Während des Regens - Reimon Nischt - E-Book

Während des Regens E-Book

Reimon Nischt

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Beschreibung

Ein Professor nimmt sich jedes Jahr aufs Neue in besonderer Weise eines weiblichen Erstsemesters an; eine Frau lernt die Geliebte ihres Mannes kennen und ist erstaunt, dass sie sie mag; ein Detektiv, der Monotonie seines Jobs überdrüssig, wird kreativ; zwei Freundinnen kommen beim Lesen derselben E-Mail zu ganz unterschiedlichen Auffassungen. Der Band umfasst 45 Kurzgeschichten.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Reimon Nischt

 

Während des Regens

 

Kurzgeschichten

 

 

 

 

Herausgegeben von:

 

www.bilderarche.de 

 

© 2017, 2022 Reimon Nischt, Morierstr. 35a, 23617 Stockelsdorf

Inhalt

 

Vertrauen

 

Urlaub

 

Panne

 

Hinweise

 

Golfen

 

Sonntagsessen

 

Kokon

 

Während des Regens

 

Der Fehler

 

Erstsemester

 

Detektiv

 

Mann zum Reden

 

Gemeinsame Zeiten

 

Ente

 

Die Andere

 

Gewinner

 

E-Mail

 

Rotkehlchen

 

Mut

 

Seeadler

 

Schaufenster

 

An der Schleuse

 

Der Profi

 

Fundsache

 

Nur ein Schlager

 

Spätes Glück

 

Spaziergang

 

Roter Rucksack

 

Rhythmus

 

Amsel

 

Turm

 

Konstante

 

Rasieren

 

Turniersieg

 

Die Graue

 

Sonntagslauf

 

Warten

 

Indianer

 

Der Alte

 

Philosophie

 

Fensterblick

 

Abseits

 

Regen

 

Trautes Heim

Vertrauen

 

Ich wollte den Hörer schon auflegen, als endlich abgenommen wurde.

„Ich habe ihn.“

Im Hintergrund war das Lachen einer Frau zu hören.

„Ich komme.“

Das Lachen hatte noch auf die Worte meines Gesprächspartners abgefärbt. Ich legte auf. Eine halbe Stunde später sah ich ihn am Treffpunkt warten. Ich hielt neben ihm und ließ ihn einsteigen.

„Was hast du deiner Frau gesagt?“

„Anruf von der Firma. Du weißt schon, Telekommunikation.“

„Demnach glaubt sie noch immer, dass du Servicetechniker bist.“

„Ja, sind wir das nicht beide?“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Vielleicht solltest du ihr reinen Wein einschenken. Wenn sie dein Geheimnis zufällig herausfindet, ist der Teufel los.“

„Soll ich ihr sagen, dass ich als Auftragskiller arbeite? Wie bitte stellst du dir das vor?“

„Ich könnte nur mit einer Frau verheiratet sein, der ich voll vertrauen kann, was bedeutet, meine Geheimnisse mit ihr zu teilen.“

„Das sagt der, der Frauen öfter wechselt als Hemden.“

Ich erwiderte nichts darauf. Die Antwort lag auf der Hand.

 

Wir fuhren zu einem einsamen Gehöft im Wald und stiegen aus. Ein Vogel schrie. Ich zuckte zusammen.

„Was war das?“, fragte ich.

„Nur ein Eichelhäher.“

Nachdem der Ruf des Vogels verklungen war, breitete sich eine Stille aus, die mich als Städter immer etwas nervös machte.

„Wo ist er?“

„Im Nebengebäude. Für dich verschnürt wie ein Weihnachtspaket.“

Ich ging voran, öffnete das Tor und ließ ihm den Vortritt. Ich wusste ja, was er finden würde.

Im Halbdunkel gewahrte er einen alten Volvo, um den er sich vorsichtig herum tastete.

„Hier ist niemand!“

„Doch. Jetzt schon.“

Die Kugel traf ihn zwischen die Augen. Der Knall meiner schallgedämmten Waffe verlor sich im Wald. Er kam mir natürlicher vor als der Ruf des Eichelhähers. Als wieder Stille eingekehrt war, ging ich zu meinem Wagen und fuhr zurück in die Stadt.

 

Sie öffnete die Tür, kaum dass ich geklingelt hatte.

„Sie wünschen?“

„Frau Moberg, ich bin Ingvar Borglund und habe den Auftrag, Ihren Kabelanschluss zu reparieren.“

Ich hielt ihr den Auftrag hin. Ungläubig nahm sie ihn entgegen. „Mein Mann ist doch Servicetechniker“, murmelte sie vor sich hin. Mit der linken Hand stieß ich ihr die Einwegspritze in den Hals. Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und sank mir augenblicklich in die Arme. Bevor ich sie auf dem Boden ablegte, schloss ich die Tür mit einem wohldosierten Fußschwung. Das Gift hatte seine Arbeit getan. Jetzt hatte ich Zeit, sie in aller Ruhe zu betrachten. Sie sah aus wie Schneewittchen, doch hatten alle Zwerge der Welt nicht die Macht, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Egal, ihr Prinz war auch schon tot.

