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Walter Carson hat sich auf die Semira zurückgezogen, um dort seinen Lebensabend zusammen mit seinem Roboter Stan zu verbringen. Doch plötzlich erhält er auf dem geheim gehaltenen Planeten Besuch und wird wieder in die Zivilisation zurückgeholt. Auf der Amalterra ist der Traum von der Unsterblichkeit Wirklichkeit geworden und eine Entwicklung bahnt sich an, mit der niemand gerechnet hat. Walters alter Bekannter, der zwielichtige Anwalt Al Tarnowsky, hat dabei seine Finger im Spiel. Club der Unsterblichen setzt die Reihe um den ehemaligen HyperScout Walter Carson fort (KI-3.1 und Amalville).
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Reimon Nischt
Club der Unsterblichen
Utopischer Roman
Herausgegeben von:
www.bilderarche.de
© 2022 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf
Walter
Walter Carson legte Wert auf einen geregelten Tagesablauf. Auch während seiner Zeit als Schmuggler hatte er sich das zur Gewohnheit gemacht. All die anderen Schmuggler, die sich eher in der Tradition von Piraten sahen, hatten ihn deswegen ausgelacht. Du bist dein eigener Boss, also kannst du machen, was du willst. Ja, hatte er geantwortet und das tue ich auch. Sie verstanden ihn nicht, er sie dafür aber umso mehr. Jetzt waren alle, mit denen er geschmuggelt hatte, tot oder saßen im Gefängnis. Vielleicht gab es einen Grund, warum er heute als einziger ungesiebte Luft durch die Nase zog.
Walter begann den Tag mit Schwimmen im See, der in unmittelbarer Nähe vor seiner Haustür lag. Stan, sein Roboter, hatte die Aufgabe, am Ufer stehend und mit einer Laserpistole bewaffnet, nach Flugdrachen Ausschau zu halten. Die urzeitlichen Tiere zeigten sich hin und wieder am Himmel. Wenn das der Fall war, wurde Walter sofort informiert und warf eine Sauerstoffpille ein, die es ihm ermöglichte, die Strecke zum Steg unter Wasser zurückzulegen. Kreiste der Flugdrache, während er tauchte, immer noch über dem See, setzte Stan seine Laserpistole ein und kitzelte ihm die Krallen. Reichte das nicht, schoss er ihm in einen Flügel, was bisher immer die gewollte Wirkung erzielt hatte.
Nach dem Schwimmen gab es ein frugales Frühstück, welches von Stan zubereitet, bereits in der Küche auf ihn wartete. Anschließend spielte Walter gegen seinen Roboter Schach. Da seine menschliche Intelligenz jede Unterstützung brauchte, die sie bekommen konnte, regelte Stan seine Spielstärke herunter. Doch Walter bestand darauf, gegen einen überlegenen Spieler anzutreten und wenn er zu viele Partien gewonnen hatte, musste Stan seine Spielstärke erhöhen. Der Roboter zeigte immer wieder einen Anflug von Mitleid, den Walter ihm nicht durchgehen ließ. Doch warum Stan zu diesem Verhalten neigte, blieb Walter schleierhaft.
Für gewöhnlich durchstreifte er die unmittelbare Umgebung seines Wohnortes zu Fuß. Diese Streifzüge unternahm er ohne Stan, da dieser zur Fortbewegung Räder benutzen musste, die ihm im Urwald hinderlich waren.
Walter genoss diese einsamen Spaziergänge durch eine unberührte Natur. Obwohl er alleine auf dem Planeten weilte, kam es für ihn nicht in Betracht, die Natur wie einen Fußabtreter zu benutzen, obwohl er es nicht in einer Millionen Jahren geschafft hätte, den Planeten mit Müll zu überhäufen. Die Semira war sein Planet und sollte es jemand wagen, in dieser Hinsicht unachtsam zu sein, würde er denjenigen freundlich darauf hinweisen. Fruchtete diese Ermahnung nicht, käme eine deutliche Warnung und wenn diese fehlging, würde er die betreffende Person eigenhändig erschießen. Es war beinahe so, als ob er sich Besucher wünschte, die sich ihm widersetzten, damit er sie erschießen konnte. Walter hielt diese Empfindungen für sehr bedenklich und er sah sie als Beweis für sein gestörtes Verhältnis anderen Menschen gegenüber an. Früher war er nie schießwütig gewesen und hatte sich eher für besonnen gehalten. Andererseits konnte niemand zur Semira fliegen, um hier Unfrieden zu stiften, da nur Walter die Koordinaten des Planeten kannte. Sein Problem war daher nur theoretischer Natur.
Wenn Walter nicht durch die Natur streifte, ging er seinem neuen Hobby, dem Ballonfahren, nach. Zusammen mit Stan hatte er einen Heißluftballon entworfen, damit er für Naturbeobachtungen aus der Luft nicht immer den Gleiter nehmen musste. Alles selbst auszutüfteln hatte ihm außerordentlich gefallen, sodass er sogar etwas traurig wurde, als die Bastelei ein Ende fand. Womit er nicht gerechnet hatte, war seine Nervosität vor der ersten Probefahrt. Mit Flugzeugen aller Art kannte er sich aus, doch ein Ballon war etwas radikal anderes. Nachdem Stan die Halteleinen gelöst und das Gefährt langsam an Höhe gewonnen hatte, beruhigte Walter sich wieder. Die Ruhe, die über dem grünen Ozean herrschte, war eine wunderbare Erfahrung. Der Wind gab die Richtung vor und die Kunst des Ballonfahrers bestand darin, den Wind zu finden, der ihn in die gewünschte Richtung trug. Es war einfach, von zu Hause wegzufahren, doch unendlich schwieriger, wieder zurückzukommen. Um die Windrichtung zu ermitteln, die in anderen Höhen herrschte, hatte Walter eine Drohne gebaut, die ihm die notwendigen Informationen besorgte.
Gerade die frühen Morgenstunden hatten es Walter angetan, wenn die Sonne flach über die Wipfel der Bäume schien und die Welt in ein märchenhaftes Licht tauchte, sodass er sich in einer Märchenlandschaft wähnte. Er driftete sanft über dem Planeten dahin und musste nur dafür sorgen, dass er nicht an Höhe verlor. In der Gondel erwachte er allmählich wie der neue Tag. Die Rückfahrt hingegen verlangte seine ganze Aufmerksamkeit als Pilot. Er suchte einen Wind, der ihn wieder zu seinem Blockhaus bringen sollte und da so ein Wind nicht existierte, musste er immer wieder die Fahrthöhe ändern. Die Rückfahrt gelang ihm nur in einem wilden Zick-Zack-Kurs.
