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Los Angeles County, Ende der 2040er Jahre. Der Stuntman J.P. Baxter wird des Mordes an seiner Ex-Freundin verdächtigt. Zwei Polizeibeamte suchen ihn in seiner Wohnung auf, um ihn zu verhaften. Diese Verhaftung wird zu Baxters Sliding Doors Moment. Von nun an verläuft sein Leben in drei Varianten. In der ersten wird er verhaftet und im anschließenden Prozess schuldig gesprochen. Er kommt in das Privatgefängnis Big Valley. Dort überträgt ihm der Direktor eine Aufgabe, bei der er seine Qualitäten als Stuntman voll ausspielen kann. In den anderen Leben gelingt es ihm, der Polizei zu entkommen und unterzutauchen. In einem findet er einen Unterschlupf bei einer Kleinkriminellen, im anderen wird er von einer KI unterstützt. Nur in einem Detail gleichen sich seine verschiedenen Leben: Baxter versucht herauszufinden, wer ihm den Mord angehängt hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Reimon Nischt
Der Stuntman
Roman
Herausgegeben von:
www.bilderarche.de
© 2024 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf
- I -
Für die Strecke von der Northeast Police Station bis zum Studio in der Edgewick Road hatte Officer Miller 13 Minuten gebraucht. Er wäre die gewundene Straße durch den Canyon lieber sanft entlang geschaukelt, als mit aufheulendem Motor alle Anwohner zu erschrecken. Detective McKellan hatte gesagt, er wolle ihn in 30 Minuten wieder auf dem Revier sehen, was ihm kaum noch Zeit ließ, seinen Job zu erledigen. Wäre McKellan nicht sein Vorgesetzter gewesen, sondern ein Mensch, stünde Miller eine halbe Stunde zur Verfügung, was ihm einen gewissen Interpretationsspielraum geboten hätte, doch diese exakte Vorgabe von 30 Minuten war nicht verhandelbar. Miller arbeitete erst seit Kurzem für McKellan, doch die Zeit hatte gereicht, um zu lernen, dass sein Vorgesetzter immer Druck ausübte.
Miller hörte das Klirren von Metall. Er öffnete das mit einem Bogen verzierte Tor, das an die guten alten Zeiten der Filmindustrie erinnerte und betrat einen länglichen Hof. Er wusste, dass man die hier entstandenen Studiobauten denen aus der Gründerzeit Hollywoods nachempfunden hatte, sie aber nicht den Originalen entsprachen und erst vor acht Jahren gebaut worden waren. Miller erstarrte nicht vor Ehrfurcht, sondern ging, sich neugierig umsehend, weiter. Als die Geräusche immer lauter wurden, wähnte er sich auf dem richtigen Weg und gelangte kurz darauf zu einem Platz, auf dem zwei Männer mit langen Schwertern aufeinander einschlugen. Trotz der Sonne wirkten ihre stählernen Rüstungen matt, als wären sie von einer Patina überzogen.
„Wer von Ihnen ist J.P. Baxter?“
Entweder interessierten sich die Männer nicht für den Rufer oder sie hatten ihn nicht gehört. Miller versuchte erneut, ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Daraufhin drehte sich der mit dem Rücken zu ihm stehende Mann schwungvoll um und zielte mit hocherhobenem Schwert auf seine Brust. Anstatt sich zu freuen, gehört worden zu sein, zog Officer Miller vor Schreck seine Waffe, stellte sich breitbeinig hin und legte an, wie er es gelernt hatte.
„Runter mit dem Schwert!“, brüllte er und bemerkte, dass die Hand, die seine Waffe führte, zitterte.
„Und was, wenn nicht?“, entgegnete der Angesprochene ruhig, kam einen Schritt auf Miller zu und noch einen. Der Officer wich vorsichtig zurück, bis ihn ein Hindernis in seiner Bewegung stoppte. Mit dem Fuß tastete Miller nach einem Ausweg und erkannte, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Miller war nur ein einfacher Officer und als er den Job vor drei Wochen angetreten hatte, träumte er davon, mit den Stars in Berührung zu kommen. Doch die einzige Berührung, die er jetzt spürte, wurde durch eine Schwertspitze verursacht, die auf seinem Hals knapp über dem Brustbein eine Delle hinterließ, in der sich Schweiß ansammelte. Mit einem wilden Stuntman hatte Miller nicht gerechnet.
„Ich bin Baxter. Was kann ich für Sie tun, Officer?“
Der Stuntman rammte das Schwert in den Boden und nahm den Helm ab. Miller atmete hörbar aus.
„Detective McKellan möchte Sie sprechen.“
„Worum geht es?“
„Das hat McKellan nicht gesagt.“
„Sie sind also sein Laufbursche.“
„Ja, das heißt nein. Ich tue nur, was man mir aufträgt.“
„Wirklich? Ich hatte den Eindruck, Sie wollten mich erschießen.“
„Ganz sicher nicht. Ich fühlte mich von dem Schwert bedroht.“
„Sie schleichen sich von hinten an zwei kämpfende Männer an. Was haben Sie erwartet?“
„Mein Fehler, so habe ich das nicht gesehen.“
„Schwamm drüber, mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Verzeihung, ich bin Officer Miller.“
„Okay. Warten Sie einen Moment. Ich lege nur meinen Blechanzug ab und mache mich etwas frisch.“
Baxter bedeutete seinem Trainingspartner, dass für heute mit dem Üben Schluss war und morgen in aller Frühe weiter gearbeitet würde.
McKellan saß an seinem Schreibtisch vor einem Monitor und bearbeitete unablässig die dazugehörige Tastatur. Wenn er so weiter machte, würde die Tastatur noch vor Feierabend einen Ermüdungsbruch erleiden, dachte Baxter, der ohne zu fragen auf dem einzigen freien Stuhl im Zimmer Platz genommen hatte. Der junge Officer war gleich, nachdem er Baxter angekündigt hatte, verschwunden. Er vertrat bestimmt die Ansicht, je weniger er von McKellan sah, desto besser wäre der Tag. Niemand hier würde ihm das verdenken.
Baxter vermutete, dass McKellan ihn absichtlich warten ließ, nur fiel ihm dafür kein Grund ein. Er hatte den Detective vor einem Jahr kennengelernt, als dieser eine Mordermittlung während der Dreharbeiten zu einem Mittelalterspektakel geleitet hatte. Baxter zeichnete damals für die Schwertkampfszenen verantwortlich und da dem Toten ein Schwert in der Brust steckte, wurde er von McKellan als Berater herangezogen. Baxter sah sich gelangweilt im Büro um: Es war immer noch so hässlich wie bei seinem letzten Besuch.
„Hallo Baxter, setzen Sie sich“, begrüßte ihn McKellan, ohne vom Monitor aufzuschauen.
„Danke, McKellan“, entgegnete Baxter und wartete darauf, endlich zu erfahren, warum er hier seine Zeit vertrödeln musste.