Ich zückte mein Smartphone und sprach auf die Mailbox: „Störung beseitigt.“

Urlaub

 

Haralds Frau Sybille plante den gemeinsamen Urlaub mit ihrer Freundin ein Jahr im Voraus. Es sollte eine Woche nach Spanien gehen. Harald unterstützte sie in ihrem Vorhaben nicht ganz uneigennützig, wie er wusste, denn ohne seine Frau konnte die Zeit auch für ihn abenteuerlich werden.

Er stellte eine Liste der Dinge zusammen, die er während ihrer Abwesenheit unternehmen wollte. Ganz oben stand Heiko, der Name seines Freundes, gefolgt von Motorradfahren und einem Trip zur Ostsee. Ansonsten wollte er nur faul sein.

Der Urlaub seiner Frau rückte heran, als sein Freund absagte. Heiko musste für einen erkrankten Kollegen einspringen und bekam nicht frei. Die kurzfristige Absage warf den Plan, eine gemeinsame Tour zu den Stätten ihrer Jugend zu unternehmen, über den Haufen. Allein würde es keinen Spaß machen, entschied Harald. Schließlich begann der Urlaub.

Der erste Tag seines unbeschwerten Daseins war unspektakulär. Er hatte an seinem Motorrad herumgebastelt und anschließend eine kleine Strecke zurückgelegt. Abends saß er vor dem Fernseher und trank ein paar Biere mehr, als ihm Sybille erlaubt hätte. Er hörte noch, wie sich die Amsel in den Schlaf schimpfte und ging bald darauf auch zur Nachtruhe über.

Um 5.00 Uhr am Morgen schien ihm die Sonne direkt ins Gesicht und er erwachte. Am Abend zuvor hatte er vergessen, die Jalousie am Dachflächenfenster herunterzuziehen. Mürrisch stand er auf, verdunkelte das Zimmer, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Er wälzte sich nur noch von einer Seite auf die andere. Als er endlich aufstand, war der Vormittag vorbei.

Er machte sich Frühstück und bastelte danach wieder an seiner Maschine herum. Da das Wetter sommerlich schön war, schwang er sich auf das Bike und fuhr drei Stunden ziellos durch die Gegend.

Am nächsten Morgen hatte ihn sein Elan verlassen. Niemand war im Haus und diese ungewohnte Situation behagte ihm nicht. Manche Nächte hatte er sich bei Sybille beschwert, dass sie ihn im Schlaf angestoßen hatte, doch jetzt alleine im Bett zu liegen, fühlte sich auch nicht richtig an. Er würde, wer weiß was dafür geben, wenn er seiner Frau mit der Hand über den Rücken streichen könnte, eine Handlung, die ihm sonst nicht mal im Traum einfallen würde. War das Einsamkeit?

Harald zuckte die Schultern und konnte sich nicht entschließen, zur Ostsee zu fahren. Er stöberte im Schuppen herum, als suchte er nach Arbeit. Schließlich fuhr er zum Baumarkt, um ein paar Bretter und Farbe zu kaufen. Wieder daheim baute er seiner Frau ein Regal, das sie schon lange haben wollte, nur dass er nicht mehr wusste, wofür. Nachdem er zwei Tage mit dem Anfertigen des Regals beschäftigt war, verbrachte er die restlichen träge im Liegestuhl. Sein Motorrad stand vergessen in der Garage und auch der Ostseetrip war in weite Ferne gerückt. Faul in der Sonne liegen konnte er auch hier im Garten.

Schloss er seine Augen, malte das Sonnenlicht bunte Kreise auf seine Lider, die zu Rädern seines Motorrades wurden, mit dem er sich elegant in die Kurven legte. In seiner Fantasie sah er sich in der Ostsee baden und Frauen, die ihm bedeutungsvolle Blicke zu warfen.

Harald konnte es kaum erwarten, seine Frau vom Flughafen abzuholen. Sybille war braun gebrannt. Zuerst lief er ihr entgegen, verlangsamte dann seine Schritte, weil er ja supertolle Tage verbracht hatte und die Wiedersehensfreude dementsprechend nur angemessen ausfallen durfte. Sie gaben sich einen flüchtigen Kuss. Harald konnte nicht anders und musste angeben: „Ich habe dir endlich dein Regal gebaut.“

„Welches Regal, mein Schatz?“

Sybille sah ihn erstaunt an. Harald war wieder im Alltag angekommen und irgendwie war er froh darüber.

Panne

 

Sie stand neben ihrem Auto am Straßenrand und winkte. Das hatte ich in letzter Zeit kaum noch gesehen, doch hier in der Prignitz gab es Funklöcher, so groß wie der Grand Canyon. Ich gab mir einen Ruck und hielt an.

„Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie möchten.“

„Ja, danke. Sie können mich in Putlitz an der Tankstelle absetzen.“

Ich beugte mich hinüber und öffnete ihr die Beifahrertür. Sie holte sich ihre Handtasche aus dem Auto, schloss ab und setzte sich neben mich.

Kaum hatte sie die Tür geschlossen, begann sie zu erzählen: „Ich war zum vierzigjährigen Abi-Jubiläum hier ganz in der Nähe. Ich bin als Letzte vom Hof gefahren und natürlich hat mein Auto eine Panne und keiner weit und breit, der mir helfen kann.“

Sie redete wie ein junges Mädchen, schnell und sprunghaft, ohne Luft zu holen, doch musste sie fast 60 Jahre alt sein.

