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Die Wirren der albanischen Geschichte im Kampf um nationale Unabhängigkeit packt Ismail Kadare in ein einziges verflixtes Jahr: 1914, als der gefürchtete Komet Delavan am Himmel auftaucht und die europäischen Großmächte beschließen, den deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied auf den albanischen Thron zu setzen. Seine Herrschaft währte nur 184 Tage. Kadare mischt Wirklichkeit und mythisches Geschehen und erzählt mit grimmigem Humor, wie eine Staatsgründung im Desaster endet.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ismail Kadare
Roman
»Ein Staat soll entstehen, doch ein Land geht unter ... die hinreißend schräge Farce einer nationalen Wirrnis und internationalen Blamage.« Die Presse Spectrum
Die Wirren der albanischen Geschichte im Kampf um nationale Unabhängigkeit packt Ismail Kadare in ein einziges verflixtes Jahr: 1914, als der gefürchtete Komet Delavan am Himmel auftaucht und der deutsche Prinz Wilhelm zu Wied den albanischen Thron besteigt. Seine Herrschaft währte nur 184 Tage. Wie eine Staatsgründung im Desaster endet, davon erzählt dieser »kleine, sprachlich funkelnder Roman«. Focus
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Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
Kurze Nachbemerkung, Historische Einordnung, Glossar und Ausspracheregeln
Historische Einordnung
Glossar
Ausspracheregeln
Man war geteilter Meinung in der Frage, ob der Komet jenem Jahr von Beginn an seinen unheilvollen Stempel aufgedrückt hatte oder ob die Menschen erst später, als die Ereignisse bereits ihren Lauf nahmen, sich einbildeten, sie hätten es gleich zu Anfang bemerkt. Tatsächlich hielten sich in den ersten Nächten, in denen der Komet zu sehen war, Ängste und Hoffnungen die Waage. Jene, die zuversichtlich gewesen waren, wollten später allerdings nichts mehr davon wissen und knurrten, wenn man sie daran erinnerte: »So einfältig kann ich nun wirklich nicht gewesen sein!«
Der Komet hielt sich lange Zeit am Himmel auf und war von weiten Teilen des Erdballs aus zu sehen. Während jedoch die Zahl der Völker, die seinen Gang am Firmament verfolgen konnten, beschränkt blieb, schloß das Raunen, das er auslöste, alle ein. Eigenartig war, daß man ihn allenthalben als böses Omen betrachtete. Dabei spielte keine Rolle, ob sein Schweif am Himmel des betreffenden Landes nach rechts oder nach links zeigte, ob es sich um eine heiße oder kalte Region handelte und ob die Menschen dort weißer oder schwarzer Hautfarbe waren.
Nach ein paar Wochen (die Ereignisse, um die es uns geht, hatten noch nicht begonnen) fing man an, die weitverbreitete Neigung, den Kometen als Vorzeichen zu betrachten, damit zu erklären, daß es kaum ein Volk gab, dessen künftiges Geschick nicht mit einem Fragezeichen versehen gewesen wäre. Daß die Hoffnungen rasch dahinschmolzen und der Angst Platz machten, sah man darin begründet, daß jede Nation das Zeichen ihrer eigenen Verfassung entsprechend interpretierte, und da alle mit Rissen und Löchern im Gefüge sowie katastrophalen Heimsuchungen zu kämpfen hatten, neigten sie begreiflicherweise dazu, diese dem Kometen anzulasten. Kurz gesagt, der Komet, so bedrohlich er auch erscheinen mochte, kam dem Erdball gerade recht.
Kalt funkelte sein Schweif am herbstlichen Himmel, und allein schon der Gedanke, daß selbst ein strammer Lauf von vielen tausend Stunden nicht genügt hätte, um ihm zu entkommen, war erdrückend.
Derweil fielen auch noch andere Zeichen, große und kleine, ins Auge. Noch nie war die Balkanhalbinsel von so vielen Hundemeuten durchstreift worden wie in jenem Jahr. Hechelnd und jaulend überquerten die Tiere die montenegrinisch-albanische Grenze, drangen in die nördlichen Bezirke des albanischen Staates ein, wandten sich dann nach seinem östlichen Teil, um schließlich auf die griechisch-mazedonische Grenze zuzuhetzen. In einer abrupten Richtungsänderung, deren Gründe dem menschlichen Denkvermögen nicht zugänglich waren, da sie dem Tiefengedächtnis der Gattung entsprangen, preschte das inzwischen zweigeteilte Rudel von dort aus weiter in Richtung griechisch-albanischer Grenze beziehungsweise Bulgarien.