„Kennen Sie eine Liza Carlyle?“
„Was soll die alberne Frage? Sie haben Liza an meiner Seite kennengelernt.“
„Mehr fällt Ihnen nicht dazu ein?“
„Wir haben uns inzwischen aus den Augen verloren. Warum?“
„Aus den Augen verloren? Welch schöne Umschreibung. Sie hat Sie sitzen lassen, Baxter!“
„Da Sie sich bereits in mein Privatleben vertieft haben, würde ich jetzt gerne wissen, warum ich hier bin.“
„Mrs. Carlyle wurde erstochen in ihrem Apartment aufgefunden. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen.“
McKellan ließ das Gesagte erst einmal wirken, bevor er nachhakte.
„Wie lange waren Sie mit Mrs. Carlyle zusammen und wann haben Sie sie aus den Augen verloren?“
McKellan schürzte die Lippen.
„So, wie Sie das sagen, fühle ich mich gleich als Hauptverdächtiger in einem Mordfall. Vor zwei Jahren haben wir uns kennengelernt und vor einem Monat getrennt.“
„Weshalb?“
„Liza ist Schauspielerin und hatte bisher nicht viel erreicht. Sie sagte mir, ohne einen Mann an ihrer Seite würde sie schneller vorankommen. Es täte ihr leid, es sei eine rein berufliche Entscheidung.“
„Sagt man das heute so? Natürlich waren Sie so großmütig und haben sie einfach gehen lassen?“
„Stimmt genau.“
„Könnte es nicht eher so gewesen sein, dass sie sagte, Sie wären nicht der richtige Mann, um ihre Karriere voranzubringen?“
„Selbst, wenn es so gewesen wäre, macht das keinen Unterschied. Sie hat mich verlassen.“
„Vielleicht hatte sie bereits mit einem Regisseur angebändelt, der ihr weiter helfen konnte?“
„Mag sein, dass es so gelaufen ist. An Ihrer Stelle würde ich diesen Mann suchen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Mit dem werden wir auch noch reden.“
„Dann bin ich ja aus dem Scheider.“
„Warum nehme ich Ihnen den Gleichmut nicht ab, Baxter?“
„Weiß nicht. Vermutlich weil Sie ein Bulle sind.“
„Stimmt genau“, grunzte McKellan, „Ich muss Sie bitten, die Stadt nicht zu verlassen.“
„Bin ich tatsächlich Ihr Hauptverdächtiger?“
„Sie wissen doch noch vom letzten Mal, wie der Hase läuft. Hier nehmen Sie meine Visitenkarte und falls Ihnen etwas über Mrs. Carlyle zu Ohren kommt, rufen Sie mich an.“
Baxter steckte die Karte in seine Brusttasche und verließ das Büro. Am Himmel über Glendale zeigte sich kein Wölkchen, nur der übliche Dunst hing wie ein Schleier über der Stadt. Officer Miller war nirgends zu sehen und Baxter rief sich ein Taxi. Auf der Hälfte des Weges ließ er den Fahrer halten.
„Danke Mann, doch ich möchte lieber zu Fuß gehen.“
Der Taxifahrer sah ihn an, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte. Niemand ging hier zu Fuß, wenn er die Chance hatte, in einem klimatisierten Auto zu fahren. Doch Baxter hatte sich bereits auf den Weg gemacht und auf das Wechselgeld verzichtet.
Eine knappe Stunde später betrat er seine Wohnung. Sie befand sich im ersten Stockwerk über der Trainingshalle und bot alles, was man sich wünschen konnte. Als das Ensemble vor acht Jahren fertiggestellt wurde, war der ursprüngliche Käufer abgesprungen, sodass die Anlage brach lag. Das Gelände war nur über einen kurvenreichen Weg zu erreichen, der zudem eine Einbahnstraße war. Potenzielle Interessenten winkten bei dieser Verkehrsanbindung ab, sodass das Ensemble zerstückelt wurde. Baxter hatte einen kleinen Teil der Anlage erworben und die Büroräume in der ersten Etage in eine Wohnung umbauen lassen, von der er sowohl die Berge als auch die Stadt sehen konnte. An manchen Abenden hörte er Kojoten im Canyon heulen und fragte sich, wie lange diese Überlebenskünstler dem Menschen noch Paroli bieten konnten.
Baxter ging ins Bad, zog seine durchgeschwitzten Sachen aus, warf sie in die Waschmaschine und startete das Kurzprogramm. Die Maschine bedankte sich. Baxter hatte ihren Sprachmodus ausgestellt, doch dieses Danke für Ihr Vertrauen. SuperElektro ist immer für Sie da musste er jedes Mal über sich ergehen lassen. Er hätte die Maschine längst gegen ein schweigendes Modell getauscht, doch alle Haushaltsgeräte waren die reinsten Plappermäuler. Nur zu seinem Staubsauger, der auf den Namen Bruno hörte, pflegte er ein gutes Verhältnis. Baxter hatte sich das Modell für den Einzelgänger zugelegt, mit dem er ungezwungen über Frauen reden oder gegebenenfalls auch herziehen konnte. Die Konstrukteure hatten ein Faible für Zweideutigkeiten offenbart, was ihm gefiel.
Baxter ging in die Küche und nahm sich eine angenehm temperierte Mineralwasserflasche aus dem Kühlschrank heraus, die er sogleich öffnete. Er trank langsam, wurde jedoch immer gieriger und begann wieder zu schwitzen. Er schlenderte durch die offene Küche weiter ins Wohnzimmer und begab sich auf den beschatteten Balkon, der etliche Meter über den Abgrund in den Hof hinausragte, fast so wie ein Sprungturm im Freibad. Er lehnte sich weit genug über das Geländer, sodass er das Seil, welches von der Winde unter dem Balkon bis auf halber Höhe abgespult war, sanft hin und her schwingen sah.
An dieses Seil hatte sich einst Liza geklammert und vor Lust gestöhnt. Ihr war der Balkon mit dem hinab baumelnden Seil sofort aufgefallen und er hatte ihr gesagt, dass zu Trainingszwecken die verschiedensten Gegenstände daran angebracht wurden. Manchmal schwang auch ein Mann durch den Hof, der gegen einen am Boden stehenden, kämpfte, was höchst kompliziert zu bewerkstelligen war.
Liza versuchte das Seil zu ergreifen und als es ihr nicht durch Springen gelingen wollte, hob Baxter sie flink hoch. Sie fasste entschlossen zu. Eine leichte Brise spielte mit ihrem Sommerkleid, das er mit den Händen noch immer berührte und ihre Haut darunter spürte. Er wagte sich weiter vor und vernahm ihr leises Flehen Nicht aufhören. Das war jetzt zwei Jahre her und so gegenwärtig, dass er an seinen Händen riechen musste, um der Erinnerung zu entfliehen.
Baxter atmete tief durch und lauschte. Er meinte noch den Nachhall der aufeinandertreffenden Schwerter beim Trainingskampf mit seinem Partner zu hören, doch das war eine Illusion, genau wie die Vorstellung, noch in der gleichen Welt zu leben wie zum damaligen Zeitpunkt. Er galt jetzt als Hauptverdächtiger in einem Mordfall und da er bereits bei einem anderen als Sachverständiger tätig gewesen war, hatte er Einblicke in die Vorgehensweise der Polizei bekommen. In den Augen der meisten Ermittler gab es zwischen einem Verdächtigen und einem Täter nur den marginalen Unterschied, dass Ersterer noch nicht überführt worden war. Dass er unschuldig sein konnte, zog kaum jemand in Betracht.