„Stimmt nicht, Sie haben mich ja mitgenommen. Wissen Sie, nach all den Jahren habe ich einige Mitschüler jetzt zum ersten Mal wieder gesehen. Tja, ich kann nicht sagen, dass sich alle gut gehalten haben. Einige Herren schieben schon einen mächtigen Bauch vor sich her und manche Frauen meinen Make-up hilft, sich jung zu halten.“

Ich sah zu ihr hinüber. Sie lächelte und musste keine Sorge haben, dass ihr die Schminke wie alter Putz vom Gesicht blätterte. Ihr Gesicht stellte die Falten, die das Leben hineingeschrieben hatte, offen zur Schau. Ungekünstelt.

„Und trotz dieser Äußerlichkeiten habe ich mehr Gemeinsamkeiten zwischen mir und meinen ehemaligen Mitschülern entdeckt als zwischen mir und meinem Mann. Ich bin jetzt 30 Jahre verheiratet und war mit den Ehemaligen von der neunten bis zur zwölften Klasse zusammen. Wie ist so etwas möglich?“

„Sie unterliegen einem Trugschluss. Sie sehen nur die Schüler von damals in der Hülle der Erwachsenen und versuchen, Ihre Eindrücke zu synchronisieren. Oder die Jugendzeit prägt uns doch stärker, als wir annehmen.“

Sie lachte und sagte: „Sie suchen für mich nach Ausreden, charmant. Eigentlich meinten Sie, dass ich mir meinen Ehemann hätte besser wählen sollen. Doch kennen Sie mich nicht gut genug, so etwas unverblümt zu äußern.“

Ich wollte etwas erwidern, doch sie schnitt mir das Wort ab.

„Halten Sie den Mund und achten Sie auf die Straße. Sie sehen ertappt aus.“

Ich gehorchte und sie schwieg zum ersten Mal, seit sie zu mir ins Auto gestiegen war.

Dieses Schweigen hielt an, bis ich den Blinker setzte, um zur Tankstelle abzubiegen, wie sie es gewünscht hatte. Doch plötzlich rief sie: „Fahren Sie weiter, ich kenne ein nettes Café. Haben Sie Zeit?“

Sie sah mich an.

„Natürlich“, rief sie und beantwortete ihre Frage gleich selbst.

Hinweise

 

Lennart Borglund war Privatdetektiv, der sein Geld hauptsächlich durch Ermittlungen in Scheidungsfällen verdiente. Frauen in mittlerem Alter suchten ihn am häufigsten auf, weil sie befürchteten, dass ihr Mann mit einer Jüngeren zusammen war. Jede dieser Frauen hielt ihre Situation für etwas Besonderes und Borglund hatte einfach nicht den Mut, ihnen zu sagen, dass sie so einmalig waren wie Sandkörner am Badestrand.

Manchen seiner Klienten sah er die Angst vor der Wahrheit an, die er bald herausfinden würde, andere hingegen wollten sich in ihrer Gewissheit bestätigt sehen, betrogen zu werden. Borglund nahm ihr Geld und machte sich an die Arbeit. Kannte man einen Fall, kannte man alle. Das war sein Leitspruch. Lennart Borglunds Leben bestand aus Routine.

Vor zwanzig Jahren hatte er geheiratet und schnell feststellen müssen, dass seine Ehe nicht funktionierte. Er hatte seine Frau im Verdacht, eine Affäre zu haben und musste sich Klarheit darüber verschaffen. Borglund verfügte nicht über die Mittel, einen Privatdetektiv zu engagieren, weshalb er Urlaub einreichte und in eigener Sache tätig wurde. Seiner Frau hatte er nichts von dem Urlaub erzählt. Borglund verließ jeden Morgen zur gewohnten Zeit das Haus und während sie annahm, er ginge zur Arbeit, legte er sich stattdessen auf die Lauer. Er fand die Nachforschungen aufregend und kündigte nach seiner Scheidung den Job, um Privatermittler zu werden. Eine Fehlentscheidung, wie Borglund jetzt wusste.

Die Paare, die er jetzt verfolgte, benahmen sich arglos. Sie trafen sich während der Mittagspause und fuhren zu dem einen oder anderen nach Hause, um in die Kiste zu steigen. Borglund gelang manchmal ein vielsagender Schnappschuss durch ein Fenster, doch oft waren es die kleinen Gesten der Zuneigung, die er im Bild festhielt. Wenn er dann seine Ausbeute zeigte, lösten die eindeutigen Szenen Wut und Bestürzung aus, während die anderen die Betroffenen traurig stimmten, weil sie sich zu erinnern suchten, wann ihnen diese Aufmerksamkeiten zum letzten Mal zuteilwurden.

Borglund hatte im Laufe der Jahre gelernt, seine geschäftlichen Angelegenheiten von seinen privaten fernzuhalten, weil er glaubte, so zu verhindern, dass das Unglück seiner Klienten auf ihn überschwappte. So manches Mal musste er sich anhören, welch schmutzigem Job er doch nachginge und ob er sich am Unglück seiner Auftraggeber weiden würde wie ein Geier an Aas. Als Überbringer schlechter Nachrichten musste er damit rechen, so angegangen zu werden, denn den Überbringer zu bestrafen, hatte schon eine sehr lange Tradition.

