher, um bei den Leuten Verwünschungen und Segenssprüche abzuholen und denen, an die sie gerichtet waren, zu überbringen? Höhere Wesen als Gehilfen dieser Maschinerie, versteht ihr? Eure alten Poeten hielten nicht ohne Grund das Albanische für eine Göttersprache. Natürlich nicht, weil sie an all diesen Blödsinn glaubten, sondern weil sie wußten, daß der Optativ, dieser Schatz, der die albanische Sprache von den anderen Sprachen der Welt unterscheidet, mit den Feen zu tun hat. Aber ich sagte ja, das ist euch egal. Das einzige, was ihr könnt, ist jammern und euch beklagen. Deshalb macht euer Land auch diese schwierige Zeit durch. Deshalb konnte euer Diktator, dieser Herr Priester oder Hodscha, oder wie immer er auch hieß, mit euch machen, was er wollte. Er hat euch eingelullt, unterdrückt und schließlich noch eine halbe Million Kuckuckseier ins Nest gelegt. Ich meine diese ganzen Betonbunker.
Er redete sich schließlich so in Rage, daß wir fürchten mußten, er werde gleich jemand an die Gurgel gehen, wenn ihn sich die gekränkten Einheimischen nicht schon vorher vorknöpften. Offenbar erkannte er die Gefahr, denn auf dem Höhepunkt seiner Tirade kehrte er uns jäh den Rücken zu und verschwand türeschlagend in seinem Zimmer.
Nach dem Zwist unseres Chefs mit den einheimischen Begleitern rechneten wir mit einer Abkühlung des Verhältnisses, doch es geschah genau das Gegenteil. Vielleicht war der Vorfall Ansporn gewesen, oder es handelte sich um einen reinen Zufall, jedenfalls teilte uns zwei Tage später einer der Begleiter beim Morgenkaffee in der Hotelbar mit, er sei auf etwas gestoßen. Das Ereignis hatte sich offenbar in der Nachbarstadt abgespielt. Es war äußerst mysteriös, um nicht zu sagen, fast unwirklich. Wahrscheinlich hatten Feen die Hand im Spiel.
Unser Chef schaute vor sich auf den Tisch und tat so, als bemerke er den Spott nicht. Das hieß wohl, daß er den Streit von vor zwei Tagen zu den Akten gelegt hatte und wollte, daß die anderen das gleiche taten.
»Hören wir auf mit den Hänseleien«, griff der zweite Begleiter ein. »Was man hört, klingt tatsächlich mehr als erstaunlich.« Er schlürfte langsam seinen Kaffee. »In der Nachbarstadt, jedenfalls hier in der Nähe, soll es der Geheimpolizei vor Jahren gelungen sein, ein Gespenst zu ergreifen.«
Wir saßen eine Weile lang schweigend da. Aus den Augenwinkeln musterten wir unseren Chef. Da er nichts sagte, getrauten wir uns ebenfalls nicht, auszusprechen, was uns allen auf der Zunge lag: War das ein Hirngespinst, oder war wirklich etwas an der Sache?
Unsere Begleiter schienen zu ahnen, was in unseren Köpfen vorging, denn sie erklärten, inzwischen seien sie in unsere Arbeit und unsere Absichten genug eingeweiht, um uns keine Ammenmärchen oder Science-fiction-Geschichten zu servieren. Alles spreche dafür, daß die Geschichte auf ein tatsächliches Ereignis zurückgehe, auch wenn dieses nach wie vor völlig im dunkeln liege. Es gebe sogar zwei Versionen: In der einen ergreife der Staatssicherheitsdienst, wie gesagt, einen Geist, in der anderen werde jemand auch noch nach dem Tod abgehört.
»Zwei Versionen … O Gott, wie in uralten Zeiten!« stieß der Chef hervor.
Es war das erste Mal, daß er den Mund aufmachte.
Die Spannung löste sich ein wenig, und wir bestellten noch einmal Kaffee. Die Albaner meinten, sie hätten von der Sache zwar schon gehört, aber erst hier in B. die Gewißheit gewonnen, daß es sich um mehr als ein Märchen handelte. Allerdings seien die Spuren sorgfältig verwischt worden, weil dem albanischen Geheimdienst offenbar sehr daran gelegen sei, daß nichts von seinem Vorgehen und den zum Einsatz gebrachten Mitteln bekannt werde. Vermutlich habe man die als wertvoll erkannte Erfindung weiterhin nutzen wollen …
Wir diskutierten immer wieder über die Bedeutung des Begriffs »Ergreifung eines Geistes«. Bedeutete »Ergreifung« wirklich eine Festnahme in dem Sinne, daß man jemand Handschellen anlegte, oder drückte das Verb im Albanischen auch noch etwas anderes aus? Die Einheimischen versicherten, es gehe hier ganz konkret um ein »Einfangen«, vermittels einer Falle oder eines Netzes zum Beispiel, wie bei Vögeln oder Schmetterlingen.
