Geboren aus Stein - Ismail Kadare - E-Book

Geboren aus Stein E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

Ismail Kadares Reise an den Ursprung seines Erzählens Selten geschieht es in der Weltliteratur, dass ein ganzes Werk von einem Ort einzigen ausgeht und immer wieder zu ihm zurückkehrt. Bei Ismail Kadare ist das Gjirokastra, einst die mächtigste Gebirgssiedlung Albaniens. Große Kastenhäuser ducken sich wie Nester in den Hang. Enge Gassen, verwinkelte Gänge, dunkle Tore. Über allem der Schatten der Burg. In diesem Labyrinth aus Stein und Geheimnis ist Kadare geboren. Hier verlebte er seine Kindheit und Jugend und sog unter den Granitdächern von den Großeltern mysteriöse Geschichten von Geistern und Gespenstern in sich auf. Hierhin kehrte er in seinen Büchern immer wieder zurück, auch in seinem letzten Roman »Die Puppe«, der diesen Band beschließt und seiner Mutter gewidmet ist. »Er ist der Homer Albaniens.« Die Welt »Ismail Kadare hat mehr über das 20. Jahrhundert und seine Dunkelheit zu erzählen als jeder andere zeitgenössische Autor.« Daniel Kehlmann

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 345

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ismail Kadare

Geboren aus Stein

Ein Roman und autobiographische Prosa

Roman

 

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

Selten geschieht es in der Weltliteratur, dass ein ganzes Werk von einem Ort einzigen ausgeht und immer wieder zu ihm zurückkehrt. Bei Ismail Kadare ist das Gjirokastra, einst die mächtigste Gebirgssiedlung Albaniens. Große Kastenhäuser ducken sich wie Nester in den Hang. Enge Gassen, verwinkelte Gänge, dunkle Tore. Über allem der Schatten der Burg.

In diesem Labyrinth aus Stein und Geheimnis ist Kadare geboren. Hier verlebte er seine Kindheit und Jugend und sog unter den Granitdächern von den Großeltern mysteriöse Geschichten von Geistern und Gespenstern in sich auf. Hierhin kehrte er in seinen Büchern immer wieder zurück, auch in seinem letzten Roman »Die Puppe«, der diesen Band beschließt und seiner Mutter gewidmet ist.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.

 

Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Narrendinge

1. Kapitel Der kleine Oheim will Selbstmord begehen

2. Kapitel Die kleine Muhme ist der Unmoral verdächtig

3. Kapitel Langeweile übernimmt das Regiment

4. Kapitel Gespannte Ruhe bei den Dobis.

5. Kapitel Die Dobis und die Kadares. Narrendinge

6. Kapitel Der Winter beginnt für die Lateinlehrer mit Prügeln. Das Gespenst erscheint

7. Kapitel Kein Schornstein ohne Rauch, kein Haus ohne Debatten

8. Kapitel Großpapa bewusstlos. Er kennt bestimmt alle Rätsel Albaniens, doch Gott lässt ihn nicht zu Wort kommen

9. Kapitel Großpapa ist nicht mehr da. Sein Geheimnis schon

Eine Geschichte aus drei Zeiten

Zeit des Schreibens

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Zeit des Geldes

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Zeit der Liebe

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Wie Hamlet mir half, die Gespenster zu vertreiben

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Die Puppe

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Editorische Notiz

Narrendinge

1. KapitelDer kleine Oheim will Selbstmord begehen

Gleich, als ich den äußeren Hof betrat, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Die Chaiselongue stand an ihrem üblichen Platz, aber weit und breit war kein Großpapa zu sehen. Auf dem Boden neben der Chaiselongue lagen das Buch mit dem braunen Umschlag, sein Tabaksbeutel und die schon kalt gewordene Pfeife.

Als ich dann das Tor zum Innenhof aufstieß, wäre mir vor Verblüffung fast ein kleiner Schrei herausgerutscht. Großpapa befand sich tatsächlich auf den Beinen, was so gut wie nie vorkam, so selten jedenfalls, dass ich ihn beinahe nicht wiedererkannt hätte. Er unterhielt sich mit einem mir unbekannten Mann, der einen schwarzen Borsalino auf dem Kopf trug. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich gar nicht wahrnahmen. Ich kam mir wie ein Störenfried vor. Auf keinen Fall dürfen Sie den Revolver verstecken, sagte der Mann mit dem Borsalino. Wer mit dem Gedanken spielt, sich umzubringen, tut es eher, wenn er keinen Revolver zur Hand hat.

Ach, so ist das, dachte ich, als ich die Treppe hinaufging. Im Flur des Obergeschosses wäre ich fast mit der kleinen Muhme zusammengestoßen. Sie umarmte mich stürmisch, was ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Man sah ihr an, dass sie mit einem schlechten Gewissen kämpfte und geweint hatte. Mir war schon früher aufgefallen, dass hübsche Frauen noch schöner aussehen, wenn sie zerknirscht sind.

»Bist du das, wo sich umbringen will?«, fragte ich.

Sie starrte mich verdutzt an.

»Woher hast du denn das?«

»Großpapa hat mit einem Mann darüber geredet.«

»Vater hat gesagt, dass ich mich umbringen will?«

Ich schluckte.

»Also, dein Name wurde nicht genannt, aber dass jemand im Haus … na ja, Selbstmord begehen will, davon haben sie gesprochen … Und dass man den Revolver in solchen Fällen besser nicht verstecken soll …«

»Was redest du nur für dummes Zeug?«, fuhr mich die Muhme an. Sie drehte sich um und wollte weggehen, überlegte es sich dann aber anders. »Jetzt hör mir mal gut zu, Dummerjan! Da hast du was in den verkehrten Hals bekommen. Untersteh dich bloß, es herumzuplappern, hast du kapiert? Das geht nur die Leute im Haus etwas an, auf keinen Fall darf etwas hinausdringen, kapiert?«

Ihr wütender Wortschwall wollte gar kein Ende nehmen, und jeder Satz endete mit einem »kapiert«. Ich befürchtete schon das Schlimmste, da änderte sich plötzlich ihr Verhalten. Sie beugte sich zu mir herab und erklärte in nunmehr liebevollem Ton, ja, sie trage wohl die Schuld, aber nicht sie denke daran, sich umzubringen, sondern jemand anders, nämlich ihr Bruder, also der kleine Oheim. Am besten sei jedoch, ich würde alles gleich wieder vergessen.

