Der Anruf - Ismail Kadare - E-Book

Der Anruf E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

Eines der großen Rätsel des 20. Jahrhunderts und das Lebensrätsel Ismail Kadares 1934: Moskau ist ein Labyrinth aus Angst und Verrat. Jeder kann jederzeit verhaftet werden. Auch Ossip Mandelstam, dessen gegen Stalin gerichtetes Gedicht keiner lesen darf, das aber alle kennen. Da ruft Stalin selbst Pasternak an. Drei Minuten dauert das legendäre Telefonat zwischen Diktator und Dichter. Stalin fragt, ob Pasternak Mandelstams giftige Verse kenne. Ja oder nein, jede Antwort führt in eine Falle und entscheidet über Mandelstams Leben oder Tod.  Bis heute ist es ein Rätsel, was Pasternak in diesen drei Minuten sagte: Warum konnte er Mandelstam nicht retten? In Moskau geriet Ismail Kadare während des Studiums in den Bann dieser Frage. Als albanischer Schriftsteller kennt er die dunklen Schatten der Macht und die Konfrontation von Politik und Kunst. Das Telefonat, das er wie in einem Kriminalroman bis in die kleinsten Details seziert, spiegelt ihm sein Lebensrätsel wider. »Die wohl ultimative mythische Anekdote aus der stalinistischen Ära« Slavoj Žižek

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ismail Kadare

Der Anruf

Untersuchungen

 

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

Alle kennen Mandelstams gegen Stalin gerichtetes Gedicht, aber keiner darf es gelesen haben. Da bekommt Pasternak einen Anruf von Stalin selbst. Drei Minuten lang reden der Dichter und der Diktator. Jedes Wort von Pasternak kann über Mandelstams Leben und Tod entscheiden. Bis heute ist es ein Rätsel, was Pasternak in diesen drei Minuten sagte: Warum konnte er Mandelstam nicht retten?

In Moskau geriet Ismail Kadare während des Studiums in den Bann dieser Frage. Als albanischer Schriftsteller kennt er die dunklen Schatten der Macht und die Konfrontation von Politik und Kunst. Das Telefonat, das er wie in einem Kriminalroman bis in die kleinsten Details seziert, spiegelt ihm sein Lebensrätsel wider.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare ist eine der großen Stimmen der Weltliteratur. 1936 im albanischen Gjirokastra geboren, wurden seine Werke in 40 Sprachen übersetzt. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Ismail Kadare verstarb 2024 in Tirana. Seine Werke sind im S. Fischer Verlag lieferbar.

 

Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 1970er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.

Inhalt

I

II

III

1. VERSION

2. VERSION

3. VERSION

4. VERSION

5. VERSION

6. VERSION

7. VERSION

8. VERSION

9. VERSION

10. VERSION

11. VERSION

12. VERSION

13. VERSION

I

An der Haltestelle auf der rechten Straßenseite steigst du in den Trolleybus der Linie 3 und fährst bis zum Puschkinplatz, wo das berühmte Denkmal steht. Exegi monumentum, du weißt schon. Gehe rechter Hand daran vorbei und überquere die Gorkistraße. Ein paar Schritte weiter, an der Kreuzung, beginnt der Twerskoj-Boulevard.

Ab hier ist alles ganz einfach. Wieder auf dem rechten Bürgersteig erreichst du zu Fuß in weniger als einer Minute das Eingangstor zum Gorki-Institut. Vielmehr, es taucht vor dir auf. Verstehst du, es ist plötzlich da, obwohl man vielleicht gar nicht damit rechnet …

Aber ich rechne natürlich damit. Seit Jahren träume ich von diesem Ort. Keine Ahnung, vielleicht ist das gar nicht so gut, denn wenn man etwas zu sehr will, verliert es mit der Zeit seinen Reiz. Für mich gilt das aber auf keinen Fall! Ich habe mich unglaublich angestrengt, um diese Chance zu bekommen. Die Trolleybusse wiehern schrill, wie wilde Pferde. Man muss aufpassen, ständig tritt man in irgendwelche Löcher. Dann erblicke ich es endlich, das berühmte Denkmal. Wie mir gesagt wurde, gehe ich rechts daran vorbei …