Die meisten meinten, die Nachbarstadt müsse der Ort dieses Geschehens gewesen sein, zumal dort nach dem Verbot eines Theaterstücks Ermittlungen angestellt worden waren. Wir sprachen eine Weile über das abgesetzte Stück, Tschechows »Die Möwe«.
Unser Chef knackte ungeduldig mit den Fingern. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten.
»Sie gehen mir auf die Nerven mit diesem Theaterstück. Was soll das ganze Gerede? Woher wissen Sie überhaupt, daß diese Geschichte etwas damit zu tun hat?«
Erst sahen sie sich verdutzt an, dann fingen alle gleichzeitig zu reden an und beteuerten, jedermann, der auf den »Geisterfang« (zum ersten Mal wurde dieser Begriff benutzt) zu sprechen gekommen sei, habe das Ereignis in einen Zusammenhang mit dem verbotenen Drama gestellt.
»Worauf warten wir dann noch?« erklärte der Chef. »Machen wir uns auf den Weg.«
Noch heute empfinde ich Grauen, wenn ich das Heft aufschlage, in dem ich die Gespräche mit den überlebenden Ensemblemitgliedern festgehalten habe. Auf den ersten Blick hatte alles nach einer jener ganz gewöhnlichen Verbotsgeschichten ausgesehen, wie sie im Osten tausendfach vorgekommen waren, ob es sich nun um eine Vorstellung der Amateurtheatertruppe einer sowjetischen Kolchose oder der Berliner Staatsoper gehandelt hatte. Wäre da nicht der Anflug eines unterirdischen Zitterns zu spüren gewesen. Irgendwo tief unter unseren Füßen gab es etwas, vielleicht nicht das, was wir suchten, auf jeden Fall aber etwas, das uns zu ihm hinführen konnte.
Das Geheimnis lauerte weit, sehr weit unter uns in gräßlichen Höhlen, zu denen niemand vorzudringen vermochte. Wir standen gewissermaßen auf der Schale, die das Ereignis umschloß: viele Schichten von Lehm, Stein, Kalk und vielleicht auch Kohle trennten uns von ihm. Doch durch diesen dicken Panzer hindurch war die Angst zu spüren, die es heraufsandte.
Wir erreichten B. noch am gleichen Abend. Aus der Entfernung machten die unruhig funkelnden Lichter einen wenig gastfreundlichen Eindruck auf uns. Möglich, daß es an uns selbst lag, daß wir schon lange ein ungutes Gefühl mit uns herumtrugen. Als wir dann in die Stadt hineinfuhren, glaubten wir, ein bißchen mehr zu begreifen. Wie überall im ehemals kommunistischen Osten trugen die meisten Bars und Cafés westliche Namen, nur war hier alles auf die Spitze getrieben: »Beverly Hills«, »Eva de St. Germain de Prés«, »Rom«, »Monte Carlo«.
Zwar sehnte sich diese ganze Welt nach Vergessen, doch in der Stadt B. war das Verlangen besonders dringend, das spürte man. Wir kamen uns vor wie Unglücksboten, die unerwünschte Erinnerungen weckten.
Bevor wir vor dem Theatergebäude hielten, um uns nach ehemaligen Ensemblemitgliedern zu erkundigen, fuhren wir mehrmals auf der Hauptstraße hin und her. Plakatfetzen flatterten im Wind. Die nächste Premiere wurde bereits angekündigt, doch das Gebäude stand dunkel und unbelebt da. Samstags, so erfuhren wir, werde nicht geprobt, doch seien die Schauspieler meistens im Café »Trumpf-Aß« anzutreffen.
