Der General der toten Armee - Ismail Kadare - E-Book

Der General der toten Armee E-Book

Ismail Kadare

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Beschreibung

Mit Karten, Listen und eisernem Gerät rückt ein italienischer General der albanischen Erde auf den Leib. Sie soll die toten Soldaten wieder freigeben, die im ehemaligen Feindesland gefallen sind. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubt der General noch immer an die Soldatenehre. Die unwegsame Reise führt ihn und seinen Begleiter, den Priester, durch Berglandschaften, Städte und Träume.

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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ismail Kadare

Der General der toten Armee

Roman

 

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

 

Über dieses Buch

 

 

Mit Karten, Listen und eisernem Gerät rückt ein italienischer General der albanischen Erde auf den Leib. Sie soll die toten Soldaten wieder freigeben, die im ehemaligen Feindesland gefallen sind. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubt der General noch immer an die Soldatenehre. Die unwegsame Reise führt ihn und seinen Begleiter, den Priester, durch Berglandschaften, Städte und Träume.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris.

Inhalt

[Motto]

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

KAPITEL OHNE NUMMER

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

KAPITEL OHNE NUMMER

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

KAPITEL OHNE NUMMER

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

ZWEITER TEIL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

KAPITEL OHNE NUMMER

KAPITEL OHNE NUMMER

KAPITEL OHNE NUMMER

KAPITEL OHNE NUMMER

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL

VORLETZTES KAPITEL

LETZTES KAPITEL

Hier, ich habe sie euch zurückgebracht. Das Gelände war unwegsam, und ständig herrschte schlechtes Wetter!

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

Schneeflocken mischten sich in den Regen, der auf die fremde Erde niederging. Die betonierte Landebahn, das Flughafengebäude, die Wachsoldaten, alles war naß. Der Schneeregen durchweichte das flache Stück Land und die Hügel und brachte den schwarzen Asphalt der Autostraße zum Glänzen. Wäre nicht Herbstanfang gewesen, der General hätte den eintönigen Regen, der bei seiner Ankunft fiel, als böses Vorzeichen begriffen. Er kam aus einem fremden Staat nach Albanien, um die sterblichen Überreste der im letzten Weltkrieg gefallenen Soldaten heimzuholen. Die Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen hatten im Frühjahr begonnen, doch erst Ende August, als das Wetter bereits schlechter wurde, war die Abschlußvereinbarung unterzeichnet worden. Inzwischen hatte mit dem Herbst die Regenzeit begonnen, wie der General wußte, der sich vor seiner Abreise unter anderem auch über das Klima in Albanien kundig gemacht und dabei erfahren hatte, daß die Herbste in Albanien naß und regnerisch waren. Doch selbst wenn in seinem Reiseführer gestanden hätte, in Albanien sei es im Herbst trocken, wäre der Regen keine Überraschung für ihn gewesen, im Gegenteil. Seine Mission, so wie er sie sich vorstellte, setzte Regen geradezu voraus.

Lange hatte er während des Fluges durch das Fenster auf die bedrohlich wirkende Bergwelt hinuntergeschaut. Die schroffen Spitzen schienen jeden Augenblick den Bauch der Maschine aufschlitzen zu wollen. Schräge Flächen allerorts. Unten huschten im Nebel düstere Plateaus vorbei. In den Schluchten und auf den Hängen, überall in diesem bereits winterlich sich darbietenden Hochland ruhte modernd die Armee, die zu exhumieren er gekommen war. Nun, da er das fremde Land zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, nahm die unbestimmte Furcht, die ihn seit Monaten plagte, konkretere Gestalt an, weil er ahnte, daß er sich auf ein aussichtsloses Unterfangen eingelassen hatte. Dort unten war sie, diese Armee, außerhalb der Zeit, gefroren, kalzifiziert, von Erde bedeckt, und ihm war die Aufgabe zugefallen, sie aus dem Lehm hervorzuholen. Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Dieser Auftrag war gegen die Natur, er würde es mit einem gerüttelt Maß an Blindheit und Taubheit, einer Menge weißer Flecken zu tun bekommen. Der Ausgang war nicht abzusehen.

Als jäh der Boden unter ihnen auftauchte, gab ihm der Anblick nicht etwa Sicherheit, sondern seine Beklemmung nahm noch zu. Zur Gleichgültigkeit der Toten gesellte sich die Verächtlichkeit der Erde, und nicht nur das. Von dem wilden Toben dort drunten im Nebel, den gleichsam vom Schmerz zerklüfteten Bergrücken ging nichts als Feindschaft aus.

Einen Augenblick lang kam es ihm unmöglich vor, die Mission, mit der man ihn betraut hatte, zu erfüllen. Er rang um Fassung. Gegen den Druck, den die Erde und vor allem die Berge mit ihrer Feindseligkeit auf ihn ausübten, versuchte er sich mit dem nötigen Stolz auf seine Aufgabe zu wappnen. Bruchstücke von Reden und Artikeln, Gesprächsfetzen, Hymnen, Filmausschnitte, Festlichkeiten, Tagebuchauszüge, Glockengeläut: diese versunkene Reserve stieg allmählich an die Oberfläche seines Bewußtseins. Tausende von Müttern in seinem Heimatland harrten der Gebeine ihrer Söhne. Und, keine Frage, er würde sie ihnen bringen. Seiner großartigen, ja geradezu heiligen Pflicht würde er sich würdig erweisen. Vorbehaltloser Einsatz war selbstverständlich. Keiner der Gefallenen durfte in der fremden Erde zurückgelassen werden. Ein ehrenvoller Auftrag, kein Zweifel. Unterwegs hatte er mehrfach an die Worte denken müssen, die ihm von einer alten Dame aus höchsten Kreisen mit auf den Weg gegeben worden waren: »Einem stolzen Vogel gleich werden Sie einsam über diesen tragischen Bergen kreisen, um unsere armen Söhne den Schlünden und Klauen zu entreißen.«

Nun neigte sich die Reise ihrem Ende zu. Seit sie die Berge hinter sich hatten und nur noch über zwischen Hügel eingebettete Täler und schließlich flaches Land flogen, war dem General ein wenig leichter ums Herz.