Walter hatte die Semira vor etlichen Jahren während seiner Zeit als HyperScout entdeckt und deren Existenz verheimlicht. Damals war er auf der Suche nach einem HyperGate gewesen und erfolglos von der Mission zum Raumschiff zurückgekehrt, das er intakt, aber ohne Besatzung vorgefunden hatte. Nachdem das Schiff gründlich untersucht worden war, gab es immer noch keinen Hinweis auf den Verbleib der Besatzung, sodass Walter sich auf die Suche machte. Er scheiterte, doch stieß er bei der Suche auf ein Hypergate, das ihn zu einem unbekannten Planeten führte, den er nach dem weiblichen Mitglied der Besatzung, welches ihm besonders am Herzen lag, benannte. Allerdings hatte der Planet in den vergangenen Jahren die Namensgeberin in den Hintergrund gedrängt.
Die Semira war während seiner Schmugglerjahre sein Rückzugsort gewesen, wenn der Polizeichef der Caldera allen Schmugglern den Kampf angesagt hatte, was regelmäßig geschah.
Vor einigen Jahren hatte Walter mit einem Leben in der Zivilisation gebrochen und war für immer zur Semira zurückgekehrt. Sein Schiff, die Aurelia, welches er im Orbit geparkt hatte, war vor drei Monaten in der Atmosphäre verglüht. Walter war mit dem Gleiter in den Orbit geflogen und hatte sich das Schauspiel aus sicherer Entfernung angesehen. Er hatte sich endgültig für seinen Planeten entschieden und wollte den Rest seiner Tage zusammen mit seinem Roboter Stan verbringen. Walter war noch der Gleiter geblieben, mit dem er manchmal in entlegene Gebiete flog, doch die Möglichkeit, mit ihm die Semira zu verlassen, bestand nicht. Bevor die Aurelia verglühte, hatte Walter viele der technischen Gerätschaften nach unten geschafft, darunter die Energieversorgung des Schiffes mitsamt den Laserkanonen. Diese wertvolle Ausrüstung zu vernichten wäre leichtsinnig gewesen, da er sie auf der Semira nicht nachbauen konnte. Wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde.
Neigte sich der Tag dem Ende entgegen, nahm Walter das Logbuch der Aurelia zur Hand. Sein wahres Leben bestand jetzt nur noch aus seinen Erinnerungen und wenn er sie Revue passieren ließ, hielt er es für schier unglaublich, dass er das alles erlebt und vor allem überlebt haben sollte. Walter war vom Glück begünstigt, soviel stand fest. Oder steckte mehr dahinter? Manchmal fragte er sich, wer seine schützende Hand über ihn hielt. Es war eine alberne Frage, doch ihm gefiel die Vorstellung.
Erzählte er Stan davon, bekam er immer das Gleiche zu hören. Stan wusste nicht, was Glück bedeutete, für ihn gab es nur eine Vielzahl von Ereignissen, die manchmal zur selben Zeit eintraten. Im Ergebnis konnten sie sich positiv oder negativ auf seine Existenz auswirken. Das war alles. Glück war für Stan ein typisch menschliches Konstrukt, das sich jeglicher Klassifizierung entzog. Walter meinte deshalb im Scherz, das sein Leben einfacher sein würde, wäre er ein Roboter.
In Walters Dasein glich ein Tag dem anderen und er fand daran nichts auszusetzen. Er vermisste die aufreibende Zeit der Jugend nicht und wenn er zurückblickte, fragte er sich, ob seine Erinnerungen mit denen der anderen HyperScouts zu einem Konglomerat zusammengefunden hatten. Einer Art kollektiven Erinnerung, in der seine eigenen verinnerlicht waren, ohne das er sagen konnte, welchen Anteil sie genau bezifferten. Hatte er die Gefahren überstanden, ging es darum, sie verbal auszuschmücken, um den Mädchen zu imponieren. Darin konnte ihm keiner seiner Kumpane das Wasser reichen. Er zog die Mädchen an wie das Licht die Motten und er musste nur zugreifen, was ihm nicht schwer fiel. Es war bloß Sex, doch Sex war alles, was er damals gewollt hatte. Wild und ekstatisch, das richtige für den Moment, wenn die Gefahr vorüber war. Als dann einer seiner Kameraden tödlich verunglückte und bald darauf ein weiterer, verspürte Walter den Wunsch, darüber zu reden. Doch die Mädchen wollten nicht über den Tod reden. Sie wollten einen Helden sehen, nicht mehr und nicht weniger. Bald hielten sie Walter für einen schwermütigen Langweiler, den es zu meiden galt. Da wusste er, dass Sex allein als Fundament nicht reichte, ein Leben darauf aufzubauen. Diese Erkenntnis war ihm nicht neu und er würde sie berücksichtigen, sofern er dazu bereit war.
Als Walter sich vor Jahren auf der Semira zur Ruhe gesetzt hatte, hatte er drei Schwerverbrechern auf seinem Planeten Zuflucht gewährt. Er hatte den Männern eine seiner Blockhütten zur Verfügung gestellt, die mehrere tausend Kilometer von seiner jetzt bewohnten entfernt lag. Mit Vincent, einem jener Männer, war Walter näher bekannt gewesen, weil sie zusammen Drogen zur Caldera geschmuggelt hatten. Ihre Wege hatten sich getrennt, als Vincent bei einer Polizeiaktion verhaftet und zu einer lebenslangen Haftstrafe auf dem Renegad verurteilt wurde. Die anderen beiden kannte Walter nicht.
Bevor seine Aurelia vor drei Monaten verglüht war, hatte er regelmäßig Informationen über die Männer erhalten, da die Flugbahn über ihrem Gebiet verlief. Im allgemeinen kamen die drei gut miteinander aus. Hin und wieder wollte einer den Boss spielen, was zu Reibereien führte, die bisher immer unblutig beigelegt worden waren. Walter fühlte sich in gewisser Weise für diese Männer verantwortlich und hegte die Absicht, ihnen einen Besuch abzustatten, um sicher zu gehen, dass bei ihnen alles in Ordnung war.
Nach dem Frühstück machte Stan den Gleiter startklar. Walter, der fünf Wochen zuvor zum letzten Mal geflogen war, genoss es sichtlich, wieder im Pilotensessel Platz zu nehmen. Wehmut überkam ihn, weil er sofort an die Aurelia dachte, die jetzt nur noch eine Erinnerung war. Stan lenkte ihn ab, indem er sagte, der Gleiter wäre startklar.
Walter zog den Gleiter in einer weiten Kurve nach oben und flog den Wohnort der Männer in direktem Kurs an. Bald hatte er eine Höhe erreicht, in der der Gleiter mit bloßem Auge nicht mehr gesehen werden konnte. Als sie nach einer Stunde am Zielort ankamen, meldete sich Stan zu Wort: „Das Haus macht einen verlassenen Eindruck. Keiner der Männer scheint in der Nähe zu sein.“
„Bist du sicher?“
„Ja, ich registriere nur einheimische Tierarten.“
„Ich gehe runter. Einverstanden?“
„Das wird wohl das Beste sein.“
Minuten später setzte Walter den Gleiter souverän wie immer auf.