In meinem Kopf ging alles durcheinander. Jemand anders wollte sich umbringen, aber sie war schuld? Aha! Ich versprach, alles gleich wieder zu vergessen, wenn sie mir bloß erzählte, was sie ihm Schlimmes angetan hatte.

»Ich habe ihm nichts Schlimmes angetan«, erwiderte sie, dann dachte sie kurz nach. »Eigentlich überhaupt nichts«, meinte sie schließlich.

Das wiederholte sie mehrmals. Am Ende hatte ich mit Müh und Not herausgefunden, dass sie ihm wirklich nichts angetan, sondern bloß eines Tages etwas gefunden hatte, das ihm gehörte, unabsichtlich natürlich … Etwas, das niemand hätte sehen dürfen …

»Das reicht jetzt aber«, sagte sie dann. »Du weißt schon mehr, als gut für dich ist. Du verrätst mich doch nicht, oder?«

Sie umarmte mich kurz. Wie immer roch sie sehr gut, und als sie wegging, schüttelte sie ihr langes blondes Haar nervös, was sie noch schuldbewusster wirken ließ.

Ohne den kleinen Oheim zu finden, lief ich eine Weile lang durch das verstörte Haus. Er hatte sich im »Parterre« eingeschlossen, wie man das Kaminzimmer nannte, und keiner wusste, was er dort anstellte. In meinen Augen hatte er gewaltig an Ansehen gewonnen. Ich brannte darauf, genau zu erfahren, was vorgefallen war.

Im Hof hängte die große Muhme Bettlaken zum Trocknen auf. Ich war mir sicher, dass sie das Geheimnis kannte, aber auch, dass sie es mir auf keinen Fall erzählen würde. Wegen der Grübchen neben ihren dunklen Augen, vor allem aber wegen ihrer Ängstlichkeit galt die große Muhme als die Besonnene, während die kleine mit ihren wehenden blonden Haaren und dem kecken Funkeln in den Augen den ganzen Übermut der Familie in sich zu vereinen schien.

Großpapa hatte sich endlich doch auf der Chaiselongue niedergelassen und war wieder in sein Buch vertieft, aber ich wusste, dass erst am Abend, wenn er sich von den Violinenklängen der Ägypter umschmeicheln ließ, sich eine Gelegenheit bieten würde, mit ihm zu reden. Weil Mitglieder der Familie gute Beziehungen zu den Kommunisten unterhielten, hatte Großpapa nicht sehr schlimm unter dem Wechsel des Regimes zu leiden gehabt, außer dass ihm sein Landbesitz weggenommen worden war. Jedenfalls durften die Ägypter weiterhin im »Außenzimmer« wohnen und ihm abends, wie gewohnt, auf der Geige vorspielen.

Der große Onkel wusste wahrscheinlich am besten von allen Bescheid (schließlich waren die beiden, die im Alter nur einen Abstand von einem Jahr hatten und jeden Morgen gemeinsam ins Gymnasium gingen, eher Kameraden als Brüder), aber leider hörte er schlecht und war deshalb denkbar ungeeignet für ein unbelauschtes Gespräch.

Trotzdem ging ich zu ihm hin und wollte wissen, wo der andere sei. Wer?, fragte er. Ach, der Angeber!

Mit offenem Mund hörte ich mir eine Flut unerhörter Beschimpfungen an. Natürlich, er war der Ältere und hatte den dummen Einfall des Jüngeren zu missbilligen, aber mir kam es so vor, als ob mehr hinter seinem Zorn steckte.

Was ich hörte, machte mich ganz wirr im Kopf. Seiner Meinung nach hatte der kleine Oheim kein Mitleid verdient (als ob die Sache mit dem Haarausfall nicht schon schlimm genug wäre, jetzt auch noch diese Heimsuchung!), er war bloß ein Geheimnistuer und Prahlhans. Wahrscheinlich hatte er sich die Sache mit dem Selbstmord auch nur einfallen lassen, um Eindruck zu schinden.

Der große Oheim war wie durchgedreht. Womöglich ließ zusammen mit seinem Gehör auch sein Verstand nach.

Ich mochte beide Onkels gleich gern. Alles an ihnen war bewunderungswürdig: Ihr schlendernder Gang, wenn sie vom Gymnasium heimkamen, die Schülermützen auf ihren Köpfen, die Bücher in ihrem Zimmer, der Lateinkurs, den sie zusammen besuchten, und ganz besonders, dass sie sich auf Lateinisch unterhielten, wenn sie von anderen nicht verstanden werden wollten. Dominus. Divide et impera. In extenso.

Die Bewunderung für beide litt auch nicht darunter, dass einmal der eine, einmal der andere in meinen Augen an geheimnisvoller Ausstrahlung zulegte. Vor kurzem war zum Beispiel der große Oheim zu so etwas wie einem Idol für mich geworden, als er nach einer Ohrenoperation mit Mullbinden um den Kopf durch das Haus gegeistert war. Nun hatte der kleine Oheim offenbar gespürt, dass sein Ruhm ein wenig am Verblassen war, und den Revolver ins Spiel gebracht, als lasse sich das verlorene Ansehen nur durch Selbstmord wiedergewinnen. Jetzt blieb dem Älteren nichts anderes übrig, als wieder das Krankenhaus aufzusuchen, um sich vom großen Doktor Gurameto den Kopf anbohren zu lassen.

Mit anderen Worten: Die Sache war dabei, aus dem Ruder zu laufen.

Mit einem bösen Funkeln in den Augen murmelte der große Oheim weiterhin unsinniges Zeug vor sich hin: Geheimniskrämerischer Giftzwerg, Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage, ha, ha, ha, die Mysterien des Louvre, he, he, he.

Ich konnte es nicht mehr aushalten und verließ traurig das Zimmer. Als ich schon auf der Treppe war, rief er mir hinterher:

»Du darfst auf keinen Fall mit jemandem darüber reden.«

Ich fand es ziemlich erstaunlich, dass alle die Sache verheimlichen wollten.

*

Als ich am späten Nachmittag nach Hause ging, fühlte ich mich ganz leer. Das Mittagessen bei Großpapa war, ganz anders als sonst, überhaupt nicht angenehm verlaufen. Der Kohl und vor allem der Feigenpudding, für den Großmutter so berühmt war, schmeckten so gut wie sonst, aber das half auch nichts. Der kleine Oheim war immer noch nicht aus dem Parterre herausgekommen, deshalb gab es keine spaßigen Sticheleien und vor allem keine geheime Zwiesprache auf Lateinisch.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es auf der Erde zwei Häuser gab, die weniger gemeinsam hatten, als Großpapas und unseres in Palorto. Dass sie im gleichen Land und sogar in der gleichen Stadt standen, war unglaublich.