Das Geheul der Hunde schien die Temperatur noch weiter nach unten zu treiben. An einem jener frostigen Nachmittage stand ein kummervoll dreinschauender Mann mit einer Krücke am Rande des albanischen Weilers Selishta. Doska Mokrari, der sich gleichfalls dort befunden und ihm ein Almosen angeboten hatte, wußte nachher zu berichten, daß der verkrüppelte Mensch ihm einen verächtlichen Blick zugeworfen und gesagt habe: »Armselige, für den Bettelsack seid ihr selbst bestimmt.« Dann sei er mit Hackender Krücke auf der reifbedeckten Straße davongehinkt.
So also standen die Dinge in jenem Jahr, in dem nicht nur die Schwarzseher, sondern auch die anderen, für die immer nur die Sonne schien und Honig in den Bächen floß, am Ende überzeugt waren, daß es den Beinamen »verflixt« wahrhaftig verdient hatte.
Gott, was für ein wüstes Durcheinander! Kaum aus der Taufe gehoben, war der albanische Staat schon ein einziges Tollhaus. Eigentlich konnte man sich gar nicht sicher sein, daß es überhaupt einen Staat gab. Man wußte nicht, welches die Hauptstadt war, denn jeden Tag kam eine andere Ortschaft daher, die dazu ausgerufen werden wollte. Der Regierung waren ihre Siegel abhanden gekommen. Anständige Grenzen ließen sich auch nicht finden. Es hieß, man sei dabei, sie mit der Schnur zu vermessen, doch wenn zwei damit anfingen, zerrte jeder in eine andere Richtung, und nachts kam der dritte und riß alle Markierungen wieder aus.
»Das hier ist Albanien«, sagte der eine und stampfte, bam, mit dem Fuß auf die Erde. »Albanien? Auf keinen Fall, sondern Griechenland«, fuhr ihm ein anderer ins Wort und stampfte, bam, gleichfalls auf den Boden. »Albanien? Griechenland? Nichts von beidem, sondern unser geheiligtes Serbien«, empörte sich der dritte und stampfte auf, bam, ein Stiefel war es diesmal, nicht bloß ein Schuh. »Du hast vielleicht genagelte Stiefel und ich bloß Opanken mit Quasten, doch das hier ist Albanien, und daran rührt mir keiner«, gab der erste heftig zurück. Drei Hände fahren zum Revolver im Gürtel, und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Dergleichen Geschichten erzählte man sich in jenem Herbst im einzigen Kaffeehaus des Weilers Selishta. Was gab es nicht alles für Neuigkeiten. Einige wollten wissen, die Hauptstadt stehe nun fest, und auch die Siegel seien wieder aufgetaucht, doch ein anderer widersprach: Man habe schon wieder eine neue Hauptstadt bestimmt, und die wiedergefundenen Siegel seien inzwischen ungültig geworden. Auch daß man für Albanien einen König suchte, gab zu Disputen Anlaß. Einige behaupteten, er sei bereits ausgesucht, und zwar ein Spanier, doch andere hielten ihn für einen Deutschen, während wieder andere darauf insistierten, er sei Franzose, Schotte oder sogar Türke, bis schließlich ein Besserwisser das Wort ergriff und verkündete, einen König gebe es wohl schon, aber bloß für so lange, wie kein edlerer gefunden sei.
Doch so weit die Meinungen oft auch auseinandergingen, große Einmütigkeit herrschte im Befinden, daß aus dem albanischen Staat ein Hühnerstall geworden sei, wie es ihn auf Gottes weiter Erde noch nie gegeben habe.
