MarsAffairs - Reimon Nischt - E-Book

MarsAffairs E-Book

Reimon Nischt

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Beschreibung

„Geschildert wird die Marsbesiedlung Mitte des vergangenen Jahrhunderts, beginnend mit den ersten Schritten jener mutigen Pioniere bis hin zur ersten Amerikakrise, die zweifelsohne für unsere Lebensform von kaum zu überschätzender Bedeutung war. Doch die geschichtlichen Hintergründe sind schulische Pflichtlektüre und zugegebener Maßen Allgemeingut, doch mit welchem Fingerspitzengefühl historische wie fiktive Personen miteinander verwoben werden und welch interessante Wendung der selbst bis heute nicht restlos aufgeklärte Minenskandal im Foster-Gebirge nimmt, macht die Lektüre höchst lesenswert. Der Autor beweist nicht zuletzt Finesse, in dem er die historische Begebenheit im Gewand eines utopischen Romans wiedergibt.“ A.P. Sallag - New Androids Magazin, Titan im Dezember 2112

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Reimon Nischt

 

MarsAffairs

 

Utopischer Roman

 

 

 

 

Herausgegeben von:

 

www.bilderarche.de 

 

© 2019, 2023 Reimon Nischt, Morierstr. 35a, 23617 Stockelsdorf

2033 - Erste bemannte Marsexpedition

 

Liz McGovern beobachtete ihren Freund geschlagene fünf Minuten, in denen er nichts weiter tat, als mit seinen Fingern und Daumen über Screens der unterschiedlichsten Geräte zu wischen. Auch wenn sie ihre Beobachtung auf eine Stunde ausgedehnt hätte, würde sich ihr kein anderes Bild bieten.

„Ich habe gelesen, dass in zwei Monaten der erste bemannte Raumflug zum Mars stattfinden soll. Wie findest du das?“

„Was?“

Liz wiederholte die Frage.

„Ach so, davon habe ich gehört. Finde ich total bescheuert. Vier Monate Flug, nur um nackte Felsen zu sehen und in einem Sandsturm ums Leben zu kommen. Welcher Idiot macht denn so etwas?“

„Vielleicht Leute, die mehr können als wischen.“

Zur Verdeutlichung machte Liz die Handbewegung ihres Freundes nach.

„Aua, das war ein Tiefschlag.“

„Du fühlst doch erst Schmerz, wenn ich deine Geräte entwende und dich vom Netz isoliere. Du würdest keine Stunde überleben.“

„Du denkst, ich bin anhängig, aber das stimmt nicht“, antwortete er, ohne von seinem Tablet aufzublicken.

„Du musst dir nur selber zusehen, um dich Lügen zu strafen.“

„Was ist mit dir los, kriegst du deine Tage?“

„Frank Morgan, das ist selbst für deine Verhältnisse erbärmlich, mich bei unliebsamen Äußerungen auf meine Biologie zu reduzieren.“

Er sah sie jetzt zum ersten Mal an. Mit Vor- und Zunamen angeredet zu werden, bedeutete nichts Gutes. Ihr Tonfall behagte ihm nicht.

„Mir ist seit einiger Zeit aufgefallen, dass unser gemeinsames Leben darin besteht, hin und wieder in die Kiste zu springen. Das ist mir zu wenig. Unsere Beziehung hat einen toten Punkt erreicht.“

„Und ich bin wieder mal schuld.“

„Um Schuld geht es mir überhaupt nicht. Uns gibt es nicht mehr als Einheit. Jeder strampelt für sich. Liebe vergeht.“

„So einfach ist das? Wie heißt denn dein Neuer?“

Frank machte es ihr leicht. Liz erhob sich aus ihrem Sessel und verließ den Raum. Bevor sie die Tür erreichte, wandte sie sich noch einmal um.

„Wenn ich in einer Stunde wiederkomme, bist du mit all deinen Sachen verschwunden, Mr. Morgan. Das meine ich ernst.“

*

Liz hatte die 800 Meilen lange Fahrt mit ihrem alten Toyota auf sich genommen, um den Start der Marsrakete aus unmittelbarer Nähe verfolgen zu können. Es war eine spontane Entscheidung gewesen und nicht ihre erste, seit sie sich von Frank getrennt hatte.

Am Kennedy Space Center in Florida hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt. Die Reporter versuchten, sich mit Superlativen zu übertreffen und beschworen die glorreiche Zeit von vor fast 65 Jahren herauf, als von hier die ersten Raketen zum Mond geflogen waren. An diesem historischen Ort sollte die Marsmission ihren Anfang nehmen und alle hofften auf einen ähnlich großen Erfolg.

Liz hörte nicht auf das patriotische Gerede. Sie fühlte sich von den Massen bedrängt, die von einer Bude zur anderen liefen, um sich mit Zuckerwatte, Hotdogs oder Muffins vollzustopfen und alles mit jeder Menge Flüssigkeit hinunterzuspülen. Mit einem Jahrmarkt hatte sie nicht gerechnet und jetzt, wo sie mittendrin steckte, schalt sie sich wegen ihrer Naivität.

Auf der Suche nach einem guten Beobachtungsplatz kam sie zu einem weniger frequentierten Ort. Hier wurde ein Modell des Raumschiffes in verkleinertem Maßstab ausgestellt, der Flug zum Mars und die anschließende Landung in Animationsfilmen präsentiert. Gleich nebenan konnte sie sich über die Besiedelung des Roten Planeten informieren. Freiwillige wurden gesucht, die das Wagnis eingehen wollten, sich auf dem Mars niederzulassen. Liz zögerte nicht lange und gab ihre Personalien ein. Sie erhielt eine Quittung mit der laufenden Nummer 127. Wenn sich bisher nicht mehr eingetragen hatten, würde sich die Marsbesiedelung noch eine ganze Weile hinziehen.

Liz, die keine Lust verspürte, sich erneut durch die Menschenmassen zu kämpfen, setzte sich in den Schatten des Raketenmodells und verfolgte von dort aus das Geschehen. Ihre Erfahrungen, was Raketenstarts betraf, hatte sie alle im Netz gesammelt. Sie erinnerte sich an die Aufnahmen einer Saturn V, die zum Mond geflogen war. Der körnige Schwarz-Weiß-Film hatte sich ihr eingeprägt. Er hätte tausend Jahre alt sein können, so gravierend war der Unterschied zur heutigen Aufnahmequalität. Doch die Antriebstechnik der Raketen war noch immer die gleiche wie damals.

Liz hatte gelesen, dass beim Start einer Saturn V Leute aus zwanzig Kilometer entfernt gelegenen Orten von zerbrochenen Fensterscheiben berichtet hatten. Das schien ihr sehr übertrieben. Als nun der Countdown lief und die Triebwerke zündeten, spürte sie mit allen ihren Sinnen eine Urgewalt losbrechen, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Es kam einer Explosion mit verheerender Wirkung gleich, nur das diese kontrolliert ablief. Von jetzt an würde sie allen Menschen alles glauben, was einen Raketenstart betraf.

*

Wieder zu Hause angekommen, ging sie ihre ungelesenen E-Mails durch. Die Anzahl war überschaubar. Eine E-Mail erregte ihr Interesse. Die Gesellschaft zur Besiedelung des Mars hatte auf ihre Anmeldung reagiert. Ihr wurden Termine vorgeschlagen, an denen Untersuchungen stattfinden sollten, um ihren allgemeinen Gesundheitszustand festzustellen. Hatte Liz die gesundheitlichen Voraussetzungen erfüllt, würde sie im zweiten Schritt einige psychologische Tests via Internet absolvieren müssen, um schließlich in Runde drei einige Tage in einem Trainingscamp zu verbringen.

Die meinen es wirklich ernst, dachte Liz und strich sich gleich den ersten Terminvorschlag in ihrem Kalender rot an. Danach duschte sie ausgiebig und ging zu Bett.

Einen Monat später hatte sie die Gesundheitsprüfung sowie die psychologischen Tests bereits bestanden und eine Einladung zum Trainingscamp erhalten.

