Die 16 Tage des Daniel Blake - Reimon Nischt - E-Book

Die 16 Tage des Daniel Blake E-Book

Reimon Nischt

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Beschreibung

„Ringsum war kein Laut zu hören. Zuerst führte Daniel die plötzliche Stille darauf zurück, dass er Wasser in seine Ohren bekommen hatte und schüttelte den Kopf. Dabei gewahrte er das, was ihn wirklich beunruhigte. Er trieb in einem See, der die Farbe von Quecksilber angenommen hatte.“ Daniel und Per sind auf Fototour in Schweden und werden Zeugen dieser plötzlichen Verwandlung der Natur. Die beiden Freunde wissen nicht, womit sie es zu tun haben, vermuten jedoch, dass es sich um ein verunglücktes militärisches Experiment handelt und befürchten, etwas gesehen zu haben, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Sie ergreifen die Flucht. Daniel bemerkt, dass sich seine Sinneswahrnehmungen seit seinem unfreiwilligen Bad in der quecksilbrigen Flüssigkeit verfeinert haben. Trotz seiner neuen Fähigkeiten brauchen die beiden Hilfe von außen, um das Gebiet verlassen zu können. Per ruft seine Freundin Julia an und bittet sie um Unterstützung. Eine Odyssee beginnt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Reimon Nischt

 

Die 16 Tage des Daniel Blake

 

Roman

 

 

 

 

Herausgegeben von:

 

www.bilderarche.de 

 

© 2022 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf

I

Daniel

Vorher

 

Daniel Blake erwachte beim ersten Tageslicht. Auf seine innere Uhr konnte er sich verlassen. Er stand auf, ging ins Bad, warf sich kaltes Wasser ins Gesicht und zog anschließend seine Laufsachen an.

Daniel sah aus dem Fenster und es wunderte ihn nicht, einen wolkenverhangenen Himmel vorzufinden, der Regen versprach, da dies der Wetterbericht vorhergesagt hatte. Erst gegen Abend sollte sich die Sonne zeigen.

Daniel folgte seiner Laufstrecke, die durch einen Nadelwald an einem See entlang führte. Er freute sich immer noch darüber, einen See in unmittelbarer Nähe zu haben, doch in einer Gegend, in der es mehr Seen als Wege gab, war das nicht ungewöhnlich.

Kaum war er ein paar Schritte gelaufen, drang das Geräusch des einsetzenden Regens an sein Ohr. Der lange Weg durch das dichte Nadeldach nahm den Tropfen die Kraft, sodass Daniel nur sanft benetzt wurde. Trotzdem waren seine Sachen nach knapp einem Drittel der Strecke durchnässt. Die feuchte Luft verstärkte den leicht modrigen Geruch des Waldes, der sich mit dem des Harzes vermischte. Daniel fand zu dem Tempo, bei dem sein Körper wie eine gleichmäßig arbeitende Maschine funktionierte.

Seine Gedanken schweiften ab und er dachte an Pernilla, von der er sich getrennt hatte. Sie lebte weiterhin in Malmö und die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass man sich auch in einer großen Stadt häufig über den Weg laufen konnte, was er tunlichst vermeiden musste, um nicht wie zuvor rückfällig zu werden. Wenngleich der Rückfall im ersten Moment süß und köstlich erschiene, erginge es einem danach wie einem trockenen Alkoholiker und die Erkenntnis, etwas Dummes angestellt zu haben, nähme allmählich Kontur an. Gut, dass er über tausend Kilometer von ihr entfernt war. Daniel war zwei Wochen früher als geplant in seine Hütte in der Wildnis gezogen, die er im vorigen Jahr erworben hatte.  

Pernilla war großartig, was den Sex betraf, doch für den Alltag unbegabt. Es schien ihm mitunter, dass sie über den Wolken schwebte oder die Wirklichkeit selektiv wahrnahm. Auch mit einer selbst erstellten Einkaufsliste in der Hand war sie nicht in der Lage, die Dinge zu besorgen. Irgendwann ignorierte sie die Aufstellung und kaufte Blumen statt Butter. Wenn er sie fragte, was sie dazu bewogen hatte, tanzte sie mit den Pflanzen durchs Zimmer und meinte mit einem Lächeln im Gesicht, sie hätte ihrer spontanen Eingebung nicht widerstehen können. Außerdem würden die Blumen den Raum verschönern. Es war für Daniel frustrierend und ehe er etwas entgegnen konnte, sah Pernilla ihn direkt an, was dazu führte, dass er sämtliche Einwände fallen ließ. Sollte Sex je die Basis für ein erfolgreiches Zusammenleben bilden, wäre Pernilla seine erste Wahl. Doch dass das jemals Wirklichkeit werden würde, konnte Daniel sich nicht vorstellen. Trotz dieses Wissens sehnte er sich nach ihr. Daran änderte auch die große Entfernung zwischen ihnen nichts. Sogar auf dem Mond würde er sie nicht vergessen können.

Auf den letzten Metern zu seiner Hütte gab Daniel alles, was noch in ihm steckte. Er sauste durchs Ziel und trudelte aus. Im Flur kämpfte er sich aus den nassen Laufsachen heraus, betrat nackt das Bad und duschte ausgiebig. Nur mit einem Bademantel bekleidet ging er in die Küche, setzte Teewasser auf und füllte eine Schale mit Müsli und Milch, was ihm bis zum Mittag reichte. 

Daniel hatte sich entschlossen, den Sommer in der neuen Hütte zu verbringen, um dort, abgeschieden von der Zivilisation, sein nächstes Buch zu schreiben. Er war ein erfolgreicher Autor von Kriminalromanen, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden waren. Als Jugendlicher hatte er Krimis verschlungen, vor allem amerikanische, bevor er zu Büchern einheimischer Schriftsteller griff und so die Romane von Olov Svedelid schätzen lernte. Im Alter von 15 Jahren hatte er seine erste Detektivgeschichte geschrieben, die während der Zeit der Prohibition in Los Angeles spielte. Immer wenn er meinte, das Neugeschriebene sei Mist, holte er diese Geschichte hervor, um sich zu vergewissern, ob er seinen Mindeststandard unterschritten hatte, was noch nie der Fall war. Auf Pernillas Urteil konnte er sich in dieser Hinsicht nicht verlassen. Sie hielt ihn für einen Künstler, der sich unter Wert verkaufte, indem er sein Talent an Krimis verschwendete. Sein Einwand Kunst sei etwas, das er sich nicht leisten könne, da er seinen Lebensunterhalt finanzieren müsse, ließ sie nicht gelten.

Daniel hatte das neue Manuskript seinem Lektor überreicht und diesen gebeten, Änderungsvorschläge an das Lebensmittelgeschäft im benachbarten Ort zu schicken, in welchem Daniel einmal wöchentlich einkaufte und nach Post sah. Sollte etwas von seinem Verlag eintreffen, würde er dies vorrangig bearbeiten, doch die übrige Zeit seinem nächsten Projekt widmen, das Ende des Jahres als Manuskript vorliegen sollte. Der Rhythmus hatte sich inzwischen eingespielt.

Doch dieser angehende Sommer würde mit einem Urlaub beginnen. Daniel hatte Per Bergström, einen Freund aus Göteborg, eingeladen und erwartete ihn im Laufe des Tages. Sie hatten vor, gemeinsam auf Fotopirsch zu gehen und abends am Lagerfeuer alte Geschichten zum Besten zu geben. Sie waren sich vor drei Jahren beim Nordlicht fotografieren in Kiruna begegnet und hatten sofort gemerkt, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. Seitdem zogen sie wenigstens einmal pro Jahr zusammen los.

 

Daniel wurde durch ein Geräusch geweckt und schrak hoch. Per stand in der Tür.

„Hallo, das ist ja ein müder Empfang“, rief er zur Begrüßung.

„Ich bin beim Warten weggedöst. Schön, dass du da bist.“

Daniel erhob sich aus dem Sessel und begrüßte seinen Freund. Er führte Per zum Gästezimmer und half ihm mit dem Gepäck. Per sah sich kurz um und verstaute seine Tasche.

„Etwas spartanisch, doch für die kurze Zeit wird es wohl gehen“, meinte Daniel, der in der Tür stand.

„Mach dir keine Gedanken, das Zimmer ist prima.“

„Wie war die Fahrt?“

„Nachdem ich Göteborg hinter mir gelassen hatte, recht entspannt. Für einen Samstag war wenig los.“

„Und was macht das Studium?“

„Es schleppt sich so dahin. Eine Woche Auszeit kommt mir gelegen.“

Die Sonne kämpfte sich gerade durch die Wolken und Daniel schlug vor, auf der Terrasse einen Tee zu trinken. Als er mit Kanne und Tassen nach draußen trat, saß Per mit geschlossenen Augen auf der Bank. Daniel schob ihm eine dampfende Tasse zu und wartete, ob die Magie des Getränks ihre Wirkung entfaltete.

„Hallo Träumer, dein Tee ist fertig“, sagte er, als keine Reaktion erfolgte.

