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Ein Spiegelkabinett aus Begierde und Verrat, eine Liebe, die über den Tod hinausgeht, eine Welt aus Verhören und mitgeschnittenen Telefonaten – Ismail Kadares Roman »Die Verbannte« kann keine Figur verlassen, ohne Schuld auf sich zu laden. Auf der Premierenfeier seines neuesten Stücks wird der Autor Rudian Stefa von einer jungen Frau um eine Widmung gebeten. Ihre Freundin könne leider nicht kommen, sei aber eine große Bewundererin. Der Dramatiker kommt der Bitte nach, kurz darauf treffen sie sich wieder, sie beginnen eine Affäre. Einen kurzen, heftigen Streit später ist es die Ermittlungskommission, die ihn treffen möchte. Nach und nach erkennt Rudian Stefa das politische Ausmaß seiner Widmung und die tragische Reichweite seiner Affäre. Ismail Kadare ist einer der größten europäischen Erzähler unserer Zeit. In seinem Roman zeigt er eindrucksvoll auf, wie autoritäre Herrschaft alle zwischenmenschlichen Beziehungen deformiert: tiefgreifend, substantiell, bis über den Tod hinaus. Liebe und Schuld, Begierde und Verrat gehen so unweigerlich eine grausame Verbindung ein.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2017
Ismail Kadare
Roman
»Für Linda B. zur Erinnerung. Rudian Stefa.«
Auf der Premierenfeier seines neuesten Stücks wird Rudian Stefa von einer jungen Frau um eine Widmung gebeten. Ihre Freundin könne leider nicht kommen, sei aber eine große Bewundererin. Der Dramatiker kommt der Bitte nach, kurz darauf treffen sie sich wieder, sie beginnen eine Affäre. Einen kurzen, heftigen Streit später ist es die Ermittlungskommission, die ihn treffen möchte. Nach und nach erkennt Rudian Stefa das politische Ausmaß seiner Widmung und die tragische Reichweite seiner Affäre.
Ismail Kadare zeigt eindrucksvoll auf, wie autoritäre Herrschaft alle zwischenmenschlichen Beziehungen deformiert: tiefgreifend, substantiell, bis über den Tod hinaus. Liebe und Schuld, Begierde und Verrat gehen so unweigerlich eine grausame Verbindung ein.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er lebt heute in Tirana und Paris.
Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.
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Widmung
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NACHBEMERKUNG
Den albanischen Mädchen gewidmet, die in der Verbannung auf die Welt kamen, aufwuchsen und zu Frauen wurden
Bis zum Ende der Dibraner Straße glaubte er tatsächlich, es sei ihm gelungen, seinen Denkapparat abzuschalten. Erst vor dem Hotel Tirana an der Nordseite des Skanderbegplatzes erfaßte ihn eine von gelegentlichen Panikattacken unterbrochene Anspannung. Nur der Platz trennte ihn noch von dem Eingangsportal des Parteikomitees. Seine angestrengte, mit einem ruhigen Gewissen nicht hinreichend begründbare Gelassenheit zerstob. So weit sich der Platz vor ihm auch dehnte, für jemand, den man ohne Nennung von Gründen ins Parteikomitee zitiert hatte, dauerte die Überquerung auf jeden Fall nicht lange genug.
In irrwitziger Hast, als lasse sich nur so die verlorene Zeit wieder aufholen, resümierte er in Gedanken die möglichen Ursachen für all die Scherereien. Es gab zwei: Sein jüngstes Theaterstück, dessen Aufführgenehmigung schon seit zwei Wochen überfällig war, und seine Affäre mit Migena.
Unter normalen Umständen hätte ihm diese mehr Sorgen bereitet als das Stück. Er kam zur Nationalbank, und sein Gedächtnis reproduzierte mit unerträglicher Genauigkeit ihren letzten Streit. An der gleichen Stelle, dort, wo das Bücherregal einen Winkel mit dem Fenster bildete, hatten sie sich bereits das erste Mal gezankt. Auch die Vorwürfe waren fast dieselben gewesen und ebenso ihre Tränen. Diese Tränen hatten ihn mürbe gemacht. Ohne sie wäre er wahrscheinlich bereits zwei Wochen früher zu einem Schlußstrich bereit gewesen. Er hätte sie für eine überspannte Kunststudentin gehalten, die nicht wußte, was sie wollte, und noch weniger, warum sie bei jeder kleinsten Gelegenheit losheulte. Jedesmal hoffte er aufs neue, herauszufinden, was dahintersteckte, wenn überhaupt etwas dahintersteckte. So konnte es auf jeden Fall nicht weitergehen, das stand für ihn fest. Also, was hast du? fuhr er sie an. Wenn etwas ist, laß mich nicht im unklaren darüber. Wenn ich es nur wüßte, antwortete sie. Ach, du weißt es gar nicht? Das ist ja toll! Kann es sein, daß du alles ein bißchen komplizierst? Ständig diese Zettel à la Marlene Dietrich, ich liebe dich, ich liebe dich nicht … Ist es nicht so?