Die Einladung ließ Liz ihr Marsprojekt dahingehend überdenken, ob sie es genauso ernst meinte wie die Gesellschaft. Sie stieg in ihren Toyota und fuhr aufs Geratewohl los. Ihre Fahrt endete auf einem Waldweg, der sich vor einer uralten Eiche im Unterholz verlor. Sie stieg aus und ließ sich auf einer mächtigen Wurzel nieder.

Die Geräusche der Zivilisation waren denen der Natur gewichen. Der Wind fuhr durch die Kronen der Bäume und pflückte einige Blätter, die langsam zu Boden schwebten. Liz verhielt sich ganz still und hoffte, dass ein Eichhörnchen vorbeikommen möge. Der Wunsch wurde ihr nicht erfüllt, doch einen Buntspecht bekam sie zu sehen, weil er sich lautstark bemerkbar machte.

Wollte sie diese schlichten Naturerlebnisse für einen lebenslangen Gefängnisaufenthalt aufgeben? Denn nichts anderes bedeutete die Besiedelung eines Planeten, der keine Luft zum Atmen hatte, keine Pflanzen oder Tiere beheimatete, der nur aus Sand und Felsen bestand und dessen Oberfläche von Stürmen gepeitscht wurde, die alle irdischen in den Schatten stellten. Etwas Lebensfeindlicheres konnte sie sich kaum vorstellen.

Das Zusammenleben mit den anderen Teilnehmern auf engstem Raum würde alle psychologischen Tests dieser Welt ad absurdum führen.

„Weshalb sollte ich mich diesem Selbstmordkommando anschließen?“, fragte sie die Eiche, die älter als 500 Jahre war und trotzdem keine Antwort wusste.

Liz holte die Einladung zum Trainingscamp aus der Tasche und riss sie in winzige Stücke.

*

Vier Monate nach dem Start vom Kennedy Space Center landete das erste bemannte Raumschiff auf dem Mars. Die Medien sprachen von einem neuen Zeitalter und veranstalteten einen Hype, der noch größer war als bei der ersten Mondlandung. Zwar lieferte kein Astronaut ein so elegantes Statement wie Armstrong ab, doch schien das diesbezügliche Versagen der Marketing-Strategen niemandem aufzufallen.

Liz hatte zu der Zeit Urlaub und war mit ihrem neuen Freund zu Pferd durch Montana unterwegs. Sie bekam von all dem nichts mit. Der Sommer des Jahres 2033 gehörte zu den glücklichsten Zeiten ihres Lebens.

2048 - Aufbruch

 

Acht Paare begaben sich auf den Weg zum Mars. Sie waren die erste Welle und in Abständen von einigen Jahren sollten weitere folgen. Mitch Bolden war einer von ihnen und lag, wie alle anderen auch, fest angeschnallt in seinem Sitz. Er konnte es kaum erwarten, das Dröhnen der Triebwerke zu hören und das anschließende Vibrieren der Rakete zu spüren, wenn sie langsam abhob.

Mitch hatte diesen Augenblicken entgegengefiebert, die er dann überhaupt nicht wahrnahm, weil er mit dem Dreifachen seines Körpergewichts in den Sitz gepresst wurde, dass es ihm beinahe den Atem raubte. Kaum hatte er sich an die Beschleunigung gewöhnt, verschwand sie von einer Sekunde auf die andere und machte der Schwerelosigkeit Platz.

Die Schwerelosigkeit war eine Sache für sich, befand Mitch. Obwohl er mit den anderen einige Testflüge in den höheren Atmosphärenschichten absolviert hatte, um sich mit diesem Umstand vertraut zu machen, war es doch immer wieder verstörend, wenn einem die eigenen Organe umplatziert wurden, da sie, wie in Mitchs Fall, seit 34 Jahren ihren angestammten Platz einnahmen.

Während der achtjährigen Vorbereitungsphase hatte er seine Frau Frances kennengelernt. Sie saß neben ihm und lächelte ihn an.

Gleich würden sie an ihrem Raumschiff, der Red Planet, andocken und es in Besitz nehmen. Es würde ihr Zuhause für 114 Tage sein. Mitch dachte an den vor drei Jahren absolvierten Langzeittest in der abgeschotteten Berghütte zurück. Ohne Frances wäre er an Langeweile gestorben. Ihrem Erfindungsreichtum hatte er es zu verdanken, dass die Erinnerungen an diese Zeit immer noch zu seinen schönsten gehörten. Er hoffte, dass das Zusammenleben auf ihrem Schiff ebenso abwechslungsreich verlaufen würde.

Frances machte ihm Zeichen und er gewahrte, als er aus dem Fenster sah, die Umrisse der Red Planet in unmittelbarer Nähe. Er bereitete sich auf den Umstieg vor.

*

Auf dem Schiff gab es für jedes Paar eine Kabine mit Bad. Ein Luxus, der ihnen zugestanden wurde, weil Rückzugsmöglichkeiten bei einer so langen Reise für mehr Ausgeglichenheit sorgen sollten.

Mitch dachte sofort an Sex, obwohl ihm klar war, dass es dabei technische Probleme gab. Neben der unschönen Tatsache, dass in der Schwerelosigkeit der Unterleib mit weniger Blut versorgt wurde, musste man dafür in einen Doppelschlafsack kriechen. Bisher hatte es noch kein Paar im Weltall getrieben und vielleicht würde Frances und er in die Geschichte eingehen. Jedenfalls hatte er eine Kamera für Dokumentationszwecke dabei. Frances wusste von seinem Plan, hatte mit dem Kopf geschüttelte, aber nicht Nein gesagt.

Doch Sex war das Letzte, woran Mitch die nächste Zeit dachte. Er brauchte eine Woche, um sich an die Schwerelosigkeit zu gewöhnen, dennoch plagten ihn die mit diesem Zustand einhergehenden Schlafstörungen weiterhin.

Der Tagesablauf an Bord unterlag einer strengen Reglementierung. Die Teams waren in vier Schichten eingeteilt und absolvierten rund um die Uhr ihren Dienst. Als anstrengendster Programmpunkt erwies sich der Kampf gegen den Muskelabbau. Sechs Stunden am Tag abwechselnd Laufband, Fahrradergometer und Gummibänder benutzen zu müssen, gefiel Mitch ebenso wenig wie den anderen. Doch wenn sie auf dem Mars landeten, ohne trainiert zu haben, würden sie nicht einmal mehr kriechen können. Er sah sich die Gangway hinunterpurzeln und rief: „Ein kleiner Fehler für einen Menschen, doch ein Riesenfehler für die Menschheit. Ende der Marsbesiedelung.“

„Schatz, mit wem sprichst du?“

„Ich übe nur für die Marslandung. Wir brauchen doch einen tollen Slogan für die Liveübertragung.“

„Ist doch ganz einfach“, meinte Frances, „Mars macht mobil und dann springst du aus dem Raumschiff.“

„Warum bin ich nicht darauf gekommen“, sagte er und lachte.

*

Mitch und Frances bildeten mit David und Amy Haller ein Team. Mitch fand, die beiden hatten genau die langweiligen Namen, die zu ihnen passten. Frances schüttelte nur mit dem Kopf, da es nicht auf die Namen ankam, sondern darauf, gut miteinander auszukommen und als Team zu funktionieren, was sie auch taten.

Während der Trainingszeiten wetteiferten die Männer untereinander. Die Frauen sahen ihnen dabei zu, schauten sich gegenseitig an und lachten. Männer waren solche Kindsköpfe.

Rund um die Uhr wurden die Daten von allen Marsfliegern erfasst und zur Erde gesendet. Täglich gab es eine Videokonferenz, während der jeder seine Probleme innerhalb weniger Minuten äußern durfte. Frances fühlte sich in der kleinen Kabine immer unwohl. Sie glaubte nicht daran, dass jemand, der ein Problem mit sich herumschleppte, dieses hier benennen würde.

Drei Wochen nach dem Start zuckte sie diesbezüglich immer noch mit den Schultern und verneinte die Frage. Doch über kurz oder lang würden Probleme auftreten, alles andere käme einem Wunder gleich.