Was für ein Denkmal, mein Junge? Das ist doch dummes Zeug, hier gibt es kein Denkmal … Wie, gibt es nicht? Das Puschkin-Denkmal? Ich war schon so oft hier. Eine optische Täuschung, nichts weiter, ein Denkmal gab es hier noch nie. Dass ich nicht lache, die ganze Welt kennt es: Exegi monumentum … Von wem außer dir sollte ich es denn sonst haben: Ein Denkmal schuf ich mir … Weiter, mein Junge! Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes … Ein nerukotwornyj monument, ein wundersames Monument also. Da bist du ihm aber schön auf den Leim gekrochen: Wenn nicht Hände, sondern Seelen es errichtet haben, kann es auch keiner sehen. Bloß ihr Dummköpfe, ihr Studenten des Gorki-Instituts.[1]

 

 

Nein, so sind wir nicht. Noch viel schlimmer seid ihr. Jeder versucht, den anderen vom Sockel zu stoßen, um selber hinaufzuklettern. Denk an das Pasternak-Meeting? Das war doch etwas ganz anderes … Warst du dabei, hast du ebenfalls Parolen gebrüllt? Natürlich nicht! Was tatest du dann, während die anderen stänkerten? Ich starrte ein Mädchen an, dem die Tränen über die Wangen liefen. Seine Nichte, dachte ich …

Hoffst du nach all den Jahren auf ein Wiedersehen? Glaubst du, das Meeting ist immer noch im Gange? Kann sein. Eigentlich spricht vieles dafür. Das erstickte Geschrei dort hinten weist einem besser den Weg als die Tafel am Tor. Es hört nie auf, dieses Getöse, egal ob in Moskau oder Tirana.

 

Dieser böse Traum setzt mir seit Jahren zu, in den verrücktesten Varianten. Quietschende Trolleybusse auf holperigen, mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Ein verleugnetes Denkmal. Tränenüberströmte Wangen. Das verführerische Moskau.

Ich war so wild entschlossen, darüber zu schreiben, dass es mir manchmal so vorkam, als seien die Buchstaben, die ich brauchte, bereits in der Ecke aufgestapelt und warteten nur darauf, endlich Wörter zu bilden.

Häuften sich in meinen Träumen Reisen, war es ein sicheres Zeichen dafür, dass es bald so weit war. Die nächtlichen Erlebnisse wurden immer konfuser und unlogischer. Der Trolleybus der Linie 3 verweigerte manchmal die Arbeit, so dass man die Peitsche einsetzen musste. Das gab mir zu denken. Ich war seit Jahren nicht mehr in Moskau gewesen, bestimmt hatte sich in der Zwischenzeit so manches geändert, aber dass man jetzt schon Trolleybusse auspeitschte? Unglaublich!

In Tirana ging die Kampagne »Lernen wir das wirkliche Leben kennen!« weiter. Fast sämtliche Schriftsteller hatten inzwischen Defizite in der Vertrautheit mit der Lebenswelt der Fabrikarbeiter eingeräumt, ganz zu schweigen von den Verhältnissen in den landwirtschaftlichen Genossenschaften. Ohne jemanden einzuweihen, hatte ich inzwischen an meinem Moskauroman zu arbeiten begonnen, jedoch war keineswegs sicher, dass etwas daraus werden würde. Tagsüber schien die Fertigstellung so außer Reichweite zu sein wie Moskau selbst, denn seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen war die Chance, jemals wieder dorthin reisen zu können, gleich null. Zu später Stunde, ab Mitternacht, war es dagegen ein wenig anders. Beim Zubettgehen hoffte ich auf Träume, auch wenn sie sich immer seltener einstellten. Zudem wurden sie immer chaotischer, und ich wusste nicht genau, ob dieses Chaos meiner Unternehmung eher hinderlich oder nützlich war.