Er merkte, daß er dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Hör zu, du bist nicht kompliziert, du bist bloß … Er wollte eigentlich »ein provinzielles Huhn« sagen, verkniff es sich aber im letzten Augenblick. Du bist bloß schizophren. Oder ein Spitz …
Obwohl es ihm gelungen war, die zweite Hälfte des Wortes zu unterdrücken, ließ sich das Unheil nicht mehr aufhalten, das wußte er.
Nein, antwortete sie, seltsamerweise ohne jede Empörung. Ich bin weder schizophren noch ein Spitzel. Was bist du dann? Raus damit! Rede endlich! Und sag bloß nicht, du weißt es nicht.
Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit beging seine Hand eine Tat, die er mehrfach in seinem Leben erwogen, jedoch bis dahin nie ausgeführt hatte: Er packte das Mädchen an den Haaren. Eigentlich hätte er erwartet, daß sich der Griff seiner Finger augenblicklich löste und den Schopf freigab, als sei er aus reinem Feuer, doch die Hand gehorchte ihm nicht, ja, sie stieß den schönen Kopf, den er vor wenigen Augenblicken noch zärtlich liebkost hatte, voll Zorn gegen das Bücherregal. Ein Haarkamm des Mädchens fiel zu Boden, und nach dem Kamm ein Haufen Bücher, an deren Einbänden sich der wirre Blick seiner Augen festsaugte: Scott Fitzgerald. Die Toponomastik Albaniens und Kosovas. Plutarch.
Das letzte Stück bis zum Eingang des Parteikomitees legte er in allenfalls vierzig Sekunden zurück, aber das reichte für die Erkenntnis, daß es ihm nicht viel ausmachte, wenn sie ihn angezeigt hatte. Er wäre gerne bereit gewesen, die ständigen Schwierigkeiten mit seinem Theaterstück gegen eine solche Anzeige einzutauschen, das gefährliche Wort »Spitzel« eingeschlossen.
Unverbesserlicher Idiot, du spielst wohl gerne mit dem Feuer, wollte er sich schelten, doch verblüfft begriff er, daß er sich diese Anzeige samt all dem Verdruß, der damit verbunden sein würde, heimlich sogar wünschte.
Als er durch den Haupteingang ging, wurde ihm auch der Grund bewußt: Was immer ihn an Unangenehmem erwarten mochte, es hatte auf jeden Fall auch seine gute Seite. Nachdem er sich gute vier Wochen lang mit dem Rätsel dieses Mädchens herumgeschlagen hatte, durfte er nun endlich auf eine Klärung hoffen.
Er kannte diesen U-förmigen Tisch zur Genüge, doch zum ersten Mal saß er allein auf der rechten Seite. An der Frontseite hatten der Zweite Sekretär und ein Unbekannter Platz genommen. Was also hatte diese Einbestellung ohne jedes erläuternde Wort zu bedeuten? Mit einem Glas Wasser oder einem Kaffee rechnete er nicht, aber ein »Entschuldigen Sie, daß wir Sie behelligen müssen« oder wenigstens eine dieser nervtötend hohlen Phrasen wie »Was macht die Kunst?« hätten sie für ihn erübrigen können.
Ein diffuser Zorn der würdebewahrenden Art, wie sein Freund Llukan Herri es auszudrücken pflegte, stieg in ihm hoch und bewirkte eine Straffung seines Rückens an der Stuhllehne.
Als könne er Gedanken lesen, erklärte der Zweite Sekretär unter Verzicht auf einleitende Floskeln, die Partei schätze seine Arbeit als Dramatiker, was sich daran ablesen lasse, daß er wegen eines Problems ins Parteikomitee gerufen worden sei, für das andere sich vor der Ermittlungsbehörde erklären müßten. Bei diesem Satz wandte er sich seinem Nebenmann zu, woraus man schließen durfte, daß der Unbekannte, dessen Miene gelassen, fast freundlich war, von dorther kam.