Das Café war so verqualmt, daß man kaum Luft bekam. Erst hielt man uns für Vertreter einer ausländischen Produktionsfirma, die auf der Suche nach einheimischen Schauspielern für drittrangige Nebenrollen war, und empfing uns deshalb freudig. Als man erfuhr, daß wir uns für eine lang zurückliegende Aufführung interessierten, legte sich Enttäuschung auf die Mienen. »Ach, du liebe Zeit«, sagte einer und griff sich an die Stirn. »Das kann doch nicht euer Ernst sein?«
Offenbar existierte diese Zeit für sie gar nicht. Ein paar wollten noch nicht einmal glauben, daß damals wirklich Stücke aufgeführt worden waren. Angeblich war das Theater damals hauptsächlich für Jahrestagsfeiern und Gedenkveranstaltungen genutzt worden. Gelegentlich auch für Schauprozesse. Wir ließen uns jedoch nicht von unserer Meinung abbringen, und schließlich fing man an, sich zu erinnern. Na ja, Vorstellungen habe es vielleicht schon gegeben, aber das seien … wie sollte man es nur ausdrücken … Genossenschaftsschmonzetten gewesen. »Realistischer Sozialismus eben«, meinte einer, »so hieß das damals.« »Sozialistischer Realismus«, korrigierte ihn ein anderer. »Ach, ist das nicht dasselbe?«
Als wir Tschechows »Möwe« erwähnten, schauten sie betreten zu Boden. Offenbar hatten sie die Inszenierung aus ihrem Gedächtnis verdrängt und brauchten einige Zeit, sich wieder daran zu gewöhnen.
Tschechows »Möwe«? Natürlich, davon haben wir gehört. Aber, wie soll ich sagen … Das ist eine ziemlich dunkle Angelegenheit. Man hat nie genau erfahren, was los war.
Was für eine dunkle Angelegenheit? Was hat man nie genau erfahren?
Sie zuckten die Schultern und schauten einander an. Ach, was soll’s? Das ist eine uralte Geschichte. Und weil sie so undurchsichtig ist, noch einmal so alt.
Und keiner weiß mehr davon?
Keiner! Die Leute haben jetzt andere Sachen im Kopf.
Die meisten waren inzwischen gestorben oder weggezogen. Wir fanden nur noch den einstigen Direktor, die Frau des Regisseurs und die damalige Hauptdarstellerin. Alle bewahrten das schon ziemlich vergilbte Vorstellungsplakat auf. Es zeigte eine Möwe, die leblos am Ufer eines Sees lag. Auch die Premierenphotos waren natürlich noch da. Die Überreichung der Blumen. Verschmierte Schminke unter dem rechten Augenwinkel, vermutlich Folge vergossener Tränen. Bilder aus dem Saal: vorwiegend freudige Gesichter, doch auch perplexe Mienen, wie beim Anblick einer Sphinx.
DER DIREKTOR: Warum? Ich bin nie dahintergekommen. Daß Aufführungen verboten wurden, manchmal sogar im letzten Moment, wenn bereits alle Karten verkauft waren, das kam häufig vor. Aber was mit der »Möwe« passierte, war völlig unerklärlich. Von verschiedenen Stellen kamen widersprüchliche Anweisungen, die einander aufhoben. Die Aufführung wurde viermal abgesetzt und jedesmal wieder genehmigt, bevor schließlich das endgültige Aus kam. Eine Erklärung hat man uns nie gegeben. Ein totales Rätsel! Einmal wurde sogar gemunkelt, der örtliche Geheimdienst sei für die Aufführung, das Parteikomitee jedoch dagegen. Als ich das hörte, dachte ich zuerst an einen dieser zynischen Scherze, für die der Staatssicherheitsdienst berühmt war, oder sonst etwas in dieser Art. Soweit ich mich erinnere, wurde später, als bei der Abteilung für Inneres Verhöre stattfanden, der Vorwurf des Liberalismus erhoben! Können Sie sich das vorstellen? Mein Gott, es blieb alles im Nebel! Nach all den Jahren begreife ich immer noch nichts. Was den »ergriffenen Geist« angeht, so habe ich damals wohl etwas aufgeschnappt, aber das war total vage. Wir schleppten so viel Angst mit uns herum, daß wir auf solche Gerüchte nicht groß achteten.
DIE FRAU DES REGISSEURS: Alle hatten zu leiden. Aber am schlimmsten traf es natürlich ihn. Ich bin mir sicher, daß sein Krebs auch davon kam. Tage voller Sorge, dann ein schwacher Hoffnungsschimmer am Horizont. Oder das Gegenteil: man war voller Begeisterung bei der Arbeit, und plötzlich, wie ein Beilhieb, ein schlimmes Gerücht, und alles war kaputt. Im Schlaf redete er wirres Zeug. Er packte mein Handgelenk, als wolle er mir den Puls fühlen. »Es geht weiter«, murmelte er, und dann plötzlich rief er mit scharfer Stimme: »Es ist aus!« All das andere erspare ich mir lieber: Versammlungen, bis man völlig erschöpft war, manchmal bis drei Uhr morgens. Sie bohrten und bohrten. Wieso habt ihr gerade dieses Stück ausgewählt? Was für eine Meinung habt ihr von den revolutionären Dramen unserer zeitgenössischen Literatur? Wußtet ihr, daß unsere chinesischen Genossen dieses Stück ganz verboten haben? Nie gaben sie sich zufrieden. Immer wieder die Frage nach den Gründen. Und dann nach den Gründen für die Gründe. Noch heute habe ich ein ganz komisches Gefühl im Magen, wenn ich bloß daran denke.
