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DDR, Herbst 1978. Jürgen beginnt ein Maschinenbaustudium in Magdeburg. Kaum in der Stadt angekommen, lernt er zwei Frauen näher kennen. Die eine ist seine Kommilitonin, die andere eine um 15 Jahre ältere Frau. Erstere verlobt, letztere verheiratet. In seiner Unerfahrenheit und Neugier lässt er sich mit beiden ein. Vor allem die Ältere, die ihn an Jeanne Moreau erinnert, fasziniert ihn und da sie wie auch er ihren Namen verschweigt, wird sie in seinen Gedanken zu Jeanne. Manuela ist Dozentin für Physik an der Hochschule in Magdeburg. Ihre Ehe existiert nur noch auf dem Papier, doch mit Rücksicht auf die Stellung ihres Mannes lässt sie sich nicht scheiden. Dann lernt sie einen Studenten kennen und tut Dinge, die sie sich nie zugetraut hätte. Ihre Traurigkeit, die den jungen Mann an Jeanne Moreau erinnert hat, verfliegt. Doch ihr Ehemann meldet sich zurück. Eine Geschichte, vier Personen, zwei Blickwinkel.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Reimon Nischt
Jeanne oder der Raum der Wünsche
Roman
Herausgegeben von:
www.bilderarche.de
© 2023 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf
Teil 1
Maschinenbauer
Mit dem Zimmerschlüssel in der Hand und meinem ganzen Gepäck schlich ich durch den Flur der ersten Etage des Wohnheims. Vor der Tür mit der Nummer 121 blieb ich stehen und wollte aufschließen, als von drinnen jemand rief es ist offen. Ich trat ein und lächelte meine Mitbewohner an.
„Jürgen“, sagte ich und begrüßte die beiden, die Michael und Günter hießen. Es war ein Zimmer für drei Personen und ich legte mein Gepäck auf dem nicht belegten Bett ab. Küche, Waschraum und Toilette waren schräg über den Flur zu erreichen und die Duschen im Keller untergebracht. Ich hatte einen Tisch zum Arbeiten, den ein vorgeschobener Stuhl daran hinderte, aus dem Zimmer zu laufen. Der Tisch hatte ein falsches Selbstbild. Er passte wie alle Einrichtungsgestände perfekt in mein neues Zuhause für die nächsten fünf Jahre. Wer wie ich nach eineinhalb Jahren Grundwehrdienst solch ein Zimmer belegen durfte, erkannte sofort, wie gut er es hatte.
„Woher kommst du?“, fragte Michael.
„Aus Pritzwalk“, antwortete ich beim Auspacken der Tasche. Ich wartete, dass er mir seinen Heimatort nannte, doch als er das nicht tat, insistierte ich nicht. Günter schwieg die ganze Zeit und starrte aus dem Zimmer. Er musste etwas sehen, das in der Zukunft lag, denn um uns herum standen nackte Betonbauten, die keinen Blick wert waren. Vielleicht war er von deren Hässlichkeit hypnotisiert.
Ich hatte mir die beiden nicht ausgesucht, doch nachdem ich meine Sachen ausgepackt hatte, wurde mir klar, dass ich in diesem Zimmer die Außenseiterrolle innehatte. Es machte mir nichts aus, solange ich in Ruhe arbeiten konnte.
Das erste Semester begann wenig spektakulär. Wir hatten uns in einem Seminarraum eingefunden und erfuhren, dass wir uns mit Schulstoffwiederholungen und kurzen schriftlichen Tests, durch die wir unsere Kenntnisse belegen sollten, herumschlagen mussten. Auf das darauf einsetzende Geraune erfolgte der Hinweis, dass einige Studenten, die drei Jahre Wehrdienst ableisteten, erst im November zu uns stoßen würden und um jenen das viele Nacharbeiten zu ersparen, ging es nicht gleich in die Vollen. Zu den 15 bereits anwesenden männlichen Studenten würden demnächst noch weitere sieben hinzukommen. Die drei weiblichen bildeten eine Gruppe, die trotz ihrer geringen Anzahl aus dem Pulk hervorstach. Mir gefiel die mit den dunklen Haaren, deren Augen in ähnlichem Farbton leuchteten und ihrem blassen Gesicht einen staunenden Ausdruck verliehen, der durch einen spöttischen Zug um den Mund abgemildert wurde.
Nach der Einweisung kannte ich ihren Namen und zwei Tage darauf bat sie mich, ihr beim Lösen der Mathe-Aufgaben zu helfen. Diese Einladung konnte nur mit dem ersten Mathe-Seminar zusammenhängen, in welchem ich die Nullstellen einer Funktion ermitteln sollte und dies zur Zufriedenheit des Seminarleiters fehlerfrei getan hatte.
Ich freute mich über Sybilles Angebot, kam zur verabredeten Zeit in den vierten Stock und klopfte an die Tür mit der Nummer 407. Sie rief Herein. Ich berat ein Zimmer für zwei Personen, das mit einem integrierten Bad aufwarten konnte und damit um einiges komfortabler ausgestattet war als meine Unterkunft.
„Hallo. Komm rein oder hast du Angst vor dem Zimmer?“
„Nein, es ist nur die Aura. Du hast dich schon wohnlich eingerichtet.“
„Ich mag keine Mönchszellen.“
Sybille winkte mich an den Tisch und ich nahm neben ihr Platz. Vor ihr lagen ein Mathe-Buch und ihre Vorlesungsmitschriften. Es wirkte wie eine Dekoration, die Studieren vortäuschte.
„Meine Mitbewohnerin ist noch unterwegs. Wir können ungestört arbeiten.“
Ich dachte, das wäre nun das Signal zu beginnen, doch Sybille plauderte weiter. Sie erzählte von ihrer Heimatstadt, von ihren Eltern und ihrem Bruder. Ich hörte zu, ohne mir etwas zu merken. Was ging mich ihre Familie an?
„Ich bin seit einem halben Jahr verlobt. Mein Verlobter studiert in Greifswald Medizin. Das ist ganz schön weit weg. Mal sehen, wie ich mit der räumlichen Trennung klar komme.“
Diese Mitteilung bremste mich aus und ich hoffte, dass sie es nicht bemerkt hatte.
„Habt ihr schon einen Hochzeitstermin?“
„Nein. Ich muss mich erst mal an das Verlobtsein gewöhnen. Das gehört in die Welt der Erwachsenen und ich weiß nicht, ob ich dort so bald heimisch werden möchte.“
„Jeder will unabhängig sein und seine eigenen Entscheidungen treffen. Du willst nur nicht wie deine Eltern werden. Niemand will das.“
Statt zu lachen, sah sie mich verschämt an.
„Werde ich noch unabhängig sein, wenn ich verheiratet bin?“
„Das wirst du wohl selber herausfinden müssen.“
„Tolle Antwort. Ich hoffe, du bist mir in Mathe eine größere Hilfe. Komm, lass uns anfangen.“
Ich half Sybille so gut ich konnte und erklärte ihr geduldig die Lösungswege, die sie schließlich auch anzuwenden verstand. Erst als sich ihre Mitbewohnerin zu uns gesellte, hörten wir mit dem Üben auf. Sie hieß Marion und wir machten uns miteinander bekannt.
„Du studierst Baumaschinentechnik, oder?“, fragte ich.
„Ja. Woher weißt du das?“
„Sybille ist eine Plaudertasche“, antwortete ich wenig charmant. Marion streckte sich auf ihrem Bett aus und sah uns an.
„Das ist mal sicher. Wir kannten uns kaum fünf Minuten, da hat sie mir bereits von ihrer Verlobung erzählt.“
„Hört auf damit, ich bin anwesend“, rief Sybille.
„Und bist du auch verlobt?“, fragte ich Marion, ohne auf Sybilles Bemerkung einzugehen.
„Nein, so eilig habe ich es nicht.“
„Abwarten“, sagte Sybille, „Bei dem hohen Jungenanteil fällst du bestimmt auf einen tumben Kerl herein. Manche Sachen fügen sich einfach. Könnte ich doch meine Zukunft auch so deutlich sehen.“
„Frag mich. Du lässt dich nach drei Jahren scheiden und suchst mit einem Kind an der Backe verzweifelt nach einem neuen Mann“, entgegnete Marion und die beiden gackerten gleichzeitig los.
