Der Schandkasten - Ismail Kadare - E-Book

Der Schandkasten E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

Im riesigen osmanischen Reich ist Albanien nur der kleinste Zipfel. Doch seine Einwohner gelten als rebellisch und widerspenstig. Wie Ali Pascha, ihr Anführer, genannt der Unselige. Wird auch er mit seinem Leben dafür bezahlen müssen? Denn wer sich dem Willen des Sultans widersetzt, dessen Kopf wird in der Hauptstadt des Reiches im ›Schandkasten‹ ausgestellt. Ismail Kadares nachtschwarze, zutiefst unheimliche Parabel erzählt in wortgewaltigen Bildern vom Schicksal Albaniens unter der Fremdherrschaft der Osmanen.

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ismail Kadare

Der Schandkasten

Roman

 

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

In der Hauptstadt des riesigen Reiches, auf dem Platz, wo die Menschen täglich unterwegs sind, steht ein grausiges Behältnis, der sogenannte Schandkasten. In ihm werden die abgeschlagenen Köpfe derjenigen ausgestellt, die es wagten, sich dem Willen des allmächtigen Herrschers und Sultans zu widersetzen. Der junge Abdullah ist abkommandiert, vor diesem düsteren Mahnmal Wache zu stehen. Das Summen der Stimmen auf dem Platz hüllt ihn ein, doch allmählich versteht er aus einzelnen Wörtern und Satzfetzen, die aufspritzen wie der Schaum des Meeres, die politischen Zusammenhänge, und er ahnt, wo die Wut der Untertanen in dem riesigen osmanischen Reich am heftigsten gärt. In Albanien, dessen Bewohner als besonderes rebellisch und widerspenstig gelten. Ismail Kadare erzählt von der Fremdherrschaft der Osmanen in Albanien und vom Schicksal des Ali Pascha, der an dem verfluchten Westrand des Reiches für Aufruhr sorgt und den seine Untertanen den Unseligen nennen. Wird auch sein Kopf im Schandkasten ausgestellt werden?

 

In dunklen poetischen Bildern verfremdet Kadare den historischen Kern der Geschichte zu einer glühenden Parabel über die Abgründe und Schrecken politischer Willkürherrschaft und den Mut, sich ihr zu widersetzen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.

Inhalt

Kapitel 1 Im Zentrum des Reiches

Kapitel 2 Am Rand des Reiches

Kapitel 3 Zwischen Rand und Zentrum des Reiches

Kapitel 4 Zentrum des Reiches. Ein wolkiger Tag

Kapitel 5 Am Rand des Reiches. Ein wolkiger Tag

Kapitel 6 Immer noch am Rand

Kapitel 7 Weder Rand noch Zentrum. Kra-Kra

Kapitel 8 Zentrum des Reiches, Schluß

Kapitel 1Im Zentrum des Reiches

Immer wieder begegneten seine Augen den Blicken der Passanten und Touristen, die von allen Seiten auf den Platz strömten. So wie alle Massen in Bewegung, hatten auch die Touristenscharen leichte und flüchtige Blicke, doch diese erstarrten schon beim ersten Kontakt. Zuerst schienen sich die überrumpelten Pupillen tief in die Höhlen verkriechen zu wollen, und nur, weil dies nicht glückte, blieben sie an ihrem Platz und ertrugen den Anblick. Die meisten erbleichten, einigen wurde übel, und nur ganz wenige schauten weiter standhaft in seine Augen. Diese waren gleichgültig und von einer Farbe, die sich so wenig als blau bezeichnen ließ, wie sie grau oder weiß genannt werden durfte, ja, man konnte überhaupt kaum von Farbe reden, denn eher als eine Farbe war es der Widerschein einer fernen Leere.

Wenn es den Touristenscharen dann schließlich gelungen war, ihre Blicke loszureißen, erkundigten sie sich eilig nach dem Weg zur Hagia Sophia, zu den Türben der erhabenen Sultane, zur Bank, zu den alten Bädern, zum Palast der Träume. Und obwohl sie fragten und fragten, gingen die meisten doch nicht weg, sondern irrten über den Platz, als seien sie in eine Falle geraten. Vielleicht lag dies daran, daß der Platz zwar nicht sehr groß, aber immerhin einer der charakteristischen Plätze im Zentrum des vielhundertjährigen Reiches war. Mit grünlich schimmerndem Granit gepflastert, sah er wie in Bronze gegossen aus. Der Eindruck von Solidität, den das Pflaster vermittelte, wurde noch durch die metallenen Löwenköpfe hinter den Eisengittern am Gebäude des Zentralen Staatsarchivs betont, dessen einer Flügel den Platz begrenzte, durch die Bleikuppel der Sultansmoschee, eine mit Hieroglyphen bedeckte Säule, die vor Jahrhunderten als Trophäe aus dem eroberten Ägypten mitgebracht worden war, verschiedene in Metall gegossene Insignien und Symbole des Imperiums und schließlich eben durch das Kanonentor, in dessen Mauern der Schandkasten eingelassen war. Die Einheimischen nannten die Nische Ibret Tasch, also »Stein der Warnung« oder, in freierer Übersetzung, »Lehre aus dem Unheil«.