DER FÜR PROPAGANDA ZUSTÄNDIGE BEZIRKSPARTEISEKRETÄR: Was wollt ihr überhaupt von mir? Was habe ich damit zu schaffen? Ich habe das Stück nicht verboten. Die Anweisung kam von oben, und die Befehle der Partei waren bekanntlich heilig. Wer hätte sie in Frage stellen sollen? Jetzt plustern sich plötzlich ein paar von diesen Helden auf. Heute ist es leicht, das Maul aufzureißen. Damals sah das ganz anders aus. Mir läuft es immer noch kalt über den Rücken, wenn bloß das Telefon klingelt … Die Abteilung für Inneres soll sich für das Stück eingesetzt haben? Daß ich nicht lache! Ihr braucht mich gar nicht so anzuschauen. Das werdet ihr nie begreifen. Die ganze Welt steht auf dem Kopf. Ich will bloß die paar Tage, die mir noch bleiben, meinen Frieden haben! Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Ein menschliches Wesen.
DIE HAUPTDARSTELLERIN DER »MÖWE«: Also, wenn ich über die ganze Geschichte nachdenke, dann weiß ich immer noch nicht, welches Gefühl damals vorherrschte, Trauer oder Freude. Es war sicher beides da, und wenn man sich gewöhnlich auch an die schlimmen Dinge besser erinnert, so kann ich dennoch nicht sagen, daß die Freude, die ich erlebte, schwächer gewesen wäre als die Trauer. Ich war damals wie betrunken. Dabei wußte ich, daß mein Glück vergänglich war. Wie ein Regenbogen, wie die Jugend. Entschuldigen Sie die Tränen. Ich habe so lange nicht mehr geweint. Die Leute lachen einen heute aus, wenn man wegen so etwas weint … Ich versuche, vor allem an die glücklichen Momente denken, die ich dieser Aufführung verdanke. Damals hätte ich alles getan, um mitmachen zu können. Ich wußte, daß eine solche Gelegenheit vielleicht nie wiederkehren würde. Eine Möwe aus der russischen Steppe des neunzehnten Jahrhunderts … Entschuldigen Sie, ich glaube, ich rede Unsinn. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Ich wollte damals alles so intensiv wie möglich erleben. Es war eine Zeit wie ein Regenbogen. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, hatte erst zwei Jahre vorher die Schauspielschule in Tirana abgeschlossen, und obwohl ich meinen Mann liebte, hatte ich … einen Flirt, also, ich betrog ihn, wie man damals sagte, zwischen den Proben. Entschuldigen Sie, bitte. Ich hatte es so eilig, alles auszuprobieren. Ich war wie jemand, der Vorräte für einen langen Winter anlegt. Und dieser Winter kam dann auch, wie erwartet, aber daran will ich nicht mehr denken … All die Versammlungen, auf denen der Stab über die Inszenierung gebrochen wurde, reichten ihnen nicht, sie stellten auch noch Ermittlungen wegen meiner … Affäre an. Aber am traurigsten war das mit der »Möwe« … Manchmal träumte ich, das Stück sei wieder erlaubt. Eine Stimme war zu hören: Macht zu, der Saal ist schon voll! Wir wollten so schnell wie möglich auf die Bühne, aber es herrschte ein solches Durcheinander … Wir fanden unsere Kostüme und unsere Schuhe nicht … Als wir dann endlich vor dem Publikum standen, merkten wir, daß wir halbnackt waren.
Je stärker wir empfanden, wie kühl, ja abweisend man sich in B. uns gegenüber verhielt, desto mehr verdichtete sich unsere Überzeugung, daß hier wirklich etwas Rätselhaftes geschehen war, an dem niemand mehr rühren wollte.