Als Borglund seine Idee mit den Hinweisen in die Tat umsetzte, wurde die Arbeit interessanter. Er hatte kleine Zettel geschrieben, auf denen stand: Sie werden beschattet oder Ihre Frau weiß Bescheid. Borglund steckte die Kärtchen hinter die Scheibenwischer der Autos seiner Zielpersonen und beobachtete die Szene aus sicherer Entfernung.

Doch wenn die Paare ein Restaurant besuchten, verließ er seine Deckung. Borglund ging dann an ihrem Tisch vorbei und ließ ein Kärtchen fallen, wofür er sich extra seine Hosentasche aufgetrennt hatte. 

Einmal kam es vor, dass die Zielperson hinter ihm herlief und ihm sein Kärtchen zurückgab: „Das haben Sie verloren.“

Borglund griff nach dem Kärtchen und las so laut vor, dass ihn der Mann verstehen konnte: „Ihre Frau weiß Bescheid.“

Dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Ich bin nicht verheiratet. Das ist bestimmt für Sie.“

Er gab das Kärtchen zurück und erfreute sich an der Röte, die das Gesicht des Mannes überzog.

Allein das Verteilen der Zettel war spannend, wohingegen die Reaktionen der Betroffenen ihn meist erheiterten. Diese verschämten Blicke, das überstürzte Bezahlen, ohne etwas gegessen zu haben oder der leise, verstohlene Abschied.

Einige Männer würden die Kärtchen als Warnung betrachten, ihr ausschweifendes Leben beenden und zu ihren Frauen zurückkehren. Doch Borglund machte sich keine Illusionen darüber, inwieweit eine gescheiterte Ehe durch läppische Hinweiskärtchen gekittet werden konnte. Borglund hatte nur eine Methode gefunden, wieder mehr Freude an der Tätigkeit zu haben, die den größten Teil seines Tages ausfüllte, denn darauf kam es schließlich an.

Golfen

 

Er saß am Frühstückstisch und hörte, wie die Regentropfen sanft auf das Dach fielen. Vier Tage hatte es nicht geregnet. Er aß in Ruhe zu Ende. Es gab keinen Grund, in Hektik zu verfallen. Der Regen würde den ganzen Tag andauern, wenn nicht gar die ganze Woche.

Als er das Frühstück beendet hatte, erhob er sich schwerfällig und räumte sein Geschirr ab. Anschließend zog er seine alte, vom vielen Tragen verschlissene Regenjacke an, setzte sich eine Mütze auf, die seine wenigen ergrauten Haare bedeckte und stieg in die Gummistiefel. Im Flur zog er einen Golfschläger aus einer der beiden an der Wand lehnenden Taschen und steckte ein paar Bälle in seine Jackentasche. Als er vor die Tür trat, fiel der Regen in dünnen Fäden senkrecht hinab. Er ließ einen Ball auf den Rasen fallen, stellte sich breitbeinig davor und schwang den Schläger durch, ohne den Ball zu schlagen. Das tat er einige Male. Allmählich stellte sich das Gefühl für den Schläger ein. Das war immer wieder ein besonderer Moment. Zuerst war der Schläger nur ein Stück Metall und eine künstliche Verlängerung seines Armes, doch nach ein wenig Übung wurden sein Körper und der Schläger eins.

Er nahm Maß. Der Schläger sauste durch die Luft, traf den kleinen weißen Ball und beförderte ihn in den grauen Himmel. Mit seinen Blicken verfolgte er den Ball so lange, bis er hinter dem Schleier aus langen Fäden verschwand. Tränen rannen ihm über die Wangen.

Früher war er zusammen mit seiner Frau zum nahe gelegenen Golfplatz gefahren. Sie war der echte Champion gewesen, gegen den er keine Chance gehabt hatte und er musste ihre spöttischen Kommentare über sich ergehen lassen.

Er legte sich einen neuen Ball zurecht, doch da er durch den Tränenschleier alles verschwommen wahrnahm, ging der Schlag daneben. Das störte ihn nicht weiter. Bald schon würde er sich an die neuen Bedingungen gewöhnt haben und wieder treffsicher abschlagen.

Mochten die Leute im Dorf über ihn reden, was sie wollten. Über den Spinner, der nur bei Regen Golf spielte. Das war ihm egal.

Nicht egal war ihm, dass die Leute seine Tränen sehen konnten. Diese Tränen gingen sie nichts an.

Sonntagsessen

 

Die beiden Frauen betraten das Restaurant, sahen sich um und gingen bedächtig, aber zielgerichtet auf einen Tisch zu, während sie ununterbrochen redeten. Es hätten Schwestern sein können, so ähnlich sahen sie sich. Vielleicht ließ ich mich auch nur durch die Garderobe, die weißen Haare und das biblische Alter täuschen.

Der Kellner kam an ihren Tisch, räumte die Reserviertschilder, die für den Abend vorsorglich platziert worden waren, ab und reichte ihnen die Speisekarte.