„Ja, das habe ich bemerkt. Es ist nur so schön, die Augen geschlossen zu halten und die Sonne auf dem Gesicht zu spüren.“

„Mit einem Schluck Tee wird es noch schöner.“

„Überredet“, sagte Per und genoss die Wärme, die durch seinen Körper strömte.

„Morgen steht uns ein anstrengender Tag bevor. Wir sollten jetzt unsere Sachen packen und danach früh schlafen gehen“, sagte Daniel, nachdem sie die Kanne geleert hatten.

Wie gewöhnlich häufte sich ein Berg an, der nicht zu bewältigen war, worauf das Aussortieren folgte. Das, was davon übrig blieb, stellte immer noch eine Herausforderung dar. Per wollte lieber nackt durch den Wald wandern, als auf einen Teil seiner Fotoausrüstung zu verzichten. Doch letztlich musste er einen Kompromiss eingehen und neben seinem Blitzlichtgerät auch noch ein Teleobjektiv zurücklassen.

Nachdem die Auswahl getroffen war, verteilten die beiden Zelt, Schlafsäcke, Wechselsachen, Kochgeschirr, Spiritusbrenner, Nahrungsmittel und Fotoausrüstungen gleichmäßig auf ihre Kraxen und probierten aus, ob die Last erträglich war. Da Daniel nicht zum ersten Mal eine Tour unternahm, korrigierte er die Lastverteilung und testete den Sitz der Kraxe beim Gehen durch den Wald. Als er mit allem zufrieden war, wartete Per schon auf ihn.

„Wir brechen morgen zeitig auf, um den See noch vor dem Abend zu erreichen. Glaub mir, der Tag wird hart.“

„Keine Angst, ich bin in Form.“

„Das will ich doch hoffen. Wie viele Diafilme hast du dabei?“

„30 und du?“

„50. Falls es eng wird, kannst du welche von mir haben.“ 

„Meine sollten reichen.“

„Abwarten. Letztes Jahr bin ich dort einer Bärin begegnet.“

„Wirklich?“

„Wird dir jetzt ein wenig mulmig zu Mute? Sehe ich deine Nasenspitze grün anlaufen?“

„Keine Chance. Eine Bärin wäre traumhaft.“

Die beiden aßen zu Abend und gingen zeitig zu Bett.

 

Am nächsten Morgen stand Daniel mit den ersten Strahlen der Sonne auf und weckte Per, der, noch betäubt von der Tiefe des Traums, mit Kuhaugen in den Raum starrte, ohne ihn zu erkennen.

„Du siehst besoffen aus.“

„Mir kam nur alles so fremd vor“, sagte Per und erhob sich aus dem Bett. „Der frühe Morgen ist nicht meine Zeit.“

„Gestern hast du noch gesagt, du wärst in Form. Du schaffst es ja nicht mal munter zu werden.“

„Ich korrigiere mich: Nach dem Frühstück bin ich in Form.“

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, entgegnete Daniel und ging in die Küche, das Frühstück zu bereiten. Per folgte ihm einige Minuten später, setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm einen vorsichtigen Schluck aus einer dampfenden Tasse.

„Ist der Kaffee stark genug?“, fragte Daniel.

„Ein echter Muntermacher würde ich sagen.“

Sie aßen nur wenig und brachen bald danach auf. Zuerst kam Per die Kraxe nicht besonders schwer vor, doch kaum waren sie außer Sichtweite der Hütte drückte der rechte Schultergurt. Er hielt an und korrigierte die Lastverteilung. Daniel unterstützte ihn dabei. Er wusste, dass es keine Wunder gab und übte sich in Geduld.

Nachdem sie drei Stunden unterwegs gewesen waren, legten sie ihre erste Pause ein. Sie setzten sich auf einen umgebrochenen Baumstamm, sodass sie ihre Kraxen nicht abnehmen mussten. Der Tee in den metallenen Thermoskannen war noch heiß und beide tranken ihn mit kleinen Schlucken.

„Hier ist es so wunderbar ruhig. Um diese Zeit ist in Göteborg Rush Hour“, sagte Per.

„Und in Malmö auch. Deswegen habe ich mir diese Hütte zugelegt. Irgendwann werde ich ganz in den Norden ziehen.“

„Wenn ich mehr als fünf Kilometer bis zu meinem Nachbarn laufen muss, zerfließe ich vor lauter Einsamkeit. Ich glaube, ich würde einen Koller kriegen.“

„Vergangenes Jahr bin ich hier sechs Wochen allein gewesen. Anfangs ist es mir nicht leicht gefallen, auf die Verlockungen der Zivilisation zu verzichten. Doch Schreiben und Fotografieren haben mir dabei geholfen. Einmal in der Woche im nächstgelegenen Ort einzukaufen, reicht, um mich wieder auf die Hütte zu freuen.“

„Da sind wir zu verschieden. Ich brauche nur an das letzte Wochenende mit Julia zu denken und mein Ja zur Aufgabe der Zivilisation geriete ins Wanken.“

„Entwickelt sich das mit deiner Freundin zu etwas Ernstem?“

„Von meiner Seite aus schon. Sie lässt sich nicht so gerne in die Karten schauen.“

„Soll heißen?“

„Wenn ich sie frage, ob wir zusammenziehen wollen, bekomme ich ausweichende Antworten. Julia will erst ihr Studium abschließen und sich einen Job suchen, bevor sie ernsthafte Pläne für ihre Zukunft schmiedet.“

„Pernilla wollte schon nach kurzer Zeit, dass ich bei ihr einziehe. Ich war derjenige, der gebremst hat und als wir dann zusammen lebten, hat es nicht funktioniert.“

„Du meinst, Julia hat Bedenken?“

Daniel tat so, als ob er einem Geräusch im Wald mit Blicken folgte, um Per nicht anzuschauen. Julia hatte nicht nur Bedenken, sie wollte nicht mit ihm zusammen ziehen und schob das Studium vor. Was diese Art von Ausreden betraf, war Daniel der ungekrönte König, da er sich damit gegen Pernillas Drängen gewehrt hatte. Doch Julia schien darin erfolgreicher zu sein.

„Hört sich für mich so an“, meinte Daniel ausweichend.

„Wir sind fast ein Jahr zusammen. Ist das für dich eine kurze Zeit?“

„Das musst du Julia fragen, nicht mich.“

„Ich fürchte, wir drehen uns im Kreis.“

„Von mir kannst du keine Tipps für dein Zusammenleben bekommen. Meine Beziehung ist gerade gescheitert. Frauen sind für mich erst einmal passé.“

„Steckt dir die Trennung von Pernilla immer noch in den Knochen?“

„Was heißt Trennung? Ich bin hierher geflohen. Nur kriege ich sie nicht aus meinem Kopf. Ich stecke mitten in der Entwöhnungsphase.“

„Vielleicht fällt dir die Trennung nur so schwer, weil sie die richtige ist.“

„Nein, damit bin ich durch. Meine Entscheidung ist endgültig.“

„Eine neue Frau lässt alte Erinnerungen verblassen.“

„Du hast gesehen, wie abgeschieden ich wohne. Rate mal, wie viele Frauen mir hier begegnen.“

„Keine, nehme ich an. Deshalb solltest du in eine größere Stadt wie Malmö oder Göteborg gehen.“

„Ich habe mich für die Wildnis entschieden.“

„Dann ist dir nicht zu helfen.“

Daniel nickte und gab Per das Zeichen zum Aufbruch. Beide erhoben sich mit ihrem wuchtigen Gepäck wie Schwerathleten. Die ersten Schritte nach der Pause liefen sich ungewohnt und Daniel kam sich so unsicher wie Neil Armstrong auf dem Mond vor. Doch dieses schwammige Gefühl in den Beinen verschwand nach wenigen Metern wieder.

Es ging eine Anhöhe hinauf und der Wald lichtete sich allmählich. Tief hängende Wolken dominierten nun die Landschaft, die sich mit diesem Himmel zu arrangieren suchte. Kein ungewohntes Bild für Daniel. Es sah nach Regen aus und der Norden enttäuschte einen in dieser Hinsicht nur selten. Wieder im Tal angekommen, verschluckte der Nadelwald die beiden und sorgte dafür, dass sie den einsetzenden Niederschlag kaum spürten.

Nach zwei Stunden schaute die Sonne zögerlich durch die Wolken. Ein Regenbogen erschien in so satten Farben, wie es Daniel bisher nur hier oben erlebt hatte. Es wurde Zeit für eine weitere Pause. Das weiche Moos lud zum Sitzen ein, nur hatte es sich mit so viel Nässe vollgesogen, dass dieser Wunsch einem Bad im See gleich käme. Daher nahmen sie wieder mit einem Baumstamm vorlieb. Wegen der längeren Pause legten sie ihre Kraxen ab. Per stöhnte vor Erleichterung auf.

„Bist du noch immer scharf auf ein Abenteuer?“, fragte Daniel, der erste Anzeichen einer Ermüdung bei seinem Gast wahrnahm.