Unsere albanischen Freunde, die alles taten, um Näheres in Erfahrung zu bringen, wußten zu berichten, die Leute leugneten standhaft, daß die Sache mit dem ergriffenen Geist beziehungsweise dem abgehörten Toten hier in unserem Ort stattgefunden hatte. Es war einem natürlich zu Ohren gekommen, und man wußte sogar von einer dritten Variante (ein sprechender Klumpen Lehm), aber das alles habe sich in weiter Ferne abgespielt, irgendwo in Nordostalbanien.
Das war uns schon früher aufgefallen: Die Leute versuchten stets, beunruhigende Vorfälle so weit wie möglich von ihrem Heimatort wegzuverlegen. Die Stadt B. war ein Musterbeispiel dafür. Dabei war es früher einmal ganz anders gewesen. Gegenden, ja sogar die kleinsten Weiler hatten sich darum gestritten, Schauplatz solcher Ereignisse gewesen zu sein.
Von einem zweiten Gespräch mit der Hauptdarstellerin der »Möwe« (das nach tausend Entschuldigungen stattfand, weil dadurch schmerzliche Erinnerungen wachgerufen wurden, der Flirt …) kam einer von uns fassungslos zurück: Ob wir uns vorstellen könnten, daß ausgerechnet damals, als der Terror nicht nur in dieser Stadt am schlimmsten gewütet hatte, eine Gruppe entdeckt worden war, die spiritistische Sitzungen abhielt?
Natürlich konnten wir es uns nicht vorstellen, und das galt nicht bloß für Albanien, sondern für den ganzen ehemals kommunistischen Osten. Doch unser Kollege kam direkt von der Schauspielerin zurück, die ihm in allen Details berichtet hatte, wie sie aus diesem Grund vom Staatssicherheitsdienst vorgeladen worden war, da ihr Geliebter der betreffenden Gruppe angehört hatte.
Spiritistische Sitzungen unter der Diktatur des Proletariats … Darauf wäre ich nun wirklich nicht gekommen, meinte unser Chef. Dann murmelte er den Namen des Liebhabers der Schauspielerin vor sich hin, eines Elektroingenieurs, dessen Spuren sich lange vor der Aufdeckung der Gruppe verloren hatten. Shpend Guraziu, ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber mir jagt dieser Namen einen Schauder über den Rücken, sagte er: Vogel Schwarzstein. Wir konnten es ihm nachfühlen. Er war der einzige von uns, der wenigstens ein bißchen Albanisch verstand, und glaubte, alles übersetzen zu müssen, sogar Namen.
Wie zu erwarten, bat er die Schauspielerin um ein persönliches Gespräch, doch bei seiner Rückkehr merkte man ihm an, daß die Begegnung seine Verwirrung noch gesteigert hatte. Sie erinnerte sich an alles nur noch nebelhaft. Das war durchaus verständlich, war ihr Liebhaber doch am gleichen Tag verschwunden, an dem man das Stück endgültig verboten hatte. Ich war so verängstigt, daß ich gar nichts richtig mitbekam, meinte sie. Am liebsten wäre ich gestorben. Später, als sie sich ein wenig gefaßt hatte, war sie allem noch einmal nachgegangen, ohne klare Antworten zu erhalten. Einer meinte, er sei aus dem Auto gefallen, als er eine französische Delegation begleitete. Ein anderer äußerte Zweifel an dieser Version. Weißt du, sagte er, es ist schon angenehm, wenn man Ausländer begleiten darf, schöne Hotels, edle Getränke. Aber manchmal muß man teuer dafür bezahlen.
Als man sie Jahre später plötzlich zur Staatssicherheit vorlud, mußte sie an die damals geäußerte Vermutung denken. Man war der Gruppe noch nicht auf die Spur gekommen, doch bestand offenbar bereits ein Verdacht. Man wollte alles mögliche über den Verschwundenen von ihr wissen. Nach so langer Zeit hoffte sie, die Beziehung einfach abstreiten zu können, doch schon nach zwei Minuten gab sie ihr Leugnen auf. Der Grund war eine Tonbandkassette mit der Aufzeichnung eines ihrer Gespräche. Sie erinnerte sich auch heute noch genau daran: »Sie: ›Kommst du heute abend mit den Franzosen ins Theater?‹ Er: ›Ganz bestimmt!‹ Sie: ›Ich möchte dich im Saal sehen.‹ Er: ›Ich möchte dich auch sehen, ich kann es kaum erwarten.‹ Sie: ›Können wir uns nach der Vorstellung treffen, Liebster?‹ Er: ›Vielleicht …‹«
Es war ihr letztes Gespräch gewesen. Er hatte den Abend nicht mehr erlebt, und das Stück war abgesetzt worden.