„Stan, schnapp dir eine Laserpistole und sichere vom Gleiter aus. Ich gehe nachschauen.“
Walter stieg aus. In seiner Rechten hielt er eine Laserpistole. Sie fühlte sich fremd in seiner Hand an. Er spähte in alle Richtungen und ging dann zum Haus hinüber. Es wirkte tatsächlich verlassen und als er eintrat, überkam ihn das Gefühl, die Männer wären plötzlich aufgebrochen. Er rief ihre Namen, doch nur der Nachhall seiner eigenen Worte schwang durch die Luft. Walter hatte keine Ahnung, was ihnen zugestoßen war und ging zum Gleiter zurück.
„Was hältst du davon, Stan?“
„Nichts ist zerstört worden oder defekt. Ein Kampf hat hier nicht stattgefunden.“
„Das sehe ich auch so. Doch wohin sind die Männer gegangen?“
„Keine Daten, keine Ahnung.“
„Ich werde die Gegend absuchen und mich melden, wenn ich etwas entdeckt habe.“
„Ist das wirklich eine gute Idee, Walter?“
„Mach einen besseren Vorschlag.“
Da Stan nichts einfiel, stand es nicht gut um die Sache. Walter folgte zuerst dem Hauptweg Richtung Wald. Kaum schlossen sich die Baumkronen über ihm, konnte er sich den Geräuschen des Waldes nicht mehr entziehen. Er kannte diese Klangkulisse und sie würde sich bei Gefahr ändern. Der Wald der Semira war sein Freund.
Walter ging den Weg so weit, bis er kaum noch als solcher zu erkennen war. Er machte kehrt und suchte die Nebenwege ab. Ohne einen Hinweis auf den Verbleib der Männer gefunden zu haben, kehrte er zum Gleiter zurück.
„Stan, ich verstehe nicht, wo die Männer abgeblieben sind. Sie haben nicht mal Spuren hinterlassen.“
„Der Sache bin ich bereits nachgegangen und habe das Gras auf den viel begangenen Wegen untersucht. Es hätte dort nicht wachsen dürfen. Hier ist seit knapp drei Monaten niemand mehr entlang gegangen.“
„Sehr seltsam. Fällt dir etwas dazu ein?“
„Die Aurelia ist vor drei Monaten verglüht.“
„Siehst du da einen Zusammenhang?“
„Ich habe mir die Flugdaten angesehen. Sie ist über dieser Gegend verglüht.“
„Gut möglich, doch davon verschwindet kein Mensch.“
„Sicher nicht. Doch die Aurelia war kein gewöhnliches Schiff. Sie hat einer Gravitationsanomalie standgehalten.“
„Das hört sich für mich ziemlich spekulativ an.“
„Ich behaupte auch nicht, dass die Aurelia etwas damit zu tun hat. Mir ist nur keine andere zeitliche Übereinstimmung aufgefallen. Es ist bloß ein Hinweis, dem ich nachzugehen versuche. Irgendwo muss man schließlich ansetzen. Niemand ist sich über die physikalischen Prozesse im Klaren, die ablaufen, wenn solch ein vorbelastetes Schiff in der Atmosphäre verglüht.“
„Worauf sollen wir deiner Meinung nach achten?“
„Resttrümmer zu finden, wäre sicherlich hilfreich. Außerdem Magnetfeldschwankungen und Änderungen des Gravitationsfeldes analysieren.“
„Darüber haben wir keinerlei Aufzeichnungen.“
„Stimmt so nicht. Wenn wir vom Orbit aus hinunterfliegen, werden diese Daten routinemäßig ermittelt. Im Zentralcomputer des Gleiters ist alles gespeichert.“
„Ein Abgleich der Daten kann nicht schaden. Ich war mit dem Gleiter an dem Tag oben, als die Aurelia verglüht ist.“
„Ich starte einen Vergleich der Daten dieses Tages mit der Durchschnittskurve der Werte, die bis zum Tag vor dem Verglühen vorlagen. Einen Augenblick bitte und jetzt kannst du das Ergebnis auf deinem Monitor sehen.“
„Das haut mich aus dem Pilotensitz. Die Gravitationsanomalie ist signifikant und das Magnetfeld hat auch verrückt gespielt. Aber die Männer können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“
„Nein. Ich fürchte sie befinden sich in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum.“
„Sind deine Chips überlastet? Willst du mir damit sagen, sie sind da, doch wir leben in unterschiedlichen Welten?“
„Nur wenn meine Vermutung stimmt und alle meine Chips funktionstüchtig sind.“
„Das muss ich mir bei einem Drink durch den Kopf gehen lassen. Ist man denn nirgends vor den Verrücktheiten der Welt sicher?“
„Jedenfalls nicht in deiner Nähe, Walter.“
„Danke, Stan, diese Art Aufmunterung hat mir gerade noch gefehlt. Hast du noch etwas anzumerken?“
„Nur eines, wir sollten zurückfliegen.“
„Ganz meine Meinung. Hier können wir nichts mehr tun. Ist der Zustand des anderen Raum-Zeit-Kontinuums stabil?“
„Das werden wir wissen, wenn die Männer wieder auftauchen.“
„Du bist mir wie immer eine große Hilfe.“
„Wir befinden uns hier im Reich der Spekulationen. Niemand ist bisher mit diesem Phänomen konfrontiert worden. Ich erbitte mildernde Umstände.“
„Gewährt, alter Freund.“
„Was ist mit der Suche nach Trümmerteilen?“
„Die werden wir von Zuhause aus angehen.“
Walter zog den Gleiter in einer engen Kurve in die Höhe und sah zum Haus hinunter. Vielleicht spielten die Männer gerade Poker. Wer konnte das sagen?
Walter saß bei einem Drink, während Stan das Gebiet, in dem Wrackteile zu finden wären, eingrenzte. Da der Roboter die Daten vom Gleiter für eine recht genaue Vorhersage verwenden konnte, hatte das abzusuchende Gebiet eine überschaubare Fläche von einigen 100 Quadratkilometern, in der gewissermaßen nach Stecknadeln gesucht werden musste. Sollten einige größere Brocken auf der Oberfläche zerschellt sein, hätten sie Zerstörungen hinterlassen, die Walter vom Gleiter aus erkennen konnte.
„Müssen wir das Equipment von der Aurelia einbauen oder eignet sich dafür dein interner Scanner, Stan?“
„Meiner reicht völlig aus. Du kannst hier bleiben. Für die paar 100 Quadratkilometer werde ich nur ein paar Tage brauchen. Danach sind wir schlauer.“
„Du vielleicht. Ich werde nicht mehr schlauer.“
„Bemühe dich nicht, mich zum Lachen zu bringen. Ich mache mich jetzt auf die Suche.“
„Melde dich, wenn du etwas entdeckt hast.“
„Wozu, du willst doch nicht schlauer werden?“
„Ich bin aber neugierig. Das ist eine unheilbare Alterskrankheit.“
„Na gut, ich werde dich nicht unnötig leiden lassen.“
Walter begleitete Stan zum Gleiter und beobachtete den Abflug. Danach fühlte er sich unnütz und hilflos. Er schlenderte zum See hinunter und setzte sich auf den Steg. Hier zu sitzen, beruhigte ihn immer. Die Wellen spielten eine vertraute Melodie und er ließ sich von den Lichtreflexen hypnotisieren.