»Wir brauchen eine Erklärung oder besser ein paar einfache Auskünfte zu einer Frage, die uns beschäftigt«, sagte er, wobei er den Blick auf die Papiere richtete, die vor ihm auf dem Tisch lagen. »Ich hoffe auf Ihre Mithilfe.«
»Selbstverständlich«, erwiderte der Dramatiker. Der zweite Akt, dachte er. Der Auftritt des Gespenstes. Er wußte aus Erfahrung, daß sich die heiklen Stellen, wenn es solche gab, gewöhnlich am Ende des zweiten Akts befanden. Allerdings war ihm unklar, weshalb er deswegen vor der Ermittlungsbehörde und nicht wie üblich vor dem Künstlerischen Beirat des Theaters Rede und Antwort stehen mußte.
»Die betreffende Angelegenheit ist etwas delikat«, fuhr der Ermittler fort.
»Ja, aber ich verstehe nicht, wieso ich deshalb hierherkommen mußte«, sagte der Dramatiker.
Die beiden Funktionäre schauten sich an.
»Genosse Schriftsteller«, erklärte der Zweite Sekretär, »das hat, wie ich bereits sagte, mit der Wertschätzung zu tun, welche die Partei Ihnen entgegenbringt. Wenn Sie die Ermittlungsbehörde vorziehen …«
Der Angesprochene biß sich auf die Lippe und machte eine unbestimmte Handbewegung, die seine Ratlosigkeit zum Ausdruck brachte.
Die Ermittlungsbehörde, dachte er. Soweit ist es also schon gekommen!
»Bitte reden Sie. Ich höre«, sagte er.
Der Ermittler warf einen kurzen Blick auf seine Aufzeichnungen.
»Es geht um eine junge Frau«, sagte er mit gleichmütiger, aber ungewöhnlich leiser Stimme.
Aha, dachte der Dramatiker, also ist es das andere. Der Theatersaal, die rotsamtenen Zuschauersitze, das aufmerksam lauschende Publikum, dann am Ende der lang anhaltende Beifall, die Rufe »Der Autor, wir wollen den Autor sehen«, all dies blieb unberührt, es ging um das andere. Wie im grellen Licht eines Blitzes der Spalt zwischen ihren Brüsten, dann die Tränen, ganz und gar unverständliche Tränen …
Als habe sie geahnt, daß etwas nicht stimmte, dachte er kummervoll. Das alles schlecht ausgehen würde.
»Sie kennen das Mädchen?«
Danach stellte der Ermittler noch eine andere Frage, vielleicht nach dem Namen, doch der Dramatiker war zu verstört, um sie richtig mitzubekommen. Wieso hat sie es gespürt und du nicht? haderte er mit sich selbst.
»Gut, Sie kennen sie also«, sagte der Ermittler, wobei er in seiner Akte blätterte.
Er nickte und versuchte seinen Zorn, der bereits dabei war, sich zu verflüchtigen, wieder zu verdichten. Na und, wollte er sagen, ist das denn ein Verbrechen? Früher war so etwas geahndet worden, besonders bei Prominenten, von denen ein Beispiel an moralischer Makellosigkeit erwartet wurde, doch jetzt sah man gewöhnlich über solche Dinge hinweg, außer wenn es zu Skandalen und familiären Zerwürfnissen kam oder wenn eine Verbindung zu den »gestürzten Klassen« unterstellt werden konnte. Oder wenn sich die Betroffene selbst beschwerte.
Wofür konnte Migena ihn angeschwärzt haben? Zuerst fiel ihm sein grober Übergriff vor dem Bücherregal ein, dann das Wort »Spitzel«, über das sie sich wahrscheinlich am meisten geärgert hatte. Sie haben den Begriff »Spitzel« gebraucht. Wir wüßten gerne, was Sie damit meinen. Wen soll sie bespitzelt haben und in wessen Auftrag? Sie wissen, daß unser Staat keine Spitzel einsetzt … Hätte er nur diesen verdammten Ausdruck nicht benutzt! Er legte sich eine Antwort zurecht, um vorbereitet zu sein. Natürlich war es nicht politisch gemeint gewesen, auf gar keinen Fall, sondern ihm nur im Zorn herausgerutscht, in seiner ganz alltäglichen, banalen Bedeutung, auf Leute bezogen, die private Dinge nicht für sich behalten konnten und jedem weitererzählten.