Unschwer zu erraten, weshalb man den Kasten für die abgeschnittenen Köpfe rebellischer Wesire oder in Ungnade gefallener Größen des Reiches gerade an diesem Platz eingerichtet hatte. Nirgendwo sonst hätte der Kontrast zwischen der gewichtigen Statik des altehrwürdigen Platzes und dem abgehackten Menschenkopf, der sich dagegen zu empören gewagt hatte, einem Passanten augenfälliger werden können. Man sah sofort, daß der Platz für den Kasten in der Mauer so gewählt worden war, daß sich der Eindruck vermittelte, die erloschenen Augen des Kopfes überschauten den ganzen Platz samt allem, was sich darauf befand. Alles hatte den Zweck, auch noch den phantasielosesten Passanten dazu zu verleiten, sich den eigenen Kopf in dieser unnatürlichen Höhe vorzustellen, knapp übermannshoch, doch etwas niedriger als das Haupt eines Berittenen.

Der Platz war wirklich von ungeheurer Solidität. Allenthalben offenbarte sich die Liaison von Metall und Stein. Sogar auf der Terrasse des Kaffeehauses gegenüber, wo den ganzen Tag lang Mokka getrunken wurde, hatte es das Metall in Form schwerer Kupferkannen und -kessel offenbar schnell verstanden, alles, was an den Gebärden des Kaffeetrinkens träge und anheimelnd war, mit seiner Gegenwart zu umgeben.

Dort nahmen gewöhnlich auch die betagten Exherolde des Staates ihren Kaffee ein, wenn sie wegen ihres Alters oder Stimmverlust, ihre Berufskrankheit, in Pension geschickt worden waren. Sie waren Veteranen der letzten Meldung, und der Wirt hatte Abdullah, dem Aufseher des Schandkastens, erzählt, daß es in ihren Gesprächen um nichts anderes ging als um Nachrichten und Erlasse, die sie einst allerorts im Reich verkündet hatten.

Ehe sich morgens der Platz belebte, blickte Abdullah, Aufseher des Schandkastens, oft lange zur Kaffeehausterrasse hinüber. Nach Dienstschluß wäre er gerne an einem der kleinen Tische gesessen, doch er tat es nur selten, weil ihm der Arzt den Kaffee als seiner Gesundheit abträglich verboten hatte. Abdullah war einunddreißig, doch seine langen Glieder waren schwächlich; überdies machte ihm ab und zu ein Brausen in den Ohren zu schaffen, das seinen ganzen Körper lähmte. Und auf diesem Platz war der Kaffee so stark wie alles andere. Trotzdem wagte es Abdullah ab und zu, sich ein Täßchen zu bestellen. Dabei setzte er sich gerne zu den alten Herolden an den Tisch. Ihre Kehlen, von denen einst Scheiben erbebt waren, gaben nun nur noch ein elendes Krächzen von sich. Doch war das nicht schwer zu verstehen, wie der Wirt meinte, denn nach ihrer Meinung waren die Erlasse damals, verglichen mit heute, sehr viel bedeutender, so wie sie selbst auch, verglichen mit den heutigen Herolden. Vom Herrn des Kaffeehauses hatte Abdullah auch erfahren, daß ausnahmslos alle der Ausrufer, die ihre Stimme verloren hatten, sich präzise des Tages erinnerten, an dem dies eingetreten war, und nicht nur des Tages, sondern auch des Fermans, den sie gerade verkündet hatten, ja sogar des Satzes, bei dem ihnen die Stimme weggeblieben war. So sind sie nun einmal, die Leute, fuhr er heftig fort, sie vergessen nichts.

Wenn er während der Dienststunden keine Lust mehr hatte, zum Kaffeehaus hinüberzuschauen, wanderte sein Blick zu den Speeren der beiden Posten hinüber, die den Kasten Tag und Nacht bewachten. Doch das war ein mehr als langweiliger Anblick, und nur, wenn der Platz ganz verlassen dalag, kam er überhaupt auf diese Idee. Füllte sich der Platz dann mit Menschen, beobachtete er am liebsten das Pupillenspiel der Passanten oder Touristen, wenn sie zum ersten Mal dem Kopf direkt gegenüberstanden. Er wußte, daß keiner den Anblick eines abgeschnittenen Hauptes gewohnt war, und dennoch hatte er immer wieder das Gefühl, der Schrecken und die Erschütterung, die in den Gesichtern der Betrachter festzustellen waren, überschritten das Maß alles Vorhersehbaren. Er vermutete, daß der tiefste Eindruck von den Augen des Kopfes ausging, aber nicht vor allem deswegen, weil es tote Augen waren, sondern weil die Leute menschliche Augen üblicherweise in einem bestimmten Verhältnis zum ganzen Körper einschließlich der Hände und Füße wahrnahmen, weshalb dann deren Fehlen, so glaubte Abdullah, die Augen größer und wichtiger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich waren.