Ihre Geheimnisse waren vermutlich das Einzige, was sie verband. Auf dem Weg nach Palorto dachte ich darüber nach. Besonders beschäftigte mich die Frage, ob das Neueste, die Sache mit dem Selbstmord, bedeutete, dass unser Haus in Rückstand geriet, was die Eigenarten anging. Bis jetzt hatte ein Gleichgewicht geherrscht, jedes Haus hatte eine davon. Bei uns war es das Verlies, bei Großpapa sein geheimnisumwobener Bruder.

Das Verlies war, wie schon aus dem Namen hervorgeht, eine Art Gefängnis. Nur in den ältesten Häusern der Stadt gab es eines. Es war ein steinernes Gelass tief unten, direkt neben dem großen Kellergewölbe. Es hatte keine Tür, sondern nur eine Luke in der Decke, durch die der Häftling hinuntersteigen musste. Dann wurde die Leiter eingezogen und die Luke verschlossen.

Das galt für die alten Zeiten. Von Großmutter wusste ich, dass damals von den beiden Gefängnisarten das Hausgefängnis die wichtigere Rolle gespielt hatte. Das andere, staatliche, sei mehr ein Reklamerummel gewesen als ein Kerker.

Es kostete mich einige Mühe, herauszufinden, was sie damit meinte. Die Bestrafung, das Einsperren und die Entlassung hatten sich beim Familienverlies in aller Stille und unter größter Verschwiegenheit innerhalb der Mauern des Hauses abgespielt. Keine Polizei, kein Richter, kein Wärter.

Seit Großmutter als Schwiegertochter in das Haus in Palorto gekommen war, hatte das Verlies keine Verwendung mehr gefunden. Aber es gab alle möglichen Geschichten aus der Vergangenheit. Die seltsamste betraf meinen Urgroßvater, dessen Namen ich trug. Eines Nachts war er aus dem Schlaf aufgefahren, weil er von einem seiner alten Fehltritte geträumt hatte. »Aus dem Bett, Frauen!«, hatte er gerufen, »macht den Strohsack und den Wasserkrug für mich bereit, ich gehe ins Verlies.« Und er war wirklich hinuntergestiegen und hatte es ein paar Wochen drunten ausgehalten, bis es ihm so vorgekommen war, als sei die Schuld nun abgebüßt.

Im Gegensatz zum Verlies, dessen Lukendeckel immer noch vorhanden und mit Händen greifbar war, handelte es sich beim Geheimnis des Hauses, in dem die Oheime wohnten, um etwas Unsichtbares, Nebelhaftes. Ein Bruder von Großpapa, den allerdings nie jemand zu Gesicht bekommen hatte, spielte dabei die Hauptrolle. Auch geredet wurde über ihn nie, und wenn ihn doch einmal jemand erwähnte, dann nur mit gedämpfter Stimme und ganz beiläufig.

Er hatte nichts Böses getan und war bestraft worden, wie ich zuerst gedacht hatte, sondern lebte ganz einfach weit entfernt im Norden Albaniens. Außerdem hatte er eine andere Religion. Der große Oheim hatte gemeint, daran sei nichts Besonderes. Ein Zweig vom Stamm der Dobi hatte auch unter der osmanischen Herrschaft am katholischen Glauben festgehalten, was in verschiedenen der alten Häuser vorgekommen war, unseres in Palorto eingeschlossen.

Wie ich aus einem gelegentlichen Getuschel wusste, rechnete man seit langem damit, dass Großpapas Bruder der Stadt einen Besuch abstattete. Aber es war nie dazu gekommen. Nicht einmal, wenn große Ereignisse bevorstanden oder stattgefunden hatten. Zum Beispiel war er weder an dem Tag gekommen, als die Monarchie ausgerufen wurde, noch in der Woche nach ihrem Sturz. Genauso wenig, als im Jahr zweiundvierzig der Komet am Himmel erschien, wonach der Einmarsch der Deutschen erfolgte, nach denen die Kommunisten kamen, worauf jemand gesagt hatte: Jetzt taucht er bestimmt nicht mehr auf!

Ich war vom Gegenteil überzeugt.

2. KapitelDie kleine Muhme ist der Unmoral verdächtig

Obwohl ich die ganzen Ermahnungen, auf keinen Fall jemandem etwas zu sagen, noch genau im Ohr hatte, tat ich am nächsten Morgen genau das Gegenteil: Ich erzählte alles brühwarm meinem Freund Ilir.

Es war Erdkundestunde, der Lehrer redete von Alaska, und Ilir hörte so gebannt zu, als interessierte er sich für nichts mehr als für Eskimos und Temperaturen, die auf ungefähr minus tausend Grad fielen.

Doch kaum schellte es zur Pause, legte er los: »Ich hab es herausgefunden!«

Wir zogen uns in den stillen Winkel des Schulhofs zurück, in dem wir gewöhnlich unsere Geheimnisse austauschten, und er erklärte:

»Ich habe herausgefunden, was deine Tante bei deinem Onkel gesehen hat! Den Pimmel!«

Ich war baff. Und ziemlich wütend:

»Was erzählst du da für einen Blödsinn? Woher willst du das überhaupt wissen?«

»Ich weiß es eben«, antwortete er. »Eine Menge Leute wollen sich umbringen, wenn jemand ihn gesehen hat. Vor allem, wenn er klein ist.«

Ich verzog ungläubig das Gesicht. Wir hatten ihn uns oft gegenseitig gezeigt, aber ich konnte mich nicht erinnern, je an Selbstmord gedacht zu haben. Das wandte ich dann auch ein, aber Ilir meinte, es sei etwas ganz anderes, wenn ein weibliches Wesen ihn zu Gesicht bekäme. Denn nur Frauen wüssten, wie er auszusehen habe …

»Jetzt halt aber dein Maul«, sagte ich, doch er tat, als habe er mich nicht gehört, und ich erklärte noch einmal, er solle gefälligst den Mund halten, schließlich gehe es um meine Tante, die zwar hübsch sei, aber keinesfalls ein Flittchen, wie er offenbar glaube.

Ilir fuhr aus der Haut. Ha, ha, und seine Mutter, war die vielleicht ein Flittchen? Er erinnerte mich daran, wie er mir einmal ihre seidenen Schlüpfer gezeigt hatte. »Da konntest du gar nicht genug hinschauen, aber wenn es um deine Familie geht, dann wirst du plötzlich empfindlich.«

Damit hatte er mich, und zum ersten Mal, seit wir uns kannten, war mir danach, ihn um Entschuldigung zu bitten.