Mit Bedauern sah Frances die Erde von Tag zu Tag kleiner werden. Vom Mars aus betrachtet würde sie nur noch ein heller Stern am Himmel sein, der etliche Millionen Kilometer entfernt durch das All zog. Dies war ein Fakt, doch für Frances machte es einen gewaltigen Unterschied, ob sie darüber in einem Buch las oder dies am eigenen Leib erfuhr. Ihrem Mann schien das nichts auszumachen, doch konnte sie das nicht mit Bestimmtheit sagen, da sie nie darüber gesprochen hatten. Bisher waren alle ihre Versuche, Sex miteinander zu haben, gescheitert, was möglicherweise die Ursache dafür war, dass Mitch inzwischen zur Einsilbigkeit neigte. Die Entfremdung würde sich im Kleinen andeuten und nicht durch große Auseinandersetzungen. Sie waren noch keinen Monat unterwegs und schon machte Frances sich solche Gedanken. Vielleicht reagierte sie nur überempfindlich.

Jemand berührte sie an der Schulter und sie drehte sich um. Es war Amy, die mit ihr die Schicht teilte.

„Träumst du?“

„Nein. Ich sehe mir jeden Abend die Erde an“, entgegnete Frances.

„Das habe ich anfangs fast stündlich getan, doch jetzt versuche ich, den Mars mit bloßem Auge zu finden und es gelingt mir immer besser.“

„Das sollte ich auch mal probieren.“

„Der Blick zurück, wirft dich auch emotional zurück. Die Erde ist für uns Geschichte.“

„Kannst du dein bisheriges Leben einfach so abhaken?“

„Keiner von uns kann das, außer vielleicht Mitch. Der macht immer so einen gelassenen Eindruck.“

„Das stimmt, er versucht aus jeder Situation das Beste zu machen. Wie läuft es bei dir und David mit dem Sex?“

Amy spitzte die Lippen und schwieg. Frances fuhr fort: „Selbst da bleibt Mitch entspannt, wenn es nicht klappt. Er sagt dann immer, daran sieht man ganz deutlich, dass wir nicht für die Schwerelosigkeit gemacht sind.“

„Wie wahr. Uns erging es auch nicht besser. Ein Trost, der Mars hat Schwerkraft.“

„Wenn ich bis dahin noch weiß, wie das geht.“

„Das ist wie Radfahren, das verlernt man nie.“

Beide lachten. Doch nur Frances wusste, dass Mitch der fehlende Sex zu schaffen machte.

*

Nachdem der Tagesablauf zur Routine geworden war, verlief das Leben an Bord in ruhigen Bahnen. Alle Teams leisteten Forschungsarbeit, ähnlich wie auf der internationalen Raumstation. Doch während diese im Erdorbit kreiste und der blaue Planet zum Greifen nahe schien, war ihr Schiff im dunklen, interplanetaren Raum unterwegs.

Es kam der Tag, an dem der Mars die sichtbare Größe der Erde übertraf. Ein Team machte den Vorschlag, eine Party zu veranstalten und nach Rücksprache mit Mission Control wurde diese genehmigt. Frances registrierte die ausgelassene Stimmung, obwohl sie nicht glaubte, dass die zur Schau getragene Gelassenheit bei allen echt war.

„Das ist eine Party, Frances, keine Beerdigung“, rief ihr Amy zu.

„Gegen meine Traurigkeit komme ich nicht an.“

„Na los, gehen wir an die Bar. Unsere Männer sind auch dort.“

Frances folgte ihr widerwillig. Ihren Mann hatte sie den ganzen Tag vor Augen und David beinahe genauso lange. Etwas mehr Abwechslung würde ihr deutlich besser gefallen. Sie sah sich um und bemerkte Brendan Jones, der ihr zuzwinkerte. Die Unterhaltungen mit ihm waren nie langweilig und sie gesellte sich zu ihm.

„Hallo Brendan, eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen. Gibt es hier Verstecke, die ich nicht kenne?“

„Das Gleiche könnte ich dich fragen. Du siehst unheimlich gut aus.“

„Kannst du das noch einmal sagen und mir dabei in die Augen sehen?“

„Klar, einer schönen Frau kann ich nichts abschlagen. Du siehst toll aus.“

„Danke. Ich brauche diese Lüge und möchte dir unbedingt glauben. In Wahrheit vermisse ich die Erde und bin nicht halb so neugierig auf den Mars, wie alle anderen es vorgeben.“

Sie schwang ihren Arm durch die Runde.

„Du meinst, die frohe Stimmung ist nur vorgetäuscht?“

„Sollte ich die einzige Ausnahme sein? Wie fühlst du dich?“

„So wie die Planetenkonstellation, halb und halb. Doch ich möchte wieder Schwerkraft spüren und mich richtig bewegen können.“

„Ist das deine Umschreibung für Sex haben?“

„Freches Biest.“

„Das ist meine Reaktion auf fehlende Schwerkraft und deine?“

„Ich kann den Blick nicht von dir wenden.“

„Dir mag das genügen, mir nicht.“

Sie sah ihm direkt in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand.

„Vielleicht sollten wir nicht auf die Schwerkraft warten ...“

„Hältst du das für eine gute Idee?“

„Die ist um Längen besser als dieses bescheuerte Marsunternehmen.“

Sie zeigte ihm mit ihren Händen, um welche Länge es sich handelte.

„Das ist ein handfestes Argument, doch von einem Kommandanten wird erwartet, dass er sich vorbildlich verhält.“

„Das ist redlich gedacht. Falls du mit deiner Vorbildrolle hadern solltest, kannst du auf mich zählen. Ich werde dir mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

„Nichts Geringeres habe ich erwartet.“

*

„Gefällt dir David?“, fragte Mitch seine Frau, die konzentriert die Figuren auf dem Schachbrett betrachtete. Frances blickte auf. Ihr Mann hatte es wieder einmal geschafft, sie aus ihrer Gedankenwelt zu reißen. Er schien einen untrüglichen Instinkt entwickelt zu haben, die wenigen Augenblicke zu finden, in denen der Mars nicht ihre Gedanken bestimmte.

„Du meinst, ob er gut aussieht? Ja, schon. Doch wir haben uns bisher nur selten unterhalten. Wenn er den Mund aufmacht, verliere ich sofort das Interesse. Auf dem Schiff ist er der größte Langweiler.“

„Und Brendan?“

„Mit dem kann man herumflachsen, der versteht Spaß, warum fragst du?“

„Neulich hast du ihm gegenüber eine zweideutige Geste gemacht. Das wirkte auf mich wie ein Fingerzeig.“

„Du sprichst von der Party. Hast du vergessen, wofür Partys gut sind? Dort werden bierernste Gespräche geführt und lachen ist tabu. Ich habe gegen die Regeln verstoßen, ich hatte Spaß.“

„Wir sind hier nur acht Paare. Wenn einer die Grenzen überschreitet, fliegt das ganze Team auseinander. Sei vorsichtig, Frances.“

Sie nickte ihm beschwichtigend zu. Streit war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

„Ich denke, Brendan kann damit auch umgehen. Er ist nicht umsonst zu unserem Kommandanten ernannt worden. Übrigens hält Amy dich für den Mann an Bord, der mit all den widrigen Umständen am besten klarkommt.“

„Ihr habt über mich geredet?“

„Nicht direkt, sie meinte nur, du strahlst eine Gelassenheit aus, die David fehlt.“

„Na, dann schau dir das mal an“, sagte Mitch und streckte seine Hände vor. Sie zitterten.