Überhaupt kam es Abdullah so vor, als ob die Menschen weniger wichtig wären, als sie sich selber nahmen. Manchmal, wenn die Dämmerung niedersank und der Mond zu früh auf den Platz herableuchtete, erschienen ihm die Menschen, ihn selber eingeschlossen, wie eine bloße Unreinlichkeit auf dem erhabenen Platz, die seine Würde und Harmonie beeinträchtigte. Er konnte es dann kaum erwarten, bis der Platz wieder gänzlich menschenleer war, damit er, obwohl seine Dienststunden schon vorüber waren, das eisige Glitzern des Mondes genießen konnte, das sich ringsumher ausbreitete. Ab und zu fiel das Mondlicht schräg auf den Kasten, und dann nahm der beleuchtete Kopf, je nach dem Stand des Mondes über dem Horizont, einen spöttischen oder gänzlich apathischen Ausdruck an. Doch Abdullah kam es so vor, als ob der von menschlichen Gliedern wie von etwas Überflüssigem befreite Kopf nun des Zusammenseins mit den jahrhundertealten Insignien und Symbolen auf dem Platz erheblich würdiger sei. In solchen Momenten spürte er, von selbstzerstörerischer Ekstase ergriffen, irgendwo tief in seinem Innern den Wunsch, sich des langen und lästigen Plunders, der seine Glieder waren, zu entledigen und ganz Kopf zu werden. Doch dieser Wunsch blieb so konturlos, daß er niemals an die Oberfläche seines Bewußtseins zu gelangen vermochte.

Tagsüber war Abdullahs Miene selbstverständlich stets starr, denn immerhin war er im Dienst und hatte sich bis zu einem gewissen Grad mit der Statik des Platzes in Harmonie zu befinden. Er war der Aufseher über eines der Wahrzeichen des Platzes, und sein Erscheinungsbild hatte der Aufgabe zu entsprechen. Doch obwohl Abdullah nur ein paar Schritte vom Kasten entfernt stand und unschwer als sein Aufseher zu erkennen war, beachtete ihn merkwürdigerweise kein Mensch. Alle starrten wie gebannt auf den Kasten. Schwache Eifersucht breitete sich, wie in einem großen Topf mit anderen Gefühlen durchmischt, allmählich in dem Aufseher aus.

Zum tausendsten Mal betrachtete er der Reihe nach all die Sehenswürdigkeiten auf dem Platz, gleichsam als wolle er sich davon überzeugen, daß er noch zu weit von der Vollendung entfernt war, um sich ihnen zur Seite stellen zu dürfen. Das einzig Dünne und weniger Großartige waren die Hieroglyphen auf der ägyptischen Säule; sie kamen ihm wie Insekten vor, die im Darüberkriechen erstarrt waren. Wenn er sich manchmal nicht so wohl fühlte, wollten ihm die Hieroglyphen unversehens zum Leben erwachen, begannen sich zu regen, versuchten wohl diese steinerne und metallene Gleichförmigkeit für immer hinter sich zu lassen, um wie Nomaden in ihrer Wüste zu verschwinden. Doch das geschah selten und in Momenten der Ermüdung, während es ihm noch seltener, in Augenblicken der Schwäche, so schien, als sei eigentlich er selbst es, der wie ein Insekt dieser granitenen Falle entfliehen wollte.

Es war Morgen. Aus der Straße der Islamischen Waffen, von der Kreuzung, auf der sich die Tokmakhan-Säule erhob, vom benachbarten Platz des Halbmonds und auf den drei anderen Straßen kamen die Passanten und die Touristenscharen auf den Platz geströmt. Reglosen Auges beobachtete Abdullah das hektische Treiben. Ein kühner Tourist hatte sich dem Kasten auf wenige Schritte genähert. Die gerunzelte Stirn und der angestrengte Blick ließen erkennen, daß er den knappen Hinweis unter dem Kasten zu entziffern versuchte. Abdullah kannte den Text auswendig: »Dies ist des Wesirs Bugrachan Pascha Kopf, den der Sultan, unser Herr, bestrafte, da er, vom Hochverräter Ali Tepelena, ehedem Albaniens Gouverneur, im Krieg bezwungen, sich mit Schande bedeckte.«

Die Uhr auf dem benachbarten Platz des Halbmonds schlug zehnmal. Abdullah tat einige Schritte auf die Mauer zu, hin zu den Holzstufen unter dem Kasten, und begleitet von einem gleichermaßen bestürzten wie verwunderten Getuschel stieg er langsam die Stufen hinauf. Er wußte, daß die Menge hinter seinem Rücken in erwartungsvoller Starre verharrte. Gewisper war zu hören: Was ist das? Was wird er tun? Dies war einer der erfreulichsten Momente des Tages. Endlich rückte er in den Mittelpunkt des Interesses. Natürlich war er nicht berechtigt, irgend etwas an dem Kopf zu verändern. Er durfte ihn noch nicht einmal berühren. Es war seine einzige Pflicht, ihn auf den allgemeinen Zustand hin zu begutachten, um dann, sofern ihm etwas auffiel, sogleich den Arzt zu verständigen.