*

Ich wartete nicht den Sonntag ab, sondern ging schon am Mittwoch zu Großpapa. Von weitem schien alles normal, aber als ich den Hof betrat, traute ich meinen Augen nicht. Unglaublich, aber wahr: Großpapa saß zurückgelehnt auf der Chaiselongue und zog an seiner Pfeife, während vor ihm Pero Lukja (beziehungsweise »der große Ägypter«, wie man das Oberhaupt der Familie im Außenzimmer auch nannte) seiner Violine schmachtende Töne entlockte.

Dass dies bei helllichtem Tag geschah, hatte ich noch nie erlebt. Seit Jahren war ich damit vertraut, dass Pero und seine Söhne abends im äußeren Hof Großpapas vielköpfige Familie mit ihrem Geigenspiel unterhielten. Jetzt aber hatte ich es mit zwei Häufchen Elend zu tun, Großpapa und Pero, und anstatt der Traulichkeit eines Sommerabends mit Sternen, Glühwürmchen und gelegentlichem Wetterleuchten herrschte die kalte graue Farbe der Steinplatten, mit denen der Hof ausgelegt war, als sei die Welt gerade am Untergehen.

Beide hielten die Augen halb geschlossen, deshalb kam ich unbemerkt an ihnen vorbei. Mein Herz war schwer. Offenbar sah es nicht gut aus um das Haus. Auf der Treppe ging mir durch den Kopf, was ich in letzter Zeit aus Gesprächen aufgeschnappt hatte: Ermahnungen an Großpapa, er möge endlich vom rückschrittlichen Gebaren eines Grundbesitzers Abstand nehmen und aufhören, sich von seinen ehemaligen Hofbauern ergötzen zu lassen.

Die kleine Muhme fand ich wie so oft vor dem Spiegel sitzend vor. Sie lächelte mich an, ohne den Kopf zu wenden.

Eine Weile lang schaute ich zu, wie sie Haarsträhnen erst nach links kämmte, um sie dann nach rechts auf ihren alten Platz zurückzubefördern. Ihre flinken Augen vollzogen die Bewegungen des Kamms nach, was mir schon immer albern vorgekommen war. Heute, da meine Nerven ohnehin angespannt waren, reichte es aus, um mich unverblümt aussprechen zu lassen, was ich sonst wahrscheinlich in gemessenere Worte gekleidet hätte:

»Ätsch, ich weiß jetzt, was du bei deinem Bruder gesehen hast!«

»Aha!«, antwortete sie, ohne mit dem Kämmen aufzuhören. »Wenn du es eh schon weißt, kannst du es mir ja sagen.«

Ich öffnete den Mund, aber irgendwie geriet meine Zunge ins Straucheln. Schließlich war es doch heraus.

Dass ihr die Wahrheit nicht gefallen würde, hatte ich erwartet, nicht aber, dass ihre Gelassenheit plötzlich in eine solche Empörung umschlagen würde. Sie fuhr herum, der Kamm rutschte ihr aus der Hand, ihr Gesicht wurde puterrot, ja sogar der Spiegel schien vor Wut zerspringen zu wollen.

»Du bist ja verrückt«, schrie sie. »Verrückt und bösartig. Wie kannst du es wagen, du Idiot? Du Lump! Du Halunke!«

Ihre Stimme zitterte. Sie suchte nach weiteren Schimpfwörtern, doch dann brach sie plötzlich in Schluchzen aus, und die Tränen flossen in Strömen.

»Weißt du überhaupt, was du mir unterstellst?«, brachte sie unter Schluchzern hervor. »Sag schon, weißt du das? Offenbar bin ich eine Hure, die ihren Bruder heimlich beobachtet. Das also bin ich für dich, eine Hure!«

Mir war alles furchtbar peinlich, aber in meiner Fassungslosigkeit brachte ich keine Entschuldigung zustande. So stand ich stocksteif da, als sie aufsprang und in ihr Zimmer rannte, wo sie bestimmt noch heftiger weiterweinte.

Es dauerte lange, bis sie wieder zu mir kam. Ich stand am Gartentor und beobachtete die Elstern, wie immer, wenn ich durcheinander war. Ihre Augen und ihre Wangen waren ganz rot.

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte sie und packte mich an den Schultern. »Eigentlich dürfte ich nie wieder mit dir reden, aber ich will nicht, dass dein abartiges Gehirn …« Sie wiederholte diese Worte mehrmals, flüsternd. Also, weil sie nicht wollte, dass in meinem abartigen Gehirn auch nur der Hauch eines Verdachts übrig blieb, brach sie den Schwur, den sie sich selbst gegeben hatte, und erzählte mir, was es gewesen war, das sie bei ihrem Bruder gesehen hatte.

Während sie mir ins Ohr flüsterte, spürte ich ihr Verlangen, es mir abzubeißen. Ich auf der anderen Seite war zu begierig, das Geheimnis endlich zu erfahren, um nicht alles andere darüber zu vergessen. Sie sprach flüsternd weiter. Ja, es stimmte, sie hatte etwas bei ihrem Bruder entdeckt, aber keinesfalls das, was sich mein Schurkengehirn ausgedacht hatte. Am Sonntag, als sie sein Hosen gebügelt hatte, war etwas in der Innentasche gewesen …

»Ein Liebesbrief!«

Ihre tränenfeuchten Augen blinzelten verwirrt.

»Was weißt du denn von solchen Dingen?«, fragte sie in fast mildem Ton. »Weißt du überhaupt, was ein Liebesbrief ist?«

»Das weiß ich schon«, erwiderte ich. »Die Cousine von einem Freund von mir hat einmal einen bekommen. Dadurch wurde sie ohnmächtig und musste ins Krankenhaus gebracht werden.«

»Na gut«, sagte sie. »Aber es war kein Liebesbrief. Und schon gar nicht das, wofür du dieses unanständige Wort verwendest. Es lässt sich damit gar nicht vergleichen. Du musst mir aber versprechen, dass du keinem davon erzählst.«

»Natürlich«, erklärte ich mit dem festen Vorsatz, ihr Vertrauen diesmal nicht zu missbrauchen.