„Wie lange hast du das schon?“

„Kurz nach der Party ist es zum ersten Mal aufgetreten. Ich gerate in Panik, wenn ich die Erde nicht sofort finde. Sie ist so klein. Bald wird sie nur ein gewöhnlicher Stern sein.“

„Ich weiß. Hast du mit Mission Control darüber gesprochen?“

„Die können mir erst recht nicht helfen. Niemand kann mir helfen, verstehst du. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer den gleichen Film ablaufen: Ich bin in einem Spaßbad und rutsche bäuchlings mit ausgestreckten Armen eine große gewundene Röhre hinab. Es fühlt sich gut an, mit hohem Tempo durch die Kurven zu zischen. Doch je länger ich rutsche, desto langsamer werde ich. Schließlich komme ich zum Stillstand und liege wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Röhre ist durchsichtig und ich befinde mich nur knapp über der Wasseroberfläche. Die Leute am Beckenrand sehen zu mir hinauf. Sie betrachten mich wie ein seltenes Tier und warten ab, was passiert. Ich will die Röhre so schnell wie möglich verlassen und schiebe mich nach vorne. Doch von dort strömt mir Wasser entgegen. Ich kann mich in der zu engen Röhre nicht umdrehen und versuche, rückwärts kriechend nach oben zu gelangen. Doch ich verliere immer wieder den Halt und rutsche in meine alte Position zurück. Schließlich bewege ich mich wieder dem Ausgang entgegen. Ich kann meinen Kopf kaum noch über das wild sprudelnde Wasser halten. Ich atme tief ein und tauche dem Auslauf entgegen. Meine Schwimmzüge bringen mich dem Ziel keinen Zentimeter näher. Die Luft in meinen Lungen brennt. Ich muss atmen und schlage wild gegen die Wandung der Röhre. Die Leute da draußen lachen. Ich schnappe nach Luft und schlucke Wasser. In Schweiß gebadet wache ich auf. Das passiert jede Nacht und ich kann danach nicht wieder einschlafen.“

Frances ging auf ihren Mann zu und nahm ihn fest in ihre Arme.

„Besser jetzt?“, fragte sie.

„Ja“, antwortete er und legte seine Arme um sie. So umschlungen standen sie da, bis ihre Muskeln vor Anstrengung schmerzten und sie voneinander lassen mussten.

*

Mission Control war über den physischen Zustand einiger Teammitglieder beunruhigt. Besorgt wäre ein zu starkes Wort, ließen sie Tom Gershon, den Arzt an Bord wissen, doch er müsse diese Kandidaten persönlich zu härterem Training ermutigen.

Tom wollte die Betreffenden nicht bloßstellen und bat daher jeden in seine Sprechstunde, um kurz vor der bevorstehenden Marslandung alle noch einmal zu motivieren. Leider gehörte auch er zu dem Personenkreis, den er aufbauen sollte. Sein eigenes Motivationstraining hatte bei ihm versagt, wie sollte es da bei den anderen funktionieren? So ein guter Schauspieler war er nicht. Vielleicht war seiner Frau Stella etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Sie stand nicht auf der Liste, obwohl er sich immer für den Stärkeren gehalten hatte, was nicht für sein geschultes Auge sprach.

Mit Mitch Bolden, den scheinbar nichts aus der Ruhe bringen konnte, war es nach der Hälfte der Strecke bergab gegangen und Amy Haller konnte jeden Moment durchdrehen. Chuck Brenner und Cassandra Jones waren Grenzfälle. 5 aus 16, sagte er sich, war keine gute Quote.

„Was meinst du, Stella, haben wir uns während des Fluges verändert?“

Seine Frau blickte neugierig geworden, von ihrem Buch auf. Sie wusste, dass er etwas auf dem Herzen hatte, doch sprach er es, wie so oft, nicht direkt an.

„Ein bisschen konkreter musst du schon werden, sonst antworte ich mit Ja.“

„Sind wir mental noch dieselben wie zu Anfang unserer Reise?“

„Nein, natürlich nicht. Ich vermute, dass die Ungewissheit, was unsere Existenz auf dem Mars anbelangt, einigen ganz schön Kopfschmerzen bereitet. Ich denke, wir sind nur unzureichend auf dieses Unternehmen vorbereitet worden. Doch das willst du gar nicht wissen.“

„Nein, das war nicht meine Intension. Würdest du sagen, dass mir diese Ungewissheit auch zusetzt?“

Die Katze war aus dem Sack und Stella brauchte einen Moment für die Antwort.

„Ich finde, du hast dich gut gehalten. Du wirkst ein wenig müder als zu Beginn, doch das trifft auf die meisten zu. Verordne dir ein paar Vitamine.“

„Mission Control meint, mein physischer Zustand müsse stabiler werden. Mit Vitaminen komme ich da nicht weiter. Ich denke, das Problem ist psychischer Natur.“

„Ich habe mit Amy gesprochen. Sie sagte, sie ersticke in dem Schiff und ich fürchte, auf dem Mars wird es ihr nicht anders ergehen. Ist es bei dir auch so?“

„Nein. Ich habe eher das Interesse verloren und lasse mich lustlos treiben.“

„Das liegt nur daran, dass du unterfordert bist. Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen. Der Mars richtet dich wieder auf.“

So wie meine Frau, dachte Tom. Nach ihren Worten war er aus dem Schneider und er wollte es glauben.

*

„Hallo Amy“, begrüßte Tom die Eintretende, „setz dich bitte. Das letzte Viertel unserer Reise ist angebrochen. Mission Control will, dass wir unsere Fitness für den Endspurt steigern.“

„Mission Control kann mich mal.“

„Ja, ich weiß. Die haben gut reden. Die Trainingseinheiten langweilen mich auch zu Tode. Wenn dir etwas Besseres einfällt, mach es.“

„Wir forschen hier jeden Tag, machen unzählige Experimente, doch keiner hat mich gefragt, woran ich gerne arbeiten würde. Ich hätte mit Freude daran geforscht, wie man durch den Genuss von Schokolade Muskeln bekommt.“

„Solange du deinen Humor nicht verlierst, ist alles nur halb so schlimm.“

„Ist schwarzer Humor auch hilfreich?“

Tom blätterte in seinen Unterlagen.

„Hast du mal Ken beim Training beobachtet?“

„Nein. Ich sehe mir grundsätzlich keine Männer an, die kleiner sind als ich.“

„Bei ihm solltest du eine Ausnahme machen. Der Mann ist topfit.“

„Topfit? Ken hat Matsch in der Birne. Ich habe ihn gefragt, was er zu Beginn jeder Übung vor sich hin murmelt. Seine Antwort war, er rezitiere ein Haiku, das ihn in eine zur Übung adäquate Stimmung versetzt. Glaub mir, Ken wird vom ersten Marssturm hinweggefegt, der auf uns niedergeht. So ein Spinner.“

Amy stand auf und verließ die Kabine. Tom wusste, hier war er machtlos.

*

„Was macht dein Grünalgen-Experiment, Ken?“, fragte Michelle.

„Es nimmt langsam Formen an. Die Sauerstoffausbeute ist mir noch zu niedrig, doch prinzipiell funktioniert es. Mitch hat mich gestern auch danach gefragt, obwohl er sich gar nicht dafür interessiert.“

„Wie kommst du darauf?“

„Er hat nur einen Vorwand gesucht, um mit mir zu reden. Kaum waren wir im Gespräch, gesellte sich noch Chuck hinzu. Ich glaube, die beiden hatten sich verabredet.“

„Du machst es wieder spannend, erzähl schon.“

„Mitch und Chuck bewundern meine mentale Stärke.“

„Haben sie das so gesagt?“

„Nein, das habe ich unserer Unterhaltung entnommen.“

„Worüber habt ihr denn geredet?“

„Über die Marsexpedition natürlich und ich habe ihnen meinen Standpunkt mit einer Samuraigeschichte verdeutlicht. Nichts verwirrt und fasziniert einen Amerikaner mehr als andere Kulturen. Ich habe sie wissen lassen, dass meine innere Stärke daher kommt, dass ich einer alten Samurai-Familie entstamme und ihnen das Foto gezeigt, das ich immer bei mir trage. Das sind meine Ahnen und denen erstatte ich täglich Bericht. Da haben sie mich belächelt und gesagt, das wäre bestimmt ein langweiliger Bericht wegen all der Experimente und so. Doch ich habe geantwortet, dass ich nur darüber berichte, was in meinem Inneren vor sich geht, wie sich mein Geist der Herausforderung stellt.“