„Ich wette, hier gibt es überhaupt keinen See. Du willst mich doch nur fertigmachen. Aber das schaffst du nicht.“

„Mehr wollte ich gar nicht hören. Doch hier oben gibt es so viele Seen, dass es eher an ein Wunder grenzt, keinen zu sehen.“

Nach dieser kurzen Unterhaltung verzehrten die beiden schweigend ihre belegten Brote und tranken den immer noch heißen Tee. Daniel stand auf und sah sich ein wenig in der Gegend um. Er mochte auf anstrengenden Touren nicht lange sitzen, sondern blieb lieber in Bewegung. Als er wieder zu Per zurückkam, lehnte dieser an einem Baum und schlief. Daniel gönnte ihm noch ein paar Minuten, bevor er ihn weckte und zum Aufbruch blies. Die Sonne kämpfte sich mehr und mehr durch die Wolken, bis sie schließlich von allen befreit allein am Himmel stand.

Knapp zwei Stunden später erreichten die beiden ihr Ziel. Am Seeufer weitete sich ihr Blick und schweigend nahmen sie die Magie des Ortes in sich auf. Daniel stieß Per an, der anscheinend das Fotografieren vergessen hatte.

„Willst du hier Wurzeln schlagen?“

„Ich würde hier gerne ein Baum sein.“

„Und das von einem Städter. Wahrscheinlich änderst du deine Meinung, wenn die Bärin sich an dir schubbert.“

Beide lachten und griffen nach ihren Fototaschen.

„Das Licht ist phantastisch“, sagte Per und zog mit seiner Kamera los. Daniel beobachtete seinen Freund bei der Motivsuche und erfreute sich an dessen Enthusiasmus. Doch er war nicht hier, um den Aufpasser zu spielen, griff selbst zur Kamera und setzte seine Ideen um. Als die Dämmerung nahte, errichteten sie ihre Unterkunft.

Daniel zog sich aus und lief in den See, der noch hell schimmerte, obwohl der Wald bereits im Dunkeln lag. Die Kälte des Wassers prickelte auf der Haut wie Eiskristalle. Er schwamm eine kleine Runde und kehrte kurz darauf zum Zelt zurück. Noch während Daniel sich abtrocknete, fühlte er die sich in seinem Körper ausbreitende Müdigkeit. Er kroch ins Zelt und wollte Per sagen, er solle ebenfalls in den See springen, als er die ruhigen Atemgeräusche vernahm. Daniel schlüpfte in seinen Schlafsack und kaum dass er den Reißverschluss zugezogen hatte, übermannte ihn der Schlaf. 

Tag 1, Montag

 

Daniel wäre das Morgenlicht entgangen, hätte er nicht wegen des vielen Tees aufstehen müssen, um zu urinieren.

„Los, hoch mit dir“, rief er Per zu, als er zurück ins Zelt kam, sich anzuziehen. Dieser rührte sich jedoch nicht und Daniel überlegte kurz, ob er alleine losziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Er rüttelte Per wach.

„Aufwachen, du Faulpelz. Bist du zum Schlafen oder Fotografieren hier?“

Per rieb sich die Augen.

„Was ist denn los?“

„Bestes Sonnenlicht zum Fotografieren. Ich bin gleich weg.“

„Verdammt, warte auf mich“, rief Per und schlängelte sich aus dem Schlafsack heraus. Er kroch aus dem Zelt, kam zurück und schnappte sich seine Fototasche.

„Willst du wirklich barfuß und in Unterwäsche losziehen?“

„Ich muss, das Licht ist so toll. Ich gehe nur zum Seeufer.“

„Zieh dir wenigstens Schuhe an“, rief Daniel ihm hinterher. Ehe Per widersprechen konnte, spürte er plötzlich die morgendliche Kälte wie Messerstiche auf der Haut, kehrte reumütig zum Zelt zurück und zog sich vollständig an.

Da Daniel die schönsten Flecken kannte, hielt sich Per in seiner Nähe auf. Als das Licht im Laufe des Vormittags härter wurde, kehrten beide erschöpft, aber glücklich zum Zelt zurück.

Zum Mittagessen gab es Tütensuppe. Während beide aßen, monologisierte jeder über seine Motive und deren fotografische Umsetzung. Sie redeten an einander vorbei und bemerkten es nicht.

Nach dem Essen ruhten sie sich aus, da das Licht zum Fotografieren erst gegen Abend an Qualität gewinnen würde. Daniel schwamm in den See hinaus und Per sah ihm vom Ufer aus zu. Der Test mit dem großen Zeh hatte ihm gezeigt, dass die Wassertemperatur zu niedrig war. Er saß auf einem Stein und betrachtete die Lichtreflexe auf den Wellen.

Der faule Nachmittag ging mit einem leichten Essen in den geschäftigen Abend über. Diesmal führte Daniel seinen Freund zum Steilufer, da dort zu dieser Tageszeit die besseren Lichtverhältnisse herrschten. Sie gelangten über einen stark ansteigenden Pfad zu einer Aussicht, die diesen Namen wirklich verdiente. Der zehn Meter tief unter ihnen liegende See schimmerte wie Obsidian. Die in einem orange-roten Licht glühenden Kiefern am Ufer gegenüber boten dazu einen Kontrast, der Per eine Gänsehaut bescherte. Er verharrte einen Moment, um dieses erhabene Bild in sich aufzunehmen, bevor er es in aller Ruhe durch den Sucher anvisierte.

„Du kannst dich bemühen, so viel du willst, deine Fotos werden der Situation nicht gerecht“, sagte Daniel, der jetzt ebenfalls zu fotografieren begann.

„Du kannst nur über deine Dias urteilen. Meine werden diesen Zauber einfangen. Da wette ich drauf.“

Daniel ließ die Bemerkung unkommentiert. Per hatte recht, er war dabei, die Aufnahmen seines Lebens zu schießen. Das entsprach dem augenblicklichen Empfinden. Alles andere lag in der Zukunft und jetzt daran zu denken würde den Moment nur ruinieren.

Per folgte nach etlichen belichteten Filmen einem sanft geschwungenen Weg zum See hinunter, während Daniel oben blieb, um mit den verschiedensten Optiken die Lichtstimmung einzufangen. Er legte gerade einen neuen Diafilm ein, als ein Zweig im nahen Unterholz brach. Er pirschte sich vorsichtig und immer nach Deckung suchend an. Plötzlich trat ein tapsiges Bärenjunge auf die Lichtung. Daniel dankte seiner Intuition, die ihn zum Teleobjektiv hatte wechseln lassen, sodass er jetzt das Jungtier groß abbilden konnte. Er wusste, dass die Bärin in der Nähe sein würde, doch diese Gefahr erhöhte den Reiz noch mehr.

Ein lautes Brüllen riss ihn aus seiner konzentrierten Arbeit. Er sah sich um. Eine Bärin stürmte ihm entgegen. Vor Schreck ließ er die Kamera fallen und verharrte gelähmt vor Angst. Trotz dieser Starre bemerkte er die Lichtschattierungen auf dem Fell, die den Bewegungen des Tieres eine besondere Eleganz verliehen. Die Bärin würde erst innehalten, wenn sie sah, dass ihrem Nachwuchs keine Gefahr mehr drohte. Für Daniel gab es nur einen Fluchtweg. Er drehte sich um und sprintete dem Steilhang entgegen. Er legte alle seine Kraft in den Absprung und schrie aus vollem Hals. Ob der Schrei die Bärin davon abhalten würde, ihm zu folgen, wusste Daniel nicht, er hoffte es nur inständig.

Er traf mit Wucht auf die Oberfläche des Sees und tauchte mit den Beinen voran ins Wasser ein. Die Kälte überwältigte ihn wie eine Eislawine, sodass er beinahe seinen Mund aufgerissen hätte. Er öffnete die Augen, doch im aufgewühlten Wasser war nichts zu erkennen. Daniel erreichte die Oberfläche und verschluckte sich beim Luftholen. Er hustete kurz und schaute Richtung Steilhang, ob die Bärin dort noch zu sehen wäre. Doch diese hatte offenbar ihr Interesse an ihm verloren.

Erst danach bemerkte Daniel die Veränderungen. Ringsum war kein Laut zu hören. Zuerst führte er die plötzliche Stille darauf zurück, dass er Wasser in seine Ohren bekommen hatte und schüttelte den Kopf. Dabei gewahrte er das, was ihn wirklich beunruhigte. Er trieb in einem See, der die Farbe von Quecksilber angenommen hatte. Auch die Dichte dieser Flüssigkeit schien höher zu sein als die des Wassers, da er sich nicht einmal bewegen musste, um nicht unterzugehen. Mit langsamen Schwimmzügen näherte er sich dem Ufer, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Als er den Grund mit den Beinen fühlte, erhob er sich. Die ungewöhnliche Flüssigkeit perlte restlos von ihm ab und er kam trockenen Fußes am Ufer an. Allein dieser Umstand hätte ihn umhauen müssen, doch Daniel betrachtete in aller Ruhe seine Sachen. Zuerst bemerkte er die Veränderungen nicht, doch da seine Hose nicht mehr so gut saß, wurde er auf die fehlende Gürtelschnalle aufmerksam. Auch die Ösen seiner Schuhe waren verschwunden. Der Reißverschluss seiner Outdoorhose hatte das Metall eingebüßt und stand offen. Er nahm all die Veränderungen, ohne groß zu staunen, zur Kenntnis.