Das Flugzeug sank auf die nasse Landebahn herab. Rote und veilchenblaue Lichter huschten auf beiden Seiten vorüber. Kahle Bäume, ein Soldat im Militärmantel, ein zweiter, noch steifer als der erste, alles wich ängstlich zurück. Bloß das Menschenhäuflein, das zu seinem Empfang erschienen war, wagte sich an das Flugzeug heran.

Der General stieg als erster aus. Ihm folgte der Priester, der ihn auf seiner Mission begleitete. Ein feuchter Wind schlug ihnen entgegen, und sie klappten die Mantelkrägen hoch.

Eine halbe Stunde später fuhren ihre Autos in raschem Tempo auf Tirana zu.

Der General warf einen Blick zu dem Priester hinüber, der schweigend nach draußen starrte. Seine Miene war völlig ausdruckslos. Dem General wurde klar, daß es nichts gab, was er ihm zu sagen gehabt hätte, deshalb zündete er sich eine Zigarette an und schaute wieder aus dem Fenster. In den Wasserfäden, die über das Glas rannen, brachen sich die Konturen der fremden Landschaft, so daß er sie nur verzerrt erkennen konnte.

Aus einigem Abstand war das Pfeifen einer Lokomotive zu hören. Der General versuchte herauszufinden, ob der Zug auf seiner oder des Priesters Seite fuhr. Es war seine Seite. Er sah dem Zug nach, bis er im Nebel verschwunden war. Dann schaute er wieder zu dem Priester hinüber, doch dessen Miene war noch genauso unbewegt und ausdruckslos wie vorher. Wieder hatte der General das Empfinden, daß es nichts zu sagen gab. Es gab, das wurde ihm klar, noch nicht einmal etwas, das zu überlegen gewesen wäre. Über alles hatte er schon während der Reise nachgedacht. Nun war er müde. Neue Gedanken ließ er besser gar nicht mehr zu. Genug. Lieber kontrollierte er in dem kleinen Spiegel, ob seine Uniform noch richtig saß.

Sie kamen in Tirana an, als es Abend wurde. Nebel hing reglos über den Wohnblocks, den Straßenlaternen und den kahlen Parkbäumen. Durch die Autoscheiben sah er eine große Anzahl von Passanten im Regen umhereilen. Es gibt hier wirklich eine Menge Schirme, dachte er. Er wollte den Priester ansprechen, weil er des Schweigens überdrüssig war, doch fiel ihm kein Gesprächsthema ein. Auf seiner Seite des Fahrzeugs tauchten erst eine Kirche und dann eine Moschee auf. Auf des Priesters Seite gab es eine endlose Reihe hoch aufragender Wohnblocks, die von Gerüsten umgeben waren. Rotäugige Kräne bewegten sich drachengleich durch den Nebel. Der General wies den Priester auf die Kirche und die Moschee hin, doch dieser ließ kein besonderes Interesse erkennen. Neugier ist seine Sache wohl nicht, dachte der General. Es ging ihm nun besser, nur hatte er niemand, mit dem er sich unterhalten konnte. Ihr albanischer Begleiter saß auf dem Platz vor dem Priester, während die beiden anderen, die zu ihrem Empfang am Flugplatz erschienen waren, ein Abgeordneter und ein Ministerialbeamter, im zweiten Auto folgten.

Als sie im Hotel »Dajti« ankamen, hob sich die Stimmung des Generals erheblich. Er suchte sein Zimmer auf, um die Uniform zu wechseln. Dann ging er in die Halle hinunter und meldete ein Telefongespräch nach Hause an.

Der General, der Priester und die drei Albaner nahmen gemeinsam an einem Tisch Platz. Ihre Unterhaltung drehte sich um verschiedene belanglose Themen. Der Politik gingen sie tunlichst aus dem Weg. Der General strahlte Höflichkeit und Seriosität aus. Der Priester sprach sehr wenig. Diese Wortkargheit veranlaßte den General dazu, deutlich zu machen, daß er dennoch der Wichtigere war. Er ließ sich über die positiven Traditionen der Menschheit aus, was die Bestattung gefallener Soldaten anbelangte. Griechen und Trojaner, so legte er dar, nutzten Kampfpausen, um ihre Toten mit feierlichem Gepränge zu Grabe zu tragen. Was seine eigene Mission anbetraf, äußerte er sich sehr optimistisch. So schwer es auch werden mochte, er würde diese heilige Mission auf jeden Fall ehrenvoll zu Ende bringen. Schließlich warteten Tausende von Müttern auf ihre Söhne, und zwar schon seit mehr als zwanzig Jahren. Natürlich war es ein anderes Warten als damals, als sie noch auf eine Heimkehr lebender Söhne hatten hoffen können, aber trotzdem, auch die Toten wurden erwartet. Er würde den Müttern die sterblichen Überreste ihrer Söhne zurückbringen, die der schlechten Führung unfähiger Generale im Krieg zum Opfer gefallen waren. Das machte ihn stolz. Er würde keine Mühe scheuen …

»Herr General, Ihr Gespräch…«

Der General erhob sich lebhaft.

»Sie entschuldigen mich, meine Herren.« Mit langen Schritten begab er sich zum Empfang.