„Für einen Androiden hast du eine blühende Phantasie.“

„Deswegen bin ich doch im Team. Ich habe den beiden die Marsbesiedelung als eine kriegerische Auseinandersetzung geschildert. Der Samurai, der mit Gelassenheit auf den Tag wartet, an dem er zur Schlacht gerufen wird, der seine Ausrüstung sorgfältig aufbewahrt hat und sein Schwert zum letzten Mal prüft, bevor er die Rüstung anlegt. Der Samurai sattelt sein Pferd und verabschiedet sich von seiner Frau, die ihren kleinen Sohn auf dem Arm trägt. Der Samurai reitet davon, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen und trifft wie vorgesehen, mit den anderen Kriegern zusammen. Am Tag des Kampfes nimmt er seinen angestammten Platz in der Schlachtordnung ein. Zuerst langsam und dann immer schneller werdend, reitet er mit der vordersten Reihe dem Feind entgegen. Der Moment, in dem er auf den Gegner prallt, ist sein Moment der Wahrheit, für den er gelebt hat. Hier erfüllt sich sein Schicksal und er erkennt, wer er ist.“

„Und sie haben dich gefragt, was ist, wenn er getötet wird?“

„Ja. Das ist unwichtig, habe ich geantwortet. Ein Leben ist ein Leben, ob man es weinend oder lachend zubringt. Chuck fragte, ob das ein Haiku sei, doch ich verneinte und sagte, nur ein japanisches Sprichwort.“

„Haben die beiden deine Sichtweise verstanden?“

„Ich weiß es nicht. Sie gingen mit nachdenklichen Gesichtern davon.“

„Ken Kawabata, du schwindelst mich doch an.“

„Ich komme nur deinem Wunsch nach. Du hast gesagt, ich solle lügen lernen, um den Menschen ähnlicher zu werden.“

„Dann sag mir jetzt die Wahrheit.“

„Ich glaube, dass ich sie noch mehr verstört habe, als sie schon waren. Vielleicht wäre ein Märchen wie der Froschkönig besser gewesen. Sie landen auf dem Mars und werden zu Prinzen.“

„Du bist und bleibst ein überheblicher kleiner Androide.“

„Du musst es wissen. Du hast mich kreiert.“

„Sag das bloß keinem, mit dem du unter die Dusche gehst. Der lacht mich aus.“

„Soll er nur. Ich habe keinen Penis und ich brauche keinen Penis.“

„In dem Punkt habe ich inzwischen meine Meinung geändert.“

*

Iris sah aus dem Fenster. Sie konnte sich an dem Anblick des Roten Planeten nicht sattsehen. In einer Woche würden sie endlich auf dem Mars landen. Dann gehörte ihr ein ganzer Planet. Beinahe jedenfalls. Am Anfang wären sie noch an ihren Standort gebunden, weil sie ihre Basisstation ausbauen müssten, die von Robotern im Jahr zuvor errichtet worden war. Doch nachdem diese Arbeit erst einmal erledigt war, lag der ganze Planet vor ihr. Iris hatte sich in den Kopf gesetzt, Wasser zu finden. Wasser bedeutete Leben und sie hoffte, es in den tieferen Schichten des Planeten aufzuspüren.

Jemand lehnte sich neben sie und ihre Vision verschwand. Sie wusste, wer es war, ohne sich nach ihm umsehen zu müssen.

„Hallo Iris, badest du schon wieder in deinem Marssee?“

„Hätte ich dir doch bloß nichts davon erzählt.“

„Jeder hat seine Träume und mir gefällt, wie du dich im Wasser bewegst, so ganz natürlich ohne Badeanzug.“

„Ja und ich lasse nur Wasser an meine Haut. Sei bitte ein großer Junge, Chuck und krieg das endlich in deinen Schädel. Die Party ist vorbei.“

„Wenn ich aber kein großer Junge sein will?“

„Walter wird dahinterkommen. Zuerst bringt er dich um, dann mich und schließlich sich selbst. Dadurch gefährden wir unsere Mission. Sei also nicht so egoistisch.“

„Das Risiko gehe ich ein. Dein Mann bringt niemanden um. Dazu ist er nicht in der Lage.“

„Vermutlich nicht. Vielleicht lässt er sich von der neuen Umgebung inspirieren und wird so tödlich wie die Atmosphäre unserer zukünftigen Heimat. Wer weiß?“

„Das ist doch purer Unsinn.“

„Mag sein, doch nicht widersinniger als deine Nachstellungen. Wir sind ein Häufchen Frauen und Männer, die allein zurechtkommen müssen. Verliert einer von uns den Glauben an die Zukunft, möchte ich nicht wissen, was das für Auswirkungen auf unsere Gemeinschaft hat. Einer von uns beiden muss vernünftig sein.“

„Vernünftig? Das sagst ausgerechnet du? Du kannst doch die Finger nicht von mir lassen.“

„Sie hören mir nicht zu, Mr. Brenner. Ich kann und ich werde.“

Damit riss sie sich von Chuck fort und überließ ihn seinen Gedanken.

*

„Manchmal frage ich mich, wie die anderen den Test bestehen konnten. Die benehmen sich wie Kleinkinder.“

„Von wem sprichst du, Sybill?“

„Das ist doch offensichtlich oder nicht?“

„Meinst du Walter und Cassandra?“

„Bist du blind, Frank? Die beiden arbeiten zusammen und sind wie Bruder und Schwester. Nein, ich meine Chuck und Iris.“

„Was soll mit denen sein?“

„Du bekommst auch gar nichts mit. Die beiden haben was miteinander.“

„Geht das schon wieder los? Überall siehst du unsere Mitreisenden fremdgehen. Zuerst waren es Frances und Brendan und jetzt sind es Chuck und Iris. Ist das deine Art, mir mitzuteilen, dass dir der Sex fehlt?“

„Mach dich nicht lächerlich. Ist dir wirklich nichts aufgefallen?“

„Du projizierst deine Sehnsüchte auf andere, das ist alles. Du bist überspannt.“

„Wow, du müsstest dich mal reden hören. Als ob du ein Schüler von Freud wärst. Nur hat dieser Doktor seine Patienten eingehend beobachtet. Genau das, was ich auch getan habe. Ich weiß noch, wie sich Menschen verhalten, die sich mögen. Es sind meistens Kleinigkeiten in ihrem Verhalten, durch die sie sich verraten: ein Augenaufschlag, eine heimliche Berührung oder nur der Tonfall bei der täglichen Begrüßung. Mir fällt das alles auf und du fühlst dich bedroht, wenn ich dir davon erzähle. Also gut, Dr. Freud, was sagt das über dich aus?“

„Ich interessiere mich nicht für die persönlichen Belange meiner Kollegen. Ich möchte nichts davon wissen, was du aus unerfindlichen Gründen nicht begreifst und als Mangel an Empfindsamkeit abtust.“

„Du kannst die neuen Gegebenheiten nicht außer acht lassen. Wir sind nur acht Paare und unterwegs zum Mars, wo sich unser zukünftiges Leben abspielt. Du musst dich für deine Mitmenschen interessieren. Unsere Gemeinschaft ist zerbrechlich und wir müssen aufeinander aufpassen, da wir sonst kein Jahr überleben.“

„Ich verstehe, was du meinst, doch ich weiß nicht, ob ich deine Erwartungen erfüllen kann. Ich bin introvertiert. Das war ich schon, als wir uns kennenlernten. Du bist mein Fenster zur Welt. Ich werde unser Oktett nicht sprengen und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich so bleibe, wie ich bin.“

„Lassen wir das. Wir sollten lieber aus dem Fenster sehen und den Roten Planeten bestaunen. Wer weiß, wann sich uns wieder die Gelegenheit dazu bietet.“

Frank stellte sich neben seine Frau und sah hinaus. Der Mars wirkte wilder als auf allen Fotos, die er je zu Gesicht bekommen hatte.