Die Ermittler löcherten sie mit Fragen, vor allem interessierten sie sich für eine seiner Jacken, braun, österreichisches Fabrikat. »Sie waren ganz versessen darauf, ich weiß bis heute nicht, warum. Hundertmal beteuerte ich, daß er keine Jacke bei mir gelassen habe. Ich war verheiratet, er konnte unmöglich die Nacht bei mir verbringen. Unser einziges Rendezvous fand in der Wohnung eines seiner Freunde statt, nachmittags, vor der Probe. Aber sie ließen einfach nicht locker. Wo könnte er sie gelassen haben? Sie waren sich sicher, daß er diese Jacke irgendwohin mitgenommen hatte, und sie wollten sie um jeden Preis haben.«
Dann brauchte man sie offenbar nicht mehr und ließ sie in Ruhe. Man hatte wohl das Gesuchte gefunden, außerdem existierte die Gruppe nicht mehr. Es hieß, eines der Mitglieder, das Medium, sei unter der Folter gestorben. Das Schicksal der anderen war nicht bekannt.
Alles lag im Nebel. Selbst Shpend Gurazius Grab war für einige Zeit unzugänglich, weil man den entsprechenden Teil des Friedhofs wegen der nötigen Nachforschungen, wie es hieß, völlig abgeriegelt hatte. »Als ob er aus dem Grab geflohen wäre! Ich glaube sogar fest, daß es so war. Bestimmt lebt er noch irgendwo.«
Erstaunlich viele Leute schienen über die Gruppe, die sich zu spiritistischen Sitzungen getroffen hatte, Bescheid zu wissen. Seelenruhig gaben sie uns Auskunft, und wir vergaßen vor lauter Überraschung, ihnen die wichtigsten Fragen zu stellen. Tatsächlich überlegten wir uns manchmal, was merkwürdiger war: daß sich etwas so Geheimnisvolles, Außergewöhnliches, Unglaubliches inmitten all der kommunistischen Kundgebungen, Manifestationen und fröhlichen 1.-Mai-Feiern mit ihren Reden, inszenierten Beifallsorgien und sozialistisch-realistischen Darbietungen überhaupt hatte ereignen können, oder daß all diese Leute, nachdem sie davon erfahren hatten, gemütlich im Café saßen, lachten und Bier tranken, ohne sich irgendwie betroffen zu fühlen.
Sie hörten sich unsere Reden spöttisch lächelnd an. Wir wußten inzwischen, was dieses Lächeln ausdrücken sollte: Ach, das sind doch uralte Geschichten, so war das nun einmal in der Chinesenzeit! Bei manchen hörte sich das an, als sprächen sie vom Osmanischen Reich, und für andere lag die albanisch-russische Freundschaft offenbar genausoweit zurück wie die Eiszeit.
Das war die Phase der großen Abhöraktionen, berichteten die Geschwätzigen. Nachdem der schwarze Dampfer in Durrës angelegt hatte, wurde ganz Albanien abgehört.
Der schwarze Dampfer war das chinesische Schiff, das Unmengen von Wanzen und anderem Abhörgerät angeliefert hatte. Der albanische Diktator selbst hatte in einem Bittbrief an den chinesischen Diktator die Sache angestoßen: Lieber Bruder und Kollege, ich bin krank, mein Augenlicht schwindet, hilf mir! Mach, daß ich wenigstens hören kann!
Unser Chef war noch ruheloser als sonst. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, weckte er uns ebenfalls auf, um uns mitzuteilen, was ihm durch den Kopf ging. Wir seien der Sache auf der Spur, meinte er. Des Rätsels Lösung sei nahe. Mikrophongestützte Überwachung … Spiritistische Sitzungen … Wahrscheinlich hatte die Polizei die dunklen Reden des Mediums aufgezeichnet, das heißt, die Worte des Geistes, der während der Sitzung aus ihm gesprochen hatte …
Diese Erklärung klang logisch. Je länger wir darüber nachdachten, desto mehr überzeugte sie uns. Wir hatten also mit der »Möwe« keine Zeit verloren, im Gegenteil, wir waren durch die Theatergeschichte auf die richtige Spur gebracht worden.
Der Chef verkroch sich einen Tag lang in seinem Zimmer, und als er wieder herauskam, sprach er aus, was wir alle dachten: Wir müssen das Dossier finden!
Wir hatten immer gewußt, daß es einmal so weit kommen würde, trotz all der Schwüre, niemals auf Akten zurückzugreifen.