Seine Rückkehr war von gleicher Erhabenheit. Er verstrahlte Glanz. Sie tranken Kaffee und Kognak. Die Unterhaltung wurde herzlicher. Der General war weiterhin darum bemüht, deutlich zu machen, daß er bei dieser Mission das Sagen hatte, während der Priester, wenngleich im Range eines Obersten stehend, sich nur um die geistlichen Belange zu kümmern hatte. Der General war die Hauptperson und konnte bestimmen, über was geredet wurde: über Kognak, die Hauptstadt, über Zigaretten. Er fühlte sich ausgesprochen wohl in diesem Hotelsalon mit seinen schweren Vorhängen, obwohl die Musik fremdartig, sogar sehr fremdartig klang. Er wunderte sich selbst über seine plötzliche Schwäche für die Möbel und Accessoires ringsum, von den weichen Sesseln bis hin zu der angenehm brodelnden und zischenden Espressomaschine. Eher als eine Schwäche war es wohl die vorauseilende Sehnsucht nach Dingen, auf die sie, das spürte er, lange Zeit würden verzichten müssen.

Der General war ausgesprochen guter Laune. Er konnte sich diesen plötzlichen Anfall von Frohsinn selbst nicht ganz erklären. Am ehesten ließ er sich mit der Befriedigung eines Wanderers vergleichen, der nach einem beschwerlichen Marsch bei ungünstigem Wetter endlich wieder ein Dach über dem Kopf hat. Der Kognak im Schwenker vertrieb nach und nach das drohende Bild der grauen Berge, das ihm sogar hier am Tisch noch zu schaffen machte. »Wie ein stolzer, einsamer Vogel …« Plötzlich spürte er in sich eine große Kraft. So viele Jahre hatten die Leiber Zehntausender von Soldaten in der Erde auf ihn gewartet, und nun endlich war er da, war er gekommen, um sie aus dem Lehm zu bergen und ihren Eltern und Lieben zurückzugeben. Er hielt in diesem Land gleichsam wie ein neuer, mit unfehlbaren Karten, Listen und Aufzeichnungen versehener Christus Einzug. Andere Generale hatten diese endlos langen Kolonnen in die Niederlage, in die Vernichtung geführt, doch nun war er gekommen, um das, was von ihnen noch übrig war, dem Vergessen und dem Tod zu entreißen. Auf den einstigen Schlachtfeldern würde er jedes Grab erforschen, mit der klaren Vorgabe, daß kein einziger Soldat verschollen bleiben durfte. In seinem Krieg mit dem Lehm waren Niederlage und Rückzug unmöglich, schließlich durfte er auf die Zauberkraft präziser Daten bauen.

Er vertrat ein großes Land, eine bedeutende Zivilisation, was das Werk, das er zu verrichten hatte, adelte. Es war von gleichsam griechischer und trojanischer Erhabenheit, vergleichbar den homerischen Leichengängen. Keine Frage, die Albaner, diese Ansammlung von Schirmträgern, würde das große Staunen überkommen.

Der General leerte noch ein Glas. Von heute nacht an würden in seiner fernen Heimat jeden Tag, jeden Abend die Wartenden von ihm sagen: Er ist auf der Suche. Wir gehen ins Kino, ins Restaurant, ins Café, während er das fremde Land kreuz und quer durchstreift. Suchend, Gräber öffnend. O ja, die Pflicht, die er übernommen hat, ist schwer, aber er wird sie bewältigen. Nicht ohne Grund hat man gerade ihn ausgewählt. Gottes Hilfe ist ihm gewiß!

ZWEITES KAPITEL

Mit der Exhumierung der Armee wurde am 29. Oktober um 14.00 Uhr begonnen.

Mit einem dumpfen Geräusch traf das Eisen auf den Boden. Der Priester bekreuzigte sich. Der General hob die Hand zum militärischen Gruß. Der alte Arbeiter vom Kommunalbetrieb holte mit der Spitzhacke aus und schlug erneut zu.

Es hat also begonnen, dachte der General ergriffen, wobei er auf die feuchten Erdbatzen schaute, die vor seine Füße kullerten. Es war das erste Grab, das sie öffneten. Alle standen wie festgenagelt im Kreis. Der albanische Spezialist, ein dünner junger Mann mit blonden Haaren und eingefallenen Wangen, vermerkte etwas in seinem Notizbuch. Zwei der Totengräber rauchten Zigaretten, der dritte zog an seiner Pfeife, und der jüngste stützte sich mit nachdenklichem Blick auf seinen Hackenstiel. Sie beobachteten die Öffnung des ersten Grabes derart aufmerksam, weil es galt, sich die Regeln anzueignen, die bei der Exhumierung beachtet werden mußten. Die Details waren in den Artikeln 7 und 8 des vierten Zusatzprotokolls zum Abkommen festgelegt.

Der Blick des Generals blieb auf den immer größer werdenden Erdhaufen vor den Füßen des Arbeiters gerichtet. Die lockeren schwarzen Schollen dampften.

Das also ist die fremde Erde, dachte er. Sie sieht aus wie jede andere. Der gleiche schwärzliche Lehm mit den gleichen Steinchen und Graswurzeln darin, das gleiche Dampfen. Und trotzdem fremd.

Hinter ihnen waren die Geräusche rasch vorüberfahrender Autos zu hören. Wie die meisten Soldatenfriedhöfe lag auch dieser an einer Landstraße. Jenseits davon weideten Kühe, und ab und zu breitete sich ein Muhen gemächlich im Tal aus.

Noch immer stand der General unter dem Eindruck des Augenblicks. Der Erdhaufen wuchs ständig, und nach einer gewissen Zeit stand der grabende Arbeiter bis zu den Knien im Boden. Schließlich stieg er aus dem Loch und ruhte sich ein wenig aus, bis sein Kollege den lockeren Lehm herausgeschaufelt hatte.

Ein Schwarm von Wildgänsen zog über den Himmel.