Ich machte meine Frau auf die beiden aufmerksam. Sie sah kurz hinüber, konnte nichts Bemerkenswertes entdecken und widmete sich wieder ihrer Vorspeise. So behielt ich für mich, dass mir die Unterhaltung der beiden nicht entgangen war, in der es um ein ungeheures Vorkommnis ging. Sie waren im ersten Restaurant, das sie zum Speisen aufgesucht hatten, abgewiesen worden, weil dort eine geschlossene Gesellschaft weilte. Ihr Unmut richtete sich vor allem gegen den Umstand, kein Schild am Eingang des Restaurants mit einem entsprechenden Hinweis vorgefunden zu haben. Ihren Stimmen war immer noch die Empörung darüber anzuhören. Ich konnte mir vorstellen, dass es für mich auch kein Spaß wäre, im hohen Alter zur nächsten Gaststätte geschickt zu werden.

Nachdem ich meine Vorspeise gegessen hatte, sah ich wieder zu den beiden hinüber. Der Kellner brachte ihnen die Getränke, stellte ein Körbchen mit Brot und ein Schälchen mit Oliven ab, nahm ihre Bestellung entgegen und verschwand.

Gleich darauf wurden uns die Hauptgerichte serviert und ich widmete mich ganz dem Essen. Der Kellner, der nochmals an unseren Tisch kam, um sich zu vergewissern, ob alles zu unserer Zufriedenheit wäre, wurde auf dem Weg zurück in die Küche von einer der beiden Damen herangewunken. Sie fragte ihn unverblümt, ob es mit dem Essen nicht schneller gehen würde, sie seien schließlich am Verhungern. Das Gesicht des Kellners versteinerte für einen Moment, fand jedoch gleich zu seiner Professionalität zurück, was sich in einem Lächeln äußerte. Der Mann antwortete, was schnell, schnell ginge, sei selten gut. Als er sich wieder der Küche zuwandte, fiel ihm das Lächeln aus dem Gesicht. Ich bezweifelte, dass diese Aktion den beiden helfen würde, ihr Essen schneller zu bekommen.

Die Frauen waren in einem Alter, das durch Gelassenheit gekennzeichnet sein sollte und nicht durch Ungeduld. Vielleicht war diese Ungeduld dafür verantwortlich, dass heute nur zwei Frauen und nicht zwei Paare am Tisch saßen.

Augenblicklich dachte ich an meine Großmutter, die ich mir als Dritte im Bunde gut vorstellen konnte. Sie hatte es immer wieder vermocht, ihren Mann zur Verzweiflung zu treiben, weil alles, was er tat, erstens zu lange dauerte und zweitens nicht gut genug war. Nach den Worten meiner Großmutter musste ihr Mann der totale Versager gewesen sein, was, wenn ich mich recht erinnerte, überhaupt nicht zutraf. Wie er an diese Frau geraten war, hatte ich ihn nicht zu fragen gewagt, doch eines Tages bekannte er mir gegenüber, dass er dieses Leben nicht mehr aushalte. Ich hatte gedacht, er wollte sich von seiner Frau trennen, was er bald darauf auch tat, nur drastischer als erwartet: Er starb. 

Das hielt meine Großmutter nicht davon ab, weiterhin auf ihm herum zu hacken. Schließlich vermochte sie nicht mehr, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden, schimpfte auf alles und jeden, bis sie als verwirrtes Gespenst endlich ihrem Mann folgte.

Eine Weile lang hatte ich das Geschehen an dem anderen Tisch nicht weiter verfolgt. Als wir unseren Espresso tranken, erhoben sich die beiden Alten umständlich. Sie wirkten wie die Freundlichkeit selbst und verließen trippelnd das Restaurant.

Ich sollte damit aufhören, meine Ängste auf andere zu projizieren. Die beiden Alten waren bestimmt harmlos. Mich beunruhigte nur der Gedanke, dass der Charakter meiner Frau dem meiner Großmutter immer ähnlicher wurde.

Kokon

 

George bog in die Auffahrt zu seinem Haus ein und wäre beinahe über das Fahrrad seines Sohnes gefahren. Er trat abrupt auf die Bremse. Wie oft hatte er Doug gesagt, er solle das Fahrrad nicht auf dem Weg liegen lassen. Was hatte es bewirkt? Nichts! Er musste seinem Sohn ins Gewissen reden. Mit seinen sieben Jahren konnte er sich nicht wie ein verantwortungsloses Kleinkind benehmen.

George betrat das Haus und wurde, wie immer von Janet, seiner Frau, begrüßt.

„Wie war dein Tag, Schatz?“

„Gut, wie immer.“

Dann wartete er auf ihren Kuss und ging sich umziehen. Das Essen dampfte schon auf dem Tisch, als er sich zu seiner Familie setzte. George sah zu Doug hinüber, strich ihm über den Kopf und zerzauste sein Haar. Plötzlich fand er es nicht mehr wichtig, seinem Sohn eine Standpauke zu halten. Gleichgültigkeit erfasste ihn und er wollte nur noch seine Ruhe haben. Auch das saftige Steak, das ihm Janet aufgelegt hatte, wusste er nicht zu würdigen.