Wie stets vermied es Abdullah, dem Haupt in die Augen zu blicken. Statt dessen musterte er ein paar Sekunden lang prüfend die kleine Kupferpfanne, auf der, von einer dünnen Honigschicht gehalten, der Hals ruhte. Der Honig war fest geworden. Nun im Dezember sanken die Temperaturen ständig. Immer noch mit dem Rücken zu der Menge stieg Abdullah vorsichtig die Stufen herab. Nach und nach verstummte das Gewisper: Was ist das? Was tut er da? Jetzt stand er wieder an seinem üblichen Platz. Einige Augenblicke lang betrachteten ihn die Passanten und Touristen ehrfurchtsvoll, doch dann war es damit auch schon vorbei, denn eine neue Welle von Menschen schwappte heran, die von der Inspektion nichts mitbekommen hatten, und allmählich rutschte Abdullah aus der Aufmerksamkeit wieder hinaus. Um vier Uhr nachmittags wiederholte sich das Schauspiel. Nach den Vorschriften war die Inspektion des Kopfes zweimal pro Tag im Winter und viermal im Sommer vorzunehmen. Dabei war im Sommer natürlich alles schwieriger. Ständig mußte er darauf achten, daß genug Eisstücke und Salz in der Kupferpfanne waren, und außerdem wurde der kurze Bericht, den er dem Arzt im Winter nur zweimal in der Woche zu senden hatte, während des Sommers am Ende eines jeden Tages fällig.

Am Ende des vergangenen Sommers (dem ersten und auch schwierigsten seines Dienstes) hatte eine Generalinspektion des Platzes stattgefunden. Für ihn waren diese Tage ein wahrer Alptraum gewesen. Ein paarmal schien es soweit zu sein, daß er für immer die Arbeit verlor, und nicht nur die Arbeit. Die Regierungskommission, der die Inspektion oblag, war außerordentlich streng. Der Aufseher der Tokmakhan-Säule war lebenslänglich in den Kerker gewandert, weil links an der Westfront, eine Handbreit über der Erde, ein Rostfleck festgestellt worden war. Lange war die Kommission vor dem Schandkasten geblieben. Damals hatte sich der Kopf des rebellischen Wesirs von Trapezunt darin befunden. Weil man einen Vorwand suchte, um dem Arzt und dem Aufseher Verstöße gegen die »Vorschrift zu Bewahrung der Köpfe« unterstellen zu können, hatten die Kommissionsmitglieder angefangen, wegen der angeblich übermäßig gelben Färbung des Wesirsgesichts und der Blässe der Augen hinterhältige Fragen zu stellen. Abdullah verschlug es vollständig die Sprache, doch der Arzt begann sich mutig zu verteidigen. Er wies die Kommission darauf hin, daß der Wesir auch zu Lebzeiten immer ziemlich gelb gewesen war, wie alle, denen Rebellion und Verrat im Blut liegen, und was die Farbe der Augen betraf (die in Wahrheit unübersehbar zu faulen begonnen hatten), so erinnerte der Arzt die Kommission noch einmal an den alten Satz, daß die Augen Spiegel der Seele sind, und, so fügte er hinzu, dementsprechend ist es ziemlich sinnlos, Farbe in den Augen eines Menschen zu suchen, der niemals eine Seele gehabt hat. Sicherlich klangen die Ausführungen des Arztes für die Ohren der Kommission wenig überzeugend, wenn nicht sogar hohl, doch gerade solchen Aussagen war nicht viel entgegenzusetzen. So sah man sich zu einem allmählichen Rückzug gezwungen, und die ganze Geschichte zog lediglich eine Verwarnung mit Entlassungsandrohung für Abdullah nach sich.

Im Kopf des Wesirs von Trapezunt hatte Abdullah ein böses Omen für seine Karriere erblickt, und er war erst beruhigt, als dieser endlich aus dem Kasten entfernt wurde, um dem Haupt des siebenunddreißigjährigen Gouverneurs Nuri Pascha, zu Lebzeiten wegen der hellen Färbung seiner Haare und Haut auch »der blonde Pascha« genannt, Platz zu machen. An diesem Abend nahm Abdullah nach dem Dienst zum ersten Mal im Café gegenüber Platz, um ein Täßchen Mokka zu trinken. Der Wirt, der den Aufseher kannte, empfing ihn mit Ehrerbietung. Er war ein wenig gelb im Gesicht, hatte schmale Augen, und seine Schläfen pulsierten, sooft er mit dem Kännchen in der Hand herankam. Mit dem Kaffee brachte er ein Geplauder mit, das so natürlich floß wie der Kaffeestrahl aus der Schnauze der Kanne. Die Leute sind böse und unbelehrbar, erklärte er, während er Abdullah die Tasse vollgoß. Der stellte später fest, daß der Wirt fast alle seine Gespräche mit den Gästen so begann. Von diesen gaben manche durch eine Geste zu verstehen, daß sie nichts hören wollten, andere ohne Geste, nur durch ihren frostigen Gesichtsausdruck, der die Unterhaltung sofort zum Erliegen brachte. Andere wieder ermunterten den Wirt durch eine Bemerkung zum Weiterreden. Die kupferne Schnauze konnte versiegen, er jedoch nie. Die Leute sind so verdorben, fuhr er fort. Wenn sie den abgeschnittenen Kopf sehen, dann müßten sie doch eigentlich allen Frevel aus ihren Gedanken verbannen, doch kaum drehen sie sich um, haben sie auch schon nichts mehr als ihre Schandtaten im Kopf.