„Ihr müsst mir sagen, wo die Stellen zum Lachen sind“, ging ich dazwischen. Offensichtlich war mir das Komische entgangen.
Von dem Tag an war ich ein gern gesehener Gast in Zimmer 407. Ich half Sybille weiterhin bei den Aufgaben, merkte jedoch, dass sie sich viel lieber mit mir unterhielt. Es hatte den Anschein, als wäre das Üben nur ein Vorwand, um Zeit mit mir zu verbringen.
Während meines dritten Besuchs beugte ich mich zu ihr hinunter, um sie auf etwas in den Unterlagen hinzuweisen, wobei sich unsere Gesichter nahekamen. Ich bemerkte, wie sie ihren Kopf langsam zur Seite drehte. Wir sahen uns in die Augen. Auf diese kurze Distanz erkannte ich die Farbmuster in ihrer Iris, deren Formen mich zu hypnotisieren drohten. Ich fühlte mich ihrem Blick nicht gewachsen und wusste die Botschaft, die er vermittelte, nicht zu enträtseln. Meine Unsicherheit bereitete ihr Freude, als hätte sie mich in einem Machtkampf besiegt. Danach suchte Sybille immer wieder nach Gelegenheiten, die Macht ihres Blickes auszuprobieren.
Kurz darauf hielt ich ihrem Blick zum ersten Mal stand. Sybille, die damit nicht gerechnet hatte, schlug verwirrt die Augen nieder und errötete. Ich spürte die Hitze ihres Errötens und ein Kribbeln breitete sich entlang meiner Wirbelsäule aus. Sybilles Reaktion war der Beweis, dass unser Spiel seine Unschuld verloren hatte. Es kam mir vor, als hätte ich sie verführt, wobei das schamhafte Niederschlagen ihrer Augen Zustimmung bekundete. Ohne jedweden körperlichen Kontakt waren wir intim geworden. Dieser Moment mochte nur flüchtig gewesen sein, trotzdem ließ er mich auf mehr hoffen. Gleichzeitig verstärkte er meine Unsicherheit, da ich nicht wusste, was von mir erwartet wurde. Sie war immerhin verlobt.
„Schluss mit Mathe, lass uns zur Mensa gehen.“
Sybille riss mich aus meinen Gedanken. Wir hatten die Zeit vergessen und waren spät dran. Es war ein schöner Spätsommertag und während wir auf dem Weg zum Mittagessen bummelten, eilten uns die meisten entgegen. Ich hielt Sybille die Tür auf und ein geschäftiger Lärm schlug uns entgegen. Den Grundton erzeugte ein Durcheinander von Stimmen, das von Geschirrgeklapper und Stühleschurren überlagert wurde. Jede Bahnhofsmitropa war gemütlicher. Wir fanden einen freien Tisch, legten unsere Sachen ab und gingen zum Tresen vor.
„Hast du die abschätzenden Blicke der männlichen Studenten bemerkt?“, fragte Sybille.
„Wenn ich hungrig bin, richtet sich mein Tun nur auf ein Ziel.“
„Klar. Das machen deine Kommilitonen auch. Sie visualisieren meinen Körper.“
„Das ist normales männliches Verhalten. Das liegt in unserer Natur. Dagegen bin ich machtlos. Hast du dich hier mal umgesehen, ob dir einer gefallen könnte?“
„Nein. Ich fühlte mich wie ein Delphin vor einem Schwarm Makrelen. Bei der großen Auswahl verliere ich die Übersicht.“
„Ich dachte du sagst, du wärst verlobt und hättest kein Interesse.“
„Verlobtsein ist keine Krankheit, die zu Erblindung führt.“
„Ich fürchte doch oder wie lässt sich sonst erklären, dass du hier keinen gut aussehenden Jungen findest?“
„Das muss ich auch nicht, ich bin schließlich verlobt.“
Was sollte das jetzt schon wieder bedeuten? Wollte sie damit unsere intensiven Blickkontakte vergessen machen?
2
Ich betrat das Café und sah mich nach einem freien Platz um. Der kleine Raum war gut besucht und ich wollte schon wieder gehen, als ich in der hintersten Ecke einen Tisch entdeckte, an dem nur eine Person saß.
„Ist hier noch frei?“, störte ich die Frau auf, die mich ansah, als hätte ich chinesisch gesprochen. Ich wiederholte meine Frage und sie nickte. Ich bedankte mich und nahm Platz.
Ich wartete auf die Bedienung. Als nichts geschah, hob ich den Arm, um mich bemerkbar zu machen. Vor mir stand kein Schild, das verkündete An diesem Tisch werden Sie nicht bedient, trotzdem verhielt es sich so.
„Wie sind Sie zu Ihrem Kaffee gekommen?“
„Wie bitte?“
„Ich wollte nur wissen, ob Sie bedient wurden oder den Kaffee selbst aufbrühen mussten?“
Sie hob den Arm. Die Bedienung flatterte an unseren Tisch.
„Haben Sie noch einen Wunsch?“
Ich sah die Frau an und wartete kurz, ob sie etwas bestellen wollte und ergriff dann die Initiative.
„Ja, ich nehme einen Assam-Tee und ein Stück Mohnkuchen, danke.“
Die Bedienung drehte sich um und ich hoffte, sie bald wieder zu sehen.
„Seit zehn Minuten versuche ich, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Können Sie mir beibringen, richtig zu winken?“
„An Ihrer Art zu winken, gibt es nichts auszusetzen. Es liegt an Ihrer Person.“
Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Ich würde nicht sagen, dass ich unter den Gästen negativ auffiele.
„Sind meine Haare zu lang oder trage ich die falschen Jeans?“
„Geben Sie sich mehr Mühe.“
„Sind Sie mit dem Leiter des Cafés befreundet?“
„Da kommen wir der Sache schon näher.“
„Sie sind hier Stammgast und Stammgäste werden prompt bedient?“
„Ganz begriffsstutzig sind Sie jedenfalls nicht. Student?“
„Ja, Maschinenbau. Was soll man hier sonst studieren?“
„Mathematik zum Beispiel. Doch Sie sehen nicht wie ein Mathematiker aus.“
„Ist das jetzt gut oder schlecht für mich?“
„Ich habe nicht vor, Sie zu verscheuchen. Entspannen Sie sich. Ein Mathematiker wäre das Problem wie folgt angegangen: Er hätte sich ohne zu fragen an den Tisch gesetzt und wäre nach exakt einer Minute Wartezeit zum Tresen gegangen. Dort hätte er für alle hörbar verkündet, dass er bereits seit zehn Minuten auf die Bedienung wartete.“
„Jetzt weiß ich endlich, was mir zum Mathematiker fehlt. Ich war so naiv zu glauben, man müsse Mathe verstehen. Dabei verhalte ich mich vollkommen falsch.“
„Und dieses Verhalten können Sie nicht erlernen.“
„Weil ich zu dumm bin?“
„Gewissermaßen. Maschinenbauer leben in der Wirklichkeit und Mathematiker in Welten, in denen es nicht um Wirklichkeit geht. Außerdem hätte dieser Auftritt nichts bewirkt, er wäre nur peinlich gewesen. Wie Sie richtig erkannt haben, muss man hier Stammgast sein.“
„Ich bin zum ersten Mal hier. Da ich Mohnkuchen mag, hat man mir dieses Café empfohlen. Wie kommt es, dass Sie so gut über das Verhalten von Mathematikern Bescheid wissen?“
„Ich könnte sagen, dass ich welche zu meinen Bekannten zähle, was durchaus stimmt, aber einfach nur langweilig wäre. Nein, ich bin einer spontanen Eingebung gefolgt.“
„Sie haben sich für mich diese kleine Episode ausgedacht?“
„Klingt das für Sie unglaubwürdig?“
„Dazu kenne ich Sie zu wenig. Ich komme mir wie in einem französischen Film vor, in Schwarz-Weiß gedreht und mit Jeanne Moreau in der Hauptrolle. Sie erinnern mich an sie. Es ist weniger Ihr Äußeres, obwohl Ihr Mund ebenfalls ausdrucksstark ist. Ich spüre bei Ihnen die gleiche Traurigkeit, die die Moreau in ihren Rollen zum Ausdruck bringt.“
Ein gewagter Vergleich, doch da die Unterhaltung mit dieser Frau ganz entspannt verlief, wollte ich etwas riskieren.