Es lief wohl auf einen Vorteil hinaus, denn anders als die Fabriken und Genossenschaften verlangte das Moskau meines Romans kein intimeres Kennenlernen.

In einem der Träume schleppte ich mich über den Puschkinplatz, um schließlich in einer Versammlung zu landen, an der die meisten Studenten teilnahmen. Obwohl ich eigentlich hätte vorbereitet sein müssen, war ich doch überrascht, als ich auf dem riesigen Transparent meinen Namen las. Dann begriff ich, dass das ganze Gebrülle und Gekeife gegen mich gerichtet war.

Zu den Schreihälsen gehörten auch einige Kurskollegen. Petros Antaios wusste nicht, wo er hinschauen sollte, und der Lette Stulpans, mein bester Freund, hatte sein Gesicht in den Händen verborgen.[2]

Euer oberster Chef hat dich also aus Tirana angerufen, schrie ein erboster Belorusse. Euer Stalin[3], du weißt schon, ich habe seinen Namen vergessen.

Ich nickte verlegen, aber er war nicht zu beruhigen.

Wie viele Versionen gibt es von diesem Gespräch?

Höchstens drei oder vier, nicht mehr, hätte ich gerne beschwichtigend gesagt, aber ich konnte mich nicht mehr entsinnen, und außerdem wachte ich auf.

Der Anruf von Enver Hoxha[4] hatte tatsächlich stattgefunden. Es war gegen Mittag, ich hielt mich wie üblich im Gebäude des Schriftstellerverbands auf, als der Chefredakteur der Zeitung Drita mir den Telefonhörer hinhielt. Jemand wolle mich sprechen.[5]

»Ich bin Haxhi Kroi«, sagte eine Stimme. »Genosse Enver will mit Ihnen reden.«[6]

Ich sagte danke, mehr brachte ich nicht heraus. Hoxha gratulierte mir zu einem Poem, das eben in der Zeitung abgedruckt worden war. Ich bedankte mich erneut. Es habe ihm sehr gefallen. Ich bedeutete den anderen im Raum, endlich still zu sein, bevor ich das nächste »Danke!« gleich zweimal hervorstammelte.

»Viermal Dankeschön«, sagte einer der Redakteure. »Seit wann benimmst du dich so manierlich?«

Es fiel mir keine bessere Warnung ein, deshalb beließ ich es bei einem erneuten Winken, das für sie schwer zu deuten gewesen sein muss.

»Das war Enver Hoxha.« Mehr brachte ich nicht heraus, als der Hörer wieder auf der Gabel lag.

Ach wirklich? Er selbst? Persönlich?

»Ja«, antwortete ich.

Also wie? Was wollte er denn? Und du? Du hast ja gar nichts gesagt.

»Ich weiß auch nicht.«

Etwas anderes fiel mir nicht ein, konsterniert, wie ich war.

Schließlich erzählte ich von dem Glückwunsch, und außer einem, der Verständnis äußerte, weil es einem in solch großen Momenten leicht die Sprache verschlage, kritisierten mich alle, da ich nichts Gescheites herausgebracht hatte.

Idiot, beschimpfte ich den Belorussen aus dem Traum.

In der Kampagne gegen Pasternak[7] wurde sein Telefongespräch mit Stalin nach Mandelstams[8] Verhaftung dazu benutzt, ihn in ein schlechtes Licht zu rücken. Das galt besonders für die Stelle, an der Stalin seine Meinung über Mandelstam wissen will. Fünf oder sechs Versionen waren im Umlauf, von weiteren wurde getuschelt, und eine war übler als die andere.

Idiot, schalt ich erneut den Belorussen, mehr aber noch mich selbst, weil ich solche Dinge träumte.