»Na gut«, fuhr sie fort. »Aber du musst wissen, dass es mir nicht leichtfällt, dir die Sache zu erklären. Wahrscheinlich hast du schon von dem gehört, was Kommunistische Partei genannt wird, es wird ja jetzt viel darüber geredet.« Ich nickte heftig. Natürlich war ich im Bilde. An allen Schulmauern stand nichts anderes als dieser Name. »Na gut«, sagte die Muhme schon zum dritten Mal, »und unterbrich mich bitte nicht.« Mit gedämpfter Stimme erklärte sie mir, dass dieser Name, also der Name dieser Partei, tatsächlich überall zu sehen sei, dass aber niemand von sich behaupten könne, er habe schon jemals die Partei selber gesehen. Was sie in der geheimen Innentasche der Hose ihres Bruders gefunden habe, sei ein Parteibuch gewesen, also so ein kleines Heftlein mit einem roten Umschlag, das bewies, dass der kleine Oheim ein Mitglied war, also ein Mitglied der Kommunistischen Partei.

In meinem Kopf ging schon wieder alles durcheinander. Wegen so etwas hatte sich der kleine Onkel umbringen wollen? Während die Muhme weiterredete, musste ich an alle möglichen Briefe denken, größtenteils bedrohliche, etwa Piratenbriefe mit einem Loch in der Mitte oder Macbeth’s Zettel an den zweiten und den dritten Mörder, weil er jemanden loswerden wollte, während es hier bloß um ein schäbiges kleines Heftchen ging. Außerdem, wo lag das Geheimnis? Wir waren doch schließlich alle Kommunisten.

Die Muhme fuhr mich an, ich solle sie gefälligst nicht mit meinen Spinnereien unterbrechen. Also: Obwohl die Partei an der Macht war, blieb sie geheim. Warum ich so belämmert aus der Wäsche gucken würde? Was es da nicht zu verstehen gebe? Ich sagte, ich würde nicht verstehen, was es bedeutete, dass die Partei an der Macht war. O Gott, was bist du doch für ein Einfaltspinsel, sagte sie und versuchte eine Weile lang, es mir zu erklären. Manchmal hatte ich tatsächlich das Gefühl, etwas zu begreifen, aber nur ganz verschwommen. Eigentlich war doch die Republik an der Macht, schließlich hatte sie das Königreich besiegt. Sie schimpfte mich schon wieder einen Einfaltspinsel, dann meinte sie, die Partei sei über allem, und überhaupt täte ihr schon der Kopf weh, ich solle sie nicht dauernd unterbrechen. Jedenfalls war die Partei geheim. Genauso geheim wie ihre Büros, ihre Chefs und selbstverständlich alle Mitglieder mitsamt ihren Parteibüchern. Der Befehl war eindeutig: Niemand durfte ein Parteibuch zu Gesicht bekommen. Die Kommunisten, denen ein derart schrecklicher Fehler unterlief, hatten ihr Leben verwirkt. Deshalb war der kleine Oheim, als er erfuhr, was seine Schwester gesehen hatte, nach seinem Revolver gerannt.

*

Ich konnte es kaum erwarten, Ilir die Neuigkeit mitzuteilen. Als er meinen Bericht hörte, sperrte er die Augen noch weiter auf, als ich es kurz zuvor getan hatte. Ich nannte ihn einen Einfaltspinsel, Lustmolch und Spinner, kurz, ich belegte ihn mit all den Schimpfworten, die ich von der Muhme gehört hatte. Also, die Partei, obwohl streng geheim, stand über allem. Sogar die Republik, die immerhin das Königreich besiegt hatte, musste ihr gegenüber klein beigeben. »Oje!«, sagte Ilir. Wenn die Partei nur wollte, fuhr ich fort, würde sie die Republik am Kragen packen und in den Müll werfen. Ilir sagte wieder »Oje!« und stellte dann eine jener Fragen, bei denen es einem eiskalt über den Rücken lief: Wenn die Partei so mächtig war, warum versteckt sie sich dann?

Eine Weile lang debattierten wir heftig über diesen Punkt. Manchmal schien eine Antwort in Sicht, doch dann löste sich alles wieder in Luft auf. Gott fiel uns ein, der geheim war, weil er über allem stand. Andererseits war auch Mero Lamçja, der berühmte Hühnerdieb, seit dem vergangenen Winter geheim, jedenfalls unauffindbar für die Polizei. Am Ende kamen wir auf den großen Unbekannten, der jedermann in Angst und Schrecken versetzte, gerade weil er das war, was sein Name besagte, nämlich unbekannt, und das beruhigte uns vollends.

*

Den ganzen Tag konnte ich an nichts anderes denken als an dieses neue Gespenst, wo wir doch gedacht hatten, wir hätten die Angst vor Gespenstern hinter uns.

Irgendwie war die Stadt nicht mehr die gleiche. Die Schilder an Kaufläden und Cafés, Haustoren, an der Bank mit ihren vergitterten Fenstern, nichts war mehr eindeutig. Glaubte man, vor einem Damenfriseur zu stehen, war es in Wirklichkeit ein Parteibüro. Ähnlich war es den Käsegeschäften, der Post und den Werkstätten ergangen, in denen Brautkleider bestickt wurden. Nach außen hin wirkte alles normal und friedlich, doch drinnen, hinter einer Geheimtür, fand vielleicht gerade eine Geheimversammlung von Parteimitgliedern statt, die einander mit ihren Parteibüchern vor der Nase herumwedelten: Ha, ha, ich hab’s nicht gesehen, ha, ha, ich hab’s gesehen, jetzt bist du fällig …

Am Ostersonntag beging ein Student aus unserem Viertel Selbstmord. Alle behaupteten, es sei, weil seine Freundin ihn sitzengelassen hatte, aber wir wussten, was in Wahrheit dahintersteckte.

Ein Weile lang fanden wir Spaß an diesem Gespensterkram, bis sich uns eines Nachmittags fast gleichzeitig die befremdliche Frage stellte: Warum haben wir eigentlich keine Angst dabei?

Wir mussten einander eingestehen, dass wir uns ein bisschen nach den alten Gespenstern zurücksehnten, die einen wirklich das Gruseln gelehrt hatten, während das neue trotz all dem »Sie lebe hoch« und »Ruhm der«, trotz der Kampflieder und Lobgesänge im Radio … na ja, was war sie eigentlich? Was ist sie?, fragte Ilir schluckend. Was ist sie?, fragte auch ich mit gerunzelter Stirn. Bis wir endlich darauf kamen: Dieses Gespenst war einfach langweilig.