Egal, was Stan finden würde, sie hatten für die notwendigen Untersuchungen nicht das geeignete technische Equipment zur Verfügung. Sie würden improvisieren müssen und Stan war darin inzwischen besser geworden als er. Trotzdem schien dieses Unterfangen in eine Sackgasse zu führen, denn die Untersuchungen verlangten nach den besten Spezialisten, die es im Planetenverbund gab. Walter war kein Wissenschaftler und Stan ein Roboter, der Anweisungen brauchte. Aber sie hatten Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Es war eine willkommene Abwechslung vom gleichförmigen Alltag. Doch ihre Theorie bestätigt zu bekommen, dass es sich um ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum handeln würde, war ausgeschlossen.
Ein strenger Geruch holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Dieses spezielle Aroma konnte nur von einem großen Fleischfresser ausgehen und bei Walters Glück war er auf Futtersuche. Walter langte zum Halfter der Laserpistole und griff ins Leere. Gehe nie ohne Waffe aus dem Haus, war sein tägliches Mantra. Auf der Semira konnte solch kleine Nachlässigkeit tödlich enden. Vielleicht hatte er eine Chance, wenn er in seiner Position verharrte, doch dafür war Walter nicht gemacht. Er musste der Gefahr ins Auge sehen und drehte sich langsam um. Auch mit einer Laserpistole wäre er sich nackt vorgekommen. Walter sah in Augen, die in einem Grünton schimmerten, wie er schöner nicht sein konnte. Er versank in diesem grünen Meer und fragte sich, wann das Unvermeidliche geschehen würde. Eine große Gelassenheit überkam ihn. Wenn dieser Anblick das letzte wäre, was er von der Welt sehen würde, hätte sich sein Leben gelohnt. Doch das fremde Tier nahm keine Notiz von ihm. Vielleicht war es satt oder Walters Geruch ihm nicht genehm. Da er den Sachverhalt nicht würde klären können, verharrte er weiter reglos, bis sein Besucher von dannen trottete.
Wie oft hatte er sich ermahnt, nicht unbewaffnet aus dem Haus zu gehen? Er hatte Stan nur kurz zuwinken wollen und darüber das Mitnehmen der Waffe vergessen. Es war beschämend, was das Alter mit einem anrichtete. Doch Walter hatte wieder einmal Glück gehabt und egal was Stan dazu sagen würde, Glück existierte.
Walter stand auf, ging ins Haus und kam mit einer Laserpistole zurück. Nach diesem Schrecken würde ihm auf seinem gewohnten Spaziergang durch die Wildnis sicher nichts mehr zustoßen, so sicher wie ein Blitz nicht zweimal in den selben Baum einschlug.
Walter hatte solch ein Tier noch nie zu Gesicht bekommen. Seine Gestalt ähnelte der eines Bären, doch war es deutlich größer. Was er alles nicht von der Semira wusste, würde ganze Bibliotheken füllen. Doch gerade der Reiz des Unbekannten machte einen beträchtlichen Teil des Charmes seiner Einsiedelei aus.
Als er von seinem Spaziergang zurückkam, lag immer noch keine Meldung von Stan vor. Ob die Arbeit seinen Roboter dermaßen forderte, dass er darüber vergessen hatte, Walter zu benachrichtigen? Unmöglich. Stan war die Gewissenhaftigkeit in Person. Trotz der Sorgen, die Walter sich machte, nahm er sein Abendessen ein und ging zu Bett. Aber den Großteil der Nacht verbrachte er schlaflos, da seine Gedanken unentwegt um die ausbleibenden Nachrichten von Stan kreisten. War sein Roboter mit dem Gleiter abgestürzt? Das schien die einzig mögliche Erklärung für das Ausbleiben der Meldungen zu sein. Es dämmerte Walter, dass es mit seinem ruhigen Lebensabend bei Tagesanbruch vorbei sein würde.Um Gewissheit zu erlangen, was Stan zugestoßen war, musste er eine Expedition zum anderen Lager planen, um von dort mit der Suche zu beginnen.
Er blieb wie in jeder Krisensituation ruhig. Die Vorstellung, sich Kilometer weit durch undurchdringlichen Dschungel zu kämpfen, schreckte ihn nicht. So oder so würde er ohne Stan das Dasein nicht ertragen. Diese Erkenntnis war nicht neu, doch jetzt kam sie Walter mit aller Macht zu Bewusstsein. Ohne seinen Roboter hatte er niemanden, mit dem er sich austauschen konnte. Robinson brauchte seinen Freitag. Vielleicht würde es ihm auch reichen, eine Stunde des Tages tief in die grünen Augen dieses unbekannten Tieres zu schauen. Doch das schien noch schwieriger zu bewerkstelligen, als die Expedition.
Zwei Möglichkeiten boten sich Walter an: Er konnte die Strecke zu Fuß durch eine ihm unbekannte Natur wagen oder mit dem Heißluftballon fahren. Die Wahl fiel ihm leicht. Im Ballonkorb konnte er Ausrüstung verstauen, die er zu Fuß nie und nimmer mitschleppen konnte. Ob er den richtigen Wind finden würde, stand auf einem anderen Blatt.
Nachdem er sich endgültig dafür entschieden hatte, sein Leben auf der Semira zu verbringen, hatte er alle Lebensmittel von Bord der Aurelia nach unten transportiert. Darunter befanden sich auch Pillen, die, mit Wasser eingenommen, den Energiebedarf für einen Tag deckten. Er hatte sie bisher nicht angerührt, doch jetzt konnte er von diesem Vorrat profitieren. Er musste sich während der Fahrt keine Gedanken um seine Nahrung machen, sondern nur einem Weg folgen, der ihm genügend Stellen bot, seinen Wasservorrat aufzufüllen. Das war wie zu erwarten, nicht der kürzeste Weg, doch den gab es für einen Heißluftballon ohnehin nicht.
Walter hatte den Planeten schon vor Jahren kartographiert und konnte so die am besten geeignete Route festlegen. Es war so abenteuerlich, wie die Tätigkeit eines HyperScouts und auch so gefährlich. Leider besaß er nicht mehr die Fitness seiner Jugendjahre.