Das hinderte mich aber nicht daran, über weitere Varianten nachzudenken.

Genosse Enver will mit Ihnen reden … Was halten Sie von Mandelstam, ich meine, von Lasgush Poradeci?[9] Oder Dhimitër Pasko[10] und Petro Marko?[11] Sie sind gerade wieder aus dem Gefängnis heraus, können aber leicht wieder dort landen. Beziehungsweise, wie denken Sie über Agolli[12], Qiriazi[13], Arapi[14], die bisher noch ums Gefängnis … herumgekommen sind. Oder fragen wir ohne Umschweife: Was hältst du von dir selbst?

Was den Letztgenannten anging, also mich selbst, war die Antwort recht einfach: Ich möchte das wirkliche Leben schildern, wie wir alle. Allerdings gibt es eine noch unveröffentlichte Novelle über das Studentenleben in Moskau, die Anstoß erregen könnte, vor allem auch bei Genossin Nexhmije[15]. Obwohl, der Ort, wo alles spielt, ist weit entfernt, ein Schriftstellererholungsheim in Dubulti an der baltischen Küste.

Was halten Sie von Pasternak?

Die Frage fühlte sich überraschend an, obwohl sie es absolut nicht war. In Wahrheit hätte mir keine ungelegener kommen können.

Pasternak? Mit dem hatte ich nie etwas zu tun. Vielleicht einmal ein Blick von weitem in Peredelkino[16]. Wenn er in der Novelle erwähnt wird, dann nur wegen der Kampagne, vor deren Hintergrund die Handlung stattfindet. Im Gorki-Institut studierte eine Verwandte von ihm. Eine Studentin im zweiten Jahr, die ständig weinte. Die Gründe kann man sich denken.

Ich war entschlossen, mich möglichst lange bei Nebensächlichkeiten aufzuhalten, um der unvermeidlichen nächsten Frage zu entgehen, die mir noch bedrohlicher vorkam: Und was ist mit dem Nobelpreis?

Man konnte darauf wetten, dass die meisten Studenten trotz ihres scheinheiligen Gebrülls genau davon träumten. Aber die Frage zielte ohnehin auf mich. Sollte ich behaupten, das Thema hätte mich nie beschäftigt? Das ging natürlich nicht. Später, viel später, als gemunkelt wurde, ich stünde auf dieser … Liste, musste ich oft daran denken.

Aha, deshalb diese erstaunliche, ganz und gar unpassende Darstellung des Wirbels um Pasternak. Als sei da auch noch jemand anderes gemeint. Vielleicht sogar du selbst. Daher also diese krankhafte und zugleich erregende Nervosität. Du gegen dein ganzes Land, das dich beschimpft und dir seinen Hass und seine Liebe, eins geworden, ins Gesicht schreit. Gib diesen verfluchten Preis zurück, kreischen Studenten, schwangere Frauen, Grubenarbeiter aus Tepelena[17]. Du bist konsterniert, unschlüssig, ob du ihn annehmen sollst oder nicht. Hamlets Zweifel, sozusagen. Und dann Sterjo Spasse, der Patriarch[18], der dich extra aufsucht, so wie Kornej Tschukowski[19] damals zu Pasternak in die Datscha kam: Du bist wie ein Sohn für mich, heute bin ich noch für dich da, schon morgen vielleicht nicht mehr, um der Moskauer Erinnerungen willen, schlage dieses vergiftete Geschenk aus, sonst ist es bald zu spät!

 

Zum Glück erlebte ich solche nächtlichen Zustände nur selten. Meine Moskauer Streifzüge, wie ich es nannte, gingen zurück, als ich erste Aufzeichnungen für den Roman machte. Es war der einzige, der mich mehr als zehn Jahre kostete. Gelegentlich schrieb ich ein paar Seiten, gewissermaßen, um ihn bei Laune zu halten. Oder wenigstens zu beweisen, dass ich mich nicht ganz von ihm abgewandt hatte.