„Frank, vergiss was ich gesagt habe. Der Mars wird unser Leben neu ordnen. Wichtig ist, dass wir beide zusammenhalten.“

Er nickte Sybill zu und umfasste sie mit seinen Armen. Sie drückte seine Hände.

*

Mission Control hatte die automatische Landung eingeleitet und alle saßen angeschnallt auf ihren Plätzen. Brendan Jones und Julia Brenner waren die beiden, die manuell eingreifen sollten, falls etwas schief gehen würde. Doch alles verlief planmäßig: Die Steuertriebwerke richteten das Raumschiff aus, die Bremstriebwerke zündeten und schließlich entfaltete sich der Bremsfallschirm.

Brendan verfolgte die Landung auf dem Bildschirm. Als sie über ihr Zielgebiet hinwegflogen, machte er Julia darauf aufmerksam.

„Sollen wir manuell eingreifen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Der Computer hat keine Fehlfunktion gemeldet. Wahrscheinlich arbeitet eine Steuerdüse nicht richtig. Das kannst du nicht so ohne Weiteres korrigieren. Dazu fehlt uns die Zeit, wir sind gleich unten.“

„Hoffentlich in einem Stück.“

Kurz vor dem Aufsetzen zündeten die Bremstriebwerke noch einmal und dann fühlten sie die Landung wie einen Schlag in den Rücken.

„Alle mal herhören, wir haben ein kleines Problem. Unser Schiff hat den Landeplatz verfehlt. Wir müssen einige Kilometer zu Fuß gehen, um unsere Siedlung zu erreichen. Bitte Ruhe bewahren.“

Wie erwartet, redeten alle durcheinander.

„Haltet eure Klappe. Ich werde mit Ken das Schiff verlassen und zur Siedlung gehen. Wenn dort alles in Ordnung ist, werde ich euch mit der kleinen Transportrakete nachholen. Julia ist während meiner Abwesenheit der Boss.“

Brendan schnallte sich ab und erhob sich aus seinem Sitz. Die Schwerkraft ließ seine Bewegungen wie die eines Hundertjährigen aussehen. Er schleppte sich zur Schleuse hinüber, wo Ken bereits auf ihn wartete. Der Mann schien keine Probleme mit der Schwerkraft zu haben.

Vor der Landung hatten sie ihre Schutzanzüge angelegt, sodass sie bereit für den Ausstieg waren. Nach kurzem Verweilen in der Schleuse öffnete Brendan die Außentür, worauf die Treppe ausgefahren wurde. Er blickte in alle Richtungen und schluckte. Er hatte schon schönere Panoramen gesehen. Langsam ging er die Stufen hinunter. Der Tag war noch jung und sie würden genügend Zeit haben, um das Siedlungsgebäude zu prüfen, bevor die hier üblichen Abendstürme ihren Einsatz beendeten.

Ken folgte Brendan und wies in die Richtung, die sie einschlagen mussten, um zur Siedlung zu gelangen. Schweigend liefen beide nebeneinander ihrem Ziel entgegen. Der Untergrund war fest und von einer dünnen Sandschicht überzogen, die mit Gesteinsbrocken garniert war. Brendan bereitete der Boden keine Probleme, doch nach einer halben Stunde musste er dem Tempo, das sein Partner vorlegte, Tribut zollen.

„Nicht so schnell, Ken, ich kann nicht mehr. Macht dir die Schwerkraft nicht zu schaffen?“

„Schon, doch für diesen Fall habe ich hart trainiert.“

„Ich dachte, ich auch. Was meinst du, wie weit ist es noch?“

„Etwa zwei Kilometer.“

„Bei meinem Tempo brauchen wir dafür mindestens eine Stunde.“

Sie pausierten noch fünf Minuten, bevor sie sich wieder auf den Weg machten. Brendan übernahm die Führung und Ken passte sich seiner Geschwindigkeit an.

Das Gebäude war von Sand umgeben und bevor sie es betreten konnten, mussten sie die Schleusentür freilegen. Ken brauchte dafür einige Minuten, die Brendan zum Ausruhen nutzte. Dann gingen sie hinein.

Das Gebäude hatte acht Schlafzimmer mit Bad und einen Gemeinschaftsraum mit Küche, die durch einen mittig verlaufenden Korridor verbunden waren.

Nachdem Brendan Luftdruck und Luftzusammensetzung für gut befunden hatte, setzten beide ihre Helme ab. Sie inspizierten die Räumlichkeiten. Besondere Aufmerksamkeit schenkten sie dem Bad, denn jeder Teilnehmer freute sich schon auf das Duschvergnügen, auf das er während der gesamten Reise verzichten musste, da es bisher niemandem gelungen war, eine Dusche für die Schwerelosigkeit zu konstruieren. Ein feuchter Lappen hatte ihnen als Ersatz gedient.

Brendan überprüfte den Wasserkreislauf und stellte die Dusche an. Er hielt eine Hand unter den Wasserstrahl und zum ersten Mal seit der Landung leuchteten seine Augen. Als er alle Duschen einmal ausprobiert hatte, ging er in den Gemeinschaftssaal, wo er Ken traf, der sich um die Küche gekümmert hatte.

„Jetzt sollten wir nach der kleinen Rakete sehen und unsere Leute herholen“, meinte Brendan.

„Mach du das. Ich kümmere mich derweil um die restlichen technischen Anlagen.“

Beide gingen hinaus. Brendan sah sich um und entdeckte die Rakete hinter dem Gebäude. Er unterzog sie einem Funktionscheck, befand sie als einsatzfähig und flog zur Red Planet zurück.

Ken sah ihm nach und erschrak, als ein blauer Lichtstrahl den Himmel zerriss. Er sprintete los und hatte die Absturzstelle nach wenigen Minuten erreicht. In großem Umkreis hatten Metallteile unterschiedlicher Größe den roten Boden zersiebt. Ken fand Fetzen von Brendans Raumanzug und wusste, dass hier jede Rettung zu spät kam.

„Red Planet, bitte kommen. Hier ist Ken.“

„Hallo Ken, hier Julia. Was war das für eine Explosion?“

„Die Transportrakete ist explodiert. Brendan ist tot. Ich komme zu euch zurück.“

Julias Stimme klang rau, als sie sich verabschiedete.

*

Die Stimmung unter den Expeditionsteilnehmern war gedrückt. Cassandra saß wie versteinert in ihrem Sessel und hatte darum gebeten, allein gelassen zu werden. Sie war Brendan in allem gefolgt. Er war die treibende Kraft in diesem Marsabenteuer gewesen und jetzt war er tot, lag, von einer Explosion in Stücke gerissen, in alle Richtungen verstreut auf dem Marsboden. Sie holte tief Luft, ohne Erleichterung zu verspüren. Der Ring, der ihre Brust einschnürte, wollte nicht nachgeben. Sie stand auf und ging zu Julia hinüber.

„Du bist der Kommandant des Schiffes. Wir sollten zur Siedlung aufbrechen. Noch schaffen wir es vor den Abendstürmen. Hier zu sitzen und nichts zu tun, gibt einigen von uns das Gefühl, auf den eigenen Tod zu warten.“

Julia fand Cassandras Ansinnen vernünftig. Bald darauf verließen alle Teilnehmer das Schiff, Ken vorneweg und sie am Schluss. Julia hatte Mission Control über das Vorgefallene informiert und nicht abgewartet, bis die Nachricht von der Erde, die einige Minuten unterwegs sein würde, hier ankam. Sie wollte nicht noch mehr betroffene Gesichter sehen.

Da war ihre lange Reise ohne Zwischenfälle abgelaufen, doch kaum hatten sie das neue Terrain betreten, gab es einen tödlichen Unfall. Das war ein schlechtes Omen und keiner würde diesen Fehlstart jemals vergessen können.

Nach irdischen Maßstäben würde die Strecke bis zu ihrem neuen Zuhause als leicht zu bewältigen gelten. Doch auf dem Mars konnte davon keine Rede sein. Julia, die sich wirklich für fit hielt, musste alle halbe Stunde eine Pause einlegen. Trotzdem kümmerte sie sich um die wenigen, die noch schwächer waren. Sie mahnte alle zur Eile an, da die heraufziehenden Abendstürme den sicheren Tod bedeuten würden.