Walter war sich durchaus der Risiken der Reise bewusst, doch einfach nur da zu sitzen, war nicht seine Art, Probleme zu lösen. Er hatte den Korb beladen, die Höhe ermittelt, in der die richtige Windrichtung herrschte und löste die Leinen. Langsam erhob sich der Ballon über die Wipfel der Bäume und Walter kam sich vor wie bei seinen üblichen morgendlichen Ausfahrten. Doch dieses Mal durfte er sich nicht der Schönheit der Natur hingeben, sondern musste den Höhenmesser im Auge behalten und auf die Windrichtung achten.
Zudem musste Walter die Tageszeiten mit der stärksten Thermik meiden, sodass er nur morgens und abends mit dem Ballon fahren durfte. Ob er einen geeigneten Landeplatz finden würde, an der er die Reise unterbrechen konnte, war dabei sein größtes Problem. Eine Bruchlandung reichte aus, das Unternehmen scheitern zu lassen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre das auch Walters Ende. Alles lief wieder darauf hinaus, dass er jede Menge Glück brauchte.
Der Beginn war verheißungsvoll. Walter fand nach drei Stunden Fahrt eine geeignete Stelle zum Landen und warf den Anker. Der Boden war mit vereinzelten Büschen und Sträuchern bedeckt, an denen der Anker schließlich hängen blieb. Langsam sank der Ballon herab. Nachdem Walter den Ballon sorgfältig zusammengelegt hatte, suchte er sich einen Platz im Schatten eines größeren Strauchs und bereitete sich einen Tee. Schon zu Zeiten als HyperScout hatte er sich einen Tee gegönnt, wenn er warten musste. Eine alte Gewohnheit streift man nicht so schnell ab. Er ließ sich Zeit, schließlich musste er hier mehrere Stunden zubringen. An seiner rechten Seite lag die Laserpistole und in der Linken hielt er die Teetasse. Er ähnelte beinahe einem Großwildjäger aus vergangenen Zeiten, der vorhatte, ein Nashorn zu schießen. Allerdings ohne einen Diener.
Walter wurde schläfrig, doch gab er dem Drang nicht nach, sondern erhob sich. Er musste in Bewegung bleiben. Er blickte sich um. Weit und breit war kein großer Fleischfresser zu sehen, doch der Eindruck konnte täuschen. Außerdem hielt er es für klug, die Ballonhülle im Auge zu behalten.
Gegen Abend hob Walter mit seinem Ballon wieder ab. Friedvoll driftete er mit dem Wind seinem Ziel entgegen. In der Ferne zog ein mächtiger Flugdrache seine Bahn und Walter war dankbar, dass das Monster nicht auf ihn aufmerksam wurde.
Vor ihm breitete sich ein großer See aus. Sein Ufer war mit Vögeln aller Art besetzt. Es war ein fantastisches Bild, das sich Walter darbot, doch gleichzeitig bereiteten ihm die Vogelschwärme Sorgen, da er nicht einzuschätzen vermochte, was passieren würde, sollten sie sich in die Lüfte erheben. Geraume Zeit später hatte sich diese Sorge als unnötig erwiesen.
Zwei Stunden danach suchte Walter nach einem geeigneten Landeplatz. Bäume, nichts als Bäume, wohin er auch sah. Er nickte, weil er das vorhergesehen hatte und ließ den Ballon steigen, um einen besseren Überblick zu bekommen. Aus den Bäumen wurden nur noch mehr Bäume, die bis zum Horizont reichten. Walter überlegte nicht lange und bereitete die Landung vor. In einem Waldgebiet mit weniger hohen Bäumen warf er den Anker. Nach bangen Augenblicken hatte sich dieser verfangen und die Gondel durchfuhr ein Ruck, als würde sie gegen eine Wand fahren und abprallen. Walter prüfte, ob der Anker fest saß und stieg an der Strickleiter hinunter. Nach einer Stunde Arbeit hatte er mit seiner Laserpistole einen Landeplatz freigelegt, der dieser Bezeichnung kaum gerecht wurde. Doch die Dämmerung nahte, sodass Walter sich mit dem Provisorium zufrieden geben musste. Er stieg die Strickleiter hinauf und brachte den Ballon nach unten. Warum es funktioniert hatte, mochte Walter nicht zu sagen, er war nur froh, es geschafft zu haben.
Nachdem er die Ballonhülle zusammengelegt hatte, baute er sich aus einigen seiner gefällten Bäume eine bescheidene Blockhütte, in der er übernachten wollte. Kaum war er in seinen Schlafsack gekrochen, fiel er in einen traumlosen Schlaf. Die Geräusche der Wildnis sowie die umherstreifenden Jäger der Nacht beunruhigten ihn nicht.
Am nächsten Morgen war Walter guter Dinge, da er den ersten Tag überstanden hatte und noch lebte. Sollte es in dem Tempo weitergehen musste er mit 20 Reisetagen rechnen. Das war nicht gerade wenig, da kein Tag dem anderen gleichen würde. Doch Walter meinte, mit der Herausforderung klar zu kommen.
Auch der erneute Start klappte. Der Korb hob langsam ab, ohne die Bäume zu berühren und nahm gemächlich Fahrt auf. Der Tag begann vielversprechend.
Stunden später sah sich Walter wieder nach einem Landeplatz um und gewahrte aus der Richtung, in die er fuhr, einen leuchtenden Punkt am Horizont, der kurze Zeit darauf verschwand. Er rätselte noch immer, was das gewesen sein könnte, als sich aus derselben Richtung ein dunkler Fleck näherte. Der Fleck mutierte zu einem sich schnell vergrößerndem Gebilde, das wie ein Pfeil in großer Höhe über dem Ballon hinweg schoss.
Sofort flammte in Walter die Hoffnung auf, Stan hätte den Defekt am Gleiter beseitigt und würde ihn jetzt suchen, da er ihn im Blockhaus nicht angetroffen hatte.
Das Fluggerät näherte sich ihm erneut, nur diesmal mit gedrosselter Geschwindigkeit. Walter sah, dass es sich tatsächlich um einen Gleiter handelte. Doch als er genauer hinsah, wurde ihm klar, dass es ein fremder Gleiter war und Panik überkam ihn. Walters Puls beschleunigte sich und er musste sich zur Ruhe zwingen. Er fuhr in einem Ballon über einen nur ihm bekannten Planeten. In der Situation blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, was passieren würde. Gegen einen Flugdrachen konnte Walter sich verteidigen, gegen einen Gleiter nicht.
Er winkte dem Gleiter zu und der Gleiter winkte mit den Flügeln, auf Pilotenart, zurück. Walter suchte nicht weiter nach einem geeigneten Landeplatz sondern warf den Anker aus, der sich im Unterholz festkrallte. Langsam ließ er die Luft aus der Hülle entweichen und setzte auf. Was mit dem Heißluftballon passieren würde, konnte ihm jetzt egal sein. Ein neues Zeitalter war angebrochen. Er trauerte bereits dem Leben nach, das er sich auf der Semira gewünscht hatte. Eine fremde Stimme riss ihn aus seinen trüben Gedanken.