Wir hatten gleich am Anfang gemeinsam beschlossen, die Finger von Dossiers zu lassen. Darin konnte man sich nur verirren. Das war unsere feste Überzeugung. Im ganzen ehemaligen Machtbereich des Kommunismus wurde von nichts anderem als von Dossiers geredet, die geöffnet, geschlossen, verbrannt, neuerlich geöffnet, vernichtet, in den Tempel verbracht, dem Teufel zugeführt werden mußten, so daß inzwischen selbst die fanatischsten Liebhaber des Aktenstudiums die Nase voll davon hatten. Der ganze große frühere Ostblock schien, den Wind der Nostalgie in den Segeln, auf die eine gewaltig-gräßliche Entdeckung zuzutreiben, nach der einem nichts anderes übrigblieb, als sich die Augen auszureißen wie weiland König Ödipus.
Inzwischen hatten gewalttätige Zugriffe auf die Dossiers stattgefunden. Man hatte sie geplündert wie einst die Pyramiden und dann wie Ikonen oder angereichertes Uran auf dem Schwarzmarkt verhökert, ganze Seiten waren entfernt oder durch Fälschungen ersetzt worden. Man fühlte sich erinnert an Bilder, wie sie die alten chinesischen Poeten gezeichnet haben: Auf den Trümmern des zusammengebrochenen Staates trieben sich wilde Tiere herum, im Maul blutige Fetzen von Roben getöteter Beamter. Heute hatten die Bestien zerfetzte Aktenblätter zwischen den Zähnen.
Wir bemühten uns, den Gedanken daran aus unseren Köpfen zu vertreiben, als der Chef uns anstarrte und mit eisiger Stimme sagte: »Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen unbedingt das Dossier des Mediums finden!«
Wir fanden es schneller als gedacht und bezahlten weniger dafür als befürchtet. Daß die letzten drei Blätter der insgesamt elf Blätter umfassenden Akte fehlten, wie auf der ersten Seite vermerkt war, schien uns kein großes Unglück zu sein. Vom allgemeinen Wertverfall waren also auch die Dossiers betroffen, vor allem, wenn man glaubte, sie seien von drittrangiger Bedeutung. Der Verkäufer hielt es sogar für geboten, seine Ware anzupreisen. Nicht nur der Ermittlungsbericht sei enthalten, sondern auch der Satz, den das Opfer während der Folter ausgesprochen hatte. Auf dem Rand der ersten Seite war vermerkt: »Zwei Tode gibt ein einziger Leib nicht her!«
Wir hatten Glück, das Dossier war offensichtlich keine Fälschung, nur der Satz mit den beiden Toden war, wie man schon auf den ersten Blick erkannte, später hinzugefügt worden, wahrscheinlich, um es besser verkaufen zu können. Die Niederschrift war präzise formuliert und enthielt abgesehen von ein paar falsch geschriebenen lateinischen Worten nur wenige Rechtschreibfehler. »Spiritus« hatte dem Ermittler offenbar besonders große Schwierigkeiten bereitet: einmal stand »shpirtium« da, das andere Mal »shpirtus«.
Die Folter war nirgends erwähnt, doch daß es sie gegeben hatte, war an den wirren Äußerungen des Opfers zu erkennen, vor allem an seiner häufigen Bitte, auf das WC gehen zu dürfen.
Aus den Unterlagen ergab sich, daß es sich bei dem Opfer um einen Angestellten der einzigen Bank im Bezirk gehandelt hatte. Die Fragen der Ermittler bezogen sich vor allem auf die Ziele der Gruppe. Die Antworten des Mediums, die spiritistischen Sitzungen seien in keiner Weise gegen die marxistisch-leninistische Ideologie gerichtet, sondern nur durch private Sorgen veranlaßt gewesen, galten den verhörenden Beamten als unaufrichtig. Immer wieder wollten sie wissen, was eigentlich die Rolle eines Mediums bei einer spiritistischen Sitzung sei, was die Geister anlocke beziehungsweise abschrecke wie in jener »unvergeßlichen und schrecklichen Nacht«.