Baxter hatte an erfolgreichen Filmen mitgearbeitet und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass es in Zukunft weniger gut für ihn laufen würde. Nein, diese noch vor Kurzem geltende Gewissheit hatte sich in letzter Zeit in Zweifel verwandelt. Handgemachte Action wurde ein Auslaufmodell und immer mehr durch eine digitale verdrängt. So wirkte es wie eine Trotzreaktion auf den Untergang der Sparte, dass zur 111. Oscar-Verleihung die Trophäe zum ersten Mal in der Kategorie Stunt verliehen wurde. Baxter hatte es schon immer als befremdlich erachtet, dass die Jury einen Oscar für die beste Frisur vergab, doch die Leistung eines Stuntmans keine Würdigung fand.
Er hatte für das Remake von Gladiator zwei Jahren zuvor diese begehrte Auszeichnung ebenfalls erhalten, stand für kurze Zeit im Rampenlicht und war Liza begegnet. Jemand hatte Liza umgebracht und wenn er in einen Mordfall verwickelt wurde, konnte das das vorzeitige Ende seiner Karriere bedeuten.
Baxter verließ den Balkon, ging ins Bad unter die Dusche. Er genoss, wie das kalte Nass auf seine Haut prasselte.
„Liza ist tot.“
Baxter konnte es noch so oft wiederholen, ohne es wirklich zu begreifen. Vor ihrer Trennung hatte es bereits zwischen ihnen gekriselt. Er war ein gesuchter Stuntman und sie bekam nur unbedeutende Nebenrollen in Filmen angeboten. Sie stritten sich immer häufiger über Nichtigkeiten, an die er sich jetzt nicht einmal erinnern konnte. Und dann war er rein zufällig zugegen, als ein Schauspieler erwähnte, dass Liza etwas mit diesem jungen, aufstrebenden Regisseur angefangen hatte, dessen Name ihm entfallen war. Der Typ war in aller Munde und wurde von der Kritik wegen seines Mutes gelobt, eine Synthese der Stile von Orson Welles und Steven Spielberg gewagt zu haben.
Baxter stellte Liza darauf hin zur Rede, die, ohne zu antworten, trotzig seine Wohnung verließ. Noch am gleichen Tag schickte sie jemanden vorbei, der ihre Sachen abholte. Ihm waren nur die Erinnerungen geblieben, Rückstände eines Lebens, die sich in seine Hirnwindungen eingebrannt hatten und mit keinem Scheuermittel beseitigt werden konnten. Auch Bruno, der verständnisvolle Staubsauger, war mit der Situation an seine Grenzen gelangt und musste aufgeben.
Baxter stellte das Wasser ab und nahm sich ein frisches Badehandtuch aus dem Schrank. Als er beim Abtrocknen in den Spiegel blickte, sah er in ein trauriges Gesicht. Mit dem um die Hüfte geschlungenen Handtuch ging er ins Wohnzimmer.
„Mr. Baxter, ich verhafte Sie wegen Mordes an Liza Carlyle.“
McKellan zielte mit seiner Glock auf ihn.
„Lassen Sie die Hände da, wo ich sie sehen kann!“, sagte der zweite Eindringling, den Baxter nicht kannte und eben erst wahrgenommen hatte. McKellan verlas ihm seine Rechte.
„Was soll der Unsinn?“
„Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen“, antwortete der andere Detective, „Wir haben die Tatwaffe untersucht. Raten Sie mal, wessen DNA-Spuren darauf verewigt sind.“
„Sollte Liza mit meinem Steakmesser erstochen worden sein, ist Ihr Beweis einen Dreck wert. McKellan, wer ist dieser Clown, der sich vor Freude gar nicht mehr einkriegt?“
„Das ist Detective Hanson. Ziehen Sie sich etwas an, Baxter und halten Sie endlich Ihre Klappe. Mein Partner bleibt bei Ihnen.“
- II -
Eins
Baxter wandte sich seinem Schlafzimmer zu und ging gefolgt von Hanson hinein. Er zog sich ohne Eile an.
„Nun machen Sie mal hin, Mann. Dort, wo Sie einquartiert werden, legt niemand Wert auf Äußerlichkeiten.“
„Danke für den Hinweis, doch das habe ich schon an Ihrer Aufmachung erkannt.“
„Sie sind ein vorlauter Bursche. Mal sehen, wie lange Sie die Nummer durchhalten können.“
Baxter schwieg und betrat den Wohnraum, wo ihm McKellan Handschellen anlegte.
„Ich hoffe, Sie erwähnen, dass ich keinen Widerstand geleistet habe.“
„Wie sollte der denn aussehen, bei zwei so ausgekochten Bullen wie uns?“, fragte Hanson grinsend.
„Mein Staubsauger hätte Ihnen ein Bein stellen und Sie mit der Saugdüse entwaffnen können. Hab ich alles schon in Trickfilmen gesehen. Ihre Beine werden in die Luft gerissen und Sie schlagen mit dem Kopf eine Diele aus dem Boden. Glauben Sie mir, Hanson, der Stunt brächte Ihnen eine Oscarnominierung ein.“
„Mehr muss man nicht tun, um nominiert zu werden? Ich hab den falschen Job, McKellan.“
„Ich weiß, das LAPD ist zu lasch bei der Auswahl seiner Cops.“
„Auf welcher Seite stehst du eigentlich, McKellan?“
„Auf deiner, Hanson, sonst hätte ich zugesehen, wie er dir die Nase bricht und dich aus dem Fenster wirft.“
„Du machst dich zum Komplizen eines Mannes, der Hauptverdächtiger in einem Mordfall ist. Das ist echt mies von dir.“
„Detective Hanson, diesen Tadel habe ich mir redlich verdient.“
„Idiot.“
„Richtig, einer von uns beiden müsste die Bezeichnung auf der Stirn tragen.“
Sie verließen zu dritt das Gebäude und Baxter wartete im Auto darauf, dass das Gekabbel der beiden weiterging. Doch die Detectives schwiegen. Obwohl sie schon lange zusammen arbeiteten und sich gut kannten, kam es immer wieder zu Reibereien. Wie bei Paaren, die lange miteinander verheiratet sind, sinnierte Baxter, doch bevor er sich weiter in das Thema vertiefen konnte, hielten sie vor der Northeast Police Station. Er wurde die Treppe hinaufgeführt und zu einem Büro geleitet, wo seine Personalien aufgenommen wurden. Was für die Cops Routine, war für Baxter eine neue Erfahrung. Nachdem er diese bürokratische Formalität hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich in der Nüchternheit der Zelle beinahe wohl.