Bereits damals war Abdullah eine gewisse Ähnlichkeit des Wirtsgesichts mit dem Kupferkännchen aufgefallen. Irgend etwas in seinen Zügen fand sich an dem Kännchen wieder, die Hautfarbe vielleicht oder der Schwung der Nase. Oder, anders herum, sein Gesicht hatte im Lauf der Jahre etwas von dem kupfernen Kännchen angenommen. Andernfalls, fuhr der Wirt, der sich durch einen Blick Abdullahs ermuntert fühlte, fort, hätten all diese Köpfe im Schandkasten doch eine Lehre bei den Menschen bewirken müssen. Der Kaffeestrom aus der Kännchentülle riß ab, der Wirt aber sprach weiter. Er ließ sich sogar für eine Weile am Tisch nieder, um Abdullah davon zu unterrichten, daß er auch mit seinen beiden Vorgängern im Amt des Schandkastenaufsehers gut befreundet gewesen sei. Abdullah wußte, daß es den Kasten noch nicht allzu viele Jahre gab. Der Kaffeehausbesitzer wiederum erinnerte sich genau an Tag und Stunde der Einweihung. Er hatte sogar den Tag im Gedächtnis behalten, an dem die Inspektoren des kaiserlichen Palastes zum ersten Mal auf dem Platz erschienen, ihn abschritten, Markierungen setzten, worauf sich dann zwei Handwerker einstellten, die schließlich mit Hammer und Meißel die ersten Schläge gegen die Mauer des Kanonentors taten. Nicht einmal die Handwerker wußten damals, zu welchem Zweck das Loch in die jahrhundertealte Mauer geschlagen wurde. Auch als es dann fertig war, blieb das Geheimnis noch ungelüftet, bis sich an jenem denkwürdigen Wintertag (Dezember war’s, so wie jetzt auch, setzte der Wirt hinzu) des Morgens plötzlich ein Menschenkopf in dem steinernen Kasten fand. Es war Dezember, wiederholte der Wirt, und es schneite. Das Haupt war grau. Schneeflocken trieben über den Platz, und es schien, als ob Kopf und Himmel eine Liaison miteinander eingegangen wären.

Damals, so erinnerte sich Abdullah, hatte er zum ersten Mal das Wort »Separatismus« gehört. Nun war es richtig in Mode gekommen. Er konnte es sogar aus dem Stakkato ausländischer Touristen heraushören. Der Kasten war eingerichtet worden, als die separatistischen Bestrebungen erneut auflebten. Schon in den alten Chroniken im Staatsarchiv waren reichlich lokale Rebellionen vermeldet, doch in den letzten Jahren hatten diese noch erheblich zugenommen. Das Reich war der mächtigste Staat der Zeit, ein wahrer Überstaat, wie seine Feinde meinten, der sich über drei Kontinente hinweg erstreckte, neunundzwanzig Völker, dreiunddreißig Nationen und vierzig Sprachen umfaßte. In diesem Mischmasch konnte es nicht verwundern, wenn sich ganze Teile des Staates im Zustand der Empörung befanden, so wie nun schon seit fast einem Jahr das Mutterland allen Verdrusses, nämlich Albanien. Sein Pascha Ali Tepelena, der mächtigste aller Wesire des Reiches, hatte nach einem Vierteljahrhundert heimlichen Ungehorsams gegenüber dem Souverän schließlich die Maske fallen lassen und den Krieg vom Zaun gebrochen. Abdullah hatte häufig Unterhaltungen über die Aufstände gelauscht oder auch daran teilgenommen, doch niemals hätte er es für möglich gehalten, daß man ihn eines Tages zum Aufseher über den Stein der Warnung ernennen würde, der auf die seltsamste Weise alles verkörperte, was im Zusammenhang mit dem Separatismus gesagt oder gedacht werden oder Angst und Schrecken verbreiten konnte.

Auf dem Nachbarplatz schlug es elf Uhr. Der Platz war fast voll. In der Menge, deren ständiges Durcheinanderwogen ihn ganz schwindelig machte, entdeckte er den Arzt, der, lebhaft wie immer, näher kam. Es war Zeit für die übliche wöchentliche Visite.

»Guten Morgen, Abdullah«, sagte der Arzt fröhlich.

»Guten Morgen«, antwortete Abdullah und verbeugte sich.

»Wie sieht es aus?« fragte der Arzt und blickte zum Kasten hinauf. »Wann ist die Hochzeit?«

»Nächste Woche«, antwortete Abdullah. Er spürte, wie er rot wurde.

»Oho«, rief der Arzt, »so schnell!« Er rieb sich vergnügt die Hände, dann fuhr er fort: »Schauen wir uns den Bengel hier kurz einmal an?«

»Wie Sie wünschen«, sagte Abdullah und trat vor, um den hölzernen Tritt unter die Mauernische zu schieben. Die Posten mit ihren Speeren beobachteten aus den Augenwinkeln die Menge. Der Arzt stieg rasch die Stufen hinauf, stellte die Tasche in einer Ecke des Kastens ab, warf einen kurzen Blick auf den Kopf und betastete mit flinken Fingern zuerst die Schläfen, dann eine Stelle unter den Augen und schließlich die Kehle. Dabei pfiff er leise vor sich hin. Zum Schluß öffnete er die Tasche, entnahm ihr eine Flasche und einen Wattebausch, feuchtete die Watte mit der Flüssigkeit aus der Flasche an und begann den Kopf überall, wo er ihn berührt hatte, sorgfältig abzutupfen. Dann zog er noch eine andere, etwas kleinere Flasche hervor und träufelte mit einer Pipette ein paar Tropfen in beide Augenwinkel. Als er damit fertig war, packte er die Flaschen und die restliche Watte in die Tasche zurück, wischte einen fehlgegangenen Tropfen oder ein Watteflöckchen von der einen Wange, um dann der anderen Wange einen leichten, fast zärtlichen Klaps zu versetzen, als wolle er bekräftigen, daß alles wunderbar und in voller Ordnung war.