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich mich nach der Natur Ihrer Verbindung erkundige«, sagte der Mann von der Ermittlungsbehörde.
»Keineswegs«, antwortete der Dramatiker erleichtert. Offenbar hatte ihn das Mädchen nicht angeschwärzt. »Ich möchte keineswegs verheimlichen, daß es sich um ein Liebesverhältnis handelte oder besser handelt … Eine intime Beziehung nennt man das wohl.«
»Ach ja?« meinte der Ermittler. »Das heißt mit Schäferstündchen und allem, was dazugehört?«
»So ist es«, bestätigte der Dramatiker.
Der Zweite Sekretär und der Ermittler warfen sich einen erstaunten Blick zu.
»Ist daran etwas unglaubwürdig?« erkundigte sich der Dramatiker. »Ich könnte natürlich leugnen, wie man es in solchen Fällen meistens tut, ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen und so weiter. Dann hätten Sie allen Grund zum Verdacht. Aber ich verberge ja gar nichts. Ich gebe zu, daß ich etwas mit ihr habe. Man nennt das Liebe. Ist daran etwas auszusetzen?«
Sie schauten ihn immer noch unverwandt an.
»Ich meine, ist da wirklich so viel dran, daß es ein Aktenzeichen bekommen muß?«
Er wollte noch sagen: Das ist natürlich nichts, auf das ich besonders stolz wäre, als ihm plötzlich Albana einfiel. Es war wie ein Blitzschlag.
Ach du lieber Gott, dachte er. Wie hatte er sie nur vergessen können? Warum war ausgerechnet die Person, die ihm am meisten Sorgen hätte bereiten müssen, völlig aus seinem Gesichtsfeld verschwunden?
»Wie Sie ja vielleicht wissen«, sagte er mit unsicherer Stimme, »bin ich …«
Natürlich wußten sie es. Wie sollten sie auch nicht wissen, daß er seit geraumer Zeit mit einer Ärztin zusammenlebte und daß sie in diesem Sommer gewiß geheiratet hätten, wenn sie nicht zu einer viermonatigen Fortbildung nach Österreich entschwunden wäre. Es ging um Betäubung, das heißt um die Weiterbil- dung zur Anästhesistin, wie es in der Sprache der Ärzte hieß. Ihm schoß durch den Kopf, daß er wahrscheinlich Blödsinn redete, auf jeden Fall unnötiges Zeug, mit dem niemand etwas anfangen konnte … Aber dennoch, vielleicht taugte das als Erklärung: Wenn die Frau zu lange weg war, kam es schließlich nicht selten zu einem solchen Fehlverhalten …
Die Rechtfertigung ging ihm nur schwer von den Lippen. Er druckste eine Weile herum, bis er es schließlich aufgab, nach den geeigneten Worten zu suchen, und sich genau zu denen flüchtete, die er unbedingt hatte vermeiden wollen: Was ist schon Schlimmes daran? Die Stirn des Parteisekretärs legte sich in Falten.
»Es gibt da ein Problem«, sagte er schließlich, in der Akte blätternd. »Nach allem, was wir wissen, war die junge Dame nie in Tirana.«
Der Dramatiker brach in lautes Gelächter aus.
»Entschuldigung, aber ich müßte es ja eigentlich am besten wissen.«
Der Ermittler rang sich gleichfalls ein Lachen ab.
»Na ja, manches wissen wir auch, das ist schließlich unser Beruf.«
»Keine Frage«, sagte der Dramatiker. »Nur kann ich mir das alles hier nicht erklären. Irgend etwas an dieser Geschichte hier ist total verdreht. Sie laden mich vor und fragen mich nach einem Mädchen. Ich beichte ihnen ein Verhältnis mit ihr. Und nun behaupten Sie, das könne nicht sein, weil sie niemals in Tirana gewesen sei. Da will ich Ihnen ja gar nicht widersprechen, aber erlauben Sie mir dann wenigstens die Frage, weshalb ich überhaupt einbestellt wurde.«
»Ganz ruhig«, sagte der Zweite Sekretär. »Ich glaube, hier liegt ein Mißverständnis vor. Möglicherweise handelt es sich um zwei verschiedene Personen.«
Der Ermittler wühlte in seinen Unterlagen. Die beiden anderen schauten zu, bis er endlich gefunden hatte, was er suchte.