Zwei Tage später lernte er seinen Pflichtverteidiger kennen. Mace Robinson arbeitete sehr engagiert und legte Baxter einen Plan vor, wie er seine Unschuld beweisen würde. Bei der Mordwaffe handelte es sich um eine Nachbildung eines Kurzschwertes, das römische Legionäre einst verwendet hatten und nur darauf ließen sich DNA-Spuren von Baxter nachweisen. Im Zimmer, wo die Tote auf einem Bett gefunden wurde, jedoch nicht. Daraus wollte Robinson ableiten, dass sein Mandant den Raum nicht betreten haben konnte und der wirkliche Täter nur die Schuld auf ihn abwälzen wollte. Baxter fasste Zutrauen zu dem jungen Mann, der voller Optimismus war, was die Verhandlung betraf.
Doch als der Prozess begann, wurde schnell klar, dass sein Verteidiger dem Staatsanwalt nicht gewachsen war. Die DNA auf der Mordwaffe und der Umstand, dass Baxter kein Alibi für den Todeszeitraum vorweisen konnte, waren für den Staatsanwalt das Fundament, auf dem die Anklage fußte.
Baxter war erstaunt, dass der Mann mit einer Darbietung reüssierte, die an einen drittklassigen Schauspieler in einem B-Movie erinnerte. Der ehrwürdige Richter hatte nichts gegen dieses Schmierentheater einzuwenden und ermahnte den Verteidiger, der dagegen Einspruch eingelegt hatte, sich zu mäßigen. Die Geschworenen befanden sich in einem Zustand der Lethargie, die mit bloßen Händen zu greifen war und nur wenn der Staatsanwalt das Wort führte, flackerte in ihren müden Augen Interesse auf. Sie mussten hier ihre Zeit absitzen und die Showeinlagen des Staatsanwaltes stellten eine willkommene Abwechslung dar.
Baxter wies Robinson auf den hohen Frauenanteil in der Jury hin, doch der Verteidiger meinte, dass dieser Umstand, der im ersten Moment gegen ihn spräche, bald zu seinen Gunsten umschlagen würde. Wie er das erreichen wollte, ließ er im Dunkeln.
Doch der Staatsanwalt rief Zeugen auf, die zu Protokoll gaben, Liza hätte ihnen gegenüber von Baxters sexueller Gewalttätigkeit berichtet. Dem Einspruch, dass es sich um Hörensagen handelte, wurde stattgegeben, doch der Schaden war angerichtet. Baxter sah zur Geschworenenbank hinüber und erkannte, dass der weibliche Anteil wie ein Block für den Schuldspruch eintreten würde. Der Staatsanwalt trug seine Siegesgewissheit offen zur Schau und Baxter musste mit anhören, wie aus ihm im weiteren Prozessverlauf ein Psychopath gemacht wurde.
Das Vorgehen seines Verteidigers war das eines Idealisten und das des Staatsanwaltes, das eines Realisten. Mace Robinson musste scheitern und Baxter, der meinte, einer surrealen Theateraufführung beizuwohnen, bezahlte dafür mit einem lebenslänglich. Dieses Urteil wirkte wie ein Faustschlag in den Solarplexus, von dem er sich nur schwer erholte. Lebenslänglich bedeutete wenigstens 20 Jahre Gefängnis und das war ein so unvorstellbar langer Zeitraum, den er nicht in seinen Kopf bekam, obwohl er diesen regelmäßig gegen die Gitterstäbe stieß, bis Blut in seine Augen lief.
Nach dem Prozess machte er sich keine Illusionen mehr über das hiesige Rechtssystem. Baxter hatte darauf vertraut, dass in einem fairen Prozess seine Unschuld bewiesen werden würde. Jetzt staunte er über seine Naivität. Wäre ihm dieser Ausgang auch nur im Entferntesten möglich erschienen, hätte er sich auf 100 Jahre verschuldet, um den besten Anwalt des Landes für seine Verteidigung zu engagieren.
Baxter saß auf dem Bett in seiner Zelle und stierte die gegenüberliegende Wand an, die seine Vorgänger mit Kunstwerken dekoriert hatten. Sie waren damit dem Vorbild einstiger Höhlenbewohner gefolgt, die Tierkampfszenen in Felswände geritzt hatten, nur das in Baxters neuer Umgebung grobe sexuelle Darstellungen das Auge erfreuten.
Er befand sich seit einer Woche in einem kalifornischen Privatgefängnis, das unter dem schönen Namen Big Valley firmierte. Das Leben an dem Ort bestand aus eintöniger Arbeit und ungenießbarem Essen. Der einzige Lichtblick war sein Mitinsasse John Woods, ein Trickbetrüger aus Sacramento, der ihm ohne große Umstände den Knastalltag mit all seinen geschriebenen Gesetzen und wichtiger noch, den ungeschriebenen, erklärte.
„Du grübelst zu viel. Das führt nur zu mehr Verdruss. Hier drin helfen dir nur deine Instinkte“, riet John.
„Wie lange hast du gebraucht, dich an das Knastleben zu gewöhnen?“
„Außer den geregelten Abläufen ist mir hier vieles noch genauso fremd wie am ersten Tag.“
„Deprimiert dich das nicht?“
„Nein, weil ich daraus kein persönliches Problem mache. Ich ignoriere, was ich nicht ändern kann.“
„Keine Ahnung, ob mir das gelingt“, sagte Baxter und erhob sich vom Bett. „Ich hole mir neue Bücher, kommst du mit?“
„Nein, ich hab noch welche im Schrank.“
Baxter hatte die Bibliothek als den Raum entdeckt, der ihn am wenigsten an ein Gefängnis erinnerte. Bei seinem ersten Besuch war er durch die Regale gegangen, um sich grob zu informieren. Der Buchbestand schien aus Schenkungen aufgebaut worden zu sein, die ohne ein für ihn erkennbares System eingegliedert wurden.
Er zog einige Bücher aus den Regalen und stapelte sie vor sich auf den Tisch. Er schlug eines auf, das vom Leben im Mittelalter handelte und blätterte es interessiert durch. So ein ausgefallenes Buch an diesem Ort zu finden, erstaunte ihn. Er suchte nach Abschnitten, die die Waffentechnik behandelten und vertiefte sich in einen Beitrag über Wurfmaschinen. Baxter war derart in das Buch versunken, dass er erst aufblickte, als ihm das Schurren eines Stuhls auf die Nerven ging.
Sie kamen zu dritt. Ein schmächtiger Mann mit zwei Gorillas im Schlepptau. Baxter hatte sich schon gefragt, wann es endlich passieren würde. Heute war also der Tag seiner ersten Prüfung. Baxter mochte keine Prüfungen, aber wenn er sie nicht vermeiden konnte, brachte er sie so schnell wie möglich hinter sich.
Dem schmächtigen Typen war er schon einmal begegnet. John hatte ihm damals zugeraunt, dass man Randall Bush lieber aus dem Weg ging. Die beiden anderen sah er heute zum ersten Mal. Er nickte zum Gruß und tat, als widmete er sich wieder seiner Lektüre. Hätte er sich eine Waffe aus dem Buch wünschen dürfen, wäre es das beidhändige Schwert gewesen. Baxter sah die Szene vor sich, wie er mit genau einem Hieb drei Männer zerteilen würde.