„Jetzt haben Sie sich verraten. Sie sind Schauspielschüler am hiesigen Theater und sollen das Improvisieren lernen. Von wegen Maschinenbaustudent.“
„Ich könnte Ihnen meinen Studentenausweis zeigen, nur finde ich, dass dies den Bann, unter dem wir stehen, zerstören würde.“
Sie lächelte kaum merklich. Der Zug um ihren Mund entspannte sich etwas. Ich hatte zu dick aufgetragen und war gerade noch einmal davon gekommen. Die herannahende Bedienung ließ uns schweigen. Mein Teeglas klapperte auf der Untertasse und wurde mir ebenso lieblos serviert wie der Kuchen. Ich tauchte den Teebeutel mit dem Löffel unter und sie rührte Ihren Kaffee um, der inzwischen schon kalt sein musste. Ein Ritual, bedeutungslos, wie unser Gespräch.
„Sie hätten sich einen neuen Kaffee bestellen sollen.“
„Nein. Der Kaffee schmeckt hier nicht. Ich rühre ihn nur um und betrachte abwesend das dunkle Gebräu. Dieses Verhalten zieht junge Männer an. Sie kommen zu mir an den Tisch und beginnen eine Unterhaltung. Doch sie wollen nur über sich reden. Ich lasse sie reden und verbleibe in meiner Traurigkeit.“
„Sie müssen sich mehr ins Zeug legen, wenn Sie mich loswerden wollen. Und im Übrigen finde ich, dass jeder versucht, sich in Gesprächen in den Vordergrund zu drängen. Daran ist nichts ungewöhnlich, es ist vielmehr Standard.“
„Gut möglich. Wir sind alle Selbstdarsteller und gieren nach Applaus. Doch was wirklich in uns vorgeht, wollen wir verbergen. Sie wissen nichts von mir und raten wild drauflos.“
„Wie sollte es auch anders sein? Und es macht Spaß. Mir scheint, Sie sind jemand, der versucht, Menschen in Schubladen zu stecken: Sie haben eine für Mathematiker, für angehende Ingenieure und sogar für Schauspieler.“
„Ich habe meine Erfahrungen gemacht und leider ist es so, dass sich die Leute ihre Schubladen selber aussuchen. Ich finde sie darin, weil ich die Lade öffne.“
„Diese Sichtweise ist einfach nur deprimierend. Ich sehe diese Schublade nicht für mich. Das wird auch so bleiben, da bin ich zuversichtlich.“
Ob das stimmte, wusste ich nicht. Ich war nur auf Widerspruch aus, doch sie schwieg und rührte wieder ihren Kaffee um.
„Jeanne Moreau verkörperte in den Filmen, die ich meine, verheiratete Frauen. Oft ist das Umfeld gutbürgerlich und die Probleme werden von einem Mantel aus guten Manieren kaschiert. Die Ausweglosigkeit des Scheiterns ist bereits vorgezeichnet, doch das Stadium der Bitternis liegt noch vor ihnen. Die Nacht von Antonioni beginnt sich blass am Nebel verhangenen Horizont abzuzeichnen.“
„Sie fangen an, wie mein Ehemann zu dozieren und das langweilt mich über alle Maßen. Sie haben keinen blassen Schimmer von Antonionis La Notte. Alles, was Sie noch nicht über das Leben wissen, können Sie dem Stuhl erzählen. Der bringt die Geduld auf, zu der ich nicht fähig bin.“
Sie stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden. Ich sah ihr nach. An der Art, wie sie durch den Raum schwebte, hatte sie bestimmt lange üben müssen oder sie war ein Naturtalent. Von meinem Platz aus konnte ich sehen, dass sich einige Männer nach ihr umdrehten. Sie vermittelte nicht nur mir das Gefühl, dass die Tische vor ihr zurückwichen.
Sie mochte Mitte 30 sein und was ihre Erfahrungen betraf, mir weit überlegen. Ihre unfreundliche Art hatte mich verletzt, doch ich war Student und bereit zu lernen. Ich blieb noch eine Weile sitzen und redete auf die Tasse mit dem kalten, schwarzen Kaffee ein. Ich führte sonst keine Gespräche mit Getränken, doch mich einem Stuhl zu erklären, wie sie es vorgeschlagen hatte, lehnte ich kategorisch ab. Darin war ich eigen.
Jeden einzelnen Tag der Woche dachte ich an meine Unbekannte, die ich inzwischen Jeanne nannte, da mir der Name gefiel. Dafür, dass wir uns nur in einem Café unterhalten hatten, fand ich meine Reaktion bemerkenswert. Da ich nichts von ihr wusste, sie aber unbedingt wiedersehen wollte, ging ich genau eine Woche später zur selben Zeit wieder zu dem Café. Als ich dort ankam, zögerte ich den Moment hinaus, die Tür zu öffnen. Mir war bange vor der Möglichkeit, sie nicht an ihrem Tisch sitzen zu sehen. Doch als ein Paar das Café verließ, trat ich ein und sah mich nach ihr um. Der kleine Raum war gut besucht und ich machte auf dem Absatz kehrt, als ich sie nicht in der hintersten Ecke entdeckte, wo wir uns die Woche zuvor begegnet waren.
„Suchen Sie mich?“
Ich erkannte ihre Stimme sofort und drehte mich um. Sie wies mit der Rechten auf den freien Platz an ihrem Tisch, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass ich das Café nur besuchte, um sie zu sehen.
„Hallo“, sagte ich und setzte mich zu ihr.
„Sie sind zu spät. Ich hoffe, dass ich für das Warten entschädigt werde.“
Die Bedienung kam an unseren Tisch und brachte mir Assam-Tee und ein Stück Mohnkuchen. Ich bedankte mich und schenkte der Frau mir gegenüber ein Lächeln.
„Betrachten Sie sich als eingeladen. Das ist die Entschuldigung für meinen übereilten Aufbruch letzter Woche.“
„Ich habe mir erlaubt, über Ihr Privatleben zu reden, als wäre es mir vertraut. Ich hatte kein Recht dazu und nicht nur das, auch meine Filmvergleiche waren absurd und mussten auf Sie verletzend wirken. Mein Verhalten war anmaßend. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss.“
Mit der Arbeit an diesem Text hatte ich mir einen Abend verdorben. Er klang hölzern und einstudiert, genauso, wie ich es nicht machen wollte.
„Entschuldigungen sind überflüssig. Wichtig ist, dass Sie mich wiedersehen wollten.“
„Ich hatte nur Appetit auf Mohnkuchen.“
Sie lachte verhalten.
„Nein, Sie wollten wissen, ob unsere Geschichte das erste Treffen überdauert hat. Das ist simple Neugierde, gepaart mit einem Schuss Ungewissheit. In der Ungewissheit liegt der Reiz. Ich spreche von dem Zustand, der kleine Mädchen eine Blume zur Hand nehmen und deren Blütenblätter abzupfen lässt während sie er liebt mich, er liebt mich nicht rufen. Selbst ein tumber Mathematiker hätte dem nicht widerstehen können.“
Vielleicht hatte sie recht, doch ich wehrte mich dagegen, analysiert zu werden und trat ihr verbal gegen das Schienbein.
„Sie erinnern mich heute kein bisschen an Jeanne Moreau. Ich mochte diese distanzierte Traurigkeit an Ihnen, die Sie wie eine Aura umgab. Rätselhaft und unnahbar.“
„Sie haben sich da ein Bild von mir zurecht phantasiert, dem ich nicht standhalten kann. Auch beim zweiten Treffen enttäusche ich Sie. Ich bin untröstlich.“
Während sie das sagte, sah sie zur Tasse und schenkte der spiegelnden Oberfläche des Kaffees ihre ganze Aufmerksamkeit. Doch beim Wort untröstlich hob sie den Blick und ich sah, dass sie sich lustig über mich machte. Das verwirrte mich einen Moment.