»Ich glaube, das kommt Ihnen bekannt vor «, sagte er und hielt dem Dramatiker ein Buch hin.
Dieser warf trotzig den Kopf in den Nacken.
»Allerdings«, erwiderte er. »Meine Widmung eingeschlossen.«
Sein Blick fror einen Augenblick lang an den Buchstaben fest. »Für Linda B. zur Erinnerung. Rudian Stefa«.
»Ja, das ist meine Handschrift, und die Unterschrift stimmt auch. Aber der Name der Frau sagt mir nichts.«
»Sehen Sie!« sagte der Ermittler.
Verdammt, dachte der Dramatiker. Es war ihm etwas eingefallen. Dieses B.
»Das könnte ich auch sagen«, erwiderte er in scharfem Ton.
»Wir haben offensichtlich von verschiedenen Personen gesprochen«, wiederholte der Zweite Sekretär.
Der Dramatiker hätte platzen können vor Wut. Ohne Not hatte er ein peinliches Geheimnis preisgegeben. Was war er doch für ein Idiot! Dann dachte er an etwas anderes, nämlich an die unbekannte Leserin, die nicht selbst hatte kommen können. Die ein Buch signiert haben wollte, gerade weil sie nicht nach Tirana kommen konnte.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte er. »Sie bestellen mich ins Parteikomitee, wo sie mich über meine Beziehung zu einer jungen Frau ausfragen, und ich Trottel gebe alles zu, weil ich glaube, es sei wichtig für die Partei. Dann erklären Sie mir auf einmal, das Mädchen könne unmöglich meine Geliebte sein, weil sie nie in Tirana gewesen sei, und ich sitze da mit dummem Gesicht. Aber das ist noch nicht alles: Auf einmal halten Sie mir ein Buch unter die Nase, in das ich eine Widmung für ein mir unbekanntes weibliches Wesen geschrieben habe, und schon wieder kapiere ich nicht, welches Mißgeschick oder Verbrechen, oder wie man es sonst nennen soll, mir unterlaufen ist.«
»Immer sachte«, unterbrach ihn der Zweite Sekretär. »Richtig, es kam zu einem gegenseitigen Mißverständnis, aber da steckte keine böse Absicht dahinter … Allerdings sollten Sie wissen, daß die junge Frau, der Sie das Buch gewidmet haben, vom Autor zur Erinnerung, sie wissen schon, ein Problem, ein schwerwiegendes Problem hat … Oder vielmehr hatte.«
Der Dramatiker spürte, wie alles in ihm zur Wüste wurde.
»Darf ich erfahren, um was es geht?« fragte er leise.
»Natürlich«, lautete die Antwort. »Sie dürfen, ja, sie müssen es wissen. Das Mädchen ist … oder vielmehr war … interniert.«
Aha, dachte er. Die seltsame Verwendung des Prädikats in zwei Zeiten, Gegenwart und Vergangenheit, war ihm natürlich aufgefallen, aber er fühlte sich plötzlich zu müde, um nachzufragen. Natürlich, dachte er, die Unmöglichkeit, nach Tirana zu kommen … Diese Einschränkung …
Ein paar Augenblicke lang konnte er spüren, wie Leere sich in ihm ausbreitete. Eine Glocke war zu hören, aber auch sie weit entfernt.
Und jetzt? dachte er. Wie sollte er der Glocke antworten?
Und jetzt? dachte er erneut, doch diesmal ganz ruhig. Was ging ihn diese Geschichte überhaupt an? Bücher hatte er zu Dutzenden signiert, die meisten für ihm Unbekannte. Es ließ sich keineswegs ausschließen, daß ein signiertes Exemplar seinen Weg in die Tasche eines Mörders fand, bevor man ihm Handschellen anlegte oder sogar danach. Das kannte man doch: Das Buch ist für meinen Onkel, meine Verlobte, können Sie bitte eine Widmung hineinschreiben? Oder auch: Das Buch ist für eine Freundin, die leider nicht nach Tirana kommen konnte.
Hinter seinen Rippen war plötzlich ein Klopfen zu spüren.
»Kann ich das Buch noch einmal sehen?« fragte er den Ermittler.