»Wunderbar«, sagte er laut und wedelte beim Herabsteigen fröhlich mit der Hand. »Auf Wiedersehen, Abdullah!«

Abdullah blickte ihm nach, wie er in der Menge verschwand, der offenbar weniger der Anblick des elendesten und unglücklichsten Menschen auf der Welt als die gute Laune des Arztes die Sprache verschlagen hatte.

In Abdullahs Ohren drang wieder monoton das berauschende Summen des Platzes, aus dem wie Schaum von der Oberfläche des Meeres hie und da Wort- und Satzfetzen aufspritzten. Er war der Fels, den sie näßten. Sie flossen ihm in die Augenhöhlen, über die Wangen, das Kinn. Er war durchweicht von den Worten, den Neuigkeiten wie von einem Unwetter … feiner Schnee … Wem gehört der Kopf? … Kopf … wer … der Kopf … opf … dem Gener … eneral … Bugrachan Pascha … Gen … besiegt von Ali Pascha … wieso … man ihn … arum … und … um … gelegt … in den Schand … and … asten … wie? Weil … den Krieg verlor … doch dieser Ali … Pascha … dieser … Ali Tepelena … Was sagst du? Der rebellische Pascha der albanischen Provinz? … ist denn diese Provinz? Oh, so weit … hast du … Zeitung nicht gelesen? … das ist am Westrand … and … dem verfluchtesten Winkel des Reichs … sag den Namen noch einmal … Albe … Alba … Wie soll man bei dem Lärm etwas verstehen? … Was … doch für ein Name!

Diese Provinz muß wirklich weit weg sein, dachte Abdullah. Sein älterer Bruder war bereits im Sommer dienstlich dorthin versetzt worden, und sein erster Brief war noch immer nicht eingetroffen. Immer wenn auf dem Platz der Name Albanien fiel, und wegen des Kopfes geschah dies oft in diesen Tagen, mußte er unwillkürlich an die blutige Pferderippe denken, die er in seiner Kindheit einmal auf dem Markt gesehen hatte. Sehr weit, murmelte er noch einmal vor sich hin. Fern und unheilvoll. Tavdscha Tokmakhan, der legendäre Heros der Janitscharen, zu dessen Angedenken die Säule auf dem Platz aufgestellt worden war, hatte vierhundert Jahre zuvor sein Leben gleichfalls dort eingebüßt. Wahrhaftig, ein verwünschtes Land! Vom Arzt hatte Abdullah erfahren, daß die Eroberung dieses Landes vor ungefähr viereinhalb Jahrhunderten begonnen und volle hundert Jahre gedauert hatte. Viel türkisches Blut war einst bei diesem Feldzug geflossen. Noch mehr Blut später, als das Land im Zaum zu halten war. Und wieviel Blut noch fließen würde, konnte keiner sagen. Das Reich, so dachte Abdullah manchmal, täte wohl besser daran, sich einiger lästiger Teile zu entledigen, wie der menschliche Körper ja fremdes Fleisch ebenfalls abstößt. Doch oft dachte er diese Gedanken nicht, und sobald sie in sein Gehirn schlitterten, suchten seine Augen automatisch die Löwenmähnen und andere kupfernen Symbole, die ihm, obwohl sie reglos blieben, von innen heraus in einem bedrohlichen Feuer zu erglühen schienen.

Das Summen auf dem Platz hüllte ihn sanft von allen Seiten ein. Man unterhielt sich über den verfluchten Westrand des Reiches und die Empörung der Leute dort, der Albaner: Die Peripherie des Reiches ist im Krieg, sagte jemand. Gegen den Aufrührer Ali Pascha kämpft dort jetzt der ruhmreiche Hurschid Pascha. Ob vielleicht der Padischah selbst dorthin geht, so wie damals? Wann damals? Ich weiß nicht, gab der andere zurück. Ein Derwisch in Bessarabien hat mir einmal gesagt, berichtete ein anderer: Nur auf eines verstehen sich diese Albaner, nämlich Aufruhr. Ganz von selbst geht das bei ihnen, wie im Schlaf. Andere sprachen über die steigenden Kurse bei Kupfer und Bronze, von der zu erwartenden Erprobung neuer Waffen in dem jüngsten Krieg und von den Umbesetzungen, die dem Kriegsministerium ins Haus standen. Kommt es dir eigentlich nicht komisch vor? fragte ein Tourist seinen Begleiter. Bald werden die Wechselkurse der Zentralbank, ja sogar die Zahl der Touristenvisa, die von den Botschaften des Reiches ausgegeben werden, direkt vom Verlauf dieses Krieges abhängen.

Abdullah nahm plötzlich wahr, daß sich im gewohnten Summen auf dem Platz ein Riß auftat. Ein paar Augenblicke lang blieb dieser Riß leer, dann ergoß sich Geflüster hinein wie Wasser, halblautes Fragen: »Wer ist denn das?« und das Räderknarren einer Kutsche. Da und dort war zu hören: »Der Amtsherr Halet, Halet kommt«, und Abdullah stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die Kutsche mit dem hohen Staatsbeamten fuhr wenige Schritte entfernt an ihm vorbei.