Auf der Straße führte ein Bauer ein geschirrtes Pferd vorbei.

»Frohes Schaffen!« rief er. Offensichtlich war ihm nicht klar, was sie taten. Keiner am Grab antwortete. Der Bauer ging seiner Wege.

Der General betrachtete abwechselnd den Aushub und die Mienen der Totengräber. Sie waren ruhig und düster.

Was geht wohl in ihren Köpfen vor? fragte er sich. Diese fünf Männer hat man dazu bestimmt, eine ganze Armee aus der Erde zu holen.

Ihren Gesichtern ließ sich jedenfalls nichts entnehmen. Zwei zündeten sich wieder Zigaretten an, der dritte zog weiterhin an seiner Pfeife, während der jüngste, noch immer auf seinen Hackenstiel gestützt, dastand und mit den Gedanken woanders zu sein schien.

Der alte Vorarbeiter befand sich inzwischen bis zur Hüfte in der Grube und ließ sich von dem Spezialisten etwas erklären. Nachdem sie eine Weile miteinander geredet hatten, hackte er weiter.

»Was meint er?« fragte der General.

»Ich habe nicht richtig zugehört«, antwortete der Priester.

Alle standen stumm da wie auf einer Beerdigung.

»Wie gut, daß es nicht zu regnen angefangen hat«, erklärte der Priester.

Der General schaute zum Himmel. Der Horizont verschwamm im Dunst, und weit in der Ferne ragte etwas auf, von dem man nicht genau sagen konnte, ob es Berggipfel waren oder nur Schemen im Nebel.

Immer tiefer verschwand der Totengräber in der Erde. Der General beobachtete, wie sich sein ergrauter Kopf im Rhythmus der Hackenschläge bewegte. Der Mann schien sein Handwerk zu beherrschen. Man hatte ihn offenbar nicht umsonst zum Vorarbeiter gemacht. Der General hatte ein Interesse daran, daß der Arbeiter so schnell wie möglich grub, daß alle Gräber ohne weiteren Verzug geöffnet wurden und daß man sämtliche Gefallenen so rasch wie möglich fand. Er wartete mit einer gewissen Ungeduld darauf, daß auch an anderen Stellen zu graben begonnen wurde. Dann würde er seine Listen hervorholen, und die Listen würden sich mit kleinen Kreuzen füllen, wobei jedes Kreuzlein für einen gefundenen Soldaten stand.

Die dumpfen Schläge klangen nun, als drängen sie vom Ende der Welt herauf, und plötzlich befiel ihn eine gewisse Angst.

»Was ist, wenn wir nichts finden?« fragte er den Priester.

»Dann graben wir weiter. Und zahlen das Doppelte.«

»Es geht hier nicht ums Geld. Es geht darum, ob wir etwas finden.«

»Wir werden etwas finden«, meinte der Priester. »Es kann gar nicht anders sein.«

Der General warf ihm einen besorgten Blick zu.

»Man könnte meinen, hier sei nie Krieg gewesen«, sagte er, »sondern es hätten immer nur diese braunen Kühe friedlich geweidet.«

»Hinterher sieht es immer so aus«, erwiderte der Priester.

»Außerdem sind inzwischen zwanzig Jahre vergangen.«

»Genau, es ist alles schon ziemlich lange her. Deshalb mache ich mir ja Sorgen.«

»Machen Sie sich keine unnötigen Gedanken«, sagte der Priester. »Der Boden hier ist sehr kompakt. Was sich darin befindet, bleibt viele Jahre erhalten.«

»Das stimmt schon. Aber es fällt mir schwer, zu glauben, daß sie wirklich da sind, keine zwei Meter unter unseren Füßen.«

»Das liegt nur daran, daß Sie noch nie hiergewesen sind.«

»War es so schlimm?«

Der Priester nickte.

Inzwischen war der alte Totengräber fast vollständig in der Erde verschwunden. Die anderen standen um das Loch herum. Der albanische Spezialist beugte sich vor und redete auf den Arbeiter ein, wobei er mit dem Finger auf etwas zeigte.

Man hörte ein scharrendes Geräusch, wenn das metallene Schaufelblatt mit den vielen kleinen Steinen in Berührung kam, die sich in der Erde befanden. Der General mußte daran denken, was ihm Veteranen vor seiner Abreise über die Gräber ihrer in Albanien gebliebenen Kameraden berichtet hatten.

Wenn mein Dolch auf die kleinen Steine im Boden stieß und an ihnen entlangschrammte, knirschte es. Ich wühlte mit aller Kraft, aber mit dem Messer kam ich gegen den dicken Lehm nicht an. Es kostete mich unsägliche Mühe, auch nur eine Handvoll Erde zu lösen, und ich bedauerte, daß ich nicht bei den Pionieren war und einen Spaten hatte, mit dem ich schnell, schnell, schnell graben konnte. Denn neben mir lag bäuchlings mein bester Freund, die Füße in einer mit Wasser vollgelaufenen Furche. Ich zog auch seinen Dolch aus der Scheide am Gürtel und fing an, mit beiden Händen gleichzeitig zu wühlen. Das Loch sollte tief werden, so wie er es sich gewünscht hatte. Wenn ich umkomme, waren seine Worte gewesen, dann vergrabe mich so tief wie möglich. Ich habe Angst, daß mich sonst die Hunde finden. Weißt du noch, was wir mit den Hunden in Tepelena erlebt haben? Ja, ich weiß es noch, hatte ich geantwortet und einen Zug an meiner Zigarette genommen. Nun war er tot, und ich grub in der Erde und dachte dabei: Hab keine Angst, es wird tief genug. Als ich fertig war, ebnete ich das Grab, so gut ich konnte, ein. Ich hinterließ absichtlich kein Zeichen darauf, keinen Stein, denn er hatte eine Abneigung gegen solche Zeichen, weil er nicht gefunden und wieder ausgegraben werden wollte. In der Nacht ging ich weg, nicht dorthin, wo die Maschinengewehre waren, sondern in die Gegenrichtung. Im Dunkeln drehte ich mich noch einmal nach der Stelle um, an der ich meinen Freund zurücklassen mußte, und dachte: Hab keine Angst, sie werden dich nicht finden.