„Von Enttäuschung war nicht die Rede. Ich empfinde es als aufregend, jemanden wie Sie häppchenweise kennenzulernen.“
„Sie meinen in kleinen Dosen, damit man sich allmählich daran gewöhnt und nicht plötzlich vom Axthieb des Erkennens umgehauen wird. So wie man sich ein Gift in geringer Dosierung verabreicht, um eine tödliche zu überleben.“
„Ist das Ihre Art, mir zu sagen, dass ich mich nicht auf Sie einlassen soll, um damit genau das Gegenteil zu erreichen?“
„Solche Fragen dürfen Sie grundsätzlich keiner Frau stellen. Da müssen Sie schon Ihrer Erfahrung vertrauen oder ihre Intuition bemühen.“
„Sie hatten offensichtlich eine gute Woche.“
„Ich hatte etwas, worauf ich mich freuen konnte.“
„Sie tun so, als ob mein Erscheinen für Sie eine Tatsache gewesen wäre. Heute haben Sie von dem Kaffee getrunken, dem Sie deim ersten Treffen das Prädikat ungenießbar verliehen haben. Ich fürchte, Sie spielen nur die Coole, die sich hinter Halbwahrheiten versteckt, um Ihre Unsicherheit zu kaschieren.“
„Das alles erkennen Sie daran, ob ich Kaffee trinke oder ihn nur umrühre? Bei Ihrer Kombinationsgabe wäre selbst Sherlock Holmes vor Neid erblasst.“
„Eher nicht, er hätte meine Aussage Wort für Wort widerlegt und sich im Stillen über mich amüsiert, wie er es mit Dr. Watson getan hatte. Was hat Sie so sicher gemacht, dass ich heute herkommen würde?“
„Ihr Alter und Ihre Unerfahrenheit.“
„Es war aber Unlust.“
„Wie bitte?“
„Ich hatte keine Lust auf die Vorlesung. Vor meinen Augen tanzte immerzu ein Stück Mohnkuchen herum.“
Ich nahm einen Schluck Tee und schaute Sie direkt an. Es war ein intensiver Blickkontakt und ich hielt stand. Jedenfalls eine Weile, dann musste ich blinzeln und blickte auf meinen Kuchenteller hinunter.
„Jetzt habe ich Sie beim Lügen erwischt. Es war nicht der tanzende Kuchen, der Sie hierher gezogen hat.“
„Wenn ich sage, dass ich nur ihretwegen gekommen bin, ist das doch nur ein plumpes verbales Statement.“
„Nun, vielleicht gilt mir Ihre Aussage mehr als meine Intuition.“
„Sie haben mich in die Enge getrieben und bekommen von mir ein unterschriebenes Schuldgeständnis. Ich bräuchte dann nur noch eine Antwort auf die Frage, warum Sie heute hier erschienen sind.“
„Das liegt doch auf der Hand. Ich wollte meine Intuition bestätigt wissen.“
„So einfach lasse ich Sie nicht davon kommen. Es war nackte Angst. Sie wollten so sehr, dass ich komme und haben deshalb für mich Tee und Kuchen bestellt. Es war eine Art Beschwörung und sie wirkte Ihrer inneren Unruhe entgegen. Das war sicherlich keine vernünftige Handlung, aber ich bin gekommen. Der Zauber hat funktioniert.“
Sie ruckelte am Stuhl.
„Wollen Sie schon wieder gehen?“
Sie lachte. Es wirkte spontan und ehrlich.
„Halten Sie mich tatsächlich für so verzweifelt?“
„Keine Ahnung. Doch so wie Sie mein Alter und meine Unerfahrenheit als Belege für mein Erscheinen anführen, deute ich Ihr Alter und Ihre Erfahrung als Verzweiflung.“
„Sind Sie sicher, dass Sie kein Mathematiker sind? Könnte es sich nicht einfach nur um eine kleine Geste meinerseits gehandelt haben, derer es keiner großen Worte bedurfte?“
„Das ist ebenso wahrscheinlich wie Frauen einfach zu durchschauen sind. Das Einzige, was ich ganz sicher über Sie weiß, ist, dass Sie keinen Mohnkuchen mögen.“
„Stimmt über diesen Punkt herrscht Klarheit. Doch ich muss zugeben, dass ich den Mohnkuchen hier noch nie probiert habe.“
Sie sagte es in einem Tonfall, so, als würde sie vorgeben ein bestimmtes Buch lesen zu wollen, obwohl sie wusste, dass das niemals geschehen würde. In ihrer Stimme lag kein Verlangen.
„Ich denke, wir haben das Thema Mohnkuchen erschöpfend behandelt. Wir können uns jetzt meinem Assam-Tee zuwenden.“
„Sie lesen Jane Austen.“
„Steht das auf meiner Stirn geschrieben oder wie kommen Sie darauf?“
„Ich beziehe mich auf Ihre letzte Bemerkung. Wie aus einem Austen-Roman.“
„Jetzt weiß ich bereits zwei Dinge über Sie. Ich mache Fortschritte.“
„Sie schmücken sich mit fremden Federn. Maschinenbauer lesen nicht Austen, sondern utopische Romane.“
„Sie wissen wie sich Mathematiker verhalten und was Maschinenbauer lesen. Sie werden mir langsam unheimlich.“
„Und Sie ruinieren mein Bild von einem Ingenieur.“
„Das Jane-Austen-Zeitalter ist das der aufkommenden Dampfmaschine. James Watt ist zwei Jahre nach Miss Austen gestorben.“
„Ich bin zwei Jahre jünger als Barbra Streisand. Trotzdem haben wir wenig gemein.“
„Sie können nicht singen?“
„Versuchen Sie es noch mal.“
„Sie haben eine schönere Nase.“
„Immer brauchen Sie beim Offensichtlichen Hilfe. Geht das Ihrer Freundin nicht auf den Geist?“
Auf die Frage nach meiner Freundin hatte ich lange warten müssen, obwohl sie von meiner Warte aus die ganze Zeit über in der Luft lag. Ich ging nicht darauf ein.
„Sie haben mir gerade Ihr Alter verraten. Sie sehen jünger aus.“
„Seien Sie nicht albern. Ich nannte die Streisand nur wegen ihrer Nase. Doch Sie wollen mir nichts über Ihre Freundin erzählen.“
„Da gibt es nichts zu erzählen. Ich habe keine.“
„Gefällt Ihnen kein Mädchen aus Ihrer Seminargruppe?“
„Ich dachte, Sie kennen sich mit Maschinenbauern aus? In meiner Seminargruppe gibt es genau drei Studentinnen. Das Mädchen, das mich interessieren könnte, ist verlobt und wird bald heiraten.“
„Ja und?“
„Ich gebe mich doch nicht mit einem Mädchen ab, das aufs Heiraten fixiert ist.“
„Sie wird 19 Jahre alt sein und hat ihren Zukünftigen während der Schulzeit kennengelernt. Sie ist noch mit dem Jungen zusammen, der sie defloriert hat. Sie kennt die Männer nicht.“
Und ich nicht die Frauen, doch ich lachte über ihre Bemerkung. Es gefiel mir schon immer, wie Frauen über Frauen urteilten. Diese Boshaftigkeit war mir fremd.