Abdullah konnte den Blick nicht von dem langen, schmalen Gesicht losreißen, unter dessen dünner Haut blaue Äderchen hervortraten. Die Augen, über denen ein Schleier kompletter Verachtung lag, der aufreizend weit über die Rückenlehne zurückgeneigte Kopf, all dies entfernte ihn von der Menge, die ringsum neugierig zusammenlief.

Abdullah mußte an eine Bemerkung des Arztes denken. Es gibt Leute, hatte dieser gesagt, deren Blut nur langsam gerinnt. In solchen Fällen muß man dem Honig in der Schale mit dem Kopf gewisse Essenzen beigeben, über die in der Vorschrift keine präzisen Aussagen zu finden sind. Stets hatte der Arzt etwas an den Vorschriften auszusetzen. Es wird Zeit, daß man sie nach neuesten ärztlichen Erkenntnissen überarbeitet, pflegte er zu sagen.

Das ist die Sorte Köpfe, mit denen ich mich herumschlagen muß, dachte Abdullah, während er der Kutsche nachsah, die auf der anderen Seite des Platzes verschwand. Er war sich fast sicher, daß das bläulich geäderte Haupt des Staatsdieners Halet einer solchen Spezies zugehörte.

»Der da hat die Klagen über Ali Pascha, den Albaner, zusammengetragen und den Abschlußbericht für den Sultan ausgearbeitet«, sagte eine Stimme neben Abdullahs rechtem Ohr.

Abdullah erinnerte sich genau der Tage, als die Unbotmäßigkeit des albanischen Paschas allgemein bekannt geworden war, an das Echo, das die Nachricht in der Hauptstadt gefunden hatte, den Ferman, der daraufhin erlassen wurde. Darin wurde verfügt, sein Name sei nunmehr von Ali Pascha in Kara Ali, also der »schwarze«, der »unselige Ali« zu ändern. Auch war in jenen Tagen ein Dekret ergangen, das die Niederschlagung der Empörung anordnete. Abdullah dachte an das Gewisper auf den Straßen und in den Cafés, vor allem unter den Künstlern und Gebildeten, an das Funkeln ihrer Augen, ein gieriges Funkeln, das festzustellen war, sobald es irgendwo im Reich zu Unruhen kam.

Halet war noch nicht lange vorbei, als Abdullah bemerkte, daß sich die Menge auf dem Platz verändert hatte. Ein Anzeichen dafür war die monotone Wiederkehr all der Stimmen und Fragen: Wessen Kopf ist das, weshalb, wo liegt denn Albanien, Hurschid Pascha kämpft jetzt dort, Bronzekurse, Touristenvisa … Der Platz war wie ein Schwimmbad, in dem das Wasser alle halbe Stunde erneuert wird. Seine anonyme Fluktuation machte schläfrig. Dort kämpft jetzt Jurschid Pascha gegen den Rebellen, den unseligen Ali. Die Bronzepreise steigen wieder, Bronze, an der Börse, Bronze, onz, nz, z, s …

Abdullah sah zum Kasten hinüber. Ganz sicher würde bald das Haupt Ali Tepelenas, des Wesirs von Albanien, darin liegen. Um es sich zu holen, war der ruhmreiche Hurschid Pascha ausgezogen. Nun war er der Held des Tages. Alle Zeitungen schrieben über ihn. Er hatte den Kopf des Rebellen zu bringen, sonst war sein eigener fällig. So war es vor zwei Monaten dem unglücklichen Bugrachan ergangen. Als sich Bugrachan Pascha auf den Weg nach Albanien gemacht hatte, war der Kasten leer gewesen. Die ersten Winterfröste hatten eben eingesetzt. Das frostige Maul gähnte hungrig in der Mauer. Schon damals hatte man in der Hauptstadt eigentlich den Kopf jenes seltenen Gastes erwartet, Ali Paschas Kopf, doch an seiner Statt traf das Haupt des Geschlagenen ein, Bugrachans Kopf, abgeschlagen auf Befehl des Herrschers, weil der Krieg verlorengegangen war. Gleichgültig wartete der Kasten nun wieder auf den unseligen Ali oder auch den ruhmreichen Hurschid, den Benjamin des Reiches.

Abdullah betrachtete wahrscheinlich zum tausendsten Mal den Kopf. Aufgrund einer leichten Schräge, die womöglich vom Schwert im Augenblick des Köpfens verursacht oder aber einfach eine Folge der körperlichen Gestaltung des Opfers war, neigte sich das Haupt ein wenig zur Seite. Abdullah erinnerte sich noch genau daran, wie der Wesir Bugrachan in den Krieg gezogen war. Nachträglich kam es ihm so vor, als habe der Wesir auf seinem gewaltigen Pferd schon damals den Kopf ein wenig schief getragen. Der von kriegerischer Marschmusik erdröhnende Platz, die Fahnen auf dem Kanonentor und der Tokmakhan-Säule, all die hohen Würdenträger des Staates, die sich zur Verabschiedung eingefunden hatten, die Koranschüler mit ihren Blumen, die Ansprachen vor dem Abmarsch, all das hatte sich fest in Abdullahs Gedächtnis eingegraben. Doch vor allem wollte ihm der Augenblick unmittelbar vor dem Aufbruch nicht aus dem Sinn gehen, als Bugrachan Pascha, der jubelnden Menge zuwinkend, einen kurzen, verstohlenen Blick zu dem Kasten hinüberwarf. Abdullah glaubte sich zu erinnern, daß des Wesirs Züge gänzlich eingefroren gewesen waren. Als dann zwei Monate später, im Morgengrauen des ersten Mittwochs im Dezember, der Feldkurier Tundsch Hatai in Begleitung des Arztes und zweier Protokollbeamter den Kopf des geschlagenen Bugrachan zum Kasten gebracht hatte, da mußte Abdullah sofort wieder an diesen raschen Blick auf die leere Nische denken.