»Wie es aussieht, finden wir ihn nicht«, sagte der General. Es gelang ihm kaum, seine Nervosität zu unterdrücken.

»Das kann man nie wissen«, erwiderte der Priester. »Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Im Krieg legt man keine so tiefen Gräber an.«

»Vielleicht hat man ihn später neu begraben«, meinte der Priester. »Bei manchen hat man das zwei oder sogar drei Mal getan.«

»Vielleicht. Aber wenn alle Gräber so tief sind, werden wir mit unserer Arbeit nie fertig.«

»Wir werden gelegentlich zusätzliche Arbeiter einstellen müssen«, sagte der Priester.

»Möglich. Was treiben die bloß?« beschwerte sich der General. »Haben die immer noch nichts gefunden?«

»Jetzt sind sie tief genug«, stellte der Priester fest. »Wenn es überhaupt etwas gibt, müßten sie nun darauf stoßen.«

»Unser Unternehmen fängt nicht gut an, scheint mir.«

»Vielleicht hat es Bodenverschiebungen gegeben«, meinte der Priester. »Obwohl wir uns der Karte nach nicht in einem Erdbebengebiet befinden.«

Der albanische Spezialist beugte sich erneut über das Loch, und die anderen kamen ebenfalls herbei.

»Ich habe ihn gefunden«, sagte der alte Totengräber, und seine Stimme klang tief und dumpf, weil er den Kopf beim Sprechen in die Grube gebeugt hielt.

»Er hat ihn gefunden«, übersetzte der Priester.

Der General atmete tief durch. Unter den Arbeitern entstand Bewegung. Der Jüngste, derjenige, der nachdenklich auf den Hackenstiel gestützt dagestanden hatte, bat seinen Kameraden um eine Zigarette und zündete sie an.

Der Totengräber begann mit der Schaufel Knochen aus der Grube zu befördern. Ihr Anblick war keineswegs furchterregend. Sie sahen aus wie mit lockerem Erdreich vermischte Stücke trockenen Holzes. Ringsum roch es angenehm nach frischer Erde.

»Das Desinfektionsmittel«, rief der Spezialist. »Schnell, bringt das Desinfektionsmittel.«

Zwei der Arbeiter rannten zum Lastwagen.

Der Spezialist entdeckte zwischen den Knochen einen kleinen Gegenstand.

»Hier ist das Medaillon«, sagte er und hielt es mit einer Pinzette dem General hin. »Berühren Sie es bitte nicht.«

Der General beugte sich darüber und erkannte mit einiger Mühe das Bildnis der Heiligen Jungfrau.

»Die Erkennungsmarke unserer Soldaten«, sagte er leise.

Weißt du, warum wir dieses Medaillon haben? fragte er mich eines Tages. Damit sie unsere Leichen identifizieren können, wenn wir fallen. Er lächelte spöttisch. Glaubst du wirklich, daß sie einmal nach unseren Gebeinen suchen? Und selbst wenn, meinst du, das wäre ein Trost für mich? Es ist der Gipfel der Heuchelei, wenn man nach einem Krieg die Knochen einsammelt. Ich jedenfalls kann auf diese Gunst leicht verzichten. Sie sollen mir meine Ruhe lassen, dort, wo es mich erwischt hat. Demnächst werfe ich diese erbärmliche Marke sowieso weg. Das tat er dann auch, und von da an hatte er keine mehr.

Nach der Desinfektion vermaß der Spezialist jeden einzelnen Knochen, dann stellte er, den Bleistift schräg zwischen den dünnen Fingern haltend, in seinem Notizbuch ein paar Berechnungen an.

»Größe einsdreiundsiebzig«, sagte er.

»Stimmt«, bestätigte der General, nachdem er seine Liste zu Rate gezogen hatte.

»Verpackt die Gebeine«, wies der Spezialist die Arbeiter an.

Der General beobachtete, wie der alte Totengräber zu einem großen Stein am Straßenrand ging, sich erschöpft darauf niederließ, seine Tabaksdose hervorholte und eine Zigarette zu drehen begann.

Warum schaut er mich so an? fragte sich der General.

Ein paar Minuten später begann man an fünf Stellen gleichzeitig zu graben.

KAPITEL OHNE NUMMER

Der General griff sich an die Stirn.

»Wir haben uns verirrt«, sagte er. »Wir kommen nicht weiter.«

»Schauen wir doch noch einmal auf der Karte nach.«

»Das hilft auch nichts. Die topographischen Angaben stimmen nicht.«

»Was kann man schon von Gräberskizzen erwarten, die in aller Eile auf dem Rückzug angefertigt worden sind.«

»Richtig.«

»Probieren wir es noch einmal weiter rechts. Wo führt dieser Feldweg hin?«

»Zu der Farm dort drüben.«

»Wir sollten es versuchen.«

»Das bringt nichts.«

»Dieser elende Morast!«

»Trotzdem, wir sollten es noch einmal weiter rechts probieren.«

»Der Feldweg hier nützt uns auch nichts.«

»Das ist doch keine Suche mehr, das ist bloß noch ein panisches Herumgerenne!«

»Was hast du gesagt?«

»Diese verdammte Schlammwüste!«

»So erreichen wir gar nichts.«

Ihre aufgeregten Stimmen entfernten sich über das Feld.