Daniel hob den Kopf und sah sich um. Er spürte, dass die Natur wieder zum Leben erwachte. Die Birkenblätter rauschten in einer sanften Abendbrise. Kurz darauf erklang der Ruf eines Unglückshähers, was die Vogelwelt wieder erwachen ließ. Daniel fühlte sich wie in einem Film, dem der Ton portionsweise zugeschaltet wurde. Einen Atemzug lang hatte die Natur durch ein Ereignis, das außerhalb seiner Vorstellungskraft lag, geschwiegen. Es war zu Veränderungen gekommen, die allmählich von der Umwelt akzeptiert wurden. Nur ein Hinweis darauf, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war, hatte noch Bestand: Der See schimmerte weiterhin in diesem Ton, der einen an Quecksilber denken ließ.

Zweige knackten. Daniel wurde von einer tiefen Ruhe erfasst, sodass er sitzen blieb und darauf wartete, was sich näherte. Das Knacken wurde lauter und erstarb plötzlich.

„Keine Angst, Per ich bin es nur“, rief Daniel.

„Hört sich jedenfalls so an. Ich wusste gar nicht, dass du ein Zauberer bist. Oder warst du das gar nicht?“

„Sehr witzig. Ich musste vor der Bärin fliehen und bin vor lauter Angst in den See gesprungen. Als ich auftauchte, badete ich plötzlich in Quecksilber. Der Schreck sitzt mir noch immer in den Gliedern.“

„Ich habe einen durchdringenden Pfeifton vernommen und kurz darauf schoss eine riesige Fontäne in die Höhe. Danach Totenstille. Ich verlor das Gleichgewicht und bin auf allen vieren ins Unterholz gekrochen. Mir wurde übel. Ich dachte, ich hätte mein Gehör verloren.“

Per zögerte einen Moment, da ihm jetzt erst klar wurde, was Daniel gesagt hatte.

„Du bist mit der Flüssigkeit in Berührung gekommen?“

„Ich war im See, als es passierte. Ich konnte es mir nicht aussuchen.“

„Deine Sachen sehen aber trocken aus.“

„Probier es selbst aus und schwimm eine Runde. Der Zauber wirkt auch bei dir.“

„Nein, danke, darauf kann ich verzichten. Bist du so weit in Ordnung?“

„Ich fühle mich gut. Allerdings haben einige meiner Sachen gelitten.“

Daniel zeigte auf den Gürtel, seine Schuhe und den Reißverschluss der Hose.

„Bestanden die fehlenden Teile aus Metall?“

„Jetzt, wo du es sagst, ja.“

Per zog einen Zelthering aus dem Boden, legte ihn auf eine Astgabel und ging zum See. Er bewegte den Ast langsam übers Wasser. Obwohl er ihn noch nicht eingetaucht hatte, löste sich der Hering auf und konzentrische Kreise zeigten an, wo das verflüssigte Aluminium im See verschwunden war.

„Gelungene Vorstellung“, meinte Daniel.

„Klar, anspruchsvolle Zauberei funktioniert noch immer, leider bin ich nicht der Magier. Gut, dass ich heute Morgen die Wasserflaschen gefüllt habe. Mit der glänzenden Brühe können wir bestimmt keinen Tee kochen.“

Per wollte nur einen Scherz über ihre Situation machen, doch schien die Katastrophe hinter seinen Worten so noch deutlicher zum Vorschein zu kommen.

„Ich mache mir keine Sorgen um den nächsten Tee“, sagte Daniel und deutete vage in Richtung See, „sondern suche nach einer Erklärung.“

„Ich fürchte, die kann dir niemand geben. Mir geht es gut und von dem Schreck habe ich mich schon teilweise erholt. Wenn ich einen kleinen Schluck von dieser Flüssigkeit probieren würde, bekäme ich bestimmt Superkräfte.“

Pers Worte gaben wieder, was Daniel hoffte. Schließlich lebte er immer noch, obwohl er davon getrunken hatte. Gleichzeitig zermürbte ihn die Ungewissheit, da er die Folgen seines Missgeschicks nicht im Geringsten abschätzen konnte. Er beobachtete sich genau und spürte Veränderungen nach, die sowohl sein Äußeres als auch sein Verhalten betrafen. Er hatte genug Phantasie sich alles Erdenkliche vorzustellen. Doch sollten sich die Änderungen in dem Tempo vollziehen, in welchem das Aluminium verschwunden war, spielte nichts mehr eine Rolle, da er sich in diesem Falle schon längst verändert hätte. So antwortete er lächelnd: „Du wirst zu Quicksilver-Man mutieren oder dir den Tod holen.“

Daniel eilte zum See, tauchte beide Händen in die Flüssigkeit und bot Per an, davon zu trinken.

„Nur zu, trau dich.“

„Du nimmst alles gleich so ernst.“

„Mir ist auch bisher der Spaß an der Sache entgangen. Ich glaube, wir sind Zeugen eines geheimen militärischen Experimentes geworden, das missglückt ist.“

„Hier in Schweden. Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Vielleicht ist bei den Sowjets was schiefgelaufen und einer ihrer Satelliten ist abgestürzt. Tschernobyl liegt gerade mal ein Jahr zurück. Seitdem fürchte ich mich vor dem Versagen russischer Technologie. Hast du eine Ahnung, wie viele Kernkraftwerke dort noch explodieren können?“

„Willst du mir Angst einjagen? Ich traue mich immer noch nicht, Pilze zu essen. Doch im Zweifelsfall bauen bei mir die Amerikaner Mist. Die haben überall ihre schmutzigen Finger im Spiel, gerade hier in Schweden. Für mich steht fest, dass sie am Palme-Mord beteiligt waren.“

„Hast du deinen Tipp schon an die Ermittler weiter gegeben?“, meinte Daniel lakonisch, „Wer das hier zu verantworten hat, ist mir erst mal egal, doch bald werden hier eine Menge Leute aufkreuzen, die alles genau unter die Lupe nehmen. Wenn die uns hier finden …“

„…sind wir im Arsch. Also nichts wie weg“, ergänzte Per.

„Bloß jetzt keinen Schnellschuss. Vielleicht ist ihnen die Fontäne entgangen. Eine Explosion hat es nicht gegeben, starke Radioaktivität auch nicht. Vertrauen wir auf unser Glück?“

„Das ist nicht dein Ernst. Schweden ist Grenzgebiet zwischen NATO und Ostblock. Unser Luftraum wird von allen überwacht. So viel Glück gibt es gar nicht.“

„Ja, doch ohne Glück werden wir nicht entkommen. Dein Auto steht vor meiner Hütte, die Hütte ist knapp 20 Kilometer von hier entfernt. Du verstehst, worauf ich hinaus will.“

Per schwieg einen Moment. Was sie jetzt entscheiden würden, hätte Auswirkungen auf ihr weiteres Leben.

„Kommt Militär zum Einsatz, verlieren wir unsere Freiheit, wenn nicht sogar unser Leben. Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Wir verschwinden in einem Bunker und werden untersucht. Die Zeitungen berichten, dass wir einer wütenden Bärin zum Opfer gefallen sind, die ihre Jungen verteidigen wollte. Weiter wird es heißen, dass von uns nur noch Knochenreste übrig geblieben wären. Aus Sicherheitsgründen wird das Gebiet so lange gesperrt, bis die Bärin erlegt wurde. Wenn sie für uns in fünf oder zehn Jahren keine Verwendung mehr haben, wird es kein Problem mit unserer Entsorgung geben, da wir bereits tot und begraben sind.“

„Gefällt mir, wie du die Sache siehst. Ich hole meine Fotoausrüstung noch schnell vom Steilhang.“

„Gut, ich baue das Zelt ab.“

Daniel lief Richtung Hang davon, machte, als er außer Sicht war, einen Umweg zum See. In seiner Rechten hielt er eine Trinkflasche aus Plastik, die er behutsam mit der Flüssigkeit füllte. Er wusste nicht, warum er das tat, wollte nur für alle Eventualitäten gerüstet sein. Schließlich lief er den Hang hinauf. Von der Bärin war weit und breit nichts zu sehen. Er fand die Stelle, an der er seine Ausrüstung abgelegt hatte und suchte fieberhaft nach der Kamera. Sie lag nur wenige Meter entfernt im Gras. Er fühlte sich erleichtert und als er sie in die Hand nehmen wollte, zögerte er, da er befürchtete, sie könnte beschädigt sein. Schließlich schaute er durch den Sucher, fokussierte und löste aus. Alles funktionierte wie immer und die Sorge fiel von ihm ab. Dann kramte er eine Stativschraube aus Aluminium hervor und legte sie auf die mit der Flüssigkeit gefüllten Trinkflasche. Sie löste sich nicht auf und so konnte er alles zusammen verstauen.