Er öffnete es mit der linken Hand, weil ihm schien, die rechte zittere zu sehr. Sein Blick gefror auf der Widmung. Da stand auch das Datum. Es war nach der Premiere seines letzten Stücks im Theaterfoyer gewesen. »Für Linda B. zur Erinnerung. Der Autor. 12. Juni.«
Vor seinem inneren Auge erschien mit erstaunlicher Deutlichkeit die Schlange der Theaterbesucher, die vor dem Tisch, an dem er signierte, warteten. Sein kennerischer Blick hatte sogleich die hübsche junge Frau mit kastanienbraunem Haar entdeckt, mit der Auswirkung, daß er unwillkürlich schneller schrieb, wahrscheinlich aus Angst, die Unbekannte werde aus irgendeiner Laune heraus, wie sie bei schönen Frauen ja gelegentlich vorkamen, die Warteschlange wieder verlassen. Es ist für eine Freundin, die heute leider nicht kommen konnte …
Er mußte nicht den Kopf heben, um zu wissen, daß sie es war.
Die Stimme klang entzückend, und da sie sich zu ihm herunterbeugte, berührten ihn die langen Haare fast … Ihr Name ist Linda … Ginge »Für Linda B.«? Wie bitte? fragte er, denn er dachte, er habe sich verhört. Linda B., wiederholte das Mädchen. So mag sie es. Während er die Widmung schrieb, hörte er die entzückende Stimme über sich sagen: Meine Freundin wird sich bestimmt sehr freuen, sie ist eine große Bewunderin von Ihnen. Als er ihr das Buch reichte, fügte sie mit einem schelmischen Blick hinzu: Und ich auch. Dann wandte sie sich ab, ohne sein Lächeln abzuwarten.
Der Dramatiker gab dem Ermittlungsbeamten das Buch zurück.
»Das Datum der Widmung dürfte stimmen«, sagte er in kühlem Ton. »Wie ich bereits sagte, hatte an diesem Tag mein Stück Premiere. An mehr kann ich mich nicht entsinnen.«
Woran er sich allerdings sehr gut erinnerte, war ihre spätere Unterhaltung über dieses B. Was ist das bloß für eine komische Idee? Ach, gab sie zurück, Mädchenphantasien! Migjeni hat eines seiner Gedichte einem Fräulein B. gewidmet.
Durch ein Kopfschütteln bekräftigte er seine Behauptung, sich an nichts zu erinnern.
Er wunderte sich selbst über die Gelassenheit, die ihm seine spontane Entscheidung schenkte, ab jetzt nicht mehr aufrichtig zu sein. Soviel Ehrlichkeit verdient niemand, dachte er. Die beiden am Tisch sowieso nicht. Aber auch sonst keiner. Seine Freundin so wenig wie wahrscheinlich die mysteriöse Internierte.
Er würde sich anpassen. Das war offenbar die einzige Möglichkeit. Keine Schwäche zeigen, zu die Türen. Mochte anklopfen, wer wollte, flehen, verfluchen, brüllen: Herzloser! Seid, wie ihr wollt, ich werde sein, was ich sein möchte: eine Sphinx.
Ärger stieg wieder in ihm hoch, doch von ganz anderer Art als vorhin. Sie hatte sich ihm gegenüber wirklich nicht sehr anständig verhalten. Sie, das war Migena. Ihm zu verschweigen, daß die Freundin, für die sie das Buch signieren ließ, eine Internierte war … Als sie an jenem Tag die Wohnung verließ und er zum Regal ging, um die herausgefallenen Bände zurückzustellen, schämte er sich. Dieser Wutausbruch war ihm selbst unerklärlich. Nicht nur die Bücher waren wie durch ein Erdbeben durcheinandergeworfen worden, sondern auch ihr Inhalt. Besonders galt dies für die »Toponomastik«. Orts-, Flur- und Gewässernamen lagen verstreut herum: Armschluckerhubel, Lauerbrunnen, Zekas List, Grobes Loch, Rabenfleck, Böse Klamm … Was für deprimierende Bezeichnungen! Nichts und niemand hatte eine so häßliche Kennkarte, ein so grausiges C.V., wie man heute wohl sagte, wie der Erdengrund. Falschheit und Verrat ohne Ende …
Wie lange saß er eigentlich schon in diesem Dienstzimmer? Es war leichtsinnig genug gewesen, überhaupt herzukommen! Sein Blick wanderte zu der Uhr, die als Reminiszenz an die Zeit der albanisch-chinesischen Freundschaft noch an der Wand hing. Sie zeigte zehn Uhr siebenundzwanzig. Nicht zu glauben, er hatte das Gefühl, schon seit Stunden hier zu sein. Elfenstieg. Schinderjoch. Wolfsgrube. Hatten sie Migena vernommen? Wenn nicht, dann wußten diese Neunmalklugen womöglich gar nicht, wer die hilfsbereite Freundin des internierten Mädchens war.