Diverse Armeen und Banden durchkreuzten das Land. Im Nordosten marschierte die österreichische Streitmacht, ausgerüstet mit Feldgeschützen, festen Regeln und knappen Befehlen, so wie es sich für eine Armee von altem Schrot und Korn gehörte. Durch den Osten bewegten sich französische Truppen, wie es im allgemeinen hieß, obwohl es auch welche gab, die Stein und Bein darauf schworen, es handele sich überhaupt nicht um Franzosen, sondern um geschminkte und mit Perücken ausgestattete Chinesen oder Vietnamesen, und wer das nicht glauben wolle, brauche bloß hinzugehen und sich anzuhören, wie sie in der Nacht piepsend auf chinesisch ihre Gefallenen beklagtem Ausgerüstet mit altmodischen Gewehren und Gesängen, schob sich das montenegrinische Ostheer langsam nach Nordosten von Durch die Wälder von Mamurras vagabundierte Tur Kursaris Haufen, und ein Stück weiter Uk Bajraktaris in schwarzen Filz gewandetes Aufgebot aus dem Norden. In Gegenrichtung zu den anderen waren die serbischen Streitkräfte mit ihren munitionsbeladenen Fuhrwerken unterwegs. Kalkgruben bezeichneten ihre Marschroute, denn sie benötigten gelöschten Kalk, um die Opfer des unter ihnen wütenden Fleckfiebers damit zu bestäuben. Esad Paschas muselmanische Banden, welche die Wiedervereinigung mit der Türkei auf ihre Fahne geschrieben hatten, trieben sich zum Lärm der Trommeln in Mittelalbanien herum, feierten mit Gebrüll den »Dum Baba«, womit der türkische Sultan gemeint war, und grölten wie im Fieber düstere Lieder:
Einst winkte uns das Paradies,
Derweil’s uns nun zur Hölle drängt.
Albanien, liederliches Weib,
Hast uns die Schwindsucht angehängt.
Und schließlich gab es auch noch die Armee des gerade erst aus der Taufe gehobenen albanischen Staates, am schwächsten auf der Brust von allen, angeführt von verzweifelten holländischen Offizieren, die kein Wort Albanisch verstanden und jeden Abend Trost im Alkohol suchten.
Mit gramvoller Miene hörte Shestan Verdha zu. Wie immer saßen Alush Gjati und Doska Mokrari, die beiden Unzertrennlichen, mit ihm am Tisch. Alush schaute Shestan mitleidig an. Ihm schien, als seien dessen helle Haut, Augen und Haare ganz und gar nicht dafür geeignet, einem Kummer standzuhalten. Er hätte seinem Freund diesen gerne abgenommen, weil ihm dünkte, daß er selbst mit seiner weizenbraunen Haut, den kräftigen Kiefern und dunklen Augen viel besser mit Unbill aller Art umgehen konnte. Aber ging das überhaupt, Shestan seinen Kummer abzunehmen?
Doska mit seinen roten Apfelbacken war solche Anteilnahme fremd. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, es bereite ihm Spaß, den anderen die Laune zu verderben.
»Weißt du, wie die Holländer den Krieg nennen?« fragt er, nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen haben. »Oorlog! Das ist ihr Wort dafür. Man könnte sich wirklich totlachen. Und was glaubst du, was Angriff bei ihnen heißt?«
»Wie soll unsereiner denn so was wissen?« gab Alush mürrisch zurück.
»Aanval. So sagen sie dazu. He, und das in einer Armee mit lauter Albanern. ›Oorlog‹, brüllt der Offizier, und die Soldaten kapieren gar nichts. Sie legen das Gewehr beiseite, anstatt es zu laden. Und wenn dann der Befehl kommt: ›Aanval‹, rühren sie sich so wenig vom Fleck wie wir jetzt. Das soll eine Armee sein?«
»Eine Schande ist das«, stößt Shestan hervor.
»Es reicht, Doska, da wird einem ja übel«, mischt sich Alush ein. Mit vorwurfsvoll funkelnden Augen starrt er seinem Freund in das feiste, glatte Gesicht.
»Warum glotzt du mich so an?« gibt Doska zurück, aber dann hat er die beiden anderen auf einmal vergessen, kneift die Lider zusammen und stimmt sein Lieblingslied an:
Der Hungerturm von Korça
Sieben Treppen hoch,
Feim, Mamas Liebling,
Schmort im Loch.
Wer klopft dir den Strohsack?
Wer richtet dein Bett?
Feim, Mamas Liebling,
Bekommt sein Fett.
An den zwei, drei Tischen, wo noch Leute sitzen, hört man auf zu reden, schaut herüber und hört Doska zu. Shestan stößt einen tiefen Seufzer aus.
»Also, wir schließen jetzt«, sagt Ropi, der Kaffeehausbesitzer.