Plötzlich vernahm er das Dröhnen eines Flugzeugs. Er ging sofort in Deckung und suchte den Himmel ab. Das Geräusch wurde lauter und er sah eine zweimotorige Maschine näher kommen. Die Luftaufklärung war schon unterwegs, ging es Daniel durch den Kopf, leider schneller als erwartet. Die Maschine flog eine Kurve über dem See. Was dann geschah, kam unerwartet für Daniel, obwohl er es durchaus in Betracht hätte ziehen können. Wie auf Knopfdruck löste sich alles Metall vom Flugzeug und prasselte Regen gleich auf die Flüssigkeit, von der es sofort absorbiert wurde. Der Rest sauste weiter durch die Luft und der Pilot schien, in seinen Sitz gepresst, Münchhausens Ritt auf der Kanonenkugel übertreffen zu wollen. Allerdings würde er diesen Triumph nur kurze Zeit genießen können, da der Schleudersitz ohne Metallteile so nutzlos war wie ein Auto ohne Räder. Daniel sah dem Todgeweihten hinterher und kaum war er seinen Blicken entschwunden, vermeinte er Holz splittern zu hören. Er wartete auf einen Schrei, der jedoch ausblieb.

„Hast du das gesehen?“, rief ihm Per entgegen, als er am Lagerplatz eintraf.

„Ja. Der Pilot hat zwar den See gefunden, doch ob er eine Meldung absetzten konnte, wissen wir nicht. Sein Flugzeug ist allerdings verschwunden, sodass bald ein Suchtrupp hier auftauchen wird. Die Sache eskaliert.“

„Richtig, doch wir sind immer noch im Arsch.“

„Stimmt, also weiter wie geplant.“

Sie hatten ihre Spuren beseitigt. Nur die Stelle, die für den Spiritus-Brenner geebnet worden war, konnte man noch erkennen. Per wollte einen großen Stein auf den Platz legen, was, nachdem sie sich das besehen hatten, wie ein Hinweisschild wirkte, dort nachzuschauen. Stattdessen verstreuten sie an der Stelle einige Kiefernnadeln.

„Wollen wir den See fotografieren oder ist das zu riskant?“, fragte Per.

„Wenn sie uns erwischen, ist das auch schon egal. Doch sollten wir entkommen, könnten die Fotos unsere Geschichte bestätigen.“

Kurz vor Mitternacht luden sie sich die Kraxen auf und traten den Heimweg an. Bald würden sie von der Dunkelheit im Wald verschluckt werden und eine Pause einlegen müssen. Da die Nacht hier oben nur vier Stunden dauerte, hofften sie noch am selben Tag ihre Hütte zu erreichen.

Tag 2, Dienstag

 

Daniel und Per verbrachten eine unruhige Nacht. Der Wald lebte und Stille zog nur ein, wenn jemand sich näherte, der für die Tiere Gefahr bedeutete. Stille als Gefahr zu empfinden war beiden fremd und so fielen sie in den Schlaf, als es im Wald ruhiger wurde. Das war die Zeit der Dämmerung, als die nachtaktiven Tiere ihre Geschäftigkeit einstellten und die tagaktiven ihrer noch nicht nachgingen.

Daniel schrak hoch, horchte auf das Geräusch, das ihn geweckt hatte und staunte über die Helligkeit. Er sah auf seine Uhr und fluchte, weil sie eine Stunde verschenkt hatten. Dann rüttelte er Per wach.

„Wir sind spät dran“, sagte er zu seinem halb wachen Freund. Daniel konnte zusehen, wie diese Mitteilung allmählich in Pers Bewusstsein durchsickerte. Doch dann kroch er rasch aus seinem Schlafsack heraus und zog sich an. Das Frühstück fiel aus. Ein Schluck Wasser musste genügen.

Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie fernes Dröhnen vernahmen. Diesmal schienen zwei Flugzeuge unterwegs zu sein. Daniel suchte mit Blicken den Himmel ab, doch vergeblich. Der Wald hatte ihn und Per verschluckt. Solange sie offene Flächen mieden, waren sie unter dem grünen Dach vor Flugzeugen sicher.

„Was meinst du, ob es den beiden Piloten so ergehen wird wie dem gestrigen?“

Per versuchte eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

„Wenn der Zauber von gestern noch funktioniert, bestimmt. Horch mal, das Brummen der Flugzeuge ist verschwunden.“

„Sie sind wahrscheinlich nur zurückgeflogen“, meinte Per.

„Du siehst, diese Art von Spekulationen bringen uns nichts. Was wir brauchen, ist ein Plan. Was tun wir, nachdem wir die Hütte erreicht haben? Wohin wollen wir fahren?“

„So schnell wie möglich weg von hier, wobei mir die Richtung egal ist“, antwortete Per, der gleich darauf innehielt und nachlegte. „Doch wenn die Jungs auf Zack sind, werden sie bereits Straßensperren errichtet haben.“

„Ein breiter Waldweg könnte tatsächlich die bessere Wahl sein. Doch um den zu finden, der uns hier herausführt, brauche ich eine Karte. Der Wirrwarr an Wegen ist hier recht groß.“

„Kann das für uns von Vorteil sein?“

„Wer weiß? Ich habe keine Ahnung, wie das Militär vorgehen wird.“

Plötzlich hatte Per eine Eingebung.

„Sie werden Satellitenbilder auswerten, Bilder von der Gegend mit dem See. So eine Art vorher und nachher. Da werden ihnen die Augen aufgehen. Dann setzen sie Fallschirmjäger mit Spezialausrüstung ab, wie sie bei einem Chemie-Waffen-Alarm zum Einsatz kommt.“ 

„Du breitest ein Horrorszenario aus, als ob die Wirklichkeit nicht schon schrecklich genug wäre. Danke, dass ich daran teilhaben darf.“

„So etwas habe ich mal in einem Film gesehen. Doch wir sind hier in Schweden. Die Fallschirmjäger schlafen bestimmt noch und wer sie vor ihrer gewohnten Zeit weckt, bekommt ganz sicher Ärger. Entspann dich“, sagte Per.

„Die Amerikaner werden anklopfen und ihre Hilfe anbieten. Sie werden fragen, ob sie Satellitenbilder der Gegend anfertigen dürfen, obwohl sie dies bereits getan haben. Sie fragen an, weil sie die Fotos schon ausgewertet haben und neugierig geworden sind. Sie würden gerne selber vor Ort recherchieren, doch dazu sagt unsere Regierung Nein. Sie erlaubt den Amerikanern allerdings, Beobachter zu entsenden, die unserem Militär unterstellt sind. So wird es wohl eher kommen.“

„Du hattest recht, dieses Spekulieren ist sinnlos.“

„Macht aber auf gewisse Weise Spaß. Man kann sich da richtig hineinsteigern“, erwiderte Daniel. Sie waren fast am Waldrand angekommen und Per suchte den vor ihnen liegenden Hügel ab.

„Dort oben bewegt sich etwas“, sagte er und zeigte die Richtung an, „Meinst du, das sind Soldaten?“

„Warum sollten sie den gleichen Weg nehmen wie wir? Unser Trampelpfad ist nirgends eingezeichnet. Ich kann nichts sehen.“

„Die fünf dunklen Punkte bewegen sich doch, oder?“

„Warte, ich nehme das Fernglas“, sagte Daniel und setzte die Kraxe ab. Das Fernglas steckte in einer Seitentasche, sodass er es sofort zur Hand hatte.

„Entwarnung, das sind Rentiere. Trotzdem gefällt mir der Hügel nicht. Wir finden dort keine Deckung. Sieh selbst.“

Daniel reichte den Feldstecher an Per weiter.

„Mist. Die Rentiere sind jetzt auf der Flucht und ich habe drei Männer im Blickfeld. Sie kommen uns entgegen.“

Die beiden machten kehrt, entfernten sich vom Trampelpfad und gaben Acht, dass sie keine Zweige abbrachen. Unter einer morschen Kiefer verstauten sie ihre Kraxen und gingen weiter. Auf der Flucht hatten sie die Männer aus den Augen verloren. Daniel ging neben einer Fichte in die Hocke und verschwand zwischen den Farnen, die ein grünes Meer aus Blättern bildeten, die alles unter sich verbargen. Nur seine Augen lugten aus diesem Pflanzenmeer hervor. Trotz der außergewöhnlichen Anspannung, die ihn erfasst hatte, nahm er die Umwelt intensiver wahr. Er roch das Harz der Fichte, schmeckte das Aroma der im engeren Umkreis wachsenden Pilze auf seinem Gaumen und fühlte den Lufthauch der leicht schwankenden Farnwedel.