„Ich sehe da kein Problem. Solange Sie ihr kein Kind machen, haben Sie doch nichts zu befürchten.“
„Sie gehen ja gleich in die Vollen. Woher rührt Ihr plötzliches Interesse an meinem Leben?“
„Vielleicht ist es Ihre Resignation, die ich nicht nachvollziehen kann. Wie kann man schon vor dem ersten Versuch die Flinte ins Korn werfen? Die Jahre, die sie hier mit Studieren verbringen, werden eines Tages zu Ihren schönsten gehören. Zaudern ist das falsche Konzept. Haben Sie sich denn noch kein bisschen vorgewagt?“
„Nein. Bisher waren wir nur einmal im Kino. Keinen Kuss, kein Gefummel, rein gar nichts.“
„Aber sie mag Sie?“
„Ja, sie ist gerne mit mir zusammen. Doch ob sie ihren Verlobten betrügen wird, vage ich zu bezweifeln.“
„Machen Sie mir jetzt nicht schon wieder den Hamlet. Es ist nebensächlich, ob Ihre Freundin verlobt ist oder nicht. Sie sind mit ihr die ganze Woche über zusammen. Nutzen Sie diesen Vorteil. Warten Sie nicht darauf, dass sie Ihnen eine Erlaubnis erteilt. Das wird nicht passieren.“
„Demnächst leisten wir einen vierwöchigen Arbeitseinsatz in der Forstwirtschaft. Ich nehme an, dass ich sie dort täglich um mich haben werde.“
„Sieh einer an. Sie haben ja doch einen Plan.“
„Plan ist ein so großes Wort. Ich schaue einfach, was passiert.“
„Das ist zu wenig. Da Ihre Freundin nicht den ersten Schritt machen wird, müssen Sie die Initiative ergreifen. Sie werden erstaunt sein, wie schnell sie mitspielt.“
„Sie können eine junge Frau, die Ihnen nie begegnet ist, überhaupt nicht beurteilen.“
„Vielleicht bezieht sich mein Wissen auf meine eigenen Erfahrungen.“
„Soll das heißen, dass alle Frauen gleich sind?“
„Zieren Sie sich nicht so. Bevor Sie etwas Dummes sagen, lassen Sie einfach Ihre Hände sprechen.“
„Mich kennen Sie ebenso wenig.“
„Sie sind aber störrisch. Was wissen Sie über weibliche Intuition?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Das habe ich mir gedacht. Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns frühestens in einem Monat wieder. Ich werde hier zur gewohnten Zeit meinen Kaffee trinken und Sie haben mir eine Menge zu erzählen.“
„Und wenn es nichts zu erzählen gibt?“
„Dann schildern Sie mir dieses Nichts.“
Wieder zog sie beim Hinausgehen die Blicke auf sich. Ich wollte ihr folgen, wurde jedoch von der Bedienung aufgehalten. Ich musste die Rechnung bezahlen. Schöne Einladung.
Ich betrachtete Sybille, die aus dem Zugfenster sah und dachte dabei an Jeannes Worte. Vielleicht lag sie mit ihrer Vermutung richtig. Sybilles Verlobung hatte aus einer mädchenhaften Schwärmerei während ihrer Schulzeit resultiert und bereits an Strahlkraft verloren. Sie war nicht mehr davon überzeugt, dass ihr das Abitur beim Meistern des Lebens groß helfen würde.
„Was hast du eben gedacht?“, fragte sie mich.
„Gar nichts.“
„Du hast mich geraume Zeit angesehen. Ich gebe dir eine zweite Chance.“
„Ich fand die Landschaft eintönig und habe nach Abwechslung gesucht.“
„Gut und hast du sie auch gefunden?“
„Ja. Ich habe dein sich in der Scheibe spiegelndes Gesicht mit dem Original verglichen. Das Spiegelbild wirkte ernster.“
„Wie kann man nur solchen Unsinn erzählen.“
„Warum Unsinn? Es ist mein subjektiver Eindruck. Sieh selbst“, sagte ich, blickte wie vorhin Sybille aus dem Fenster und fragte: “Ist es immer noch Unsinn?“
„Klar. Weder beim Original noch beim Spiegelbild kann ich diese Eigenschaft erkennen.“
„Wir sind auf dem Weg in den Wald. Sei vorsichtig Rotkäppchen.“
„Keine Angst, ich verlaufe mich nicht so schnell.“
„Ich hatte eher an den bösen Wolf gedacht. Fühlst du dich mit einem Beil in der Hand so mutig?“
„Warum sollte ich ein Beil mit mir rumschleppen?“
„Bei Waldarbeiten empfinde ich das als nahe liegend.“
„Schon möglich. Doch ich hatte noch nie ein Beil in der Hand.“
„Dann wird es allmählich Zeit. Wo ich herkomme, kann jede Frau mit einem Beil umgehen.“
„Meine Mutter bevorzugt das Nudelholz.“
„Mit einem Nudelholz rollt meine Mutter nur Teig aus. Zum Holzhacken braucht sie etwas Schärferes. Tragt ihr auch Licht mit Säcken in eure Wohnung?“
„Wie witzig. Warum rede ich eigentlich mit dir?“
„Du willst mich aushorchen, um zu erfahren, wie man mit einem Beil umgeht. Also sage ich es gleich: mit dem scharfen Ende zuschlagen.“
„Das kann ich mir merken.“
„Und wenn nicht, können wir dich vielleicht noch gegen jemanden eintauschen, der mit einem Beil umgehen kann.“
Sybille trat mir gegen das Schienbein.
„Ich gebe dir nur eine Einweisung, wenn du dich gesittet benimmst.“
Am Bahnhof stiegen wir in einen Bus um und wurden zu einem kleinen, einsam gelegenen Hotel mitten im Wald gefahren. Nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, erhielten wir eine Einweisung vom zuständigen Förster. Er sagte, dass wir jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang zu dem betreffenden Waldstück gefahren würden, um dort gefällte Bäume zu entasten. Er sagte noch einiges mehr, was ich jedoch sofort wieder vergaß, weil mir das frühe Aufstehen Sorgen machte. Ich musste mich wenigstens eine Stunde vor Sonnenaufgang aus dem Bett quälen, um genügend Zeit fürs Frühstücken zu haben.
Wie erwartet fiel mir das Aufstehen schwer und es war keine Erleichterung zu sehen, dass es allen anderen ebenso erging. Bei der Arbeit wurde ich allerdings munter und solange es genügend Bäume zum Entasten gab, würde mich die Müdigkeit nicht einholen.
Die Ernüchterung folgte bereits am zweiten Tag unseres Einsatzes. Bis zum Frühstück hatten wir gut zu tun, doch danach erlahmte der Arbeitseifer der Forstarbeiter, wodurch wir bald keine Bäume zum Entasten vorfanden und pausieren mussten. Wir streiften durch den Wald, suchten nach einer Lichtung, wo wir uns setzen konnten und redeten über die ersten Eindrücke, die wir gewonnen hatten. Jedem gefiel das Waldhotel und dessen einsame Lage. Wir machten uns über die anderen lustig, die Tag für Tag Kartoffeln ausbuddeln mussten. Dann sagte jemand, dass Kartoffeln zu ernten ziemlich öde wäre, doch hier zu sitzen und keine Arbeit zu haben, wäre auch nicht der Hit und erntete zustimmendes Gemurmel. Doch keiner wollte sich deswegen mit den Forstarbeitern anlegen. Unsere Rebellion blieb aus. Wir warteten stattdessen auf das Kreischen der Motorsäge, die uns den Fortgang der Arbeit verkünden würde.
Zuerst hatte ich angenommen, dass diese Arbeitsunlust eine Ausnahme wäre, doch es sollte zur Regel werden, zwei bis drei Stunden im Wald ohne Beschäftigung herum zu sitzen. Gewöhnlich suchte ich nach einer bequemen Position, um ein Nickerchen zu machen.
Es gab keine andere Arbeit, außer Bäume zu entasten, sodass die Mädchen auch mit dem Beil hantieren mussten. Sofern sie sich ungeschickt anstellten oder sich auch nur schwertaten, stand ich gleich bereit, ihnen zu helfen, genau wie die anderen Jungen. Die Mädchen genossen das sichtlich und erfreuten sich daran, wenn wir uns gegenseitig zu übertreffen suchten. Ich hatte immer ein Auge auf Sybille, doch sie wechselte wie Anke und Ingrid auch jedes Mal ihre Helfer ab. Sie bevorzugten niemanden, wodurch Unstimmigkeiten vermieden wurden. Ich hätte mich lieber um Sybille gekümmert, doch meine Gefühle für sie gingen die anderen nichts an.
Ich hatte nicht geahnt, dass mir das Arbeiten im Wald so gut gefallen würde. Nicht, dass ich mit einem Beil in der Hand aufgewachsen wäre, doch Holz zu hacken gehörte bereits mit 12 Jahren zu meinen Aufgaben. Nur was den Wald so anziehend machte, waren seine unterschiedlichen Gerüche, von denen ich den harzigen, besonders mochte.
Nachdem wir die tägliche Arbeit beendet hatten, wurden wir zu unserer Unterkunft gefahren. Dann schnappte ich mir Solaris von Lem und setzte ich mich draußen auf die Bank unter der Kiefer. Manchmal fielen mir beim Lesen die Augen zu, dann legte ich das Buch zur Seite und lauschte dem Wald.