Als die Station in Sicht kam, verlieh dieser Anblick allen neue Kraft und Julia bat Ken, sich um die Nachzügler zu kümmern. Sie betrat das Gebäude als eine der Letzten und sah ihre Mitstreiter mit offenem Helmvisier und seligem Blick auf dem Boden des Gemeinschaftsraumes liegen. Frances hatte sich schon aus dem Schutzanzug geschält und lehnte an der Wand. Ihr Blick war ins Leere gerichtet. Julia gönnte allen eine Pause.

Nachdem sich alle erholt hatten, nahmen sie das Gebäude in Beschlag und belegten ihre Privaträume. Obwohl die wenigsten nach der Tortur hungrig waren, fanden sich alle in der Küche ein. Chuck durchsuchte den Vorratsschrank und kam mit einer Kiste voller Powernahrung zurück, die er auf den Tisch stellte. Die meisten nahmen sich einen Riegel heraus und hingen kauend ihren Gedanken nach.

Ken lag schon im Bett, als Michelle sich zu ihm legte.

„Du warst heute wunderbar, Ken.“

„Nein, ich hätte die Rakete überprüfen und fliegen müssen, dann wäre alles gut gelaufen.“

„Vielleicht wärst du dann in Stücke gerissen worden.“

„Auch dann wäre jetzt alles gut.“

„Nein Ken, so selbstlos darfst du nicht sein.“

2048 - Die Siedler

 

Alle hatten sich von der gedrückten Stimmung infizieren lassen. Am Frühstückstisch starrte jeder auf seinen Teller und außer dem Klappern des Bestecks war nichts zu hören. Ab und zu schaute jemand zu dem frei gebliebenen Platz hinüber, um sich zu überzeugen, dass der Tod auch wirklich mit am Tisch saß.

„Walter, Ken, Michelle und Frank, ihr müsst uns so schnell wie möglich eine Rakete bauen. Mitch, Tom, David und Chuck werden die Sachen aus dem Raumschiff herbringen. Der Rest kümmert sich um die Station. Noch Fragen?“

Julia blickte in die Runde, doch niemand erwiderte etwas. Die Gruppen fanden sich zusammen und nahmen ihre Arbeit auf.

*

Der Rover hatte eine durchsichtige Fahrerkabine aus Kunststoff, die zwei Personen Platz bot und eine Ladefläche, die durch einen passenden Anhänger vergrößert werden konnte. Seine großen Reifen sollten ungehindertes Fahren auf Sand und Geröll ermöglichen.

„Sind wir noch auf dem richtigen Weg?, fragte Mitch, der den Rover fuhr, „Hier kommen wir nicht weiter.“

„Gestern sind wir hier entlanggekommen“, entgegnete David.

„Schätze, wir müssen den Felsen umfahren. Dann sehen wir weiter“, meinte Chuck, der neben Mitch saß und ihm die Richtung wies, in die er fahren sollte.

Tom war in seine Gedanken vertieft und ließ die anderen machen. Julia hatte ihn, bevor sie morgens losgefahren waren, gefragt, ob er ein Mittel mit aufputschender Wirkung dabei hätte. Er hatte verneint und geantwortet, Arbeit sei die beste Medizin. Hoffentlich waren sie bald am Ziel, damit auch er etwas zu tun bekam. Die Fahrt ähnelte bisher der in einem Ochsenkarren durch die Wüste. Tom wurde durchgeschüttelt wie eine Kartoffel auf einem Rüttelsieb.

Der Umweg führte an einer Felsformation vorbei und als sie diese passiert hatten, querten sie die Unfallstelle. Der Wind hatte schon seinen Teil dazu beigetragen, ein Tuch aus Sand darüber zu legen, doch konnte dies nicht verhindern, dass Tom sich andauernd fragte, wer wohl als Nächster an die Reihe käme. War der Mars wirklich die Todesfalle, wie einige Journalisten behaupteten? Er glaubte es nicht. Ihr geschwächter körperlicher Zustand barg zusätzliche Risiken, die, wenn sie sich wieder fit fühlten, nicht der Rede wert waren. Momentan erforderte selbst das Gehen Kraft und Konzentration. Sollte jemand stolpern und hinfallen, könnte der Schutzanzug durch einen scharfkantigen Stein beschädigt werden.

Tom blickte auf und sah die Red Planet immer größer werden. Sie fuhren jetzt über Sand und das Rütteln hatte aufgehört. Mitch hielt vor der Frachtluke des Raumschiffes.

„Will jemand zurückfliegen?“

Als keine Reaktion erfolgte, beeilte sich Mitch hinzuzufügen, dass er nur gescherzt hatte.

Chuck öffnete die Luke und gab die Sicht auf ihre Habseligkeiten frei. Mitch half ihm beim Beladen des Frachtkorbes und bald darauf hatten Tom und David, die unten auf die Sachen warteten, alle Hände voll zu tun. Innerhalb einer Stunde war der Rover beladen. Mitch und Chuck fuhren wieder zurück, während sich die beiden anderen ins Schiff begaben.

„Es wäre bestimmt schön, von der Spitze der Red Planet über die Landschaft zu schauen“, meinte Tom, „kommt man da hinauf?“

„Klar, sogar mit einem Lift.“

David übernahm die Führung. Der Lift hatte es nicht eilig, sie an ihr Ziel zu bringen. Das eintönige Summen und das matte Licht machten beide schläfrig. Sie setzten sich auf den Boden, der leicht vibrierte, sodass es ihnen schien, als lebe das Schiff. Doch inzwischen diente es nur noch dazu, Sandkörnern neue Verstecke zu bieten. Mit einem kaum merkbaren Ruck kam der Lift zum Stehen.

„Wo treiben sich bloß Tom und David herum?“, maulte Chuck, nachdem er und Mitch sie nirgends entdecken konnten. „Wir machen hier doch keinen Ausflug.“

„Vielleicht haben sie die Zeit beim Bau einer Sandburg aus den Augen verloren“, entgegnete Mitch ein wenig zu fröhlich. „Wir machen schon mal mit dem Ausladen der Sachen weiter. Die beiden werden bestimmt gleich wieder auftauchen.“

„Das will ich doch hoffen“, nörgelte Chuck weiter, doch stand er bereits in der Luke. Als sie den Frachtraum geleert hatten, waren Tom und David immer noch nicht zugegen.

„Wir müssen sie suchen“, sagte Mitch.

„Viel Erfolg, ich kenne mich hier nicht aus und du?“

„Sieh mal nach unten Chuck, dort führen Spuren zum Haupteinstieg.“

„Die schauen sich da drin Pornos an und wir müssen hier schuften.“

„Du hattest Pornos dabei?“

„Was gibt es da zu grinsen? Hattest du vielleicht Sex?“

„Ganz ruhig, Chuck. Mir erging es nicht besser als dir. Die Filme waren wohl keine große Hilfe?“

„Das kannst du laut sagen. Alles reine Geldverschwendung.“

„Wir sind nicht mehr allein“, rief Mitch erfreut aus. „Kennst du die beiden, die dort in der Luke stehen?“

Chuck sah hinüber, Tom und David winkten ihnen zu. Mit Mitch an seiner Seite ging er ihnen entgegen.

„Was habt ihr euch dabei gedacht, einfach abzuhauen?“

„Reg dich ab, Chuck. Wir sind mit dem Lift nach oben gefahren und während der Fahrt eingeschlafen. Tut uns leid“, antwortete David.

„Na dann seid ihr jetzt ausgeruht und könnt das Fahrzeug beladen. Ich setze mich derweil in den Schatten und schaue euch zu.“

„Tu das. Ich hätte da noch einen fachlichen Rat für dich: Öffne dein Helmvisier. Marsluft beruhigt das Gemüt“, entgegnete Tom im Tonfall eines gütigen Arztes.