Einer nach dem anderen gehen sie hinaus in die kalte Nacht. Alushs lange und Doskas kurze Beine treten achtlos in die Pfützen auf der Straße. Shestan ist mittelgroß. Würde man Alush und Doska aufeinanderstellen und dann die Hälfte davon nehmen, käme er dabei heraus. So hat er gerne scherzhaft gesagt, bevor er von der Schwermut befallen worden ist.
Der Komet droben am Himmel, fremd und feindselig, bringt die nächtliche Stille zum Erdröhnen. Jeder weiß vom andern, daß sein Blick dort hinaufwandert, obwohl keiner es zeigen möchte.
»Also, ich habe da ein ganz böses Gefühl«, sagt Doska plötzlich. »Albanien geht vor die Hunde.«
»Kannst du nicht wenigstens einmal deinen Schnabel halten«, fällt ihm Alush mit einem Seitenblick auf Shestan ins Wort. Dabei denkt er: Dem kommt dieses gräßliche Zeug über die Lippen, als sei überhaupt nichts dabei.
Shestan geht weiter, als habe er nichts gehört. Im Mondlicht schimmern seine Haare gelblich. Nach ein paar Schritten bleibt er plötzlich stehen, fährt herum und packt Doska an der Gurgel.
»Was hast du da eben gesagt?« stößt er mit erstickter Stimme hervor.
Doska versucht sich zu befreien. Sein Gesicht ist rot angelaufen, aber seine Augen funkeln.
»Das gefällt dir nicht, was?« zischt er wütend, als der andere seinen Griff ein wenig lockert. »Aber wenn es so ist, weshalb unternimmst du dann nichts? Oder hast du Arschflattern? Wieso bist du eigentlich unser Hauptmann?«
Shestan nimmt die Hände von seinem Hals und schaut ihn verdutzt an.
Später, als die Forscher, mit allerlei Titeln und Graden versehene Mitarbeiter unterschiedlich ausgerichteter wissenschaftlicher Institute, sich in großer Zahl mit den Geschehnissen dieses unvergeßlichen Jahres zu beschäftigen begannen, Ordnung in ihren Ablauf zu bringen versuchten, sie analysierten und interpretierten (was manchmal schier unmöglich schien, so daß sie verzweifelt den Blick zum Himmel erhoben, wo sie vielleicht nach dem mittlerweile leider entschwundenen Kometen Ausschau hielten, um bei ihm, in dessen Licht sich schließlich alles abgespielt hatte, Erhellung zu suchen), später also, als dieses Jahr, ein gräßliches Kriechtier, Wirbel für Wirbel einer gründlichen Untersuchung unterzogen wurde, gerieten sich die Gelehrten schon über die Motive zur Formierung dessen, was später gemeinhin als »Mokrakräfte« bezeichnet wurde, in die Haare, genauso wie über die Umstände, unter denen Shestan Verdha zu ihrem Anführer ernannt wurde. Man trug alle möglichen Hinweise zusammen, unter denen selbstverständlich auch Doska Mokraris ziemlich derber Ausspruch nicht fehlte, doch der entsprechende Satz wurde sowenig wie die anderen Zeugnisse jemals in den konkreten zeitlichen und räumlichen Zusammenhang gestellt, in den er gehörte, nämlich den vom Kometen beleuchteten Heimweg mehrerer Männer auf einer Dorfstraße voller Schlammlöcher spät in der Nacht, nachdem das Kaffeehaus zugemacht hatte.