3. KapitelLangeweile übernimmt das Regiment

Zuerst war das bei den Büchern zu merken. Weil wir alles, was wir mochten, schon gelesen hatten, gingen wir in die Stadtbibliothek, aber was wir dort vorfanden, brachte uns fast zum Weinen. Schon die Titel waren verdrießlich: »Die guten Menschen der Steppe«, »Frühlingserwachen«, »Hoffnungsvoll in die Zukunft« …

Die meisten Verfasser waren sowjetisch. Bei einem gewissen Kononow hatte Ilir Hoffnung. Das Buch hieß »Erzählungen über Lenin«, und ein Cousin hatte Ilir gegenüber gemeint, dieser Lenin zeige einem erst sein freundliches Gesicht, aber wenn er in Wut gerate, sei es ruckzuck um einen geschehen.

Eine größere Enttäuschung konnte man sich nicht vorstellen. Der Lenin aus dem Buch hatte niemanden umgebracht, keinen extra dafür eingeladenen Gast, ja noch nicht einmal einen Fuchs, über den er stolperte: Er konnte einfach nicht töten, weil ihm vor lauter Gutherzigkeit die Hände zitterten. Einen größeren Waschlappen konnte man sich gar nicht vorstellen.

Andere Bücher waren es noch nicht einmal wert, aufgeschlagen zu werden. Immer nur Arbeitseifer, lächelnde Menschen mit lupenreinen Herzen, die um die Wette liefen, wenn man sein letztes Stücken Brot oder seine einzige Jacke an einen Genossen abgeben konnte. Kein gruseliges Raunen wie: Tiefschwarz ist die Nacht, ein Rabe kreist krächzend über der finsteren Schlucht. Nirgends ein einsamer Park im dichten Nebel, wo man keinem trauen durfte. Und sich Arbeitseifer nicht auszahlte, vor allem.

Einmal kam Ilir mit einem Stapel Bücher an, wie sie in der Bibliothek nicht mehr vorzufinden waren. Woher er sie hatte, verschwieg er, aber mein Verdacht war, dass er sie gegen ein paar Seidenschlüpfer seiner Mutter eingetauscht hatte. Ich schaute mir sofort die Titel an. Leo Tolstoi: Kreutzersonate. Pater Anton Harapi: Rede an die Nation. Dann Blume Erinnerung, Kamasutra. Schließlich Josip Broz Tito: Der sechste Jahrestag der jugoslawischen Volksarmee.

Mit Ausnahme von »Die Blume Erinnerung« und »Kamasutra«, wo es offenkundig um schmutzige Dinge ging, war keines der Bücher irgendwie anstößig. Selbst der sogenannte Mord bei Tolstoi hatte keine Würze, zum Beispiel Käuzchenrufe oder von einem Geist geschaukelte, blutbeschmierte Wiegen. Stattdessen gab es ein Klavier.

Durch die beiden Broschüren von Tito beziehungsweise Pater Anton Harapi kämpfte ich mich mit umso größerer Beharrlichkeit, je nichtssagender sie mir vorkamen. Ich war wütend, weil ich mich auf den Arm genommen fühlte, aber auch fest entschlossen, mir das Lesen nicht vermiesen zu lassen, so sehr mir auch alles Gedruckte die Zähne (Buchstaben) zeigte.

In Wirklichkeit las ich die Bücher nur zu Ende, um Ilir nicht zu enttäuschen. Dann, ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, stieß ich bei Tito auf die Formulierung: »Im furchtbar kalten Winter des Jahres 1942 geschah es, dass …« Es war wie bei einem erschöpften Wanderer, der mitten in der Wüste ein Blümchen findet: Ich konnte es kaum glauben. Mindestens zehnmal las ich den Satz und wunderte mich jedes Mal, dass er zwischen all den trockenen Worten nicht selbst vertrocknet war.

Das gleiche Wort – »furchtbar« – sprach mich auch bei Pater Anton Harapi an. Ilir ging es genauso. In seiner altertümlichen Form »forchtlich« hörte es sich sogar doppelt eindrucksvoll an.

Es wäre nur halb so schlimm gewesen, wenn mich bloß die Bücher angeödet hätten. Aber leider wurden mir bald auch viele Menschen schrecklich langweilig, lebendige genauso wie die toten, deren Bilder in Büchern abgedruckt waren.

Das fing schon mit dem Mann an, der vor ungefähr tausend Jahren den albanischen Staat gegründet hatte. Als wir das Thema in der Schule durchnahmen, nannte ihn unser Lehrer erst zweimal den »Alten von Vlora« und beim dritten Mal sogar den »weisen Greis von Vlora«.

Das brachte mich auf die Palme. Ich hatte genug von den gütigen Greisen in den langweiligen Büchern. War nur dieser alte Knacker aufzutreiben gewesen, als die neue Flagge gehisst werden musste?

Eigentlich gefiel uns die albanische Fahne, mir und Ilir. Zwar hatten wir einiges an ihr auszusetzen, es fehlten tödliche Symbole wie zum Beispiel die gekreuzten Knochen bei den Seeräubern, aber besser als die von anderen Staaten war sie schon. Keine sinnlosen Streifen, weiß, rot, blau oder blau, gelb, weiß, sondern ein angsteinflößender schwarzer Doppeladler.

Aber was nutzte das. Als diese Fahne nach tausend Jahrhunderten endlich aufgezogen wurde, brachte sie nicht ein tollkühner, bleicher Märtyrer in Sturm und Regen zum Flattern, sondern man überließ die Angelegenheit einem »weisen Alten«, dem bestimmt die Finger dabei zitterten.

Sein Gesicht war von einer mitleiderregenden Güte. Dieser Mensch konnte keinen Stock erheben, um Elstern zu vertreiben, geschweige denn die blutrote Flagge mit einem forchtlichen Adler hissen. Erstaunlich, dass er sich nicht vertan und statt der albanischen die deutsche oder finnische Fahne hochgezogen hatte.

Ich wartete ungeduldig darauf, dass es endlich schellte und ich mit Ilir reden konnte, da fing plötzlich eine finstere Erkenntnis mich zu quälen an. Dieser »Alte von Vlora« erinnerte mich an jemanden. Eine Weile versuchte ich, die Wahrheit wegzudrängen, aber am Ende musste ich mir deprimiert eingestehen: Der Fahnenhisser glich Großpapa aufs Haar.

Leidtun konnten einem beide. Der eine tat so, als hisste er die Fahne, der andere gaukelte vor, türkische Bücher zu lesen. Die Leute um sie herum gaben vor, ihnen Respekt zu zollen, streckten ihnen aber hinter dem Rücken die Zunge heraus, sobald sie sich umdrehten. Mit einem Wort, zwei Jammerlappen, die nichts zustande brachten.