„Hast du dein Buch schon durchgelesen?“, fragte mich Sybille.
„Nein, bin aber bald durch. Spätestens übermorgen kannst du es lesen.“
„Um utopische Romane mache ich einen Bogen. Ich wollte im Wald spazieren gehen, willst du mitkommen?“
Ich bejahte und wir machten uns auf den Weg.
„Hast du ein bestimmtes Ziel?“, fragte ich.
„Nein, wir gehen einfach drauflos. Sollten wir zum Abendessen nicht zurücksein, werden wir bestimmt gesucht.“
„Ist das deine Vorstellung vom Spazierengehen, sich im Wald zu verlaufen?“
„Ich habe mich noch nie im Wald verlaufen. Du musst keine Angst haben.“
Wegen der vielen Wege, die rechts und links abzweigten, war sich zu verlaufen, überhaupt nicht abwegig. Da ich gerne mit Sybille zusammen war, behielt ich den Einwand für mich.
„Wie kommst du darauf, dass ich an deiner Seite Angst habe?“
Sybille schielte mich von unten an und grinste dabei. Es wirkte frech und die Antwort darauf schien einfach zu sein. Eine kleine Geste meinerseits hätte alles zwischen uns ändern können. Sybille nur bei der Hand zu nehmen hätte mich wissen lassen, was in ihr vorginge. Doch ich ließ die Gelegenheit verstreichen und schwieg. Ich ging nicht nur zwischen Bäumen spazieren, sondern war auch so einfühlsam wie diese.
Sybilles Grinsen verrutsche und bekam einen fragenden Ausdruck. Dann brach sie das Schweigen und redete drauflos. Sie erzählte mir von ihrem großen Bruder, den sie nicht mochte, vom Schlittschuhlaufen auf dem Tollensesee und vom Baden im Sommer. Ich steuerte wenig bei. Wo ich herkam, gab es nur große Felder, auf denen Getreide angebaut wurde. Ich hatte keinen See zum Baden oder Schlittschuhlaufen. Bei uns vor der Stadt gab es eine Kläranlage. Auf einem zugefrorenen Sickerbecken spielten wir Eishockey. Ich hätte ihr erzählen können, wie gut es dort roch, ließ es aber bleiben.
„Ich glaube, wir sollten umkehren“, unterbrach Sybille ihren Redefluss und ich stimmte ihr zu. Der eben beschrittene Weg sah in der Gegenrichtung fremd aus.
„Weißt du, wo es lang geht?“, fragte sie, als wir die erste Kreuzung erreichten.
„Nein, ich muss mir kein Sorgen machen, du weißt ja, wo es lang geht.“
„Ich habe nicht aufgepasst und was nun?“
„Wir folgen verschiedenen Wegen und verlaufen uns beide.“
„Ich meine es ernst.“
„Wir gehen nach links“, sagte ich, bevor die Stimmung kippte. Vorsorglich hatte ich mir den Weg eingeprägt. Dem Orientierungssinn von Mädchen stand ich schon immer skeptisch gegenüber. Ich hatte zwar keine Schwester, dafür aber zwei Cousinen, die sich sogar in ihrem eigenen Garten verliefen.
„Ich glaube, du hast recht“, sagte Sybille mit einer Stimme, in der Erleichterung mitschwang und so waren wir, ohne uns zu verlaufen, noch rechtzeitig zum Abendessen zurück.
Obwohl die Wanderung nicht so wie erwartet verlaufen war, gingen wir seitdem regelmäßig spazieren. Sybille hatte sich eine Wanderkarte vom Hotelinhaber besorgt, um sich besser im Wald zurechtzufinden. Nie ging sie mit jemand anderem als mir spazieren und ich fühlte mich privilegiert. Ihre natürliche Art, gepaart mit einer Portion Naivität, gefiel mir. Sie konnte je nach Situation frech oder zurückhaltend sein und überspielte ihre Ahnungslosigkeit mit einem Lächeln, welches sie schon erfolgreich in Seminaren eingesetzt hatte. Sie war noch unerfahrener als ich, was das Leben betraf, obwohl sie bereits verlobt war. Das mochte sich wie ein Widerspruch anhören, doch ich sah in ihr ein großes Mädchen, das Lichtjahre von jeder verheirateten Frau entfernt war, die mir je begegnet war.
Trotzdem, Sybille war verlobt. Ein Verlöbnis beging man nicht aus Übermut, sondern mit der Absicht, die Ehe einzugehen. Ich würde mich in dem Punkt nur zu gerne irren. Ich verlangte nach einem Zeichen von ihr, dass nicht einmal ein Blinder ignorieren konnte. Doch dieses Zeichen war ausgeblieben und so brach bereits die letzte Woche unseres Arbeitseinsatzes an.
Ich las Die zweite Invasion der Marsmenschen von den Strugazkis und bemerkte die Anwesenheit einer weiteren Person erst, als mir deren Schatten die Buchstaben verdunkelten. Ich sah auf und ehe ich reagieren konnte, hatte mir Sybille das Buch aus der Hand genommen.
„Du hast für heute genug gelesen, ich möchte mit dir durch den Wald spazieren.“
„Sagte der böse Wolf zu Rotkäppchen.“
„Damit wäre die Rollenverteilung geklärt. Ich gebe dir eine Minute, das Buch wegzubringen.“
Ich spielte mit und hatte das geforderte Zeitlimit nicht überschritten, als ich zurückkam.
„Wir gehen zu der Lichtung.“
Sie hielt mir die Karte vor die Nase und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, die auch ein Sumpf sein konnte. Wir folgten dem vorgezeichneten Weg und erreichten tatsächlich unser Ziel. Im flirrenden Abendlicht breitete sich die Wiese vor uns aus. Ich schloss die Augen, um mir die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, die rote Kreise auf meinen Lidern zum Tanzen brachte. Plötzlich spürte ich Sybilles Lippen, ganz flüchtig, fast wie aus Versehen auf meinen.
„Mach weiter“, flüsterte ich und beim nächsten Kuss spielten wir mit unseren Zungen. Meine Hände wussten mehr als ich und gingen auf Erkundungstour. Mit geschlossenen Augen ertastete ich Sybilles Gesicht, fuhr ihr sanft über die Lippen, sodass sie leicht zusammenzuckte. Sie hielt still und ließ mich machen. Wie anders sich Mädchen anfühlten. Sybilles Haut war so zart und ihre Brüste auf wunderbare Art nachgiebig, dass ich mit dem Streicheln und Tasten nicht aufhören konnte. Schließlich drückte sie sich an mich und bemerkte meine Erektion. Sie nestelte an meinem Gürtel herum und bekam den Reißverschluss zu fassen. Mit meiner Rechten fasste ich ihr zwischen die Beine. Ich zögerte kurz, doch sie griff nach meiner unschlüssigen Hand und nachdem sie meine Finger richtig positioniert hatte, drückte sie sich dagegen. Ihre Küsse wurden gieriger. Unbeherrscht biss sie mir in die Unterlippe. Ich schmeckte Blut.
„Warte“, sagte sie und zog sich schnell Hose und Slip aus. Ich war schneller und legte ihr meine Hose als Unterlage auf den Waldboden. Sybille legte sich darauf und zuckte zusammen.
„Blöder Kienapfel“, rief sie. Ich lachte und wir suchten nach Weiteren, bevor wir weitermachten. Diese kurze Unterbrechung machte mich verlegen, doch Sybille legte sich ohne zu zögern auf den Rücken. Augenblicklich kniete ich zwischen ihren Schenkeln und stützte mich nach vorne gebeugt mit den Händen ab. Vor Aufregung gelang es mir nicht, meinen Penis einzuführen. Sybille erledigte das mit einem geübten Handgriff. Ich schlüpfte hinein und es gab nichts in meinem bisherigen Leben, das dem gleichgekommen wäre. Mein Drang, sich in ihr zu bewegen, wuchs. Ich begann bedächtig, doch Sybille gab mir den Rhythmus vor. Sie griff nach meinen Pobacken, sodass ich härter und schneller zustieß. Sie schloss die Augen, als konzentrierte sie sich auf ihr Innerstes. Dann sah sie mich an, als ob ich durchsichtig wäre. Ich machte weiter, bis ich nicht mehr an mich halten konnte. Ihre leisen Schreie drangen an mein Ohr.