„Ich möchte dir Big Mac und Fat Burger vorstellen. Die beiden sind heute für die Bibliothek verantwortlich. Haben sie dir erlaubt, hier herumzustöbern?“
Auf Randalls Gesicht erstrahlte ein Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen vordrang.
„Meine Grandma hat immer gesagt, alles, was man nicht ausdrücklich verbietet, ist erlaubt.“
„So eine Grandma hatte ich auch. Doch für diesen speziellen Fall gilt ihre Weltsicht nicht. Hier habe ich das Sagen und für dich ist der Aufenthalt in der Bibliothek tabu.“
Die Stimme hatte nichts von ihrer falschen Freundlichkeit verloren. Egal wie Baxter sich entscheiden würde, der Auseinandersetzung konnte er nicht entkommen.
„Du hast hier gar nichts zu melden. Die beiden Lichtgestalten neben dir tragen die Verantwortung. Das hast du selbst gesagt oder ist dein Hirn schon wurmstichig?“
Das Lächeln verschwand von Randalls Gesicht und der Smalltalk war beendet. Er gab dem Mann zu seiner Rechten einen Wink. Fat Burger bewegte sich bedächtig auf Baxter zu.
„Du hast gehört, was der Boss gesagt hat. Hoch mit dir!“
„Ich lese nur noch bis zum Ende des Kapitels. Du solltest in der Zwischenzeit deine Schnürsenkel binden, bevor du über sie stolperst.“
Fat Burger schaute nach unten. Baxter griff sich das oberste Buch vom Stapel und schlug es dem Mann gegen den Kehlkopf. Der Getroffene fasste sich an den Hals, röchelte und ging in die Knie.
„Big Mac, ruf nach dem Sanitäter, dein Bruder läuft schon blau an.“
Der Angesprochene explodierte förmlich. Baxter duckte sich seitlich unter dem geführten Schlag weg und rammte seinem Widersacher einen Stuhl in die Seite. Big Mac nahm kaum Notiz davon, entriss Baxter den Stuhl und warf ihn durch den Raum. Die letzte Aktion begründete seine Niederlage. Baxter nutzte den Moment, seinem Gegner in die Weichteile zu treten. Big Mac gab ein Fiepen von sich, als würde ihm die Luft, wie bei einem Ballon, abgelassen. In gebückter Haltung taumelte er rückwärts gegen ein Bücherregal und schlug vornüber fallend auf den Boden. Einige Bücher fielen durch den harten Aufprall aus dem Regal und landeten auf dem sich krümmenden Mann. First contact, dachte Baxter, dem es schien, dass Big Macs Kontakt zu Büchern ein ebenso seltenes Ereignis darstellte wie der zu Außerirdischen.
Baxter sah sich nach Randall um, doch wo er ihn vermutet hatte, tauchten jetzt vier mit Schlagstöcken bewaffnete Gefängniswärter auf, denen zwei Sanitäter mit selbstfahrenden Tragen folgten. Er lächelte freundlich und hob die Hände.
„Sieh an, Baxter, kaum eine Woche hier und faltet schon die dicksten Brummer zusammen. Wir führen dich an einen Ort, der beruhigend wirkt“, sagte der Diensthabende und schlug mit dem Knüppel in die offene Hand. Baxter sah im Weggehen, wie die Tragen ihre Greifarme ausfuhren und selbst mit der Körperfülle eines Big Mac oder Fat Burger spielend leicht zurechtkamen.
Obwohl es niemanden gab, der Baxter im Weg stand, engte ihn Einzelhaft ein. Mit seinem Körper schien auch sein Bewusstsein in der Minizelle festzustecken. Seine Gedanken bildeten ein Labyrinth, in dem sie sich wie Wasserstoff in der Atmosphäre verflüchtigten. Alles kam ihm durchsichtig und nicht fassbar vor. Es gelang ihm nicht einmal, Lizas Abbild festzuhalten.
In dieser diffusen Welt strukturierte die Nahrungsaufnahme seinen Tag. Die Luke öffnete sich und er griff nach dem Napf, setzte sich auf den Fußboden und as. Hatte er aufgegessen, stellte er den Napf wieder zurück. Die restliche Zeit des Tages lief er in der Zelle umher. Er zählte vier kleine oder drei große Schritte in jede Richtung, was immer auf das gleiche hinauslief: In seinem Reich hatte er zu wenig Platz, sich ausgestreckt hinzulegen. Daher marschierte er so lange, bis er vor Müdigkeit zusammensackte. Einzelhaft befand Baxter, war etwas für einen Stuntman, der das Fallen üben wollte.
Nach einem Monat wurde er entlassen und zu seiner Zelle geführt. Dort sah er nach dem Kalender an der Wand, auf dem der aktuelle Tag hervorgehoben war.
„Stimmt das Datum?“, fragte er in den Raum.
„Du warst nur eine Woche weg. Das hättest du an deinem Bartwuchs feststellen können.“
„Warum ist mir das nicht eingefallen?“
„Weil du Matsch in deiner Birne hattest“, grinste John wissend.Baxter schwang sich auf sein Bett und stöhnte vor Wonne, als er sich ausstreckte.
„Ich habe gehört, du hast dich mit dem weißen Abschaum bekannt gemacht“, nahm John das Gespräch wieder auf.
„Ja. Wer wird mir wohl als Nächster seine Referenz erweisen?“
„Schätze Marconi oder Black Moose, doch nicht auf so plumpe Art. Dein Auftritt hat dir einen gewissen Respekt verschafft. Ich hätte einen Kran mit Ausleger gebraucht, um die beiden Gorillas umzuhauen. Du hast nicht mal einen Kratzer abbekommen. Wie hast du das angestellt?“
„Mit einem Buch.“
„Mit einem Buch? Verarsch mich nicht, Baxter.“
„Tut er nicht, John“, mischte sich Ranucci ein, der plötzlich in der Zellentür erschien und alles mitangehört hatte. „Es gibt ein Video von der kurzen Begegnung in der Bibliothek. Ich habe es gesehen und weiß trotzdem nicht, was da passiert ist.“
„Ich will den Film auch sehen“, ereiferte sich John.
„Mit zehn Dollar bist du dabei. Das Filmchen wird unser erster Blockbuster. Mit meinem Anteil werde ich mir zwei Nutten aufs Zimmer bestellen und nein, John, die sind ganz allein für mich.“
Ranucci verdrehte genüsslich die Augen.
„Wie wäre es, wenn ihr euch gemeinsam einen runterholt“, mischte sich Baxter ein. „Ich will meine Ruhe haben.“
„Entschuldige, ich bin ins Schwärmen gekommen. Marconi will dich sprechen!“
Baxter reagierte nicht und Ranucci wiederholte die Einladung mit mehr Nachdruck.
„Ich bin hier. Wenn Marconi mir was mitteilen möchte, soll er vorbei schauen. Wir legen hier keinen großen Wert auf Etikette, nicht wahr John?“
Sein Zellengenosse nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
„Baxter, du hast mich falsch verstanden. Marconi bittet nicht.“
„Ranucci, bevor du mir weiter auf die Eier gehst, sieh dir bitte noch einmal den Film an und frag Big Mac, wie sich das anfühlt.“
Ranucci war klug genug, sich still zu verdrücken.