Der Verdacht beschämte ihn, doch konnte er sich Migena sehr wohl an einem Tisch wie diesem vorstellen. Was für Bücher besitzt der Schriftsteller? An einige der Autoren werden Sie sich doch wohl erinnern. Meinen Sie die Bücher, die aus dem Regal fielen, als er mich an den Haaren packte und dagegenstieß? Nun ja, nicht nur diese, eigentlich. Auch die anderen. Also seine Bücher ganz allgemein. Sie waren mehr als einmal dort, da müssen Sie doch etwas gesehen haben. An ein paar Titel kann ich mich schon erinnern, aber die Verfasser waren mir größtenteils unbekannt. Ich weiß noch, da war Picasso und daneben ein gewisser Heidegger oder so ähnlich. Die meisten Namen hatte ich noch nie gehört.
Rede, was ist los mit dir?
Das war seine Frage. Bei ihrer letzten Begegnung. Ermittlerfragen, o Gott!
Etwas quält dich. Wir reden ja nicht zum erstenmal darüber. Sag schon, was hast du? Ich kann Tränen nicht ausstehen. Und sibyllinische Äußerungen noch weniger: Ich weiß ja gar nicht genau, bist du mein Prinz oder der Prinz einer anderen …
Solche Fragen könnte ich dir auch stellen, dachte er. Zu wem gehörst du eigentlich? Bist du meine Prinzessin oder die Prinzessin der … Partei?
Ein paar Gewissensbisse hatten Ritzen gefunden, durch die sie in ihn hineinsickerten. Vielleicht war er ungerecht. Vielleicht litt sie ebenfalls. Man befragte sie mitten in der Nacht, und für die ganzen Seufzer und Tränen gab es eine gute Erklärung: Sie rang mit sich, ob sie ihn verraten sollte oder nicht.
Wie Donnergrollen aus anderen Tagen erreichte ein fernes Husten sein Ohr, ein Zeichen wohl, daß es Zeit war, sein anhaltendes Schweigen zu beenden. Dem Respekt zuliebe, dessen man ihn am Anfang des Gesprächs versichert hatte, war es ihm bis jetzt durchgegangen, aber endlos durfte es sich nicht hinziehen.
Es ließ sich keineswegs ausschließen, daß die andere, die Internierte, die Verräterin war. Du kommst doch häufig nach Tirana. Kannst du mir ein Buch von ihm besorgen, ich muß es unbedingt haben … Vielleicht war es auch keine von beiden, sondern jemand ganz anderes.
Als er, wie aus tiefem Schlaf erwacht, den Kopf hob, lag ein Funkeln in seinen Augen, das so garstig war wie die Orts- und Flurnamen im Buch der Toponomastik, das gleich zu Beginn, unmittelbar nach Scott Fitzgerald, heruntergefallen war. Beim bösen Blick …
Um was ging es ihrem Überwacher? Dieser war, wie man neuerdings gerne sagte, nicht sein Problem. Noch einmal, ein von ihm signiertes Buch konnte durchaus auch in die Tasche eines Verbrechers gelangen …. Es war ja nicht das erste Mal, daß sie ihm auf den Leib rückten. Wenn sie einen Vorwand brauchten, um sein Stück verbieten zu können, bitte. Nur sollten sie endlich mit dieser Quälerei aufhören.
Wie eben schon einmal sagte er allenfalls die Hälfte dessen, was er dachte. Aber auch diese Hälfte reichte dafür aus, daß sich die Miene des Zweiten Sekretärs neuerlich verfinsterte. Wenn auch anders als vorhin, wie ihm schien.
»Darum geht es nicht«, sagte der Sekretär leise. Er machte eine kurze Pause. »Die Sache ist ziemlich kompliziert. Komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint«, fuhr er dann fort. »Ich sagte bereits eingangs, daß die Partei Ihnen nach wie vor vertraut. Aber es ist nun einmal so, daß die junge Frau, von der wir sprechen, sich umgebracht hat.«
Rudian Stefa biß sich auf die Unterlippe. Welch unnatürliche Abfolge der Tempora, dachte er. Erst das Präsens, dann die Zeit des Todes. Er war wie erstarrt.