Die Uhr auf dem Nachbarplatz schlug Mittag. Das Café gegenüber hatte sich gefüllt. Es war bitterkalt. Abdullah glaubte von seinem Platz aus deutlich den Trübsinn eines Teils der Kaffeehausgäste wahrnehmen zu können, die »Verdrossenheit der alten Herolde«, wie der Arzt es nannte. Abdullah wußte, daß die Menge, die in der granitenen Schüssel des Platzes unentwegt brodelte, ganz anders aussah, wenn man dort drüben bei einer Tasse starken, mit ein paar Tropfen Mohnsaft versetzten Kaffees saß. Davon hatte er sich mehrmals überzeugen können. Vor seinen Augen verwandelte sich die Menschenmasse in eine Ansammlung von Köpfen und Leibern, deren nervösem Zucken ohne weiteres anzusehen war, daß sie es kaum erwarten konnten, voneinander loszukommen. Dieser Zwist war so alt wie die Welt. In Augenblicken wie diesem verstand Abdullah, weshalb man all diese Halskrausen, hohen Kragen, Schals und Helmriemen erfunden hatte, die den Leuten Kopf und Leib fest beieinanderhielten. Alles war nur dazu da, eine Trennung zu verhindern. Doch fiel ihm auf, daß die Loslösungsbestrebungen um so hartnäckiger waren, je prächtiger die goldbestickten Halsbänder und Kragen ausschauten (was von der Position ihrer Träger in der staatlichen Hierarchie abhing). Bei diesem Gedanken fuhr sich Abdullah stets unwillkürlich über seinen Hals, den ein einfacher Hemdkragen bedeckte, und mit dieser Geste ging ein Kummer einher, der so oberflächlich und farblos war wie alles in seinem Leben.

Kapitel 2Am Rand des Reiches

Die rebellische Südprovinz Albanien lag zum größten Teil unter Schnee. Die Ebenen, über die ein eisiger Wind fegte, waren in Kälte erstarrt. Doch der Schnee vermochte die Gegenden, auf die er herabgesunken war, nicht alle ganz zu bedecken. Infolge von Erdrissen waren überall schwarzfleckig Lücken eingestreut. Beide, Erde und Schnee, waren alt und vertraut mit den Listen des anderen.

Das albanische Land gehörte seit vierhundert Jahren zum Reich der Osmanen. Für andere Gebiete galt dies schon viel länger, seit fast achthundert Jahren. Wieder andere waren noch ganz neu. Nun herrschte überall Winter, in den alten und neuen Teilen des Staates, im ursprünglichen Reichsgebiet oder Dar al-Islam, wie man es auch nannte, ebenso wie im Rest der Länder, die Dar al-Harb hießen, was man zugleich als fremde Erde oder Erde des Krieges übersetzen konnte, in den großen rebellischen Paschaliks, in den Regionen, die nach einer Entnationalisierung in tiefem Schlaf lagen, in den privilegierten Gebieten oder Yer Helal, wie man sie einst genannt hatte, in den Zonen, die verschärftem Terror unterworfen waren, um sie zu erschöpfen, auch als Yer Haram bekannt, im Yer Scher, jenen Gebieten, die sich im Ausnahmezustand befanden, kurz gesagt, in sämtlichen Gouvernements, deren unterschiedliches Befinden und Geschick im jüngst erlassenen Sonderdekret »Die Verfassung des Staates« definiert war.

Schnee, Wolken, Nebel, Regenbogen, Winde, Gewittergüsse und die Kuriere des Reichs waren die einzigen, die sich ungehindert zwischen den verschiedenen Teilen des gewaltigen Staates hin und her bewegen konnten. Mit der Nähe des Winters häuften sie sich.

Am härtesten war der Winter am Rande des Reiches, und ganz besonders in der Heimat der Albaner. Vielleicht erschien das aber auch nur so wegen der Rebellion.

Es war dies die zweite große Erhebung in Albanien im Verlauf der letzten dreihundertfünfzig Jahre. Den ganzen Herbst hielt sich in der Hauptstadt das Gerücht, der erhabene Sultan in eigener Person werde nach der fernen Provinz aufbrechen, so wie damals bei dem ersten, bei Skanderbegs gewaltigem Aufstand. Dafür sprach manches, vieles aber auch dagegen. Dafür sprach, daß ein persönliches Eingreifen des Gebieters eine raschere Unterdrückung des Aufstands ermöglicht hätte. Dagegen sprach jedoch, daß kaiserliche Heerzüge nur schwer aus der Erinnerung zu tilgen sind.