Nach dem Essen ging er wie immer nach draußen, um nach dem Rechten zu sehen. Warum stand sein Ford noch in der Auffahrt? Dann erst sah er das kleine Fahrrad davor liegen, zog es unter dem Auto hervor und stellte es in die Garage. Seinen Wagen ließ er draußen stehen. George ging ins Haus zurück und beobachtete Janet beim Einräumen des Geschirrspülers. Er gab ihr einen liebevollen Klaps.

„Das Hähnchen war ganz ausgezeichnet.“

„Oh, wenn meine Steaks wie Hähnchen geschmeckt haben, bin ich wohl die miserabelste Köchin der Welt.“

Ein Lächeln breitete sich auf Georges Gesicht aus. Er schätzte den Humor seiner Frau.

 

„Pass doch auf, Dad.“

Der von Doug geworfene Ball flog an seinem Vater vorbei. George hatte ihn nicht wie zuvor gefangen, sondern einfach nur unbeteiligt dagestanden.

„Entschuldige Doug, ich habe geträumt.“

George lief dem Ball sogleich hinterher und warf ihn wieder seinem Sohn zu. Der Aussetzer hatte nur eine Sekunde gedauert und sich so angefühlt, als ob er in Watte gepackt worden wäre: Die Geräusche klangen gedämpfter, das Licht schien matter, die Bewegungen verliefen langsamer.

Die beiden wechselten noch ein paar Bälle, bevor George sich in den Liegestuhl setzte und dem Spiel des Windes in den Bäumen zu sah. Er döste ein und wurde durch ein sanftes Rütteln geweckt.

„Das Essen ist fertig. Mach dich frisch.“

George sah seine Frau wie eine Fremde an, bevor ihre Worte zu ihm durchdrangen.

 

Der Wagen hielt vor der Garage. George saß im Auto und rührte sich nicht. Er fühlte, wie sich der Kokon aus Watte um ihn schloss und vor der Welt abschirmte. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dann hörte er ein Klopfen an der Seitenscheibe und sah auf.

„Janet. Oh …“

Jetzt erst bemerkte George, dass der Motor noch lief. Er stellte ihn ab und stieg aus.

„Hallo Janet, was ist passiert?“

„Nichts. Ich frage mich nur, weshalb du nicht ins Haus kommst.“

„Tu ich doch, jetzt.“

„Seit zehn Minuten stehst du in der Auffahrt und rührst dich nicht. Was ist los mit dir, George? Bist du entlassen worden?“

„Nein Schatz, mach dir keine Sorgen. Ich bin nur von der Arbeit geschafft.“

George griff zu dieser müden Ausrede, weil er Janet den wahren Grund für sein seltsames Verhalten nicht nennen wollte. Nach all den guten Jahren hätte es sie verletzt, von der anderen Frau zu erfahren. George wusste nicht, wie er es so weit hatte kommen lassen. Jetzt saß er in der Zwickmühle, weil er nicht den Mut besaß, eine Entscheidung zu treffen. Er war ein Feigling. Das immerhin hatte er über sich erfahren. George zog sich wieder in seinen Kokon zurück. Vielleicht würde er dort eine ähnliche Metamorphose erfahren, wie jene, die aus einer Raupe einen Schmetterling macht.

Während des Regens

 

Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm Gestalten mit Tüchern vor den Gesichtern und breitkrempigen Hüten auf den Köpfen. Sie bewegen sich flink und verstecken sich hinter Bäumen, wenn Schüsse die Stille zerreißen. Anschließend feuern sie aus ihrer Deckung heraus auf den heranrückenden Gegner.

Er denkt, Cowboy und Indianer spielen sei schon längst überholt, bis er sich daran erinnert, ein Hinweisschild mit der Aufschrift High Chaparral gelesen zu haben. Auf der Ranch ist der Wilde Westen zu neuem Leben erwacht, und damit die lieben Kleinen auch alles nachspielen können, gibt es die entsprechende Ausrüstung zu kaufen.

Während er ihnen zusieht, muss er an seine Kindheit denken. Die Colts damals waren keine Kaufhausprodukte, sondern Marke Eigenbau. Nicht nur die Spielsachen haben sich seit jenen Kindertagen verändert.

Regen setzt ein und beendet das Wild-West-Spielen. Der Mann in der Hütte nimmt seine Regenjacke vom Haken. Die Jacke begleitet ihn schon zwanzig Jahre seines Lebens. Beide sind zusammen gealtert. Doch würde ein unvoreingenommener Betrachter denken, die Zeit hätte es mit der Jacke besser gemeint. Da sie noch immer regendicht ist, zieht er sie an und verlässt seinen trockenen Unterschlupf. Er begibt sich in Richtung Bootssteg, der verwaist in den See hineinragt. Am Ende des Stegs bleibt er stehen und betrachtet das Wasser. Die Regentropfen bilden konzentrische Kreise auf der sonst spiegelglatten Oberfläche. Der Mann kann die Ruhe fühlen.

Zehn Minuten steht er bewegungslos im Regen. Das anschwellende Geräusch eines Motorbootes lässt ihn wieder zu sich kommen. Als er den Unruhestifter erblickt, hebt er bedächtig den rechten Arm und winkt. Nach weiteren fünf Minuten macht eine junge Frau das Boot mit sicheren Handgriffen fest. Er streckt ihr hilfreich seine Hand entgegen, doch sie lehnt das Angebot ab. Mit einem Satz ist sie auf dem Steg. Der Mann und die Frau stehen sich gegenüber und schweigen. Noch eine weitere Minute verstreicht, ehe sie aus ihrer Trance erwachen. Zusammen gehen sie zur Hütte hinauf.