Ich zog mich zurück und ließ mich auf den Rücken fallen. Der Boden war härter, als ich angenommen hatte. Jetzt merkte ich auch meine Knie. Sybille hatte sich flink von meiner Hose erhoben, um keinen Spermafleck zu hinterlassen und wischte sich mit ihrem Slip ab. Danach schmiegte sie sich an mich. Wir schwiegen beide, doch mir war, als schwebte ich über dem Boden. Vor lauter Hochgefühl hätte ich platzen können.
„War das dein erstes Mal?“
„Ja. Woran hast du das bemerkt?“
„An deiner Zurückhaltung, wie du dich von mir hast führen lassen. Das hat mir gefallen. Das war auch für mich neu. Bisher hatte ich noch nie die Initiative ergriffen. Das war auf seltsame Art erregend.“
Ich dachte sofort an ihren Verlobten und bis mir auf die Zunge. Ihn jetzt zu erwähnen, wäre der Gipfel der Dummheit gewesen.
„Dann hat es dir gefallen?“
„Du stellst Fragen. Hast du das nicht bemerkt?“
„Mir fehlt der Vergleich.“
Sybille lachte.
„Stimmt, blöde Frage. Das war mein bisher intensivster Orgasmus. Doch werde jetzt nicht gleich übermütig. Die Zukunft wird zeigen, ob du hältst, was du versprichst.“
„Vor dieser Zukunft habe ich keine Bange.“
Sybille setzte sich rittlings auf mich und fuhr mir mit beiden Händen unters Hemd. Ihre Fingernägel waren nicht so geschärft wie die eines Vampirs, doch es reichte mich heftiger atmen zu lassen.
„Ich kann ihn wieder spüren“, gurrte sie und nahm ihn in sich auf. Ich schnaufte und begann auf ihre Bewegungen zu reagieren. Ich stieß ebenfalls zu.
„Nein, nicht bewegen. Für mich ist das so auch das erste Mal.“
Ich hielt still, obwohl es anstrengender war als alles, was mir je abverlangt wurde. Sybille variierte verschiedene Arten, sich zu bewegen. Schließlich vernahm ich ein Zittern, das von einem bienenartigen Summen begleitet wurde, nicht laut, aber andauernd. Sie atmete heftig und schmiegte sich dann an meine Brust. Ich nutzte die Gelegenheit, mit wenigen Stößen auch mein Ziel zu erreichen.
Sybille erhob sich und wischte sich wieder mit dem Slip ab.
„Einem dritten Durchgang ist er nicht mehr gewachsen.“
Sie lachte und zauberte einen sauberen aus ihrer Hosentasche hervor, den sie sogleich anzog.
„Das war knallhart geplant“, sagte ich, auf den Slip deutend.
„Klar, Spaß fängt bei der Vorbereitung an.“
„Seit wann trägst du einen zweiten Slip mit dir herum?“
„Seit mir klar geworden ist, dass ich dich will.“
So einfach war das und ich Idiot hatte Angst davor gehabt, mir eine Abfuhr zu holen. Sie sah etwas in mir, dass ich nicht sehen konnte. Ich war kein auffälliger Typ und gehörte eher zu den Einzelgängern, die sich im Hintergrund hielten.
„Kannst du den Satz den ganzen Rückweg lang wiederholen?“
Sybille schaute mich amüsiert an.
„Du wirst lachen, wir Mädchen haben uns über alle Jungs aus unserer Seminargruppe unterhalten. Anke und Ingrid hatten die Idee, sich bei dem Männerüberschuss von 5:1 einfach nur wie Prinzessinnen zu benehmen und sich erobern zulassen. Ich sagte ihnen, dass so die Schüchternen durchs Raster fallen würden. Ingrid meinte darauf, dass diese dann ihre Vorzüge nicht kennenlernen würden. Du bist ihnen nicht aufgefallen, mir schon.“
„Ich hatte es einfacher. Für mich gab es nur dich.“
„Das hast du aber gut getarnt. Wolltest du mich damit nach der Diplomübergabe beglücken?“
„Danke, dass du eingegriffen hast.“
„War mir ein Vergnügen.“
Sybille machte einen Knicks, tat, als ob sie ein Kleid raffen würde und gab mir einen Kuss. Ich drückte sie fest an mich. Meine Hände gingen wieder auf Wanderschaft.
„Komm, wir gehen zurück. Hoffentlich haben uns die anderen noch etwas zu Essen übrig gelassen. Ich habe Hunger.“
Sie machte sich von mir los und schüttelte ihre Haare. Sofern ich das beurteilen konnte, lagen diese immer gut.
„Bin ich vorzeigbar?“
„Ja, zum Anbeißen.“
„Nichts da, von Luft und Liebe kann man nicht leben. Mein Magen knurrt schon wieder.“
„Wir können Pilze sammeln. Nur für den Fall, dass sich im Hotel nichts mehr zu essen findet.“
„Etwas findet sich immer.“
Ich fragte nicht nach, was das zu bedeuten hatte und nahm ihre Hand. Gemeinsam machten wir uns auf den Rückweg. Wir mussten uns beeilen, um nicht von der Dämmerung verschluckt zu werden.
Als wir ankamen, hörten wir in der Küche die Töpfe klappern. Wir sahen nach und trafen auf den Inhaber, der sich gerade Eier in die Pfanne schlug. Er fragte uns, ob wir auch Rühreier haben wollten. Wir nickten und er gab noch sechs Eier hinzu. Anschließend aßen wir zu dritt in der Küche. Sybille und ich verschlangen unsere Portion gierig.
„Wie ich sehe, hat euch die Lichtung auch gefallen.“
Es war eine einfache Feststellung. Er kannte sich aus mit den wichtigen Dingen des Lebens.
Am letzten Tag gingen wir nicht mehr zum Arbeiten in den Wald. Wir packten unsere Sachen zusammen und waren faul. Ich lehnte an einem Baumstamm und ließ mich von der Sonne bescheinen. Meine Gedanken kreisten um Sybille und unser erstes Beisammensein. Mir schossen die Bilder wild durch den Kopf. Meine Erinnerung erschien mir schöner zu sein als das tatsächlich Erlebte. Doch das war ein Trugschluss, da ein Vergleich nicht möglich war. In mir lebte nur noch die Erinnerung und wollte ich nach Bestätigung suchen, musste ich Sybille fragen.
Eine Fliege kitzelte meine Nase und ich scheuchte sie weg. Sie war jedoch renitent, sodass ich die Augen öffnete und einen Grashalm anstatt eines Insekts erblickte.
„Mich kitzeln die Fliegen auch“, witzelte Sybille und warf den Grashalm fort. Unser Zusammensein tat ihr gut, von mir gar nicht zureden.
„Hast du wieder von mir geträumt?“, fragte sie.
„Nein, nur von Kienäpfeln.“
Ihre Reaktion war vorhersehbar und ich hatte mich weggeduckt. Doch ihr zweiter Schlag traf mich auf den Oberarm. Seit wir miteinander geschlafen hatten, boxte sie mich bei jeder Gelegenheit. Ich mochte diese kleinen knuffigen Schläge. Ich war jetzt schon so weit, dass es mir wehtun würde, sollte sie damit aufhörte.
Am späten Vormittag fuhren wir wieder nach Magdeburg zurück. Die Wohnheime wieder zu sehen, machte mit klar, weshalb ich hierher gekommen war. Erst jetzt würde das Studium richtig beginnen.
Sie saß, wie beim ersten Treffen, auf dem Platz im hintersten Winkel des Cafés. Ich freute mich, sie zu sehen und fühlte mich beschwingt. Die Frage nach dem Warum konnte ich nicht beantworten. War es wirklich nur Neugierde, die befriedigt werden wollte? Ich schlängelte mich an den Tischen vorbei und setzte mich zu ihr.
„Ring frei zur dritten Runde“, begrüßte sie mich übermütig und winkte die Bedienung herbei. Ich bestellte das Übliche und mir war, als läge unsere letzte Begegnung gerade mal eine Woche zurück.