DRITTES KAPITEL

Drei Wochen später kamen sie nach Tirana zurück. Es wurde schon Abend. Das grüne Auto hielt unter den hohen Pinien vor dem Eingang zum Hotel »Dajti«. Der General stieg als erster aus. Er wirkte erschöpft und mutlos. Sogar sein Gesicht schien schmaler geworden zu sein. Mit starrem Blick betrachtete er das Auto. Wenn sie wenigstens den Schmutz entfernt hätten, dachte er verdrossen. Er wußte, daß dem Fahrer kein Vorwurf zu machen war, aber vernünftige Gründe wollte er in diesem Augenblick nicht gelten lassen. Rasch ging er die Stufen hinauf, nahm seine Post in Empfang, meldete ein Telefongespräch nach Hause an und machte sich dann auf den Weg in sein Zimmer.

Der Priester tat es ihm nach.

Eine Stunde später trafen sie sich unten im Salon. Beide hatten ein Bad genommen und sich umgezogen.

Der General bestellte einen Raki. Der Priester verlangte einen Kakao. Es war Samstag. Aus der Taverne im Keller klang Musik herauf. Manchmal kamen junge Männer und Frauen vorbei, die zur Taverne unterwegs waren oder von dort zurückkamen. Auch in der Halle herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Der Salon mit seinen dunklen Vorhängen und den hochlehnigen Sitzgelegenheiten war mit einer feierlichen Atmosphäre erfüllt.

»Damit hätten wir unseren ersten Ausflug endlich hinter uns«, sagte der General.

Sie unterhielten sich wieder über die gleichen Themen, die sie während der verdrießlichen Tage ihrer Reise bereits zigfach durchgekaut hatten. Ob sie ihre Arbeit, wie geplant, noch in diesem Jahr würden abschließen können, trotz der unvorhersehbaren Probleme, etwa des plötzlichen Wetterumschlags?

»Im Gebirge werden wir es mit einer Menge Schwierigkeiten zu tun bekommen.«

»Das glaube ich auch.«

»Morgen setze ich mich wieder hinter die Karten und gehe den Plan für die zweite Fahrt noch einmal durch.«

»Hoffentlich spielt das Wetter mit!«

»Darauf können wir uns nicht verlassen. Immerhin ist Herbst.«

Der Priester schlürfte gemächlich seinen Kakao aus der Tasse, die er zwischen dem Daumen und den beiden mittleren Fingern hielt.

Er ist wirklich ein gutaussehender Mann, dachte der General und betrachtete verstohlen das markante Gesicht des andern, in dem sich kein Muskel regte. Die Frage fuhr ihm durch den Kopf: Ob er wohl etwas mit der Frau des Obersten gehabt hat? Irgend etwas mußte gewesen sein. Sie war ihm sehr schön erschienen, vor allem damals am Strand. Als einmal der Name des Priesters gefallen war, hatte sie errötend den Blick gesenkt. Was wohl zwischen ihnen war? fragte sich der General erneut, ohne seinen Blick abzuwenden.

»Oberst Z. haben wir immer noch nicht gefunden«, äußerte er in gleichgültigem Ton.

»Vielleicht finden wir ihn ja noch«, erwiderte der Priester und senkte den Blick. »Ich bin davon überzeugt, daß wir ihn finden.«

»Es wird aber schwierig werden. Das ist immer so, wenn wir nichts über die Umstände des Verschwindens wissen.«

»Ja, schwierig wird es sicherlich«, entgegnete der Priester nüchtern. »Aber wir fangen ja erst an. Uns bleibt noch viel Zeit.«

Was er wohl mit der Witwe angestellt hat? überlegte der General. Es interessierte ihn, wie weit dieser geistliche Herr bei den Frauen zu gehen bereit war.

»Wir müssen die sterblichen Überreste des Obersten unbedingt finden«, sagte der General. »Er ist der letzte hochrangige Offizier, den man noch nicht heimgeholt hat. Wenn ich daran denke, was seine Familie alles unternommen hat. Vor allem seine Gattin …«

»Ja«, bestätigte der Priester, »sie hat sich wirklich sehr engagiert.«

»Haben Sie die schöne Marmorgruft gesehen, die man für den Oberst bereithält?«

»Ja«, erwiderte der Priester, »man hat sie mir vor unserer Abreise gezeigt.«

»Ein herrliches Grab, mit einem Gedenkstein und vielen roten und weißen Rosen«, sagte der General. »Nur ist es leer.«

Lange saßen sie schweigend da. Der General trank Raki und ließ das ungewohnte Treiben ringsum auf sich einwirken. Er fühlte sich plötzlich sehr allein. Allein mit den Soldatengräbern. Er hatte keinerlei Lust, an die »Gräber unserer Brüder« zu denken. Es reichte ihm völlig, daß er drei Wochen dort draußen verbracht hatte. Drei volle Wochen, Tag und Nacht, jede Stunde, jede Minute war er mit ihnen allein gewesen. Nun wollte er eine Weile lang seine Freiheit haben. Er hatte diesen Ruhetag herbeigesehnt. Es war Samstag. Er war am Leben. Er wollte ausspannen. Das war ein Naturrecht.

Von unten drang gedämpfte Musik herauf. Dort wurde getrunken, getanzt.

»Wir sollten uns entspannen«, sagte er leise und meinte »amüsieren«.

Der Priester schaute auf. Sein Blick sagte: Nein!

Er hatte recht. Schließlich war er ein ausländischer General. Unterwegs im Auftrag seiner Regierung. In einer ziemlich traurigen Mission. Außerdem waren sie von Leuten umgeben, denen seine Soldaten einen Kampf auf Leben und Tod geliefert hatten.