 

Mit geschmeidigen Bewegungen entledigen sie sich ihrer Sachen. Bald darauf ist die Welt da draußen vergessen. Die Fensterscheiben beschlagen.

 

Zum Regen hat sich jetzt noch Wind gesellt. Die Ruhe ist aus der Natur entschwunden. Unrhythmisch schlagen kleine Wellen an den Bootskörper. Dem Mann und der Frau fällt das nicht weiter auf. Am Bootssteg haben beide nur Augen für sich. Erst beim Einsteigen bemerkt sie den Wellengang und nimmt diesmal die angebotene Hilfe an. Er muss ihre Hand wohl etwas zu lange gehalten haben, denn die Frau entzieht sich ruckartig seinem Griff. Anschließend löst sie behände die Leinen, stößt das Boot ab und wirft den Außenborder an. Der Mann bleibt solange auf dem Steg stehen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Dann begibt er sich wieder zur Hütte hinauf. Unterwegs laufen ihm Gestalten mit Tüchern vor den Gesichtern und breitkrempigen Hüten auf den Köpfen über den Weg. Der Regen hat aufgehört. 

Der Fehler

 

Das Ruderboot dümpelte im ruhigen Wasser vor sich hin. Da es keinen Steg zum Anlegen gab, sorgte ein rostiger Anker dafür, dass es nicht abtrieb. Er saß am steinigen Ufer des Sees und beobachtete die sich spiegelnden Lichtreflexe an der Bordwand, die von der Hand eines Kalligrafen stammen könnten. Er verfolgte das Schauspiel, doch konnte es Anne nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Es war ein Fehler gewesen, zusammen hierher zu fahren. Diese Hütte am See war sein Rückzugsgebiet, das bisher noch keine Frau betreten hatte. Die Hütte stand für Freiheit und Unabhängigkeit. Hier gab es Erinnerungen an einsame Streifzüge durch die Natur, an Fische, die am offenen Feuer gebraten wurden oder besinnliche Leseabende am Kamin. Hier gab es weder Radio noch Fernsehen und schon gar keinen Computer. Die Hütte war sein Ort, wenn die Zivilisation drohte, ihn zu erschlagen.

Was hatte ihn dazu gebracht, hier mit Anne das Wochenende zu verbringen? Jetzt war der Ort kein Fluchtpunkt mehr. Wann immer es ihn zum See ziehen mochte, würde er nicht die Stille der Natur finden, sondern Anne vermissen. Wann war er zu einem Narr geworden? Seine Gedanken waren so wirr und flüchtig wie die Lichtmuster an der Bordwand, die er inzwischen wie hypnotisiert anstarrte.

Plötzlich wurde sein Nacken sanft berührt. Anne, dachte er und schloss seine Augen. Ruhe zog in seinem Kopf ein.

 

Grau und schwer lastete der Himmel über dem See. Kein Lüftchen kräuselte die Wasseroberfläche. Er ging barfuß im knöcheltiefen Wasser am Uferrand entlang. Als er die Hütte verließ, lag Janina quer im Bett. Ihr langes Haar versuchte vergeblich, ihren üppigen Körper zu bedecken und ließ ihn an Gemälde von Renoir denken.

Eine Hütte in der Wildnis entsprach nicht Janinas Geschmack. Sie stand auf Komfort. Doch als er ihr sagte, die Hütte hätte noch kein weibliches Wesen betreten, war sie regelrecht erpicht darauf, hierher zu fahren. Nun gut, er hatte sie angelogen und Annes häufige Aufenthalte verschwiegen. Doch wer wollte schon die Nummer zwei sein. Das war wie bei den Mondlandungen. Jeder kannte den Namen des Mannes, der den Himmelskörper als erster betreten hatte.

Das Schilf am Ufer versperrte ihm den Weg. Er drehte sich zur Hütte um und sah Janina lächelnd auf sich zukommen. An ihrem Lächeln konnte er sich nicht erfreuen. Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Anne wurden wieder wach. Er konstatierte: Zu früh für eine neue Frau.

 

Es regnete schon seit Stunden. Die schweren Tropfen schlugen auf das Dach und schienen dort zu explodieren. Sie hatten sich nach der anstrengenden Fahrt erschöpft hingelegt, doch Übermüdung und das Geprassel auf dem Dach hinderten beide am Einschlafen. Christina erzählte die ganze Zeit und er hörte nicht zu. Sein Instinkt musste ihn verlassen haben. Das Wochenende hatte gerade erst begonnen und schon langweilte er sich mit ihr. Frustriert erhob er sich vom Bett, ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein zurück. Nachdem sie die halbe Flasche geleert hatten, wurde Christina noch gesprächiger, sodass er keine andere Möglichkeit sah, als ihre Lippen durch die seinen zu verschließen. Christina erwies sich als willige Mitspielerin. Nachdem beide erschöpft aufs Bett gesunken waren, schliefen sie sogleich ein. 