Er hörte die Männer, bevor er sie sah. Sie unterhielten sich über das Phänomen und ließen ihrer Phantasie freien Lauf. Tatsächlich schienen sie noch weniger Ahnung zu haben als er. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Männer Englisch sprachen. Dass ihm das nicht sofort aufgefallen war, befremdete ihn. Bestimmt lag es daran, dass er zweisprachig ausgewachsen war. Sein Vater kam aus England, hatte in Schweden Arbeit gefunden und seine Mutter kennengelernt. Kurzzeitig sah er die kleine Wohnung in Malmö vor sich, die sein Zuhause war, seine Eltern, die nicht viel besaßen und trotzdem ein gutes Leben führten. Und er wähnte sich inmitten einer unbeschwerten Kindheit. Daniel blinzelte die Erinnerung weg.

Er bewegte sich erst, als die Männer nicht mehr zu hören waren und schlich zu Per hinüber, der sich ebenfalls unter Farnwedeln versteckt hielt. Sie verständigten sich leise.

„Das waren Amerikaner“, sagte Daniel.

„Ich hätte sie für Wanderer gehalten, wenn sie weniger schnell gegangen wären.“

„Die drei sind zum See unterwegs, haben aber keine Ahnung davon, was sie dort erwartet. Ich wette, die haben nicht bei unserer Regierung angefragt und ihr Aufenthalt hier ist illegal.“

„Wo sind unsere Soldaten?“

„Keine Ahnung, vielleicht haben sie alle Hände voll damit zu tun, die Wege abzusperren“, sagte Daniel. „Wir sollten unsere Kraxen holen und abhauen.“

An der Kiefer angelangt, setzten sie ihre Kraxen auf und umgingen den Hügel. Die Spannung, unter der Daniel gestanden hatte, klang ab und er wurde hungrig. Er sah Per an und dieser bestätigte ihm, dass er ebenso empfand. Schon seltsam wie eine ungewöhnliche Situation einen Gleichklang der Gefühle und Wünsche erzeugen konnte, ging es Daniel durch den Kopf.

Es war ihnen nicht wohl dabei, eine Pause einzulegen, doch ohne etwas zu essen, wären sie bald am Ende ihrer Kräfte angelangt. Eilig nahmen sie Büchsenfleisch und trockenes Brot zu sich.

Nach der Mahlzeit setzten sie die Umgehung des Hügels fort, der am frühen Nachmittag von Wolken belagert wurde, die ihn weniger exponiert erscheinen ließen. Die beiden hatten einige steilere Stelle zu bewältigen und kamen nur langsam voran. Endlich oben angekommen wusste Daniel, welche Richtung sie einschlagen mussten, um wieder ihrem Trampelpfad zu folgen.

Per wirkte leidlich erschöpft und Daniel munterte ihn auf, indem er sagte, es wären nur noch zwei lächerliche Stunden bis zum Ziel. Pers Gesicht zierte ein unmerkliches Lächeln. Tatsächlich dauerte es noch etwas länger, da sie das Anwesen umgehen mussten, um den Eindruck zu erwecken, sie kämen aus der Gegenrichtung.

Daniel schlich allein zur Hütte hinüber. Nichts schien sich seit ihrem Aufbruch verändert zu haben. Als er hinter Pers Auto in Deckung ging, bemerkte er frische Reifenspuren. Wahrscheinlich von dem Fahrzeug, das die Amerikaner abgesetzt hatte. Daniel betrat die Hütte und obwohl nichts verändert wurde, wusste er, das jemand sie durchsucht hatte. Bemerkenswert daran war der Umstand, dass er es an den fremden Gerüchen erkannte.

Daniel schlich zu Pers Versteck und teilte ihm seine Beobachtungen mit.

„Wollen wir es trotzdem mit dem Wagen versuchen?“, fragte Per.

„Die Amerikaner haben sich bestimmt das Kennzeichen aufgeschrieben und wissen bereits, dass er dir gehört. Ich bin als Hüttenbesitzer auch kein Unbekannter mehr.“

„Die Amerikaner sind illegal hier. Solange wir nicht unseren eigenen Leuten über den Weg laufen, haben wir eine Chance.“

Daniel ging noch mal in die Hütte, um die Landkarte zu holen und stieg dann zu Per in den Wagen. Leise fuhren sie davon. Kamen sie an eine Kreuzung, gab Daniel die Richtung vor. Per hatte schon längst die Orientierung verloren. Nur eines sah er deutlich: Die Wege wurden immer schlechter. Schließlich hielt er an.

„Mein alter Volvo ist kein Geländewagen. Wenn wir keine besseren Wege finden, fällt uns die Kiste demnächst auseinander.“

„In meiner Karte sind alle Waldwege gleich gekennzeichnet. Bis zur Schotterpiste sind es nur noch vier Kilometer. Wir sollten jetzt nicht aufgeben.“

„Sehe ich auch so, doch was machen wir, wenn es dort eine Straßensperre gibt?“

„Wir fahren nur etwa die Hälfte der Strecke und dann erkunde ich die Lage. Du kannst so lange im Auto warten.“

„Ich komme mit. Im Auto mache ich mich bloß verrückt.“

Per gab vorsichtig Gas und der Wagen fuhr schwerfällig an. Die Dunkelheit legte sich wie ein Mantel über den Wald und entzog dem Tag die Farben, bis nur noch graue und braune Töne dominierten. Daniel gab das Zeichen zum Halten und sie stiegen aus. Er ging voran und lauschte den Geräuschen der Dämmerung. Er hoffte, die Stimmen der Soldaten rechtzeitig zu hören. Nur noch eine Wegbiegung und sie konnten die Straße sehen. Das kurzzeitige Aufflackern eines Lichtes ließ Daniel innehalten. Ihm stockte der Atem und sein Herz hämmerte in der Brust, als ob er gerade seinen Waldlauf mit einem Sprint beendet hätte. Er bedeutete Per in Deckung zu gehen und schlich behutsam vorwärts.

Daniel konzentrierte sich mit allen Sinnen auf menschliche Aktivitäten. Zuerst hörte er Per atmen, doch beim Weitergehen nahm er schließlich unterschiedlichste Geräusche wahr. Die Soldaten wechselten nur wenige Worte, doch der Nachhall ihrer Schritte, egal auf welchem Boden, war gut zu vernehmen. Zwei Männer patrouillierten sich unterhaltend auf der Straße und zwei bewegten sich leise auf dem Waldweg entlang. Letztere kamen ihm immer näher. Ihre Tarnanzüge verschmolzen mit der Farblosigkeit des Waldes, doch ihre hellen Gesichter begingen an ihrem Vorhaben, unsichtbar zu bleiben, Verrat. Kurz bevor die Männer ihn erreicht hatten, kehrten sie zurück.

Daniel wartete, bis sie auf ihre Kameraden auf der Straße stießen. Er hörte ihren Bericht, dass alles in Ordnung wäre. Dann verschwanden sie in einem Zelt, was er erst erkannte, als der Zelteingang geöffnet wurde und das Licht nach außen drang. Daniel ging Richtung Straße weiter und hielt an den Sperren, die mit Stacheldraht versehen waren. Ein dreiachsiges Geländefahrzeug konnte er trotz der Dunkelheit ebenfalls erkennen. Hier durchzukommen, schien aussichtslos zu sein und er ging zu Per zurück.

„Mit dem Auto kommen wir nicht weiter. In der näheren Umgebung gibt es ein paar verlassene Hütten. Dort findet sich bestimmt eine Möglichkeit, es zu verstecken“, meinte Daniel.

„Selbst wenn das gelingen sollte, willst du zu Fuß fliehen?“

„Ich sehe keine andere Möglichkeit. Der nächste Ort ist kaum 30 Kilometer entfernt. Dort können wir uns ein Taxi rufen oder Lebensmittel kaufen ...“

„... und eine Zeitung. Ich will endlich wissen, in welchem Spiel wir die Bauern sind.“

„Vielleicht könntest du deine Freundin anrufen, dass sie uns abholt?“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Doch bin ich mir nicht sicher, ob ich Julia in diese Geschichte hineinziehen möchte.“

Daniel hoffte, dass Per seine Meinung noch ändern würde. Sie neigten die Sitze nach hinten und versuchten zu schlafen. Der Tag hatte sie ausgelaugt.

Tag 3, Mittwoch

 

Daniel und Per wachten beinahe gleichzeitig auf. Sie froren erbärmlich, da sie ihre Schlafsäcke nicht benutzt hatten. Sie liefen sich warm und gönnten sich trotz der angespannten Situation einen heißen Tee.

„Hier wird es ja von Tag zu Tag kälter. Es ist doch bald Mittsommer“, sagte Per.

„Ich habe nur den Tee gemacht, für das Wetter bin ich nicht zuständig. Sei froh, dass es nicht regnet.“

„Bin ich doch, ich lass er mir nur nicht anmerken.“

Es war bereits hell genug, um im Wald ohne Licht zu fahren. Leise rollten sie von dannen. Knapp eine Stunde später hielten sie vor einer verlassenen Hütte. Das Dach war schon teilweise eingefallen und warum der angrenzende Schuppen noch stand, ließ Daniel an ein Wunder glauben. Mit Statik hatte es jedenfalls nichts zu tun.