Ein dritter Einfaltspinsel nahm bald darauf seinen Platz neben ihnen ein. Stalin. Überall hingen Bilder von ihm herum. Und als ob die unerträgliche Biederkeit, die er mit seinem grauen Schopf und Schnurrbart ausstrahlte, nicht schon schlimm genug gewesen wäre, unterließ man es niemals, ein »Väterchen« oder »Onkel« vor seinen Namen zu setzen.

Eines Tages kam Ilir angerannt, um mir zu berichten, dass ein Verwandter von ihm im Radio gehört hatte, dass Stalin von seinen Feinden für ein »Genie des Bösen« gehalten wurde, also für furchtbarer als forchtlich.

Erst hielten wir uns vor Lachen den Bauch, dann regte sich in uns der Verdacht, dass diese Feinde den Verstand verloren hatten.

Denn was Stalin anging, war er nicht nur kein »Genie des Bösen«, sondern der tattrigste aller Tattergreise, die wir kannten. Das sah man schon daran, dass er nichts zu melden hatte. Alle tanzten ihm auf der Nase herum, Molotow, Pawel Wlassow, Tschapajew, Woroschilow und so weiter, während er in seiner Einfalt sich mit kleinen Kindern fotografieren ließ.

Unsere letzte Hoffnung war Enver Hoxha, dessen erster Auftritt dringend erwartet wurde. Wiederum nach Auskunft von Ilirs Verwandtem, war mit ihm nicht zu scherzen. Den bösen Zwerg Koçi Xoxe hatte er kurzerhand umgebracht, dazu ein anderes, mindesten zwei Meter langes Ungeheuer.

Unsere Nase sagte uns, dass wir diesmal nicht enttäuscht werden würden. Leider wurde es wieder nichts. Der Anfang war recht vielversprechend. Obwohl er nicht wirklich blass war, was uns aus bestimmten Gründen (Schleiereule, Nachtgespenster usw.) gefallen hätte, machte er keinen allzu schlechten Eindruck, als er die Rednertribüne bestieg. Jedenfalls nahm man ihm ab, dass er einen Zwerg erwürgt hatte. Doch gleich darauf war alles wieder dahin. Nichts als Lächeln, Winken, Artigkeiten, Blumensträuße, kurz gesagt, nichts als Milch und Honig. Und dann dieses ganze Gebrüll und die gellenden Parolen. Er schrie »Es lebe das Volk!«, und das Volk antwortete »Es lebe die Partei!«. Man wusste schließlich gar nicht mehr, wer von beiden der Lebendigere war.

Ilir zwickte mich in den Arm. Ich konnte mir schon denken, worauf er mich hinweisen wollte. Dieser Mann hatte so gar keine Ähnlichkeit mit Hamlet oder Conte Ugolino della Gherardesca. Ganz zu schweigen von Zorro mit der schwarzen Maske. Dem konnte er auf keinen Fall das Wasser reichen.

Auf dem Heimweg machten wir unserer Enttäuschung Luft. Wie meistens waren wir einer Meinung, außer vielleicht bei den Es-lebe-dieser-es-lebe-jener-Rufen, die mir ganz besonders überflüssig vorgekommen waren.

»Was willst du denn sonst rufen?«, fragte Ilir. »Etwa ›Es sterbe das Volk!‹?«

Ich musste ihm recht geben. Das wäre sicher unangebracht gewesen. Aber bestimmt gab es auch noch andere geeignete Wendungen, etwa »Sein oder nicht sein«.

Ilir fand das genial.

Zwei Tage, nachdem Enver Hoxha wieder abgereist war, flüsterte er mir ins Ohr, als habe er ein Geheimnis mitzuteilen:

»Ich bin auf der Straße deinem Vater begegnet. Er kam mir forchtlich vor.«

»Ach wirklich?«

Ich hätte ihn am liebsten umarmt.

»Seine Miene war finster, und er schaute ganz verächtlich drein. Mich hat er gar nicht bemerkt.« Ilir verging fast vor Hochachtung. Kein Wunder, dass er mein bester Freund war.

»Weißt du was?«, fuhr er gleich darauf mit noch leiserer Stimme fort. »Nimm es mir bitte nicht übel, aber dein Vater sieht aus wie Hitler.«

»Also wirklich!«, antwortete ich. Aber seine Bemerkung nagte doch etwas an mir. Ilir war ein Meister darin, einen in Verlegenheit zu bringen.

Zu Hause beim Mittagessen musterte ich verstohlen meinen Vater. Ilir hatte recht, er sah Hitler wirklich ähnlich. Nur war er größer.

4. KapitelGespannte Ruhe bei den Dobis.

Großpapa wird überraschend als Unterdrücker des griechischen Volkes gebrandmarkt

Der kleine Oheim kam wieder zur Besinnung. Seine Hosen bügelte er nun selbst, aber seine Selbstmordgedanken hatte er immerhin aufgegeben. Das merkte man daran, dass er sich wieder Sorgen wegen seiner spärlicher werdenden Haare machte.

»Als er auf die Idee kam, sich das Gehirn wegzupusten, hat sein Haarausfall aufgehört«, meinte der große Oheim. »Jetzt, wo er zur Vernunft gekommen ist, fängt es wieder an. Ein echter Streich der Natur!«

Die beiden Onkels schienen sich ausgesöhnt zu haben. Sie legten den Schulweg wieder gemeinsam zurück, aber die frühere Vertrautheit zwischen ihnen war verschwunden. Zum Beispiel taten sie nur noch selten, was ich am meisten an ihnen bewunderte: sich auf Lateinisch unterhalten, damit die anderen sie nicht verstanden.

Auch bei den mittäglichen Gesprächen, die immer am lustigsten gewesen waren, gab es nun größere Abstriche. Früher waren drei heikle Themen zu vermeiden gewesen, woran sich alle hielten: das Hörvermögen, wegen der schlechten Ohren des großen Oheims, die Haarmode, wegen des kleinen Oheims, sowie Liebesbriefe, weil die kleine Muhme im Verdacht stand, heimlich welche zu erhalten. In jüngster Zeit waren neue Verbote dazugekommen. Außer dem Thema Selbstmord war aus nachvollziehbaren Gründen auch die Musik tabu, also das Violinenspiel der Ägypter, seit diese nicht nur abends, sondern (Pero Lukja) auch nachmittags nicht mehr kommen durften. Außerdem, und das war der schwierigste Punkt, durfte man nicht mehr die Kommunistische Partei erwähnen, weil der große Oheim dann sofort die Beherrschung verlor. Jeder in der Familie wusste, dass die Enthüllung der bitteren Wahrheit, dass der kleine Oheim den Kommunisten angehörte, der große, bei dem als Erstem entsprechende Neigungen aufgefallen waren, hingegen nicht, Letzteren schwer in seiner Ehre verletzt hatte.