Es war, als hielte ich mir einen hübschen, aber ziemlich gefährlichen Vogel im Käfig. Manchmal war ich zornig auf ihn und natürlich auch auf mich selbst. Das hatte wesentlich damit zu tun, dass wir (der Roman, ich selbst, ein paar Mädchenlocken, Moskau, die Kunst) uns Gott weiß wem gegenüber verpflichtet fühlten, dieses … Zeremoniell zum Abschluss zu bringen.

Wenn ich mich bemühte, die Angelegenheit mit Ruhe zu betrachten, fand ich einigermaßen zur Normalität zurück. Es gab keinen Grund, die Dinge zu dramatisieren und mich zu beklagen. Und erst recht keine Verpflichtung und kein … Zeremoniell. Was mich antrieb, war das, was manche Berufung und andere Besessenheit oder einen Dämon nennen. Die Welt stellte sich mir gespalten dar: Der eine Teil eignete sich für das Buch, der andere nicht. Der ungeeignete Teil war im Vergleich zum ersteren unendlich viel größer, und dieser, der geeignete, bot mir auch nur selten Zugang. Zudem waren die Zeichen, die von ihm ausgingen, undeutlich, enigmatisch, und wenn man sie irgendwann doch erfasste, ließen sie sich nicht durchweg entschlüsseln.

Möglicherweise hatte sich Moskau genau an dem Tag im mir zugänglichen Teil der Welt eingefunden, an dem es für mich unerreichbar geworden war, und nur noch nächtliche Albträume an die Stelle verschwundener Flugzeuge, Visa und Landebahnen traten. Denn das verlässlichste Mittel, es dorthin zu schaffen, wo nicht einmal der bedrohlichste Panzer hinkam – so hatte ich es einmal ausgedrückt –, war der Roman.

Dass Moskau mir genau in dem Augenblick unersetzlich wurde, als es sich in Tiranas Hauptfeind verwandelt hatte, war nicht übermäßig verwunderlich. Pasternak stellte die Überraschung dar. Was hatte er in der Stadt zu suchen, die gerade in mein Reich aufgenommen worden war, zwischen Mädchenlocken und Briefen, in denen es noch immer hieß: »Hast du mir nicht versprochen, du würdest wiederkommen?«

Die Frage war: Konnte ich Pasternak in meinem Roman einfach auslassen? Wir waren ja schwer zusammenzubringen, er mit seinen quälenden Sorgen, ich mit meinen studentischen Kapriolen.

Je mehr ich mir einzureden versuchte, es könne nicht so schwierig sein, desto schwieriger kam es mir vor. Bis ich mich schließlich mit der offensichtlichen Unmöglichkeit abfand. Er war am Ort des Geschehens gewesen … Oder andersherum, ich war dort gewesen und konnte nicht einfach so tun, als hätten wir nichts miteinander zu schaffen gehabt. Alle waren wir betroffen gewesen, und daran würde sich nichts ändern, weil wir der gleichen Sippschaft angehörten: den Schriftstellern.

Verwandtschaft gehörte zu den Rätseln meiner Kindheit. Als ich wissen wollte, weshalb wir mit manchen Leuten verwandt waren, mit anderen aber nicht, antwortete Großmutter erst ausweichend, bis sie mir dann auf mein Drängen hin anvertraute, das bestimme allein der liebe Gott, aber ich dürfe es bitte niemandem weitersagen.

Die Antwort befriedigte mich nicht. Es schien mir ungerecht, dass wir gezwungen waren, die krumme Tante Bakushe zur Verwandtschaft zu zählen, nicht aber – beispielsweise – die hübsche Gymnasiastin Laura Mezini[20], die sich beim Gehen so anmutig in den Hüften wiegte.

 

Was hältst du von Mandelstam?

Boris Pasternaks Antwort »Wir sind verschieden, Genosse Stalin« wurde ständig als Beleg dafür angeführt, dass er seinen Freund in der Patsche hatte sitzenlassen.