„So gewinnst du keine Freunde, Baxter. Du kannst dir doch nicht jeden zum Feind machen“, meinte John irritiert.
„Viel Feind, viel Ehr.“
„Wer hat diesen Unsinn verzapft?“
„Ein deutscher Ritter vor 500 Jahren.“
„Das stimmt heute nicht und hat auch damals nicht gestimmt. Kannst du mir zehn Dollar leihen?“
„Komm mit, ich lade dich ein.“
Baxter wandte sich seinem Schlafzimmer zu und Hanson schlurfte ihm mit vorgehaltener Waffe hinterher. Als der Detective das Zimmer betrat, drehte sich Baxter plötzlich um und sprang mit aller Kraft, die in ihm steckte, gegen die Tür. Hanson reagierte zu spät und brüllte auf, als sein Arm eingeklemmt wurde. Baxter riss dem Detective die Waffe aus der Hand und feuerte das halbe Magazin auf das Fenster ab.
Erneut krachten Schüsse und die Tür zum Schlafzimmer splitterte. McKellan hatte reagiert. Baxter warf die Waffe fort, griff nach der Bettdecke, schlang diese während er sprang um den Körper und flog durch die zerschossene Scheibe. Vier Meter tiefer prallte er auf das Hallendach, rollte ab und ließ sich hinunter in den Hof fallen. McKellan konnte ihn vom Fenster aus nicht sehen und so war er vorläufig außer Gefahr. Sein Herz hämmerte wie nach einem 100 Meter Sprint, obwohl seine Flucht bisher nur wenige Sekunden gedauert hatte.
Baxter war nackt. In Hollywood erregte man mit den schrecklichsten Klamotten am Leib kein Aufsehen, doch war man so dumm, nackt durch die Straßen zu laufen, gab es Großalarm. Ein Nackter und da herrschte Konsens, konnte nur ein perverser Killer sein.
Baxter rannte in die Trainingshalle zum Waffenschrank und griff sich ein Kurzschwert. Er nahm an, dass Hanson wegen seiner Verletzung nur Verstärkung anfordern und McKellan die Verfolgung alleine aufnehmen würde. Baxter verließ die Trainingshalle, späte in den Hof und wartete. Lag er richtig, käme McKellan gleich angelaufen. Plötzlich flog die Haustür auf. McKellan stoppte kurz auf der Treppe, sah sich um und rannte dicht an den Gebäuden entlang dem Ausgang entgegen.
Lautlos sprang Baxter aus seiner Deckung hervor und schlug dem Detective mit der Breitseite des Schwertes die Waffe aus der Hand. McKellan wirkte für einen Moment, als wäre er aus Holz. Nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte, traf ihn Baxter mit dem Schwertknauf, dass ihm sofort die Luft wegblieb. Er fiel mit weit geöffneten Augen wie ein schlaffer Sack in sich zusammen.
Baxter tastete den Detective ab, fand die gesuchten Handschellen und fesselte ihm die Arme auf den Rücken. Dann nahm er die Glock an sich, rannte über den Hof und bewegte sich leise die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Die Tür stand offen. Hanson war nirgends zu sehen, nur sein Jackett lag auf dem Sofa. Bis auf das Geräusch von fließendem Wasser, das aus der Küche drang, war alles still. Baxter schlich zum Sofa, legte die Glock ab und nahm die Handschellen an sich. In der Küche stand Hanson am Spülbecken und kühlte seinen Arm mit Wasser. Er musste einen Schatten gesehen haben, denn er drehte sich plötzlich um.
„Leg die Dinger an!“
Baxter warf Hanson die Handschellen zu, während er mit dem Schwert auf die Kuhle am Hals zielte, wie er es einige Stunden zuvor bei Miller getan hatte.
„Scheiße Mann, du darfst dich glücklich schätzen, wenn dich die anderen schnappen, kriege ich dich in meine Finger, werde ich dich häuten.“
„Hör auf zu quatschen und leg die Dinger an.“
Hanson blieb reglos stehen. Baxter trat ihm gegen das Knie. Ein knackendes Geräusch, gefolgt von einem Schrei und dem dumpfen Aufprall eines Körpers vereinten sich zu einer Kakophonie. Baxter fesselte den Detective genauso wie McKellan, eilte ins Schlafzimmer und zog sich an.
Baxter stand unter Zeitdruck, da er nicht wusste, wie nah die anrückende Kavallerie bereits war. Er sah auf die Uhr. Es gab in seinem Bekanntenkreis einige Schauspieler, die es vom Zeitpunkt des Eintreffens der beiden Polizisten bis jetzt nicht geschafft hätten, einen Hemdknopf zu schließen. Er steckte die Glock in den Hosenbund, Hansons Portemonnaie in die rechte Tasche und verließ mit dem Schwert in der Hand seine Wohnung. Im Hof ging er direkt auf McKellan zu, der auf dem Rücken liegend, wütend seine Beine nach ihm stieß. Der Detective überließ ihm erst sein Geld, nachdem ihn ein Tritt gegen den Kopf kampfunfähig gemacht hatte.
Baxter eilte in die Trainingshalle, schnappte sich einen handlichen Rucksack, verstaute die Glock, die ihn am Bund drückte, warf die Brieftaschen der Polizisten hinein und legte noch zwei Messer dazu. Schweren Herzens ließ er das Schwert zurück. Über eine stählerne Wendeltreppe gelangte er in die obere Etage, folgte einem schmalen Gang, der ihn zu einer Tür führte, auf der Notausgang stand. Zum ersten Mal war er glücklich, dass dieser Ausgang über das benachbarte Studiogelände verlief. Er war noch ein Relikt aus einer Zeit, bevor das Ensemble zerstückelt wurde.
Baxter ging die Treppe hinunter, die auf das benachbarte Gelände führte und sah sich um. Hier herrschte Betrieb und er lief gemäßigten Schrittes zum Parkplatz hinüber. Er hängte sich den Rucksack lässig über die rechte Schulter, da er wie ein Angestellter auf dem Weg nach Hause erscheinen wollte.
„Nimmst du mich ein Stück mit?“, fragte Baxter einen Mann, der gerade die Fahrertür eines Kleintransporters öffnete.
„Wenn dir Lancaster recht ist, steig ein.“
„Das passt prima, danke. Ich würde gerne bis San Fernando mitfahren.“
Wetter, Frauen, Kinder, Haustiere und schließlich die Nachbarn boten einen reichhaltigen Fundus, aus denen der Fahrer seine Geschichten schöpfte. Baxter ließ ihn reden und unterbrach ihn nur, als er aussteigen wollte. Der Mann sagte, dass Baxter eine angenehme Reisebekanntschaft gewesen wäre und winkte ihm zu, bevor er weiterfuhr.