Er konnte einem leidtun, wie er so dasaß, unsicher, von der Unterhaltung ausgeschlossen wegen seines schlechten Gehörs, obwohl er drei Jahre zuvor noch so temperamentvoll, ja aufbrausend gewesen war. Eines Nachmittags hatte er sich mit einer Bombe in der Hand auf den Weg gemacht, um den Schuster in die Luft zu sprengen, der mit seinen neuen Schuhen nicht rechtzeitig fertig geworden war. Ich hatte diesen unvergesslichen Sonntag bei Großpapa verbracht und deshalb miterlebt, wie ihm Großmama, die Muhmen und sämtliche Ägypter aus der Außenstube nachgerannt waren, um ihn unter lautem Bitten und Flehen aufzuhalten.

Spektakuläre Ereignisse schienen im Haus der Dobis inzwischen der Vergangenheit anzugehören. Das herabregnende gelbe Laub übte wohl eine beruhigende Wirkung aus, ganz besonders aber der einsame Klang von Pero Lukjas Violine. Seit ihm verboten worden war, mit seinen Söhnen zusammen Großpapa vorzuspielen, wenn an unvergessenen Sommerabenden die »Stunde der Nostalgie« anbrach, wie die beiden Oheime es spöttisch nannten, ging er der gleichen Beschäftigung nun allein und in einiger Entfernung nach.

Zur gleichen Stunde ruhte sich Großpapa scheinbar zufällig auf seiner Chaiselongue auf der Südterrasse aus, die müden Augen halb geschlossen. Es bestand der Verdacht, dass die beiden sich abgesprochen hatten, obwohl die kleine Muhme nicht glauben mochte, dass Großpapa zu einer solch raffinierten List fähig war.

Im Haus kehrte derweil Ruhe ein, und obwohl die Oheime die Nase rümpften (eine Bemerkung des kleinen Oheims – »Der Herr kommt vom Knecht nicht los, und der Knecht nicht vom Herrn« – hatte ich mir auf einem Zettel notiert, um sie nicht zu vergessen), also: obwohl es den beiden nicht gefiel, gingen sie nicht so weit, die »Stunde der Nostalgie« zu stören.

Der Friede, der bei den Dobis herrschte, war aber nur äußerlich. Von Großmutter wusste ich, dass in den großen Häusern Gjirokastras die Ursachen für Zank und Hader so weit in der Vergangenheit lagen, dass man sich meistens nicht mehr an sie erinnerte. Unsere Verwandten, die Hankonen, lagen seit über zweihundert Jahren im Streit mit den Kokobobos, und diese mit den Shtinos, wenn auch nicht ganz so lange. Am weitesten, nämlich über dreihundert Jahre, lag der Beginn der Fehde zwischen den Zekas und den Babametos zurück, damals waren Letztere noch Christen gewesen. Nicht nur wegen ihrer Dauer, sondern auch wegen des ausnahmsweise bekannten Anlasses war diese Feindschaft bemerkenswert. Ein Blitzschlag war angeblich der Grund. Um was für einen Blitz es sich gehandelt hatte, wo er am Himmel erschienen war und wie er seinen Weg nach Gjirokastra gefunden hatte, damit sie sich seinetwegen streiten konnten, wusste nur der liebe Gott.

Du musst dir wegen solcher Dinge nicht den Kopf zerbrechen, hatte Großmutter gemeint. Angeblich war es ja ein Blitz, aber das stimmt gar nicht. Jetzt, wo du Bücher liest, wirst du es verstehen. Und sie erklärte mir geduldig, dass das, was die Leute für einen Blitz hielten und woran sich meine Phantasie abarbeitete, weil natürlich schwer nachzuvollziehen war, dass etwas wie ein Blitz und nicht etwa ein Ring oder eine Schwiegertochter zum Streit zwischen den Zekas und den Babametos geführt hatte, und erst recht, dass sie den Blitz dazu benutzt hatten, aufeinander einzuschlagen wie mit einer Peitsche … Kurz: Bei dem, das mich nächtelang wertvollen Schlaf gekostet hatte, hatte es sich um nichts anderes gehandelt als um Liebeshändel, wie man es damals nannte.

Offenbar hatte ein Babameto einem Zekamädchen mit einem Spiegelchen Zeichen gegeben. Ilir und ich hatten mit Graciela, der hübschen Jüdin in unserer Klasse, dasselbe getan, ohne auf die Idee zu kommen, dass daraus ein dreihundert Jahre währender Streit entstehen könnte.

Daran musste ich denken, wenn am Mittagstisch, ob nun bei uns zu Hause oder bei den Dobis, dunkle Wolken aufzogen.

Das letzte Mal hatte, glaube ich, eine Äußerung der kleinen Muhme zur Verstimmung geführt: »Dieser Käse ist ungenießbar!« Daraufhin seufzte Großmama: »Ach, was war das doch noch für eine Käse, den uns Kiço brachte, mit Verlaub.«

Der kleine Oheim hob aufgebracht den Kopf.

»Culpa maxima«, sagte er, ohne jemanden anzuschauen.

»Castigamus«, erwiderte der große.

Lateinische Bemerkungen hatten in solchen Fällen nichts Gutes zu bedeuten, das wusste man.

Ich dachte, damit sei die Sache erledigt, doch der kleine Oheim war keiner von denen, die einem Streit aus dem Weg gehen.

»Hast du gesagt ›Kiço, mit Verlaub‹?«, wandte er sich an Großmama. »›Kiço, mit Verlaub‹, wie zu Zeiten der Monarchie? Als ob der Bauer Kiço auf einer Stufe mit dem WC stünde?«

Großmama fiel fast der Löffel aus der Hand. Lähmende Stille trat ein.

»Oha«, sagte sie schließlich. »Da ist mir die Zunge ausgerutscht. Das passiert bei alten Frauen.«

Der kleine Oheim richtete seine zornig funkelnden Augen auf Großpapa.

»Nicht genug, dass dein Mann ein Vierteljahrhundert lang Pächter aus der griechischen Minderheit ausgebeutet hat, jetzt kommst du uns auch noch mit der alten Leier: ›Mit Verlaub, der Grieche‹.«

»Jetzt halt aber mal die Luft an«, sagte Großmama, diesmal in zornigem Ton. »Dein Vater hat die Bauern immer gut behandelt. Er hat dafür gesorgt, dass sie genug zu essen hatten.«