Was hielt ich von Pasternak?

Die Antwort »Wir sind verschieden« wäre mir leichter gefallen, weil es einfach stimmte: andere Nation, anderer Staat, andere Zeit. Auch eine andere Religion. Und erst recht eine andere Sprache.

Trotzdem, die gleiche Sippschaft. Daran ließ sich nichts deuteln. Moskau war an dem Tag, an dem es begonnen hatte, sich für die Kunst zu eignen, ein Muss geworden. Infolgedessen machte der Dämon künstlerischer Verwandtschaftsbeziehungen auch Pasternak zum Muss.

Nach Lage der Dinge würde ich unausweichlich zwischen die Fronten geraten. Was hatte ich für Möglichkeiten? Mich auf die Seite des Dichters gegen den Staat schlagen. Auf die Seite des Staates gegen den Dichter. Oder neutral bleiben.

In der Zwischenzeit war etwas Unglaubliches passiert: Es war plötzlich nicht mehr unmöglich, gegen den Sowjetstaat zu sein. Dies galt jedoch keinesfalls für Pasternak. Aus Sicht des albanischen Staates hatte sich sein sowjetisches Pendant erneut als jämmerlicher Versager erwiesen, aber nicht, weil es zu streng mit dem Dichter umging, sondern weil es ihm gegenüber zu viel Nachsicht übte!

Versetzen wir uns in eine Versammlung des noch ungeteilten sozialistischen Lagers: Genossen, Staaten, kommunistische Brüder, unser von der Weltbourgeoisie verhätschelter Dichter stellt uns vor große Probleme. Was ratet ihr uns? Für mich stand fest, dass jedenfalls zwei Staaten, Albanien und Nordkorea, sofort eine Antwort parat gehabt hätten: Was wir tun sollen? Das, was wir immer getan haben. Eine Kugel ins Genick, und die Sache ist erledigt.

Der Augenblick hatte also etwas bislang Unmögliches möglich gemacht: Ich konnte mich gegen den Sowjetstaat stellen. Doch die andere, an sich logische Option, Pasternak zu unterstützen, blieb illusorisch.

Gegen beide. Mit einem gegen den anderen. Mit beiden. Mit keinem. Alle diese Varianten erschienen abwegig. Der Gedanke an Neutralität blitzte auf und zerstob. Ich war Ausländer und nur ganz zufällig in diese Bredouille geraten. Sollten sie doch machen, was sie wollten, sich versöhnen, gegenseitig die Augen ausreißen. Was hatte ich damit zu tun? Ich war verschieden.

Was anders als ein schauriges Lachen passte zu diesem Gedanken. Ich war durchaus nicht zufällig in diese Geschichte hineingeraten, ich steckte mittendrin. Es war nicht eine einfache Verwandtschaftsangelegenheit, hier hauste das pure Grauen. Im Erdgeschoss seiner Datscha in Peredelkino, ausgestreckt auf seiner schmalen feldbettartigen Liegestatt, erwartete Boris Pasternak den Tod, ermordet vom Nobelpreis. Seit mehr als einem halben Jahrhundert wurde er verliehen, doch der russische Dichter war sein erstes Opfer. Die Zahl der Leidtragenden würde größer sein als sonst, Angehörige und Freunde, die Kinder, Sinaida Nikolajewna[21], viele Unbekannte, die Geliebte. Es war Mai, ich lebte noch in Moskau und spürte bereits vage die künftige enigmatische Verbindung mit ihm.

Die Jahre vergingen. Die Verbindung löste sich nicht auf, im Gegenteil: Sie war resistent gegen alles, auch meinen Willen.

Eine Zeitlang wusste ich nicht genau, ob mir der Weg zu Pasternak durch die Locken und Augen einiger Moskauer Mädchen gewiesen worden war, oder ob er mich dorthin mitgenommen hatte.