„Walter Carson, nehme ich an.“
„Und wer zum Teufel sind Sie?“
„HyperScout Enrico Martinelli. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Walter sah den jungen Mann herausfordernd an und ergriff schließlich dessen ausgestreckte Hand.
„Ein Kollege also. Woher kommen Sie?“
„Von der Caldera. Sind Sie vom Raumschiff auf einen Heißluftballon umgestiegen?“
Martinelli zeigte auf die über den Sträuchern hängende Ballonhülle.
„Schluss damit! Kein Smalltalk. Sie bringen mich jetzt zu meinem Blockhaus. Dort erzählen Sie mir Ihre Geschichte, bevor ich Ihnen meine auftische. Einverstanden?“
Der Mann nickte.
„Was machen wir mit dem Ballon?“
„Der ist jetzt nicht so wichtig. Um den kümmere ich mich später.“
Walter ließ Martinelli auf dem provisorisch angelegten Weg vorgehen und folgte ihm zum Gleiter. Er hätte den jungen Mann kaltblütig erschossen, wenn die restliche Mannschaft des Suchschiffes nicht im Orbit der Semira auf ihren Kollegen warten würde. Walter brauchte mehr Informationen, bevor er auch nur irgendetwas unternehmen konnte.
„Haben Sie die Koordinaten dieses Planeten schon weitergeleitet?“
„Sicher. So wie Sie früher auch, Walter.“
„Nur diese nicht. Vor vielen Jahren hat es in dem Raumquadranten einen Unfall gegeben, bei dem alle meine Kollegen umgekommen sind. Daraufhin habe ich den Job als HyperScout an den Nagel gehängt.“
„Ja, ich weiß Bescheid. Ich kenne Ihre Akte auswendig.“
Sie waren am Gleiter angekommen und Martinelli bat Walter, einzusteigen.
„Wenn Sie meine Akte kennen, dann wissen Sie bereits, dass Sie ab jetzt den Platz des Co-Piloten einnehmen.“
„Ah. Das stand wohl nur zwischen den Zeilen.“
„Seien Sie nicht betrübt, Sie haben wieder etwas dazugelernt.“
Walter legte einen verwegenen Senkrechtstart hin und zog, eine Schleife fliegend, davon.
„Ich weiß nicht, ob es mir behagt, Ihr heimliches Studienobjekt zu sein.“
Martinelli räusperte sich, bevor er sprach.
„Ich habe insgesamt ein halbes Jahr gebraucht, Sie zu finden. Auf der Caldera gelten Sie offiziell als tot, hingerichtet wegen eines Raumschiffdiebstahls. Ich ließ mich nicht davon täuschen und holte Informationen von anderen Planeten ein. Auf der Amalterra wurde ich fündig. Dort sind Sie auf wundersame Weise wieder zum Leben erwacht und dann von einem Tag auf den anderen endgültig verschwunden. Seitdem war mir klar, dass Sie sich auf einem unbekannten Planeten vor der Welt verstecken. Wenn man berücksichtigt, dass Sie schon während Ihrer Schmugglerzeit hin und wieder untergetaucht sind, musste dieses Versteck ein Planet in der Nähe der Caldera sein. Um Sie mit der üblichen Vorgehensweise zu finden, hätte ich Hunderte von Jahren gebraucht. Doch ich nahm mir zum wiederholten Male den Bericht über den Schiffsunfall vor und habe endlich einen Anhaltspunkt gefunden.“
„Schöne Ansprache, Martinelli, nur können Sie mich nicht täuschen. Sie sind kein HyperScout. Weshalb sind Sie wirklich hier?“
Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen richtete Walter die Laserpistole auf seinen Co-Piloten. Martinelli verzog keine Miene.
„Nun gut, es war nicht besonders clever, mich als HyperScout auszugeben.“
Walter wartete auf mehr und da keine weitere Erklärung kam, legte er nach.
„Nenn mir einen Grund, dich nicht zu erschießen?“
Martinelli lachte.
„Bietest du jedem, den du erschießen willst, das Du an?“
„Gut erkannt. Das ist ein Zeichen mangelnder Zivilisation. Ich verfüttere dich im Anschluss auch an wilde Tiere. Also, ich höre.“
„Dafür gibt es viele Gründe. Leider fällt mir vor lauter Aufregung keiner ein.“
Walter steckte die Laserpistole wieder zurück.
„Der Grund ist mein Großvater, Ramon de Luca.“
„Ramon? Ja, ich erinnere mich. Er ist in seinem ersten Jahr als HyperScout tödlich verunglückt. Ich war einige Male bei seiner Familie zu Besuch. Seine kleine Tochter hat den Kuchen mit der Nase gegessen.“
„Dieses Verhalten hat meine Mutter inzwischen abgelegt“, entgegnete Enrico und wurde plötzlich ernst, „Mein Großvater ist wieder da. Zurückgekehrt aus einer Welt, an die er sich nicht erinnern kann. Meine Großmutter ist kurz davor, verrückt zu werden. Sie sagt, ihr Mann sei um keinen Tag gealtert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hat. Er und ich könnten Brüder sein. Ramon hat nach dir gefragt.“
Walter atmete geräuschvoll aus.
„Er ist einfach so mit seiner Erkundungsrakete wieder aufgetaucht?“
„Ja. Er hat das Notsignal abgesetzt und gewartet, bis Hilfe kam.“
„Damit ist er durchgekommen?“
„Nun ja. Er hat das Rettungsteam belogen und nichts von seiner fünfzigjährigen Abwesenheit erzählt.“
„Das war das Klügste, was er tun konnte. Anderenfalls hätten sie ihn mit Sicherheit eingeliefert.“
„Ramon hat mir auch den entscheidenden Hinweis gegeben, wie ich dich finden kann. Er hat gesagt, dass ich dort suchen muss, wo der Unfall mit deiner Truppe passiert ist. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde sich freiwillig dieser Gefahr aussetzen.“
„Ramon wusste meine Entscheidungen schon immer zu würdigen. Wo ist er jetzt?“
„Im Orbit auf der Regula und möchte dich sehen.“
Walter zog den Gleiter nach oben.
„Dann gib mir mal die Bahndaten.“
Walter dockte den Gleiter an und betrat das Schiff zusammen mit Enrico durch die Schleuse. Auf der anderen Seite wurden sie von einem jungen Mann erwartet.
„Ramon, bist du es wirklich?“, rief Walter.
„Aber ja, Walter, du musst nur in deinen Erinnerungen kramen. Ich habe mehr Probleme, dich mit dem alten Sack, der vor mir steht, in Verbindung zu bringen.“
„Danke für deine herzlichen Worte. Sollte auch die Zeit verdröseln, du würdest dich nicht ändern.“
„Ja, der Gedanke liegt nahe. Und dir geht es auch gut?“
„Obwohl ich das Alter fühle, bin ich noch lange keine klapperige Gestalt. Wollen wir uns nicht lieber in meinem Blockhaus bei einem guten Tropfen unterhalten? Schnappt euch ein paar Sachen zum Wechseln und ab geht die Post.“
„Planetenluft zu schnuppern, würde mir ausgezeichnet gefallen. Wir haben mit deiner Einladung gerechnet und bereits alles Notwendige zusammengepackt. Warte einen Moment.“
Ramon und Enrico kamen kurz darauf zurück und wenige Minuten später befanden sich alle drei auf dem Weg nach unten. Als der Gleiter durch die Wolkendecke stieß, hörte Walter seinen alten Kameraden wonniglich stöhnen.