Der Komet kam in praktisch allen Chroniken vor. Es war ja auch naheliegend, einem solchen Himmelskörper die Eignung zuzusprechen, bevölkerungsweit Psychosen, Alpträume, böse Vorahnungen und einander widerstreitende Neigungen zu verursachen. Außerdem diente er den Chroniken, Tagebüchern oder Lebenserinnerungen, die unter Zusammenhanglosigkeit litten, als gemeinsame Grundlage zur Herstellung einer gewissen Kontinuität. Dennoch muß festgestellt sein, daß der Komet eine rein dekorative Erscheinung geblieben wäre, die allenfalls dazu getaugt hätte, die Phantasie zu freiem Flug anzuregen (beispielsweise gab es Chronisten, die sich offenbar mit den gängigen Theorien zur Entstehung der Kometen auseinandergesetzt hatten und von daher die Frage aufwarfen, ob dieser spezielle Komet nun aus den Tiefen des öden Raums zu uns gekommen war, um am Ende wieder darin zu verschwinden, oder ob er fortan, gefangen im Geflecht der Umlaufbahnen unseres Sonnensystems, in diesem verbleiben würde), also: Der Komet wäre wohl eine rein dekorative Erscheinung geblieben, hätte sich der Holländer Dirk Stoffels nicht auf den Einfall versteift, die albanische Bezeichnung für Freischärler, nämlich »Komit«, sei abgeleitet vom Wort »Cornet« im Sinne des lateinischen »stella cometa«, also »Haarstern«, da die albanischen sogenannten Komiten nun einmal eine lange Haartracht bevorzugten. Bei den Griechen, von denen die Albaner das Wort »Komit« ausgeliehen hatten, sei es allerdings später durch »klephte« ersetzt worden, argumentierte Stoffels (diesmal zu Recht) weiter, so daß es in seiner ursprünglichen Bedeutung nur noch in Albanien existiere.
Dirk Stoffels‹ Entdeckung genügte, um sämtliche Chronisten, Tagebuchautoren, Vortragsredner und Memoirenschreiber in sein Fahrwasser zu bringen und zu den unglaublichsten Auslegungen, Mutmaßungen und poetischen Höhenflügen zu veranlassen. Sie setzten sich zum Beispiel elegant über die Tatsache hinweg, daß es die albanischen Komiten bereits seit ein paar Jahrhunderten gab, und begründeten das Phänomen, daß in jenem Jahr wieder einmal eine Woge von Freischärlern die Berge überschwemmte, ausschließlich mit dem Erscheinen des Kometen. Die langmähnigen albanischen Komiten waren für sie die leibhaftigen Söhne des »großen Geschwänzten«, des Kometen, von ihm gezeugt, und nicht nur das: Sie waren ihm auch gehorsam und dienstbar, wobei die Verständigung vermittels obskurer Geheimzeichen erfolgte. So blühend war die Phantasie, daß man dem Kometen alle möglichen Eigenschaften zuschrieb. Er war angeblich für Hoffnungen und Enttäuschungen der Freischärler verantwortlich; er lockte sie von zu Hause fort in die Berge, ehe er sich wieder davonmachte und sie im Dreck sitzen ließ. Glaubte man diesen Hirngespinsten, dann ging mit dem Verblassen, Entschwinden des Kometen auch die Schwächung, der Niedergang der Freischärler einher, sie verschwanden wieder im Schatten. Es war völlig verrückt, aber in jenem schlimmen Jahr suchte man die Ursachen für den Ausbruch und Ablauf des Krieges und schließlich sogar den Untergang der Komiten in den Sternen.
Was die Umstände anbelangt, unter denen Shestan Verdha zum Anführer bestimmt wurde, so muß man schlicht sagen, daß sie im dunkeln geblieben sind. Das ist kein Wunder. Weder Shestan noch Doska, der ihn unvermittelt zum Hauptmann erklärt hatte, wußten eine Begründung dafür zu geben. Berichte besagen, Shestan habe einmal beim Trinken von seinem Kameraden wissen wollen: »Was, zum Teufel, ist nur in deinem Kopf vorgegangen, als du mir plötzlich diese blöde Frage gestellt hast, ob ich nun euer Hauptmann bin oder nicht. Du weißt ganz genau, daß ich das nie werden wollte.« Doskas Antwort, so wird weiter berichtet, sei gewesen: »Ich weiß auch nicht, es ist mir eben so eingefallen. In diesem Augenblick war ich einfach davon überzeugt. Vielleicht hatte ich davon geträumt, oder es kam bloß daher, daß deine Haare im Mondlicht auf einmal so anders aussahen, wie richtige Hauptmannshaare.«
Diese beiden Punkte, vor allem der erste, machten auch den Ausländern ganz furchtbar zu schaffen. In den Abhandlungen Une république française en Balkans und Wegbeschreibungen. Reisen in schwieriger Zeit kamen sie vor, und es war auch von »einem sehr kräftigen albanischen Ausdruck« die Rede, jedoch behauptete man, dieser sei während einer Beratung gefallen, »einer Debatte«, und sprach von »einem flammenden, gefühlsgetragenen Aufruf des Dosque Maucrares« an die Adresse »des legendären Hauptmanns Schestan Werden«, wobei dieser Appell angeblich mit den Worten »jetzt oder nie« begonnen und mit dem »gepfefferten, unübersetzbaren Ausdruck« geendet hatte.