Das alles war eine Geschichte der Unmöglichkeiten. Es war unmöglich, diese Augen und Locken wiederzusehen, die ich so unbeschwert gefilmt hatte. Aber das bedeutete nichts im Vergleich zu einer anderen, grenzenlosen und unheilvollen Unmöglichkeit. Als wir uns vom Sowjetblock lösten, wiegten wir uns in der trügerischen Erwartung, diese Welt früher oder später ganz hinter uns lassen zu können. Doch die Zeichen wiesen in eine andere Richtung. Je mehr Zeit verfloss, desto unmöglicher wurde eine endgültige Abkehr. Pasternaks traurige Geschichte war nur einer von vielen Belegen dafür. Moskau und Tirana mochten sich gegenseitig erbarmungslos bekämpfen, aber im Fall der verfemten Schriftsteller waren sie sich in ihrem Urteil einig: Euer Ruf, ob gut oder schlecht, gehört in unsere Welt. Die Welt dort draußen dürft ihr getrost vergessen. Was von dort kommt, ist toxisch und bringt Unheil.

In dieser Welt hatte man mich gedruckt, und ein Nachteil war mir daraus bisher noch nicht erwachsen. Vor dem Skandal hatte dies auch für Pasternak gegolten. Die Veröffentlichung von Doktor Shiwago war in Moskau mit Schweigen quittiert worden.[22] Wenn ich eine Gemeinsamkeit mit ihm teilte, war es das Schweigen. Und der andere Teil, die Aufregung? Noch nicht absehbar.

Das Buch über meine Jahre in Moskau war halb fertig, als die ersten Gerüchte in puncto Stockholm auftauchten. Ein neues Enigma, das Licht und Schatten auf die Seiten des Romans warf.

Ich hatte erwartet, die Gerüchte würden genügen, um mir den Wunsch auszutreiben, den Roman fertigzustellen. Das Sprichwort, man dürfe im Haus des Erhängten nicht vom Strick reden, wäre Warnung genug. Doch es kam anders. Auch noch später, als mein Name tatsächlich auf der Liste der Aspiranten auftauchen sollte.

Quasi um mich auf die Probe zu stellen, blätterte ich meine Aufzeichnungen durch, wurde aber nicht abgeschreckt, sondern fühlte mich sogar animiert, sie zu ergänzen, auch wenn sich meine Finger dabei immer steifer anfühlten. Erst waren es ein paar Zeilen, dann ganze Seiten. Die dringende Warnung, an auswärtigen Ruhm besser gar nicht zu denken, hinderte mich so wenig wie die Einsicht, dass wir alle nur auf Bewährung draußen waren.

Die Erinnerungen an Moskau waren noch frisch, weibliche Locken und Tränen und Brüste kamen darin vor, ganz unüblich für Albanien, doch Andeutungen auf Pasternak erschienen mir nicht statthaft. Anwärter auf den Nobelpreis zu sein bedeutete, das Stigma seiner gefährlichen Seite zu tragen. Mir war auferlegt, Pasternaks steinigen Weg, von dem ihn der Tod befreit hatte, weiterzugehen. Ich war der Schauspieler, der in diese Rolle schlüpfen musste, ob ich nun wollte oder nicht. Auch wenn ihn die anderen vergaßen, ich nicht, das erschien mir selbstverständlich. Aber es gab auch Tage, an denen mir, gerade umgekehrt, logisch erschien, dass alle über ihn sprechen konnten außer mir.

 

Zwischen Tag und Nacht tat sich mir immer wieder ein dritter Bereich der Zeit auf: den der Literatur. Sie war dem Traum so nahe, dass Sorgen und drohende Gefahren immer mehr verblassten, bis sie sich in Schattenbilder außerhalb des eigenen Ichs verwandelt hatten.

Genau dort war mir etwas Befremdliches, irgendwie Unangebrachtes oder sogar Unglaubliches gelungen: Ich hatte den unmöglichen Roman vollendet.