„Du findest das sicher witzig. In Wirklichkeit habt ihr euch meine Pornosammlung angesehen.“

„Mir ist meine Frau genug. Wenn du eine Eheberatung brauchst, sprich mit Stella und benimm dich nicht wie ein von Hormonen überschwemmter Teenager.“

„Entschuldige. Ich bin wütend und weiß nicht warum.“

„Das ist nur eine Reaktion auf den Stress, dem du ausgesetzt bist. Jeder reagiert darauf anders.“

*

Das Team, dass eine Transportrakete bauen sollte, hatte sich in einer Ecke des Gemeinschaftsraumes zusammengefunden. Walter ergriff das Wort: „Wir sollten die Steuertriebwerke von dem alten Raumschiff verwenden, das unweit unserer Station die Landschaft verschandelt. In den Düsen wird sich zwar jede Menge Sand angesammelt haben, doch reinigen müssen wir die Teile ja sowieso. In unserer Bibliothek sind Konstruktionsunterlagen für Raketenrümpfe aller Art gespeichert. Wenn wir einen geeigneten Plan gefunden und für unsere Belange modifiziert haben, werden wir damit unsere 3D-Drucker füttern. Wie viele haben wir übrigens?“

„Vier“, antwortete Michelle.

„Gut. Ken, du hilfst mir mit den Triebwerken. Schafft ihr beiden in der Kürze der Zeit eine passende Steuerungssoftware zu basteln?“

„Wir müssen uns ja nichts Neues einfallen lassen“, sagte Frank und Michelle meinte: „Das soll nicht deine Sorge sein. Baut ihr zwei erst mal die Rakete.“

Walter und Ken studierten die Schiffspläne, um eine Möglichkeit zu finden, die Steuertriebwerke zu demontieren. Die Leitern und Hebebühnen, die ihnen zur Verfügung standen, waren um einiges zu klein. Sie votierten dafür, sich von den 3D-Druckern ein Baugerüst fertigen zu lassen. Innerhalb von zwei Tagen hatten sie genug Bauteile beisammen, mit denen sie ein Gerüst aufstellten, das ihnen das Demontieren der Steuerdüsen ermöglichte. Wegen der starken Windböen wurde es an der Außenhaut des Schiffes befestigt. Über den Steuerdüsen wurde ein Flaschenzug angebracht, mit dessen Hilfe alle brauchbaren Teile nach unten befördert werden sollten.

„Schöner Ausblick von hier oben“, rief Walter zu Ken hinüber, der im nächsten Moment von einer Bö erfasst wurde und über das Geländer flog. Walter sah ihm nach und entdeckte ihn eine Etage tiefer, wo er sich mit einer Hand an das Geländer klammerte. Ihm stockte der Atem. Er wollte gerade zu ihm eilen, als er sah, wie Ken mit dem anderen Arm ebenfalls Halt fand und sich auf das Laufbrett zog. Walter bezweifelte, dass er dazu in der Lage gewesen wäre. Kurze Zeit später stand Ken wieder neben ihm.

„Ich wollte dir keinen Schreck einjagen. Wir müssen uns in Zukunft mit Seilen sichern.“

Walter pflichtete ihm durch Nicken bei.

„Außerdem sollten wir den Vorfall nicht an die große Glocke hängen. Es ist ja nichts passiert.“

„Auf keinen Fall. Wir müssen einen vollständigen Bericht abliefern.“

„Der Tod von Brendan ist allen noch gegenwärtig. Ich möchte verhindern, dass wieder Angst um sich greift. Wer sich fürchtet, begeht erst recht Fehler.“

Walter dachte einen Moment darüber nach und stimmte Ken zu.

Das Abbauen eines Steuertriebwerkblockes mit seinen vier Düsen war eine schweißtreibende Arbeit gewesen. Jetzt lagen alle Baugruppen in der kleinen Montagehalle, die neben ihrer Station errichtet worden war. Walter hatte die Konstruktionsunterlagen modifiziert und ihre Rakete nahm allmählich Gestalt an. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der ersten Mondfähre war nicht zu verkennen und so nannten sie ihr Fluggerät Eagle.

Frank und Michelle waren in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen und hatten eine neue Steuerungssoftware erstellt. Drei Wochen nach der Ankunft auf dem Mars stand die Eagle zum Testflug bereit.

*

„Bevor ihr euch streitet, ich werde dieses Ungetüm fliegen!“, verkündete Ken im Speisesaal, als alle anwesend waren. Niemand widersprach ihm. Julia vermutete, dass alle an Brendan dachten und wie es ihm ergangen war.

Sie hatte sich mit den anderen aus dem Team in gehörigem Abstand aufgestellt und beobachtete, wie Ken in die Rakete stieg. Eine Weile danach geschah nichts, doch dann vibrierte der Boden unter ihren Füßen und die Triebwerke wirbelten Sand auf. Die Rakete hob ab und zog Sandwolken hinter sich aufwirbeld einen Kreis um die Station, gewann an Höhe, trudelte in einer Spirale hinab, bis Julia sicher war, sie würde auf dem Boden zerschellen, doch fing sie sich wieder und landete dort, wo sie gestartet war. Ken erschien in der Luke.

„Nicht schlecht für so einen kleinen Mann.“

Alle hatten Amys Kommentar gehört, der trotz der vielen Glückwünsche, die folgten, jedem in Erinnerung bleiben würde. Ist sie wirklich so ein Miststück, fragte sich Julia, während Michelle über die Ahnungslosigkeit aller schmunzelte.

*

Iris hatte eine unruhige Nacht verbracht. Sie fühlte sich wie vor einer Prüfung, auf die sie nicht vorbereitet war. Die vordringlichste Aufgabe des Teams bestand darin, eine autarke Sauerstofferzeugung aufzubauen. Zurzeit wurde der Sauerstoff aus dem Kohlendioxid der Marsatmosphäre und dem von der Erde mitgeführten Wasserstoff gewonnen. Die Wasserstoffvorräte waren für drei Monate kalkuliert, von denen ihnen noch zwei blieben. Auf dem Mars gab es Wasserstoff nur in Form gefrorenen Wassers und da kam sie als Geologin ins Spiel. Sybill hatte mit Technikern auf der Erde einen chemischen Reaktor entwickelt, der im ersten Schritt Wasserstoff und im zweiten Sauerstoff erzeugen konnte. Methan, ein Nebenprodukt des Prozesses, sollte zukünftig als Raketentreibstoff verwendet werden. Doch alle Pläne würden sich in Rauch auflösen, fände Iris kein Wasser.

Walter half ihr beim Anlegen des Schutzanzuges und wünschte ihr viel Erfolg. Draußen, neben der Erkundungsrakete, stand Ken. Mit ihm würde sie zu dem nächstgelegenen Ort fliegen, wo Satellitendaten Wasservorräte vermuten ließen. Mission Control hatte die Lage der Marsstation so gewählt, dass sie sich in der Nähe von vier möglichen Wasservorkommen befand, um bei fehlerhaften Prognosen auf Alternativen zurückgreifen zu können.

In der Rakete nahmen beide die Helme ab. Ken ging die Checkliste durch und bald flogen sie über dem Mars dahin. Der Planet war für Iris immer noch der Traum eines Geologen. Da nur die Oberfläche hinreichend erforscht war, galt es herauszufinden, welche Geheimnisse er in seinem Inneren barg.

Iris sah zu Ken hinüber, der entspannt vor dem Steuer saß.

„Möchtest du übernehmen?“, fragte er.

„Bist du auf eine Katastrophe aus? Wir würden an den Felsen voraus zerschellen und zum Mond geschleudert werden.“

„Es gibt zwei. Entscheide dich.“

Zuerst verstand Iris nicht, was er meinte, doch dann musste sie lachen.

„Phobos.“

„Das mit dem Fliegen meinte ich ernst. Jeder aus dem Team hat einen Trainingskurs absolviert. Du bist Pilot, du weißt es nur noch nicht. Versuch es.“

„Ja, in der Theorie ist mir alles klar.

---ENDE DER LESEPROBE---