„Sie sind jetzt dran, nur Mut.“
„Sie legen ein Tempo vor, das mich denken lässt, unsere Begegnungen wären mehr als ein flüchtiger Zeitvertreib.“
„Sie haben mich vermisst und wollen hören, dass es mir genauso erging? Nun, wir machen einfach da weiter, wo wir aufgehört haben. Ich bin gespannt.“
Sie sah mir direkt in die Augen und ich wandte den Blick ab.
„Ich habe nichts zu erzählen, da nichts passiert ist. Unsere Unterkunft lag mitten im Wald und ich fand die Umgebung wunderschön, doch sie erzählte mir von ihrer Aversion gegen alles Krabbelnde. Wir mussten die ganze Zeit Bäume entasten und sie war wegen der vielen Insekten und Spinnen immer in Panik. Nach der Arbeit war sie dermaßen erschöpft, dass nicht mal ein Spaziergang infrage kam. Unter den Bedingungen habe ich aufgeben.“
Ich log sie an. Was zwischen mir und Sybille ablief, ging sie überhaupt nichts an. Warum war sie nur scharf darauf, eine Geschichte zu hören, wie ich bei einer anderen zu landen versuchte?
„Hat sich in den vier Wochen nichts in der Unterkunft ergeben?“
„Wissen Sie, wie es ist, wenn neben einem Paar 16 weitere Studenten herum wuseln? Das Hotel war für solche Intimitäten ungeeignet. Ich kam nicht zum Zug.“
„Gut, das lasse ich als Ausrede gelten. Doch eine dritte Chance bekommen Sie nicht.“
Ich nickte. Die Bedienung brachte mir meine Bestellung und ich sagte immer noch nichts.
„Sie sind so schweigsam. Was macht Ihnen zu schaffen? Raus mit der Sprache.“
„Ich frage mich, wie lange wir uns noch in diesem Café treffen werden.“
„Wollen Sie, dass wir uns in einem anderen treffen? Schmeckt Ihnen der Mohnkuchen nicht mehr?“
„Ich meinte eher, was kommt danach.“
„Ich genieße unser Beisammensein. Mir ist das vorläufig genug. Warum wollen Sie wissen, was die Zukunft bringt? Ob Ihre Erwartungen erfüllt werden oder nicht, ich weiß es nicht. Es hängt von Ihnen ab.“
„Sie antworten wie ein Orakel. Keine Frage, mir gefällt es hier im Café. Wir haben unseren Tisch und der Mohnkuchen schmeckt ausgezeichnet.“
„Sie haben vergessen, Ihr Gegenüber zu erwähnen. Sollten Sie sich eines Tages in meiner Gegenwart langweilen, geben Sie mir rechtzeitig Bescheid.“
„Sie hegen seltsame Befürchtungen. Ich werde nicht nachlassen, das Mehr, das ich erhoffe, zu bekommen.“
„Mehr ist der Teufel, glauben Sie mir. Solange wir keinen Sex miteinander haben, sind wir in Sicherheit.“
Der Satz ging ihr problemlos über die Lippen. Gehörte er zu ihrem Repertoire?
„In Sicherheit wovor?“
„Sex verändert den Blick des Mannes auf die Frau. Mit der Zeit sieht er in ihr immer weniger das Besondere, bis sie schließlich zum Alltag gehört, wie die tägliche Fahrt zur Arbeit. Damit beginnt ein neuer Abschnitt im Zusammenleben, der gewöhnlich als Ehe bezeichnet wird.“
„Ist die Ehe wirklich das Ende jeglicher Hoffnung? Dem möchte ich mich noch nicht anschließen. Obwohl Ihre Ansichten deprimierend sind, können Sie mir keine Angst einjagen.“
„Die Wahrheit sollte einem keine Angst machen, das Unbekannte schon.“
„Punkt für Sie. Trotzdem gibt es in vielen Beziehungen böse Überraschungen, die einer der Partner nicht hatte kommen sehen.“
„Wem entgeht, wie es um seine Beziehung steht, ist ein Ignorant. Ich hoffe, Sie gehören zum aufmerksamen Typ.“
„Das hoffe ich auch. Sollten Sie demnächst dieses Café meiden, weiß ich, woran es gelegen hat.“
„Hören Sie doch auf zu jammern. Wir erleben gerade ein Abenteuer. Der Weg ist das Ziel. Schon mal davon gehört?“
„Klingt anstrengend, aber verheißungsvoll“, entgegnete ich wenig überzeugt. Ich schaffte es nicht, sie aus der Reserve zu locken. Ihre Antworten wirkten viel zu routiniert. Fades Gesäusel über die Ehe von einer unglücklich verheirateten Frau zu hören, ermüdete mich. Ich versuchte es mit einer Provokation.
„Die Aura Ihrer Traurigkeit hat mit jeder unserer Begegnungen an Substanz verloren. Ist Ihr Mann aufmerksamer geworden, seit Sie ihm von mir erzählen?“
Sie rührte in ihrem Kaffee und hielt abrupt inne. Sollte ich ins Schwarze getroffen haben? Mein Vorstoß kam so überraschend, dass ich sie überrumpelt hatte.
„Halten Sie mich für fähig, unsere Gespräche an meinen Mann weiterzugeben?“
„Meine Art, die Dinge zu sehen, könnte zur Quelle gemeinsamer Freuden eines sich entfremdeten Paares werden. Vielleicht erhalten Sie Ratschläge von Ihrem Mann, wie Sie weiter vorgehen sollten. In Ehen passieren die merkwürdigsten Sachen.“
„Sie sind zu jung für solche Spitzfindigkeiten. Woher haben Sie diese tiefen Einblicke in die Abgründe der menschlichen Natur?“
„Ich war im Kino und habe mir Szenen einer Ehe angesehen. Dort wurden schonungslos die Untiefen des Ehelebens ausgelotet. Bergman sagt, dass Männer und Frauen lügen und betrügen, um etwas zu bekommen, von dem sie nicht einmal wissen, ob es überhaupt existiert.“
„Bergman ist Pessimist.“
„Ein Pessimist erkennt den anderen. Haben Sie den Film schon gesehen?“
„Ja. Wenn Sie wollen, können wir ihn uns gemeinsam ansehen. Sind Sie dabei?“
„Lieber heute als morgen. Waren Sie mit Ihrem Mann im Kino?“
Sie zögerte einen Moment zu lange und ich spürte wieder den Verrat, den sie mit einem flüchtigen Lächeln überspielte.
„Nein, mit einer Freundin. Anschließend sind wir in die Bar um die Ecke gegangen. Alkohol hilft nur kurzzeitig über eine verkorkste Ehe hinweg.“
„Haben Sie Ähnlichkeiten zwischen sich und Marianne entdeckt?“
„Fangen Sie schon wieder damit an? Mein Leben ist echt und in keiner Filmrolle verewigt.“
„Darauf wollte ich nicht hinaus. Ich habe Johan zu Anfang des Films distanziert gegenüber gestanden. Sein Ego war einfach unerträglich. Im reifen Alter fand ich ihn viel angenehmer.“
„Ich werde mich zu Marianne erst äußern, nachdem wir den Film gesehen haben. Heute 20.00 Uhr?“
„Gut. Treffen wir uns eine Viertelstunde vor Kinobeginn.“
Sie nickte und rührte wieder in ihrem Kaffee.
„Ihr gesamtes Wissen über die Ehe stammt also aus einem Film?“
„Eher aus mehreren Filmen und den Zerwürfnissen meiner Eltern.“
„Ihre Ehrlichkeit ist erfrischend. Und mit diesem Ausbund an Wissen ausgestattet, meinen Sie, mich und meine Ehe zu durchschauen?“
Das sagte sie mit einem heiteren Lächeln. Sie wirkte so ruhig wie das Meer bei Flaute und meinte, mich jetzt zu durchschauen.
„Das liegt gar nicht in meiner Absicht. Ich bin nur neugierig, in welche Richtung sich unser Abenteuer entwickelt.“
„Das ist das Besondere an Abenteuern, man merkt nicht, wie sie beginnen oder in welche Richtung sie sich entwickeln.