Meine Befürchtungen, die ich gerne Ängste nannte, waren im Kern doch nicht so dramatisch gewesen. Sie glichen mehr einem Spielzeug, das ich nach Belieben weglegen konnte, so wie man sich aus schwerem Schlaf befreien kann, wo das Grauen, so tief es sein mag, stets auch das Merkmal des Unechten trägt.

In bestimmten, noch selteneren Augenblicken, bei denen zu verweilen der Verstand aus bekannten Gründen nicht das Recht hatte, entdeckte ich in mir etwas Verwandtes: einen bedrohlichen Schrecken. Wie genau es beschaffen war, wann und gegen wen es von Nutzen sein konnte, das fand ich nicht heraus.

Der Roman war ein Ausdruck dieser Wahrnehmung. Da lag er vor mir, greifbar und einladend. Dies war für mich genug, um ihn als abgeschlossen zu betrachten. Vollendet. Fertig, in anderen Worten.

Ich stellte mir vor, wie vor über zweitausend Jahren das Publikum im Theater am Südhang der Akropolis den Atem anhielt, wenn Agamemnons Gattin den Ehemann, den sie Augenblicke später töten würde, im Augenblick des Wiedersehens doppeldeutig als »vollendeten Herrn« bezeichnete.

Meiner Meinung nach war der Roman vollendet, also fertig, was den Anhauch von reizvoll und tot zugleich hatte.[23]

 

»Ach, eine Trilogie«, sagte der Verlagslektor, als er das Manuskript entgegennahm. »Die Brücke mit den drei Bögen? Heißt so das ganze Buch oder …«

»Der erste Teil und die ganze Trilogie.«

Er hatte die Unart, gerade übergebene Manuskripte noch in Gegenwart der Autoren durchzublättern.

»Zweiter Teil. Die großen Paschaliks«, murmelte er vor sich hin. »Spannend als Bindeglied. Und der dritte … Ach, da geht es ja um Boris Pasternak!« Er war sichtlich überrascht. Und, was ist schon dabei?, wäre ich fast herausgeplatzt. Stieß ihm auf, dass mein Name auf der Liste stand, oder fand er es eher gut?[24]

Ich hielt dann doch den Mund und dachte: Warum, zum Teufel, fällt ihm in dem sechshundert Seiten starken Manuskript ausgerechnet der Name Pasternak auf?

Er lieferte die Erklärung selbst, indem er leise lächelnd auf das Manuskript schaute und murmelte: »Das ist also der Anfang des dritten Teils … Doktor Shiwago … Ein Arzt. Sehr schöner Einfall. Das kranke Russland braucht medizinischen Beistand …«

Ich atmete erleichtert auf. Meine Lust auf Erklärungen, die beim Betreten des Büros verflogen war, kehrte zurück.

»Also, eigentlich wollte ich schon immer über meine Studentenzeit in Moskau schreiben. Der Roman spielt hauptsächlich dort, beginnt aber woanders, in einem Schriftstellererholungsheim an der baltischen Küste in der Nähe von Riga. Stimmungsvoll, lyrisch. Romantische Sonnenuntergänge. Abendliche Tischtennispartien. Ein Mädchen namens Birgita, so heißt ungefähr die Hälfte aller Lettinnen. Noch ahnt niemand, dass bald der Sturm losbrechen wird, die große Spaltung des sozialistischen Lagers. Der fegt mit dem Herbst über Moskau hinweg. Dort wartet Doktor … Shiwago.«

Ich merkte, dass ich, eigentlich untypisch für mich, viel zu viel redete. Ein Zeichen von schlechtem Gewissen, wahrscheinlich.

»Also, Pasternak kam eher zufällig ins Spiel.«

Als ich den Namen erwähnte, nickte der Lektor wieder zufrieden. »Wirklich brillant, diese paar Zeilen. Mehr ist nicht nötig, um die Sache auf den Punkt zu bringen.«