„Du hast dir aber einen schönen Planeten ausgesucht.“
„Willkommen auf der Semira!“, rief Walter etwas theatralisch und flog zwei Runden um den See, bevor er am Blockhaus landete.
Sie saßen draußen in der Abendsonne, jeder mit einem Glas in der Hand und prosteten sich zu.
„Ramon, du hast mich jetzt gefunden, doch die Notwendigkeit dahinter verstehe ich nicht.“
„Mir fehlen Erinnerungen an 50 Lebensjahre. Ich kann mich nur an meine ersten 30 erinnern. Du bist meine Verbindung zur Vergangenheit. Alle anderen aus unserer damaligen Truppe sind tot. Ich wollte mich mit dir über die alten Zeiten unterhalten um festzustellen, ob mein Gedächtnis intakt ist.“
„Das setzt voraus, dass meines richtig funktioniert, doch das wage ich zu bezweifeln. Willst du keinen Spezialisten aufsuchen?“
„Nie und nimmer. Wenn ich denen meine Geschichte erzähle, habe ich kein eigenes Leben mehr. Dann gehöre ich der Forschung und das kommt für mich nicht in Frage.“
„Das leuchtet mir ein. Wir können gerne über die alten Zeiten reden, doch wer entscheidet bei auftretenden Differenzen darüber, wessen Erinnerung näher an der Wahrheit liegt?“
„Die strittigen Sachen werden wir im SpaceNet recherchieren müssen.“
„Hier gibt es kein SpaceNet.“
„Damit habe ich nicht gerechnet. Das muss ich erst einmal sacken lassen.“
„Ich denke oft an die alten Zeiten zurück und mit dir darüber zu reden, wird mein eindimensionales Bild vervollständigen. Wie liefen denn die Gespräche mit deiner Frau?“
„Ich habe nicht mit meiner Frau geredet. Sie hat einige Zeit nach meinem vermeintlichen Tod wieder geheiratet. Ich bin ihr zwei Tage lang gefolgt und habe mich danach entschieden, nicht in ihr Leben zu platzen und Chaos zu stiften. Daraufhin habe ich nach meiner Tochter gesucht und bin so auf Enrico aufmerksam geworden. Er ist der einzige, der meine Identität kennt. Mit dieser Biographie bleibe ich doch lieber im Hintergrund.“
“Verstehe. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du nur den Bruchteil einer Sekunde in dieser Parallelwelt gewesen bist?“
„Das geht mir andauernd durch den Kopf. Es wäre eine schöne Erklärung dafür, dass ich keine Erinnerungen habe, weil es wegen der Kürze nichts zu erinnern gibt.“
„Ja, die Relativität der Zeit, frei nach Einstein“, mischte sich Enrico ein, „Ihr könnt nur spekulieren. Dieses Phänomen lässt sich mit keiner uns bekannten Theorie erklären. Ignoriert einfach die Wissenschaft.“
„Lach uns ruhig aus, du bist auch nicht klüger als wir“, sagte Ramon.
„Sicher bin ich das. Ich versuche das, was mit dir geschehen ist, gar nicht erst zu ergründen. Das übersteigt meinen Horizont und euren übrigens auch.“
Walter nutzte Enricos Einwand, um auf das Verschwinden seines Gleiters aufmerksam zu machen: „Ich habe vor, die Leute, die sich HyperGates ausgedacht haben, nach dem Verbleib meines Gleiters zu befragen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mich auch nach diesem Zeit-Phänomen erkundigen. Hat einer von euch Einwände?“
„Nur einen: Wie viel von deinem Selbstgebrannten hast du bereits getrunken, Walter?“
„So viel wie du, Enrico. Vor zwei Tagen ist mein Gleiter mit Stan an Bord spurlos verschwunden. Stan ist mein Roboter und seine Flugkünste sind legendär. Sie stellen sogar meine in den Schatten. Ich war gerade auf der Suche nach ihm, als ihr eingetroffen seid.“
„Das hat Vorrang“, entschied Ramon und erhob sich, „deinen Gleiter finden wir noch vor Anbruch der Nacht.“
„Danke, das würde mich außerordentlich freuen“, erwiderte Walter und alle drei verließen die Blockhütte. Während des Fluges teilte Walter den beiden mit, was er und Stan besprochen hatten.
Sie erreichten die mutmaßliche Absturzstelle der Aurelia, die von Stan abgesucht werden sollte, nach einer Stunde. Ramon flog das Gebiet ab und machte alle notwendigen Analysen, um Metalle und Kunststoffe zu finden. Die Auswertung der Daten bestätigte ihnen, dass sie die Absturzstelle der Aurelia gefunden hatten, doch vom Gleiter fehlte jede Spur.
„Das ist unerwartet. Ich werde die Bahn der Regula korrigieren, sodass sie über der Zone kreist“, sagte Ramon und nahm sein Steuerungs-Tablet zur Hand.
„Gute Idee. Doch ich fürchte, dass wird uns auch nicht weiter bringen“, entgegnete Walter.
„Seit wann bist du so pessimistisch? Abwarten und Tee trinken, das war doch deine alte Devise.“
„Stimmt. Das habe ich so oft gesagt, das hätte keiner von euch vergessen können.“
„Dann gilt das nicht als erfolgreicher Erinnerungstest?“
„Keine Chance, Ramon, da musst du dich schon mehr anstrengen.“
„Na gut. Seid ihr bereit für den Rückflug?“
Enrico und Walter nickten unisono.
„Wir könnten noch einen Zwischenstopp einlegen und den Heißluftballon einsammeln“, kam es spontan von Walter.
„Warum hast du dir überhaupt einen zugelegt?“, fragte Enrico.
„Ballonfahren ist eines meiner neuen Hobbys“, klärte Walter ihn auf, „ein Mann braucht eine Beschäftigung.“
„Ballonfahren ist nun wirklich aus der Zeit gefallen.“
„Auf der Semira hat das bisher noch niemanden gestört. Früher konnte ich mein Schiff derart beschleunigen, dass sich meine Hirnwindungen geglättet haben, heute ziehe ich es vor, mit dem Wind zu driften. Das Alter hält so manche Überraschung bereit, glaub mir, Enrico.“
„Mit etwas Glück bleibe ich für immer jung.“
„Ach ja, willst du für einen Moment in eine Parrallelwelt eintauchen?“
„Ich bin doch kein Selbstmörder. Wenn du die Neuigkeiten im SpaceNet verfolgen könntest, wüsstest du, wovon ich rede. Die Unsterblichkeit ist der heißeste Verkaufsschlager.“
„Das erinnert mich an Pieter van Straaten und seine Idee von der Unsterblichkeit. Er hat vor einigen Jahren im DeLTa versucht, sein Bewusstsein in ein künstliches Gehirn zu transferieren.“
Walter verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die besagen sollte, dass das Resultat noch verbesserungswürdig war, was jedoch Enricos Begeisterung in keinster Weise dämpfte.