Der General blickte auf den von Zigarettenstummeln überquellenden Aschenbecher. Ihm wurde klar, daß er sich in den langen Wochen und Monaten, die ihnen noch bevorstanden, solche Bemerkungen zu verkneifen haben würde. Die Rebellion war schnell in sich zusammengebrochen. Von nun an würde er sich nur noch mit ihnen befassen. Die ganze Zeit.

Ja, er war wirklich müde. Die anstrengenden Anfahrten, die mit Nässe vollgesogenen Gräber, manchmal einzeln, manchmal in Haufen, der widerwärtige Morast, die zerstörten Unterstände (auch von den Unterständen waren nur Skelette übrig, wie von den Soldaten). Verwechslungen mit Soldaten anderer Nationen kamen vor, dazu die vielen Protokolle, überhaupt eine Unmenge Papierkram, und dann die ständigen Bittgänge zu örtlichen Behörden. Eine einzige Konfusion. Am schwierigsten war es, die Gefallenen verschiedener Armeen auseinanderzuhalten. Zeugenaussagen waren häufig widersprüchlich, Greise brachten Ereignisse und Kriege durcheinander. Nie waren präzise Angaben zu bekommen. Der Schlamm allein kannte die Wahrheit.

Der General nahm wieder einen Schluck aus seinem Glas.

»Die Baracke in der Ebene«, murmelte er vor sich hin, »mit diesem mürrischen Lagerverwalter …«

Vor der Rückkehr nach Tirana hatten sie an einer Sammelstelle irgendwo am Stadtrand die Übergabe durchgeführt. Vereinbarungsgemäß war dafür eine besondere Baracke errichtet worden.

»Die Baracke, der Verwalter … Und der Hund am Tor …«

Der Priester äußerte sich nicht.

Einer der heikelsten Punkte bei den Vorbereitungsgesprächen mit albanischen Offiziellen war gewesen, daß sie sich geweigert hatten, der Verbringung sterblicher Überreste in die Städte zuzustimmen. Obwohl ihnen unergründlich geblieben war, weshalb die Einheimischen so hartnäckig auf diesem Verbot bestanden, hatten sie schließlich notgedrungen nachgegeben. Sooft sie irgendwo am Stadtrand von der Hauptstraße abbogen, um an einem öden Flecken die übliche triste Baracke zu suchen, seufzte der General wütend. Auch jetzt entfuhr ihm beim Gedanken an ihre letzte

Zwischenstation ein Seufzer.

Im Salon war es wie gewöhnlich ruhig. Hinten in einer Ecke erzählten sich ein paar junge Männer unter lautem Gelächter Geschichten. Man konnte nur ihre Rücken sehen. Ein Stück weiter saß ein junges Paar, offenbar handelte es sich um Verlobte. Sie redeten wenig, warfen einander aber um so innigere Blicke zu. Der junge Mann hatte einen ebenmäßig geformten Kopf mit hoher Stirn und ausgeprägtem Unterkiefer. Alpiner Menschenschlag, dachte der General. Der Barkeeper saß hinter dem Tresen. Sein gelassenes rundes Gesicht schaute zwischen zwei Schalen mit Orangen hervor.

Ein dünner Mann mit Aktentasche kam herein und nahm am Tisch neben dem Radio Platz.

»Das Übliche«, sagte er zum Kellner.

Während der Barmann sich der Zubereitung des Kaffees widmete, zog der Mann ein dickes Heft aus seiner Mappe und begann etwas hineinzuschreiben. Er hatte so schmale Kiefer, daß fast keine Wangen zu sehen waren. Wenn er an seiner Zigarette zog, entstanden zwei Löcher in seinem Gesicht, und die Backenknochen zeichneten sich deutlich ab.

»Ja, so sind sie, die Albaner!« sagte der General, als gelte es, ein unterbrochenes Gespräch wieder aufzunehmen. »Eigentlich ganz normale Leute. Man sieht ihnen nicht an, zu was sie im Krieg fähig sind.«

»Man muß ihnen nur eine Waffe in die Hand geben.«

»Wenn man bedenkt, daß sie nur so wenige sind.«

»So wenige sind es gar nicht«, meinte der Priester.

Ein Mann mit flacher Stirn trat ein.

»Was für ein verdammtes Geschäft haben sie uns da nur aufgehalst!« sagte der General. »Wenn ich auf der Straße oder im Café den Leuten ins Gesicht schaue, stelle ich mir unwillkürlich vor, wie einmal ihre Totenköpfe aussehen werden.«

»Ich bitte um Verzeihung, aber Sie sollten vielleicht etwas weniger trinken«, sagte der Priester freundlich und schaute ihn aus grauen Augen an. Der General stellte fest, daß sie die Farbe des Fernsehschirms hinten im Salon hatten. Wie ein abgestellter Fernsehapparat, dachte er. Nein, eher wie ein Bildschirm, auf dem ständig das gleiche unverständliche Programm läuft.

Er betrachtete eine Weile das glitzernde Glas, das er zwischen seinen Fingern drehte.

»Und was soll ich Ihrer Meinung nach statt dessen tun?« sagte er mit einem nervösen Unterton in der Stimme. »Wozu raten Sie mir? Soll ich einen Photoapparat nehmen und Schnappschüsse machen, damit ich sie meiner Frau zeigen kann, wenn ich zurückkomme? Oder soll ich Tagebuch über kuriose Ereignisse führen? Was meinen Sie?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur, daß Sie vielleicht etwas weniger trinken sollten.«

»Mich wundert, daß Sie gar nichts trinken.«

»Ich habe noch nie Alkohol zu mir genommen«, erwiderte der Priester.

»Dann staune ich, daß Sie jetzt nicht damit anfangen. Daß Sie nicht abends trinken, um zu vergessen, was Sie den Tag über gesehen haben. So wie ich jetzt.«

»Warum sollte ich denn vergessen wollen, was ich den Tag über gesehen habe?« fragte der Priester.