»Gib zu, daß ihr in Wahrheit darauf hofftet, Kontakt mit den Geistern erschossener ehemaliger Politbüromitglieder aufnehmen zu können. Wahrscheinlich wart ihr verrückt genug, zu glauben, daß sie euch irgendwelche geheimen Informationen geben würden.«
»Ich schwöre, das war in keinem Moment unsere Absicht, auf diese Idee wären wir niemals gekommen.«
»Lüg nicht, Schweinehund. Wir wissen alles. Wir wissen sogar, welcher ausländischen Botschaft ihr eure Hinweise zukommen lassen wolltet.«
»Nein, das stimmt nicht …«
»Willst du behaupten, es sei Zufall gewesen, daß ein Mitglied eurer Gruppe die Franzosen begleitete, die einzige westliche Delegation, die es zu jener Zeit gab?«
»Oh … nein … Ich muß aufs WC.«
»Ihr habt wohl geglaubt, ihr würdet mit diesem Geisterspuk durchkommen, man würde euren Verrat nicht ernst nehmen und ihr könntet euch so fünf, sechs Jahre Gefängnis ersparen. Aber da irrt ihr euch gewaltig, mein Herr. Was ihr getan habt, mag schwachsinnig sein, aber eure verräterischen Absichten sind ganz klar zu erkennen. Deshalb gib endlich auf und gestehe. Wie die anderen auch.«
»Ich habe aber nichts zu gestehen.«
»Was wolltet ihr von den Geistern der ehemaligen Politbüromitglieder erfahren? He? Was habt ihr euch vom Kontakt mit Shpend Gurazius Geist versprochen? Also?«
»Ich weiß überhaupt nichts. Es geht mir nicht gut. Darf ich endlich aufs WC?«
»Du willst also immer noch nicht reden? Dann sage ich dir, was ihr in dieser berühmten Nacht von Shpend Gurazius Geist wolltet. Ihr habt, trotz der Verspätung, auf eine Antwort aus Frankreich gehofft …«
»O nein!«
Shpend Gurazius Name fiel häufig während der Vernehmung. Die Ermittler wollten alles mögliche über ihn wissen, welche Bücher er gelesen, auf welche Weise er Französisch gelernt hatte, und besonders interessiert war man an seinem Liebesverhältnis mit der Hauptdarstellerin der »Möwe«. Im Mittelpunkt des Verhörs stand allerdings die französische Delegation, die er begleitet hatte. Aus einer Bemerkung im Vernehmungsprotokoll (»Wir wissen alles, du verstehst Französisch, hör also zu!«) ließ sich schließen, daß man dem Opfer eine Tonbandaufzeichnung vorgespielt hatte, doch das war für uns keine Hilfe, sondern verwirrte uns eher. Wenn sie über die Gespräche mit den Franzosen bereits Bescheid wußten, was wollten sie dann noch von dem Medium? Um was für eine »Antwort Frankreichs« ging es überhaupt? Und warum brauchte man dazu eine spiritistische Sitzung?
Wir gingen die Niederschrift Zeile für Zeile durch, doch es war ein Stochern im Nebel. Offenbar hatte Shpend Guraziu in verschiedenen Rollen an spiritistischen Sitzungen teilgenommen: beim ersten Mal lebendig, als Mitglied des spiritistischen Zirkels, beim zweiten Mal tot, als Geist, von dem die anderen etwas zu erfahren hofften. Zwischen den beiden Sitzungen lagen drei Jahre. Diese Feststellung war von entscheidender Bedeutung. Nun konnten wir einen wesentlichen Teil des Dramas zeitlich einordnen. Da waren einmal Shpend Gurazius Tätigkeit als Begleiter der Gruppe französischer Senatoren, sein Tod und das Verbot der »Möwe«, und drei Jahre später, nach der Zerschlagung des Spiritistenzirkels, die Ermittlungen gegen das Medium. Die »Antwort Frankreichs« sollte also, wenn auch mit Verspätung, von Shpend Gurazius Geist überbracht werden.
»Ich glaube, jetzt haben wir den Faden in der Hand«, sagte unser Chef.
Wir teilten seine Meinung, auch wenn sich alles noch so traumartig und nebelhaft darstellte, daß wir fürchteten, dieser Faden könne uns schnell wieder aus der Hand gleiten.
So drängend war die Furcht, daß unser manischer Chef ein Blatt Papier zur Hand nahm, um in Worten festzuhalten, was so flüchtig erschien. Er schrieb: »Wieso erwarteten sie ›Frankreichs Antwort‹ vom Geist Shpend Gurazius anstatt aus seinem Mund?«
Er unterstrich die beiden Zeilen, als seien sie die Überschrift, dann schrieb er weiter.
»Erstens: Shpend Guraziu begleitet ein paar Tage lang eine Gruppe französischer Senatoren.
Zweitens: Er spricht mit ihnen über etwas Gefährliches, Verbotenes. Er fordert etwas von ihnen, er erwartet eine Antwort.
Drittens: Seine Freunde sind eingeweiht. Sie kennen seine Botschaft, aber nicht die Antwort. Weshalb?