„Genau! Von diesem Institut rede ich. Das hat einige Unternehmen lizenziert, ihre Erfindung unter die Leute zu bringen. Alle Medien waren voll davon. Leider ist die Unsterblichkeit für mich zur Zeit noch unerschwinglich.“
„Sei nicht traurig. Ich hatte mit dem ersten Bewusstsein, das transferiert wurde, zu tun. Es hat sich den Namen Ariel gegeben und menschliche Körper okkupiert, in denen es leben wollte. Du kennst meine Akte von der Caldera. Ich wurde beschuldigt, ein Raumschiff gestohlen zu haben. Dieser Ariel hat mit manipulierten Beweisen dafür gesorgt, dass ich zum Tode verurteilt wurde. Ich stehe diesem Unsterblichkeitskonzept skeptisch gegenüber, nicht zuletzt, weil man seinen Körper verliert.“
„Wenn mein Körper alt und verfallen ist, werde ich ihm nicht nachtrauern. Ich bekomme schließlich einen neuen mit weitaus besseren Parametern.“
„Das ist die Crux an der Geschichte. Dieser Androidenkörper mit seinen neuartigen Möglichkeiten wird Auswirkungen auf dein Bewusstsein haben. Du bist nicht mehr menschlich und was sich daraus für deine weitere Existenz ergibt, kann keiner der Wissenschaftler ermessen, die dir die Unsterblichkeit versprechen. Bei Ariel ist gleich zu Beginn etwas schief gelaufen, sodass er auf menschliche Empfindungen fixiert war, die ihm keine noch so ausgefeilte technische Kreation geben konnte. Glaub mir, in dem Verfahren steckt soviel Fehlerpotential, das wir mit dem Aufräumen nicht hinterher kommen werden.“
„Das ist doch alles Schnee von gestern. Das Verfahren wurde Jahre lang getestet und läuft fehlerfrei. Mit dem Eintritt in die Unsterblichkeit erklimme ich meine höchste Entwicklungsstufe.“
„Das wage ich zu bezweifeln. Das ganze ist ein Geschäftsmodell. Etwas, dass du mit Geld kaufen kannst, mag dein Leben angenehmer machen. Vielleicht ändert es selbiges auch nachhaltig, doch zu einer Höherentwicklung führt es mit Sicherheit nicht. Technologie macht uns als Individuen nicht besser. Glaub mir, Unsterblichkeit ist ein Fluch.“
„Ich weiß, das sagen alle, die sterben müssen. Ich ziehe eine noch so unvollkommene Unsterblichkeit dem Tod vor.“
„Jegliches hat seine Zeit. Das ist das Konzept der Natur. Es wäre klug, sich darüber Gedanken zu machen, bevor man daran herumwerkelt. Aber geschenkt, ich gehöre zum alten Eisen und habe keine Ahnung, was in der Welt von heute vor sich geht.“
„Walter, so nachdenklich kenne ich dich ja gar nicht. Wann ist diese Veränderung eingetreten?“, fragte Ramon.
„Na wann schon? Als ihr alle nacheinander verunglückt seid. Das ging nicht spurlos an mir vorüber.“
„Du meinst, unser Tod hat dich zum Philosophen gemacht?“
„Spotte nur. Eure Unfälle haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt und begleiten mich seitdem. Die Essenz aus alldem ist, dass ich nur Glück hatte. Ich bin nicht klüger oder geschickter gewesen als ihr. Ich lebe nur, weil der Zufall mir gewogen war.“
„Wer weiß, vielleicht hast du recht“, lenkte Ramon ein und setzte zur Landung an, da der ausgebreitete Heißluftballon im Sichtfeld des Gleiters erschienen war. Sie stiegen aus und Walter betrachtete betrübt die Ballonhülle.
„Wir sollten uns so platzieren, dass wir die Hülle von drei verschiedenen Punkten aus anheben können. Ich gehe nach vorne und ihr jeder an eine Seite.“
Walter machte es den beiden vor und griff mit gebotener Vorsicht nach der Hülle. Enrico und Ramon taten es ihm gleich. Als sie mit hoch erhobenen Armen da standen und auf weitere Anweisungen warteten, zog Walter seine Laserpistole. Ohne zu zucken, zielte er auf Enrico und schoss. Ramon wartete nicht darauf, dass ihn das gleiche Schicksal ereilen würde, sondern sprang unter die Ballonhülle. Walter reagierte augenblicklich und feuerte einige Male auf die Stelle, wo er Ramon vermutete. Inzwischen hatte die Hülle Feuer gefangen und Walter erkannte seine Chance: Er rannte so schnell er konnte zum Gleiter. Ramon, der vor dem Feuer tiefer ins Buschwerk fliehen musste, hatte keine Chance, ihn zu verfolgen. Walter kam atemlos an der Gangway an und hastete hinauf. Kaum hatte er die Luke hinter sich geschlossen, sah er Ramon in weiter Entfernung aus dem Gestrüpp auftauchen. Walter hatte das Interesse an dem Mann verloren und was er in seinem weiteren Leben noch anstellen mochte, war ihm egal. Er saß startklar im Gleiter und neben ihm lag das Steuerungs-Tablet der Regula. Mehr brauchte er nicht. Walter betätigte den Starter und der Gleiter schoss flach über die Landschaft davon.
Er flog direkt zu seiner Blockhütte und schleppte sich zum Haus hinauf. Das Adrenalin war inzwischen aus seinem Körper verschwunden und er fühlte sich ermattet. In der Küche schenkte er sich ein großes Glas von seinem Selbstgebrannten ein und begab sich anschließend auf die Terrasse. Erst dort nahm er einen tiefen Schluck zu sich, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte das Zittern seiner Hände bereits nachgelassen.
Walter war von den Ereignissen des Tages überrollt worden und hatte die Widersprüche in Enricos und Ramons Erzählungen nicht sofort bemerkt. Doch während der Suche nach Stan und seinem Gleiter hatte er Zeit gehabt, darüber nachzudenken. So hatte Ramon geäußert, dass er seine Frau nicht gesprochen hatte, während Enrico davon berichtete, sie hätte gesagt, Ramon wäre keinen Tag älter geworden. Vielleicht wollte Enrico die Geschichte nur dramatisieren, weshalb Walter diesem Widerspruch nicht allzu viel Bedeutung beigemessen hatte.