Einen Anlauf zur Verdeutlichung der betreffenden Wendung unternahm später der unermüdliche Dirk Stoffels in seinem Tagebuch eines Offiziers (Dagboek van een officier), wobei er den ihm wesentlich scheinenden Körperteil, das Rektum, mit den möglichen physischen Reaktionen eines Gewichthebers im Augenblick äußerster Kraftanspannung in Verbindung brachte.
Was den Aufbruch der Mokraren in den Krieg betraf, so bekundeten einige der gelehrten Sammler, er habe unter großem Aufsehen stattgefunden, wobei besondere Betonung auf die Tränen der Frauen (der »künftigen Witwen«, wie einer wußte) gelegt wurde, während andere Forscher zu völlig anderen Ergebnissen kamen, daß nämlich der Abmarsch unter ganz und gar mysteriösen Umständen erfolgt sei, »gleich nach der Plünderung des Geheimarchivs«.
Die Mehrheit der Fachkundigen zog indessen die Existenz eines geheimen Archivs in Zweifel, und erst recht die Spekulationen, wonach darin vertrauliche Vereinbarungen über die Aufteilung Albaniens enthalten gewesen seien.
Wieso, war ihr Argument, hätte man sich für die Aufbewahrung solcher Bestände ausgerechnet eine abgeschiedene Höhle aussuchen sollen? Als man den Zweiflern vorhielt, unzugängliche Kavernen seien gerade in unruhigen Zeiten vielleicht am besten zur Verwahrung von Schriftstücken und Gold geeignet, zogen die meisten allerdings ihre Einwände zurück.
Soweit sich ihr Forschungseifer nicht auf den Abmarsch sowie die Plünderung des Archivs konzentrierte, beschäftigten sich die Ausländer vor allem mit der Ausdeutung der Begriffe »Mokrar« beziehungsweise »Mokra«, was sie abwechselnd mit »Mühlstein« und »Mühlrad« übersetzten. Dies bewirkte eine gewisse Beeinträchtigung ihrer nüchternen wissenschaftlichen Urteilsfähigkeit und verleitete sie zum Rückgriff auf literarische Metaphern: Den Marsch der Mokraren verglichen sie mit einem rollenden Rad, einem sich abwärts wälzenden Mühlstein, der alles auf seinem Weg zerdrückt, zerquetscht, von der Erdoberfläche tilgt.
In allen Darstellungen, ob sie nun die Archivfrage, den aufsehenerregenden oder verstohlenen Aufbruch der Mokraren oder ihren Marschrhythmus betrafen, mischte sich Dichtung mit Wahrheit.
Tatsächlich hatte sich folgendes abgespielt: Zwei Tage nach der denkwürdigen nächtlichen Unterhaltung waren die Mokraren in den Krieg aufgebrochen, und zwar früh am Morgen, bei Schneefall.
Alles in allem waren sie fünf Mann. Außer Shestan, Alush und Doska waren auch noch Tod Allamani und Gute Bënja mit von der Partie. Von Frauen und Sprößlingen hatten sie sich bereits zu Hause verabschiedet, ohne großes Weinen und Wehklagen. »Wer will, soll hinterher heulen«, hatte Tod Allamani gesagt, »wir wollen auf jeden Fall nichts davon hören.«
Sie waren bereits am Rande des Dorfplatzes angelangt, als Doska plötzlich das Siegel einfiel. Sie gingen zurück und pochten heftig an die Haustür des Dorfältesten. »Wozu brauchen wir ein Siegel«, hatte Alush zwar gemeint, »das bringt doch bloß Scherereien.« Doch Doska war standhaft geblieben. »Wenn wir kein Siegel mitnehmen, ist es nichts Ernsthaftes.« Die anderen gaben nach, und es entwickelte sich, was später als »Beraubung des geheimnisumwitterten Sonderarchivs« in die Geschichte einging.