„Das habe ich anzubieten. Oder willst du weiter fahren?“, fragte er.

„Nein. Wenn sich das Tor öffnen lässt, ohne dass der Schuppen zusammenfällt, ist mir das recht. Wir vertrödeln sonst nur kostbare Zeit.“

Mit einiger Mühe bekamen sie das Tor so weit auf, dass der Volvo hineinpasste. Nachdem sie es wieder geschlossen hatten, verwischten sie die Reifenspuren, die wegen des harten und trockenen Bodens kaum zu sehen waren. Anschließend machten sie sich mit ihren Kraxen auf den Weg, um auch wirklich wie Wanderer auszusehen.

Solange es möglich war, blieben sie auf den Waldwegen, doch als sie sich der Schotterstraße näherten, bahnten sie sich einen Pfad durch das Unterholz. Im Laufschritt querten sie die Straße und tauchten Augenblicke später im Dämmerlicht des Waldes unter. Nach einer Stunde legten sie eine Pause ein, tranken Tee aus der Thermoskanne und machten sich gierig über das Büchsenfleisch her. Daniel spürte die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sich wie eine wohlige Decke über ihm ausbreitete. Er hielt nicht lange dagegen und ergab sich dem übermächtigen Schlaf. Pernilla erschien in seinem Traum. Wie immer schmiegte sie sich an und begann ihr routiniertes Spiel. Er genoss alles, was sie ihm zugutekommen ließ. Als er seine Passivität aufgab und mit seinen Händen nach ihrem Gesicht griff, schien es sich von ihm zu entfernen und unscharf zu werden. Doch dann, ohne sein Zutun gewann das verschwommene Antlitz allmählich an Schärfe und er blickte in das Gesicht einer ihm unbekannten Frau. Daniel begehrte dagegen auf und schreckte orientierungslos aus dem Traum hoch. Wirr im Kopf wandte er ihn in alle Richtungen, bis sein Blick an Per hängen blieb, der an einen Baum gelehnt, immer noch schlief. Das machte ihn nachdenklich, doch warum sollte der Traum durch den seines schlafenden Freundes gestört worden sein? Konnten Träume interferieren? Entweder der Wald war verzaubert oder er. Daniel schaute zur Uhr. Er hatte zwar weniger als eine Stunde geschlafen, doch nach der kurzen Nacht war diese Ruhepause nötig gewesen. Er stand auf und trat gegen Pers Schuhe. Sein Freund schrak hoch und betrachtete ihn verständnislos. Daniel grinste nur.

„Hoch mit dir. Träumen kannst du beim Gehen.“

„Aber der Traum war so schön. Hast du nicht geschlafen?“

„Doch, ich bin nur eher aufgewacht.“

Sie wuchteten sich die Kraxen auf den Rücken und setzten ihren Marsch fort. Eine ganze Weile liefen sie nebeneinander her, ohne viel zu reden. Plötzlich blieb Daniel stehen und Per verharrte ebenfalls in seiner Position. Keine 20 Schritte von ihnen entfernt trat ein Elch aus dem Wald. Das große Tier querte den Weg betont gemächlich und verschwand so lautlos, wie es gekommen war, im Unterholz, ohne die geringste Notiz von ihnen zu nehmen.

„War das eben eine Geistererscheinung?“, fragte Per.

„Möglich. Die Begegnung hatte etwas Irreales.“

„Hast du den Elch kommen sehen?“

„Nein. Sein Geruch hat ihn verraten.“

„Sein Geruch? Ist das dein Ernst?“

„Ja“, sagte Daniel und ging den Weg weiter. Per folgte ihm kopfschüttelnd. Bald darauf passierten sie die ersten vereinzelnd stehenden Häuser, die den Ort ankündigten. Kurze Zeit danach standen sie vor einem kleinen Laden, der Dinge des täglichen Bedarfs führte. Sie legten ihre Kraxen draußen ab, gingen hinein und wurden von der einzigen Person im Geschäft begrüßt. Am Zeitungsstand gab es keine große Auswahl und Per nahm sich ein Dagbladet.

Daniel sah sich im Laden um und beobachtete die Frau beim Einsortieren der Waren. Als sie ganz nach oben greifen musste, fielen ihr die Büchsen aus der Hand. Er reagierte sofort und war mit drei Schritten bei ihr. Er hatte es kommen sehen, was weniger seinen neuen Fähigkeiten, sondern der Ungeschicklichkeit der Frau geschuldet war. Während sie Ach du meine Güte rief, hatte er alle Büchsen aufgefangen und wieder ins Regal gestellt.

„Donnerwetter, du bist aber auf Zack. Vielen Dank“, sagte sie anerkennend.

„Keine Ursache“, winkte Daniel ab und setzte scherzhaft hinzu: „Wir haben unterwegs Militärfahrzeuge gesehen. Wurden wir von den Sowjets überfallen?“

„Dann wisst ihr es noch nicht? Das Waldgebiet westlich von hier wurde abgeriegelt. Es heißt, ein Flugzeug mit gefährlichen Materialien an Bord wäre dort abgestürzt. Niemand weiß etwas Genaues. Das ist alles sehr merkwürdig“, gab die Frau in geheimnisvollem Ton zurück.

„Es ist wie immer, die Wahrheit wird geheim gehalten und wir werden für dumm verkauft“, meinte Per, der sich dazu gesellt hatte.

„Das hat mein Mann auch gesagt. Dabei sind diese Halbwahrheiten viel schlimmer. Man spekuliert nur wild drauflos. Sie sprechen von gefährlichen Materialien und jeder denkt gleich an radioaktive. Bei dem Gedanken wird mir ganz übel, weil mir sofort die Schreckensmeldungen der letzten Reaktorkatastrophe durch den Kopf gehen. Im Nachbarort wurde ein Stützpunkt vom Militär errichtet. Es heißt, die Straßen werden kontrolliert.“

„Dann war wohl eher ein gefährlicher Straftäter an Bord, der den Absturz überlebt hat und jetzt auf der Flucht ist. Vielleicht sollten wir lieber den Bus nehmen?“, meinte Daniel und sah Per dabei an.

„Die Haltestelle ist gleich rechts um die Ecke und der Fahrplan hängt aus“, sagte die Frau und ging mit ihnen zur Kasse. Per hatte Konserven und Brot in den Korb gelegt und Daniel bezahlte den Einkauf. Er bedankte sich für die Auskunft und beide verließen den Laden.

„In dem Blatt steht weniger, als wir von der Frau erfahren haben“, sagte Per und warf die Zeitung weg. Sie gingen zur Bushaltestelle und sahen nach dem Fahrplan.

„Sollte der Bus kontrolliert werden, wird man uns höflich bitten auszusteigen. Leider versagt meine hellseherische Fähigkeit beim tieferen Blick in die Zukunft“, sagte Per.

„Das liegt daran, dass wir keine Zukunft haben, wenn wir uns in ihren Fängen befinden. Mein Vorschlag: Wir gehen weiter.“

„Du willst aus mir einen harten Naturburschen machen? Einverstanden.“

„Ich denke, wenn wir ab jetzt den Waldwegen folgen, werden wir nicht mehr behelligt. Wir haben den inneren Kreis durchbrochen.“

Daniel zog die Karte hervor und gab die Richtung an.

Tag 4, Donnerstag

 

„Wir können in zwei Tagen in Hamra sein. Dort dürften keine Kontrollen mehr stattfinden, da wir uns von dem betroffenen Gebiet bereits weit genug entfernt haben“, sagte Daniel und zeigte Per die Karte, der zustimmend nickte. Ab jetzt waren sie zeitlich nicht mehr unter Druck und wanderten in ihrem durchschnittlichen Tempo. Daniel dachte an seine Kamera, doch nach Fotografieren stand ihm nicht der Sinn. An fehlenden Motiven lag es nicht, doch er schien die Fähigkeit eingebüßt zu haben, welche zu erkennen. So etwas war ihm nie zuvor widerfahren. Hatte er Stress mit Pernilla gehabt, war er mit der Kamera losgezogen und hatte in den ihn umgebenden Menschen Motive gefunden, die ihm in seinen glücklicheren Phasen entgangen wären. In solchen Fällen war der Schwarz-Weiß-Film das Material seiner Wahl und da er selbst entwickelte und vergrößerte, konnte er das Letzte aus den Negativen herausholen. Doch diese Situation breitete ihre destruktiven Schwingen über ihm aus und er kannte kein Mittel dagegen. Er schaute zum Himmel hinauf. Das Wetter meinte es weiterhin gut mit ihnen, was ein wirklicher Grund sich zu freuen war, doch die Sonnenstrahlen schienen von seinem Körper reflektiert zu werden, anstatt ihn zu wärmen. Dachte er daran, wie es wäre, die Strecke bei strömendem Regen zu gehen, wurde ihm noch kälter. Doch egal, wenigstens kamen sie auf dem eingeschlagenen Waldweg gut voran.