Baxter setzte sich auf die erste Bank, an der er vorbeikam und hielt inne. Wahrscheinlich hatte die Northeast Police Station zuerst eine Drohne ausgeschickt, die Lage zu sondieren. Bestimmt schwebte sie immer noch über dem Gelände und hatte alle seine Aktionen verfolgt und aufgezeichnet. Schließlich war er von der Bildfläche verschwunden und auf dem Nachbargelände wieder aufgetaucht. Falls die Drohne niedrig flog, weil sie allein seinen Hof beobachten sollte, wäre er unentdeckt entkommen, da die Treppe am Notausgang nur von großer Höhe einsehbar wäre. Egal wie es laufen würde, letztlich war es eine Frage der Zeit, bis die Polizei seine Spur wiederfinden würde. Doch bevor sie ihn schnappen konnte, zählte er das entwendete Geld und steckte es in seine Brieftasche. Er verfügte über knapp 120 Dollar. Der Betrag kam ihm so spärlich vor, dass er lachen musste.
Der städtische Flohmarkt war die Lösung. Dort kaufte er sich einen Schlafsack (bis minus acht Grad) und eine Isomatte (Superpackmaß). Dass das alles in den Rucksack passte, grenzte an ein Wunder. Bei einem Lebensmittelladen um die Ecke versorgte er sich mit zwei Flaschen Wasser (je 1,5 Liter) und seinen geliebten Powerriegeln. Baxters Ziel war die Sierra Nevada und wenn er nicht seine Gesundheitskarte bei Bus oder Bahn vorzeigen müsste, wäre er schon längst unterwegs gewesen. Ihm fiel nichts weiter ein, als zu trampen. Diese Art zu reisen hatte er in seiner Jugendzeit bevorzugt, als der Weg das Ziel und das Ziel nur eine Etappe unter vielen war. Er warf sich den Rucksack über und ging zur San Fernando Road, der er bis zum Abzweig des Sierra Highways folgte. Danach musste er nur noch entlang dieser Straße weitergehen. Er hoffte einen Anhalter zu erwischen, der ihn aus dem County brachte.
Er marschierte an den eintönigen Häusern und wuchtigen Hallenkomplexen vorbei, machte das weltweit bekannte Zeichen der Anhalter und hatte kein Glück. Die Straße verlief geradlinig und als am Stadtrand ein Pickup hielt, meinte Baxter, das halbe County durchschritten zu haben. Er fiel in einen leichten Trab.
„Immer mit der Ruhe, ich hab es nicht eilig“, rief ihm der Fahrer zu, als Baxter durch das Fenster der Beifahrertür sah. Der Mann wirkte drahtig und seine von der Sonne gebräunte, ledrige Haut ließ sein Alter im Ungewissen. Der Wagen blubberte vor sich hin und musste einer der letzten Verbrenner sein, die noch zugelassen worden waren. Vom ganzen Auto ging Benzingeruch aus.
„Ich kann Sie auf dem Highway bis etwas Sleepy Valley mitnehmen“.
„Ausgezeichnet, danke. Ich bin Peter“.
„Und ich Harry. Freut mich Sie kennenzulernen. Sind Sie nicht schon zu alt zum Trampen?“
Bei der Frage setzte sich der Pickup in Bewegung. Alles vibrierte und beim Gasgeben verstärkte sich dieser Eindruck bei Baxter. Es war ein neues Fahrgefühl für ihn.
„Ich denke, jeder, der getrampt ist, hat dieses Gefühl von Freiheit und Abenteuer erlebt. Ich möchte wissen, ob meinen Erinnerungen noch zu trauen ist und habe mir eine Auszeit genommen.“
„Das gefällt mir. Ich glaube allerdings, dass wir unsere Freiheit für ein immer bequemeres Leben aufgegeben haben. Seit zwei Jahren darf ich mit dem Pickup nicht mehr auf einer Interstate fahren. Bestimmte Gebiete im County sind ebenfalls für einen Verbrenner gesperrt. Wo du hinsiehst, überall Verbote. Doch deswegen lege ich mir keinen neuen Wagen zu.“
„Bei meinem letzten Einkauf bei Walmart konnte ich die Kasse für Barzahler nicht mehr finden. Jemand sagte mir, die wäre eine Woche zuvor abgebaut worden. Ich habe ihn blöd angestarrt und war sprachlos. Können Sie sich ein Amerika ohne Bargeld vorstellen? Ich nicht.“
„Ich auch nicht, aber es wird kommen und damit ist wieder ein Stück Freiheit dahin.“
„Sie verstehen es, einem Mut zu machen.“
„Man beginnt das Leben als Träumer und verlässt es ohne Illusionen. Wer hartnäckig am Träumen festhält, landet unweigerlich in der Irrenanstalt.“
„Haben Sie oft Mitfahrer?“
Harry lachte laut auf.
„Nein, aber nicht, weil ich sie vergraule, sondern weil ich nur noch selten fahre. Ich habe alles, was ich brauche, in der Nähe.“
„Das hört sich traumhaft an.“
„Das ist es auch. Nach San Fernando komme ich nur, um Benzin für meine Tankstation zu holen. Der Behälter auf meiner Ladefläche fasst 50 Gallonen.“
„Sie haben eine Tankstelle zu Hause?“
„Nein, ich setzte den Behälter“, und er zeigte nach hinten, „in meinem Hof auf einen Bock und schließe die Handpumpe an. Fertig.“
„Etwa so eine Handpumpe, wie sie vor über hundert Jahren gebräuchlich war?“
„Klar, seit es kaum noch Tankstellen für Verbrenner gibt, werden die zusammen mit Behältern unterschiedlichster Abmessungen wieder angeboten.“
„Davon hatte ich keine Ahnung.“
„Sie fahren auch keinen Verbrenner. Wenn Sie wollen, können Sie heute bei mir übernachten. Ich habe viel Platz.“
„Da sage ich nicht Nein.“
Beide schwiegen und Baxter schaute in die Landschaft. Sie wurden von Bikern auf geländegängigen Maschinen überholt, die bald darauf die Straße verließen und Sandfahnen hinter sich aufwirbelten, die im tief stehenden Sonnenlicht wie zerfaserte Sternennebel glitzerten.
Wenig später fuhr Harry vom Highway auf einen Weg ab, der zu einem kleinen Gehöft führte, das selbst für diese Gegend ärmlich aussah. Er hielt vor dem größeren der beiden Gebäude und stieg aus. Harry zeigte Baxter, wo er sein Lager für die Nacht aufschlagen sollte und bat ihn anschließend zu sich ins Haus.
Reichtum sieht anders aus, dachte Baxter und blickte sich unschlüssig um.
„Setzen Sie sich“, sagte der Hausherr und wies auf einen von vier Stühlen, die um einen rustikalen Tisch angeordnet waren.
„Wie lange wohnen Sie schon hier?“, fragte Baxter, nahm Platz und stellte den Rucksack zu seinen Füßen ab. Er kam sich verloren vor.