»Weil wir und diese armen Seelen aus demselben Vaterland stammen.« Der General tippte mit dem Finger auf seine Aktentasche. »Haben Sie kein Mitleid mit ihnen?«

»Bitte werden Sie nicht beleidigend!« sagte der Priester. »Auch ich bin ein Patriot.«

Der General lächelte.

»Wissen Sie, was ich in diesen drei Tagen festgestellt habe?« sagte er. »Unsere Zwiegespräche haben viel Ähnlichkeit mit den verdrießlichen Dialogen moderner Theaterstücke.«

Auch der Priester mußte lächeln.

»Da kann man nichts machen. Wenn Menschen miteinander reden, klingt es irgendwie immer wie im Drama oder in der Komödie.«

»Gefällt Ihnen das heutige Theater?«

»Einigermaßen.«

Der General schaute ihm eine Weile in die Augen. Dann ließ er den Blick sinken.

»Arme Soldaten«, sagte er plötzlich, als sei er eben aufgewacht. »Mir schmerzt die Seele, wenn ich an sie denke. Manchmal komme ich mir wie jemand vor, der sich verlassener Kinder anzunehmen hat. Ein Vater liebt solche Kinder oft mehr als die eigenen. Auf jeden Fall will ich für sie tun, was ich kann.«

»Mir geht es nicht anders als Ihnen«, sagte der Priester. »Es ist wirklich sehr, sehr traurig.«

»Trotz all unserer Listen und Protokolle sind wir so ohnmächtig. Wir ziehen umher und suchen den Tod. Einzeln müssen wir sie einsammeln. Soweit ist es mit uns gekommen!«

»Das nennt man Schicksal.«

Der General nickte.

Wieder wie im Theater, fuhr es ihm durch den Kopf.

Dieser Priester ist aus Stahl, dachte er dann. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob er der schönen Gattin von Oberst Z. gegenüber auch so kühl geblieben ist. Er schaute den anderen unverwandt an und versuchte sich vorzustellen, wie er sich ohne diese schwarze Soutane zu ihren Füßen niederließ. Hat ihr der Priester wirklich gefallen …? Ist zwischen den beiden tatsächlich etwas vorgefallen …? Aber was ging ihn das an, letzten Endes?

Er horchte auf das Radio. Die albanische Sprache klang in seinen Ohren ziemlich grob. An den Gräbern hatte er oft albanischen Bauern zugehört, die zum Helfen gerufen worden waren. Auch den Gefallenen ist diese fatale Sprache bestimmt nicht erspart geblieben, dachte er. Offenbar gab es gerade Nachrichten, denn die Sprecherin nannte ständig bekannte Städte- und Ländernamen: Tel-Aviv, Bonn, Laos.

Es gab so viele Staaten und Städte auf dieser Welt. Er mußte wieder daran denken, wie viele Soldaten unterschiedlicher Nationen hier in Albanien geblieben waren. Bretter, verrostete Eisenteile, Kreuze, Steine, falsch geschriebene Namen. Die meisten Gräber waren ganz ohne Zeichen. Manche hatten noch nicht einmal ein eigenes Grab. Sie waren zusammen mit anderen einfach in die Erde geworfen worden. Und es gab auch welche, die überhaupt nur noch auf Listen existierten.

Die sterblichen Überreste eines der Soldaten hatten sie in einem Museum gefunden, das von Bürgern eines kleinen Städtchens im Süden eingerichtet worden war. Im Verlies der alten Burg waren neben verschiedenen Gegenständen auch menschliche Gebeine gefunden worden. Wochenlang stellten die Amateurarchäologen im örtlichen Café Mutmaßungen über die Herkunft der Knochen an. Zwei von ihnen saßen bereits über einem ziemlich gewagten Artikel für eine Zeitschrift, als der General mit seiner Mannschaft in dem Städtchen haltmachte, um nach Gefallenen zu suchen. Der Spezialist hatte bei einem eher zufälligen Besuch im Museum sofort die Erkennungsmarke an dem Skelett entdeckt. (Die Amateure boten in ihrem Artikel, was die Herkunft des Medaillons anbetraf, zwei Varianten an: Entweder sei es ein illyrisches Schmuckstück oder eine Münze aus römischer Zeit.) Der Spezialist bereitete den Spekulationen ein Ende. Merkwürdig blieb nur eines: Wie und unter welchen Umständen war der Soldat in die schwer zugänglichen Labyrinthe unter der Burg geraten?

Er sprach den Priester auf die Geschichte an, doch dieser konnte sich nicht mehr genau erinnern.

»Ich kann das verstehen«, meinte der General. »Schließlich haben wir mit so vielen verwirrenden Dingen zu tun. Nehmen wir nur die ganzen Namen. Unsere Listen sind so fürchterlich lang, daß ich manchmal Angst habe, mir gar nichts mehr merken zu können.«

»Es wird wohl ein ganz gewöhnlicher Soldat gewesen sein«, sagte der Priester.

»All die Namen und Spitznamen sind sowieso überflüssig«, erklärte der General. »Wozu braucht ein Haufen Knochen noch einen Namen?«

Der Priester wiegte das Haupt. Das sollte wohl heißen: So ist das nun einmal, da kann man nichts daran ändern.

»Sie hätten genausogut den gleichen Namen haben können, so wie sie die gleichen Medaillons um den Hals trugen«, fuhr der General fort.

Der Priester antwortete nicht. Aus der Taverne drang Musik herauf, und der General produzierte unentwegt Rauchschwaden.

»Sie haben eine Menge von unseren Leuten auf dem Gewissen«, sagte er abwesend.

»Das stimmt.«

»Aber wir haben auch eine Menge von ihnen umgebracht.«

Der Priester schwieg.