Sie kehrten also um und klopften stürmisch an die Haustür des Dorfältesten. Der Schnee ließ ihre Stimmen dumpfer klingen als sonst. »Wer seid ihr?« wurde von drinnen gefragt. »Aufmachen, wir wollen das Siegel!«
Der Dorfälteste war erst spät in der Nacht von einer Hochzeit heimgekommen und hatte sich noch nicht vom Raki erholt. Seine Augen waren verschwollen, die Zunge lag dick in seinem Mund, und es fiel ihm schwer, ihr Anliegen zu begreifen. Schließlich fing er an zu brüllen: »Wer seid ihr überhaupt? Und was soll das für ein Krieg sein? Das Siegel bekommt ihr nicht!« Doch Shestan setzte ihm die Mündung des Revolvers auf die Stirn.
»Krieg eben, Hohlkopf! Hast du verstanden?«
»Oorlog!« herrschte Doska ihn an und langte ihm in die Kleider.
Schließlich fand er, was er gesucht hatte, und riß es mit einem Ruck vom Gurtband der Unterhose, an dem es befestigt war, wozu der Dorfälteste grimmig murmelte: »Komm mir bloß nicht wieder unter die Augen, Bürschchen.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte Doska und schubste ihn weg. »Du bringst Unglück über unseren Marsch«, riet er zornig über die Schulter zurück, als sie schon am Hoftor waren.
Die anderen sagten nichts. Beim Gehen schauten sie aus den Augenwinkeln auf die Häuser am Straßenrand. Die Fenster waren erleuchtet. Man hatte die Petroleumlampen angezündet. All die unterdrückten Seufzer tanzten als Schatten hinter den Scheiben. »Wir hätten sie besser heulen lassen sollen«, sagte Shestan später.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Alush Gjatis Schwiegermutter von ihrer überdachten Veranda aus die Marschierenden. Alush schien ihren Blick, vor dem er sich schon immer gefürchtet hatte, zu spüren, jedenfalls unternahm er einen Versuch, sich hinter seinen Kameraden zu verstecken, doch vergebens. Der stattliche Kerl überragte alle anderen mindestens um eine Handbreit. »Wenigstens bleibe ich diesmal von ihrem Gemaule verschont«, brummelte er vor sich hin. Doch so leise er auch geflüstert hatte und so laut er dabei mit seinen Opanken aufgetreten war, als sie unter der Veranda vorbeikamen, hörte er sie sagen:
»Und wo wollt ihr eine Kiste hernehmen, in die du hineinpaßt?« Das waren ihre Worte.
»Was mußt du meinen Sarg ins Maul nehmen, alte Hexe?« schnaubte Alush, der vor Wut und Scham puterrot angelaufen war. Es war das erste Mal, daß er sie so nannte.
Seltsamerweise schimpfte sie nicht zurück und war, wie es aussah, noch nicht einmal beleidigt. Sie redete nur mit der gleichen dumpfen Stimme weiter, als habe sie nichts gehört:
»Wo ihr hingeht, ihr armen Teufel, da gibt’s bloß Särge.«
Sie beschleunigten den Schritt, doch es war zu spät, sie hatten bereits gehört, was sie besser nicht hätten hören sollen. Von diesem Moment an, so berichteten sie später selber, mußten sie beim Anblick von Alushs Riesenleib unweigerlich an ihre düsteren Worte denken: »Und wo wollt ihr eine Kiste hernehmen, in die du hineinpaßt?« Sogar Shestan, der Vernünftigste von allen, mußte zugeben, daß er sich Alush jedesmal, wenn er ihm gegenüberstand, auf der Erde ausgestreckt vorstellte, trotz aller Mühe, das Bild von sich wegzuschieben. »Er lag dann vor mir«, erzählte er, »wie von einer unsichtbaren Hand hingeworfen. Als ob die Kartätsche, die ihn später erwischte, ihr Gespenst vorausgeschickt hätte, um das ganze schon einmal auszuprobieren.«
»Erst recht, wenn er schlief«, ergänzte Doska Mokrari. »Der Herr allein weiß, weshalb ich nicht aufstand und ihm eine Kerze an den Kopf stellte.«
Dennoch behaupteten, oder glaubten wenigstens, später alle, sie hätten damals auf der Straße nichts anderes im Sinn gehabt, als so schnell wie möglich von diesem verwünschten Hoftor wegzukommen. »Deine Schwiegermutter ist ja schlimmer als der Komet. Eine richtige Unke.« Das waren Tod Allamanis Worte gewesen. Sonst hatte keiner etwas gesagt.