Nach einer Weile erwachte er und fand sich allein im Bett. Christina schlenderte in ihren wetterfesten Sachen vor der Hütte herum. Er zog sich an und ging zu ihr hinaus.

„Du hast im Schlaf von einer Anne geredet. Wer ist das?“

Einen Moment lang sah er Christina verwirrt an. Er suchte nach einer Antwort, doch Christina kam ihm zuvor: „Ich will es gar nicht wissen.“

Sie neckte ihn mit einem Kuss und lief dem See entgegen. Er sah ihr hinterher. Ihre sorglose Art gefiel ihm.

Erstsemester

 

Professor Frank Hillmer verfolgte den Vortrag der Studentin nicht mehr. Er kannte das Buch, aus dem sie wortwörtlich abgeschrieben hatte, beinahe auswendig. Bei den Erstsemestern hatte sich bisher noch keine hervorgetan und die jetzt Referierende konnte er auch von seiner Liste streichen. Dabei gefiel sie ihm ausnehmend gut. Schade. Kriterien, denen die jungen Studentinnen genügen mussten, waren echtes Interesse an seinem Fach und ein angenehmes Äußeres. Auf gutes Aussehen allein legte er keinen Wert. Eine schöne Frau hatte er zu Hause.

Er ließ seinen Blick über die Seminarteilnehmer schweifen und bemühte sich, wieder dem Vortrag zu folgen.

„Das Schatzhaus der Athener in Delphi wurde entweder in dem Zeitraum von 510 bis 500 v. Chr. oder aber nach 490 v. Chr. erbaut, wobei ich überzeugt bin, dass die von mir zuletzt genannte Terminierung die richtige ist.“

Hillmer unterbrach seine Studenten während eines Vortrages nur ungern, doch hier musste er nachhaken.

„Entschuldigung. Wie kommen Sie zu dieser Überzeugung?“

„Intuition!“

Die Antwort kam prompt. Das war mit Abstand das Dümmste, was er je gehört hatte. Eine Datierung nach persönlicher Eingebung vorzunehmen, vielleicht sogar vom Wetter abhängig zu machen, war selbst für ein Erstsemester ein starkes Stück.

„Nichts gegen Ihre Intuition Frau …“

„Nielson.“

„… Nielson, danke. Aber die Archäologie ist eine Wissenschaft und verlangt nach Fakten. Bitte fahren Sie fort.“

Während die Worte der Studentin wieder den Raum füllten, fand Hillmer ihren Vornamen in der Anwesenheitsliste: Rita. Er war sich bewusst, dass er sich für diese Rita zu interessieren begann. Die Vorstellung erheiterte ihn, doch wenn er sich für sie entschied, musste er seine üblichen Kriterien außer acht lassen. Hillmer würde mit ihr weniger über Archäologie plaudern als mit ihren Vorgängerinnen, was er schon jetzt bedauerte, da er es genoss, sein Wissen weiter zu geben.

Der Vortrag war zu Ende und wegen der fortgeschrittenen Zeit entließ er seine Studenten. Nur die Vortragende bat er kurz zu sich. Hillmer hatte sich entschieden.

„Rita, ich bin mir nicht sicher, ob aus Ihnen je eine gute Archäologin wird. Doch eines kann ich Ihnen versprechen: Ich mache eine Bessere aus Ihnen!“

„Danke Herr Hillmer, doch Archäologie ist nur mein Nebenfach. Sie müssen sich für mich nicht so ins Zeug legen. Entschuldigung, ich bin spät dran. Tschüss.“

Sie drehte sich um und ließ ihren Professor konsterniert zurück.

 

Gabriele Hillmer kam gegen 18.00 Uhr nach Hause. Ihr Mann saß auf der Couch, hielt ein Glas Rotwein in der Hand und prostete ihr zu. Die Flasche vor ihm auf dem Tisch war fast geleert. 

„Wie war dein Tag, Frank?“

Sie ging zu ihm hinüber und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Erstsemester“, stöhnte ihr Mann, „was willst du noch hören?“

Gabriele holte sich ebenfalls ein Glas und setzte sich zu ihm. Er schenkte ihr den Rest des Weines ein.

„Da hatte ich mehr Glück in meinem Lateinkurs. Ein Student hat mich mit ein paar Versen von Ovid überrascht. In fehlerfreiem Latein.“

Sie erwähnte nicht, das es sich bei den Versen um die Ars amatoria handelte. Marc, ihr Student, hatte jene Stelle im Ovid rezitiert, in der der Mann durch Selbstbewusstsein jede Frau zu erringen vermag. Auch eine, von der man glauben könne, sie wolle nicht, wird wollen. Diese Zeile schien auf sie gemünzt zu sein und hatte sich ihr eingeprägt. Gabriele glaubte nicht, dass Marc die Versauswahl zufällig getroffen hatte. Schon im letzten Seminar waren ihr seine Blicke aufgefallen, doch sie hatte damals nichts darauf gegeben. Bei dem Gedanken, welche Aufmerksamkeiten sie noch von Marc zu erwarten hatte, zeigte sich eine leichte Röte auf ihrem Gesicht.

Frank nahm das Leuchten seiner Frau nicht wahr.

---ENDE DER LESEPROBE---