»Das tut mir leid«, sagte er. »Was für eine traurige Geschichte.«
»Nicht nur das. Die Sache ist heikel«, erwiderte der Zweite Sekretär. »Sie wissen ja, Selbsttötung wird heutzutage noch kritischer gesehen als früher.«
Seine Stimme klang müde, monoton, als er ausführte, seit dem Selbstmord des Ministerpräsidenten, der bekanntlich den Anstoß zur Aufdeckung der schlimmsten Verschwörung in der albanischen Geschichte gegeben habe, müßten hinter allen Freitoden, selbst den scheinbar gewöhnlichen, dunkle Motive vermutet werden.
»Durch solche Akte, das wissen Sie«, fuhr er fort, »will man Zeichen setzen, Botschaften vermitteln. Nehmen wir nur den Fall Jan Palach in der Tschechoslowakei. Oder Stefan Zweig, aber da kennen Sie sich besser aus. Bei uns ist so etwas ebenfalls möglich.«
»Das gilt natürlich besonders, wenn die Betreffende aus einer deklassierten Familie stammt, wie in unserem Fall«, ergriff der Ermittler das Wort. «Die auch noch dem früheren Königshaus nahesteht. Ein Teil der Sippe lebt im Ausland. Deshalb ist mit langen Ermittlungen zu rechnen.«
»Aha«, meinte der Dramatiker, weil ihm keine bessere Antwort einfiel.
»Das ist letztlich auch der Grund, weshalb wir Sie hergebeten haben«, sagte der Sekretär. »Für den Fall, daß Ihnen etwas einfällt, das den Ermittlungen nützen könnte, gebe ich Ihnen meine Telefonnummer. Auch Ihre Meinung interessiert uns. Sie können sich jederzeit an uns wenden. Die Türen der Partei stehen Ihnen immer offen.«
»Ich verstehe«, sagte der Dramatiker. »Selbstverständlich.«
Als sie sich zum Abschied die Hand gaben, schaute er erst den einen, dann den anderen an. An wen sollte er die letzte Frage richten?
»Darf ich erfahren, wann genau der Vorfall stattgefunden hat?«
Der Ermittler dachte einen Augenblick nach.
»Vor vier Tagen. Das heißt, heute werden es fünf«, antwortete er dann.
Fünf Tage, dachte der Dramatiker, als er durch den Park der Jugend ging. Wie lange lag der Abend zurück, an dem er sich mit Migena zerstritten hatte? Vier Tage? Oder fünf?
Beim Hotel Dajti erreichte er den Großen Boulevard. Die Idee, dort, umgeben von lauter Ausländern, einen Kaffee zu trinken, reizte ihn heute weniger denn je. Du bist einfach nicht mehr der Alte, sagte er sich. Llukan Herri hatte erfunden, was in ihrem Freundeskreis die »Dajti-Probe« genannt wurde. Wenn du dir deines ruhigen Gemüts nicht gewiß bist, geh zum Hotel Dajti. Sollten deine Beine vor dem Eintreten auch nur einen Moment lang zaudern, laß es sein. Gesteh dir ein, daß du dich nicht mehr sicher fühlst, um kein stärkeres Wort zu verwenden …
Die Galerie der Bildenden Künste direkt neben dem Hotel war geschlossen. Der Schriftstellerklub auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte zur Gegenprobe dienen. Eine seltsame Kraft bewirkte nämlich, daß Gefängniskandidaten ihn kurz vor der Katastrophe besonders häufig frequentierten.
Es war elf Uhr, als er vor dem Eingang zum Theater stehenblieb. Die alten Plakate hatte man bereits entfernt, in den Schaukästen herrschte gähnende Leere. Noch nie war ihm Tirana so öde und verlassen vorgekommen.
Kaum zu glauben, daß er hier vor drei Monaten inmitten des fröhlichen Premierentrubels noch Bücher signiert hatte.
Eine Woche später war Migenas Anruf gekommen. Hallo, entschuldigen Sie bitte die Störung, ich bin die Kunststudentin, die für ihre Freundin eine Widmung haben wollte, vielleicht erinnern Sie sich …
Ich erinnere mich sehr gut, antwortete er, worauf die leise Stimme am anderen Ende der Leitung lebhafter wurde. Die Freundin habe sich unglaublich über das Buch gefreut. Sie selbst natürlich auch.