Sie unterhielten sich kaum. Manchmal machte Daniel eine Bemerkung über einen Vogel, dessen Gesang er vernommen hatte, ohne auf Resonanz seines Partners zu stoßen. Wahrscheinlich kreisten Pers Gedanken genau wie seine um den mysteriösen See und ob sie es als Zeugen des Vorfalls schaffen würden, unentdeckt zu bleiben. Daniel betrachtete ihn hin und wieder unauffällig und meinte an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, dass er ähnliche Gedanken in seinem Kopf hegte. Sie hatten bisher alle Klippen umschifft, weshalb Daniel ratlos war, warum er von einer an Intensität zunehmenden melancholischen Stimmung in einen Kokon eingewebt wurde, das ihn weniger aufmerksam werden ließ. Dieser Kokon hielt alles um ihn herum auf Distanz, konnte ihn jedoch nicht vor Gefahren schützen. Daniel wusste, dass er sich diesem Gefühl nicht ausliefern durfte, nur empfand er es gerade als wohltuend. Da sich niemand auf dem Weg blicken ließ, was ihm durchaus recht war, erlag er immer mehr der Illusion einer abgeschiedenen und friedvollen Welt.

Es war Per, der ihn zurückholte, in dem er ihn anstieß und rief: „Hörst du das nicht?“ 

Wie mit Rissen, die sich bildeten, bevor die Eisdecke brach, verhielt es sich auch mit seinem Kokon. Als Daniel die Risse bemerkte und die Wirklichkeit wie durch poröses Material hereintröpfeln fühlte, nahm er ein leises Hörst du das nicht? wahr. Er empfand dies als Störung, gegen die er sich wehrte. Nur hatte seine Abwehr den gegenteiligen Effekt, da er so seine Wahrnehmung verschärfte, wodurch er noch mehr Geräusche hörte. Ein immer lauter werdendes Brummen nahm für ihn einen bedrohlichen Klang an. Der Kokon zerriss. 

„Das ist ein Militärfahrzeug“, rief er und beide flohen ins Unterholz. Kaum hatten sie Deckung gefunden, näherte sich ein Volvo, wie er Daniel schon einmal an der Absperrung auf der Schotterstraße begegnet war.

„Man, was war denn mit dir los?“, fragte Per irritiert.

„Ich habe mit offenen Augen geträumt“, räumte Daniel ein und vermied es Per anzusehen.

„Das nennst du träumen? Ich dachte, du warst auf einem Zombie-Trip.“

„Nein, nur etwas neben der Spur“, erwiderte Daniel.

„Wir sollten eine Pause einlegen und etwas essen.“

„Ein Becher Tee würde mir jetzt auch guttun.“

Sie gingen tiefer in den Wald hinein und suchten nach einem geeigneten Platz.

„Ich hätte nur zu gerne die Gespenster gesehen, die dir vor Augen standen.“

„So etwas solltest du dir nicht wünschen. Du würdest glatt tot umfallen.“

„Beruht diese Erkenntnis auf deinem Expertenwissen oder gibst du nur wieder an?“

Daniel reichte Per die Flasche mit der Flüssigkeit.

„Teile mein Expertenwissen und trink.“

„Du musst doch nicht gleich grob werden.“

„Bin ich nicht, doch wenn du zu einer Unterhaltung nichts Wesentliches beitragen kannst, beschränke dich aufs Wetter.“

„Es hat geholfen“, rief Per erfreut.

„Was hat geholfen?“

„Das miteinander Reden. Du bist wieder der Alte.“

„Weil ich dich meine Unzufriedenheit spüren lasse?“

„Genau. Ein besserer Beleg wird sich schwerlich finden lassen.“

„Darauf trinke ich“, sagte Daniel und erhob seinen Becher mit Tee. Jetzt verspürte er Appetit und machte sich über das vielseitige Konservenangebot her. Nach einem weiteren Becher Tee setzten sie ihren Marsch fort. Daniel fühlte sich gestärkt und achtete wieder auf seine Umwelt. Als sich erneut ein Militärfahrzeug näherte, bemerkte er es so zeitig, dass er noch die Muße fand, ein Gedicht zu verfassen, bevor er im Unterholz verschwand. Per meinte, das Gedicht wäre nicht formvollendet, aber in Anbetracht der Kürze der Zeit annehmbar.

Am Abend bauten sie das Zelt auf und aßen zum ersten Mal seit drei Tagen eine warme Mahlzeit, auch wenn es nur Eintopf aus der Büchse war. Der Aufenthalt im Freien steigerte den Appetit, dass einem jedes Essen schmeckte, dachte Daniel, der gierig löffelte und manchmal das Pusten vergaß. Auch wenn er sich den Mund verbrannte, schlang er die Suppe weiterhin in sich hinein. Daniel glühte im Gesicht und fühlte sich schläfrig. Doch seine Schwächephase vom Vormittag hatte er überwunden. Er sah zu Per, der immer noch mit Essen zu Gange war.

„Mir fallen gleich die Augen zu. Ich leg mich schon hin“, sagte er, stand auf, ging kurz hinter dem nächsten Baum die Farne gießen und kroch ins Zelt. Wenig später folgte Per, der sich behaglich in den Schlafsack kuschelte.

Daniel versank wieder in seinen Pernilla-Traum. Mit kleinen Abwandlungen erlebte er immer einen ähnlichen Ablauf, der bedächtig begann und sich bis zur Ekstase steigerte. Er kämpfte auch nicht mehr dagegen an, wenn Pernillas Gesicht zerfloss und durch ein unbekanntes ersetzt wurde. Irgendwann musste er in einen traumlosen Schlaf gefallen sein, aus dem er durch ein Geräusch aufgeschreckt wurde. Er wollte sehen, was es damit auf sich hatte und bemerkte beim Aufstehen das getrocknete Sperma an seinem Slip. Von wegen Träume sind Schäume. Es hatte sich nicht nur echt angefühlt, es war auch echt.

Daniel spähte aus dem Zelteingang. Kalte Luft schlug ihm ins Gesicht und er überlegte kurz, sich wieder in den Schlafsack zu kuscheln, doch dann trat er schnell ins Freie.

Im Wald herrschte noch Dunkelheit, obwohl sich der Morgen am östlichen Himmel bereits erahnen ließ. Er lauschte in die Nacht hinein, hörte entfernt einen Waldkauz rufen und den schrillen Todesschrei eines Nagers. Doch was ihn geweckt hatte, konnte er nicht feststellen. Nur eines war klar, der Wald war voller Leben und er auch.

Tag 5, Freitag

 

Daniel und Per frühstückten in aller Ruhe, packten anschließend wieder alles zusammen und zogen los. Obwohl die Sonne einen Ruhetag eingelegt hatte, kamen sie gut voran. Gegen Mittag gönnten sie sich eine längere Pause. Daniel lauschte den Geräuschen der Natur und war zufrieden, wenn er einen Vogelruf zuordnen konnte oder das Rascheln im Gras, als das einer Wühlmaus erkannte.

Es war noch keine Woche her, dass sich sein Leben auf so drastische Art verändert hatte. Jeden Tag auf der Flucht zu sein konnte auch zum Alltag werden. Sicherlich ein seltsamer Gedanke, obwohl er es bereits so empfand.

Nachdem er seinen letzten Schluck Tee getrunken und Per schon bereitgestanden hatte, setzten sie ihren Weg fort. Am späten Nachmittag kam Hamra in Sicht. Da die beiden nicht als Rucksacktouristen erkannt werden wollten, versteckten sie ihre Kraxen im Wald und schlenderte in den Ort. Sie benahmen sich wie all die anderen Leute. Einige erkannte Daniel sofort als Touristen. Hamra hieß auch der gleichnamige Nationalpark, den jene möglicherweise besuchen wollten.

„Seltsam, dass es plötzlich so leicht war, in die Freiheit zu gelangen“, sagte Per.

„Davon kann noch keine Rede sein. Vorsichtshalber sollten wir einen Blick in die Tageszeitungen werfen“, entgegnete Daniel. Ohne großartig zu suchen, fanden sie den einzigen Supermarkt im Ort. In der Nähe der Kassen befanden sich die Zeitungsständer. Die meisten Blätter boten nackte Brüste auf den Titelseiten dar, was von ihrer journalistischen Qualität zeugte. Daniel und Per suchten nach den weniger aufdringlichen und blätterten einige durch. Der Flugzeugabsturz war von der Titelseite durch Nachrichten verdrängt worden, die für sie keine Relevanz hatten.

„Ich denke, jetzt wäre ein guter Moment, Julia anzurufen“, sagte Per.

„Ja, sie würde sehen, ob auf der Strecke Kontrollen durchgeführt würden. Kann ich bei dir ein, zwei Wochen unterkommen?“, fragte Daniel.

„Du kennst ja meine Bude, da ist Platz genug.“

„Danke.“

Nach einer Telefonzelle mussten sie nicht lange suchen. Per betrat die Kabine und wählte Julias Nummer. Das Freizeichen ertönte und er ließ es lange klingeln. Als er den Hörer einhängen wollte, meldete sie sich.

---ENDE DER LESEPROBE---