„Bin hier geboren und nach dem Tod meiner Eltern wieder zurückgekehrt. Eine Frau hatte ich auch, doch die ist mir vor langer Zeit davon gelaufen.“
„Sie sagen das auf eine Art, als ob Sie mit diesen Ereignissen nichts mehr zu tun hätten. Ich finde, das hört sich traurig an.“
„Wenn Sie das meinen, okay. Das Leben geht weiter und die Vergangenheit verliert an Bedeutung, genau wie die Zukunft.“
„Vielleicht haben Sie recht. Vermissen Sie nichts?“
„Haben Sie vor dem Wort Alleinsein angst? Ich brauche niemanden. Hin und wieder rede ich mit einem Fremden und das hält eine Weile vor.“
Was sollte Baxter darauf erwidern? Diese Art Gespräche führte er gewöhnlich nicht. Die Leute, die er kannte, redeten immer davon, Alleinsein zu wollen, meinten jedoch nicht das, was der alte Mann hier vorlebte.
Baxter setzte sich bequemer hin und stieß aus Versehen gegen den Rucksack, der daraufhin umkippte. Das Poltern eines schweren metallischen Gegenstandes war zu hören. Harry blickte den Rucksack traurig an.
„Ich lade Sie in mein Haus ein und Sie betreten es mit einer Waffe.“
„Entschuldigung. Das war unverzeihlich von mir. Ich habe gar nicht an die Waffe im Rucksack gedacht.“
„Das ist so glaubwürdig wie die Annahme, ich sei Millionär. Sie können jeden wertvollen Gegenstand, den Sie hier finden, mitnehmen.“
„Ich hatte nicht vor, Sie auszurauben. Danke, dass Sie mich mitgenommen haben, ich werde jetzt gehen“, sagte Baxter, stand auf und warf sich den Rucksack über. „Bevor ich verschwinde, würde ich gerne einen Schluck Wasser trinken.“
Harry nickte, füllte ein Glas und reichte es seinem Gast. Baxter trank es in einem Zug aus, bedankte sich und ging.
Baxter wandte sich seinem Schlafzimmer zu und nahm das Handtuch ab.
„Alles klar, Bruno.“
Hanson drehte sich reflexartig nach dem Geräusch in seinem Rücken um. Baxter reagierte blitzschnell und schlug mit dem Handtuch nach der Waffe, die der Detective in seiner Rechten hielt. Hanson stand eine Sekunde wie paralysiert da, die Baxter reichte, seine Faust mit Wucht unter den Rippen seines Gegners zu platzieren. Der Detective öffnete lautlos wie ein Fisch den Mund, aus dem allmählich ein leises Stöhnen zu vernehmen war und sackte wie eine Marionette, der die Fäden durchtrennt wurden, zusammen.
Im nächsten Augenblick flog die Tür auf. Baxter warf sich ihr mit voller Wucht entgegen. McKellan brüllte seinen Schmerz heraus. Die Tür hatte wie die Faust von King Kong zugeschlagen und Schaden angerichtet. McKellan taumelte orientierungslos umher. Baxter konnte unter dem Blutstrom kaum dessen Nase und Mund erkennen. Er ließ sich davon nicht beeindrucken und streckte den Detective endgültig nieder. Er nahm ihm Waffe, Handy, Geld und Polizeimarke ab. Danach befreite er Hanson von seiner persönlichen Habe, schleifte ihn zu McKellan hinüber und fesselte die beiden mit ihren eigenen Handschellen aneinander.
Während Baxter sich anzog, ging er seine Optionen durch. Er vertraute niemanden in seinem Bekanntenkreis der Art, dass er ihm die Geschichte erzählen und um Hilfe bitten konnte. Er war auf sich allein gestellt. Baxter langte nach seinem Rucksack für Bergtouren, stopfte neben Schlafsack und Isomatte auch eine regendichte, aber leichte Jacke hinein. Dann legte er einige Riegel seiner Powernahrung hinzu. In der Küche füllte er eine Wasserflasche, griff sich zwei Messer aus der Schublade und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dort nahm er die Sachen der Polizisten an sich. Hanson war inzwischen zu sich gekommen und starrte ihn an.
„Was gucken Sie so erstaunt? Noch ist das meine Wohnung.“
„Sie werden nicht weit kommen, Baxter und ich garantiere Ihnen, dass Ihr zukünftiges Zuhause weniger komfortabel sein wird.“
„Damit werden Sie wohl recht haben, Detective. Ich muss in Zukunft sparsamer sein“, erwiderte er und wandte sich zum Gehen.
„Laufen Sie nicht weg, Mann. Wir vergessen die kleine Meinungsverschiedenheit, wenn Sie uns von den Handschellen befreien und gesittet mit aufs Revier kommen.“
„Ich weiß auch, wie das Märchen weitergeht. In Polizeigewahrsam bekam er viele Gunstbezeugungen, derer er sich später im Gefängnis noch immer erfreuen durfte. Leider kein Bedarf.“
„Wenn Sie weglaufen, machen Sie alles noch schlimmer. Morgen, spätestens Übermorgen schnappen wir Sie.“
„Viel Glück, ich muss jetzt los.“
Bevor Baxter die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal um.
„Essen steht im Kühlschrank. Bedienen Sie sich.“
Das Zuschnappen der Tür ließ Hansons Fluch verstummen. Baxter lief die Treppe hinunter, warf das Handy in sein Auto und programmierte den Autopiloten. Dann drückte er den Startknopf und sah seinem Wagen hinterher, der in Richtung Las Vegas davon fuhr.
Baxter hatte mehr als nur ein Problem. Bus, Bahn und Flugzeug kamen für seine Flucht nicht infrage, da er für diesen Service seine Gesundheitskarte vorweisen und digital bezahlen müsste. Das war die schnellste Art der Polizei in die Arme zu laufen. So saß er jetzt in McKellans Wagen und fuhr zum nächstgelegenen Walmart. Dort angekommen, plünderte er mithilfe eines Geldautomaten sein Konto. Mit knapp 5000 Dollar in bar eilte er zu dem geborgten Auto und machte sich auf den Weg nach San Fernando.
Als Baxter an der ersten Kreuzung in besagtem Ort halten musste, verließ er mit seinem Rucksack das Fahrzeug, welches zusammen mit den Marken und Handys der Polizisten autonom nach Stockton weiterfahren würde. Er tauchte in einer Gruppe von Leuten unter, die die Straße querten und lief so lange durch die Stadt, bis er Motorräder sah, die wie gezähmte Mustangs nur darauf warteten, von ihm geritten zu werden. Baxter betrat das umzäunte Gelände und schaute sich mehrere Modelle an. Nach kurzer Suche fand er eine Maschine, mit der er sich in die Berge wagen würde und verschwand im Büro, das in einem Container untergebracht war, den die Zeit in einen schäbigen Bunker verwandelt hatte. Obwohl das Firmenlogo seit seinem letzten Besuch verblasster wirkte, konnte er noch immer Bernies Bikes entziffern.
„Sie sind mir einer von der schnellen Sorte“, rief ihm ein älterer Mann zu, den Baxter im Halbdunkel nicht bemerkt hatte.
„Und Sie sind ein guter Beobachter. Hat Bernie heute frei?“
„Keine Ahnung, welchen Bernie Sie meinen. Der Laden gehört jedenfalls mir.“
„Auch gut. Wie viel verlangen Sie für die Zero?“
„Die Maschine hat zwar schon ein paar Jahre auf dem Buckel, ist aber in gutem Zustand. Macht für Sie 3000 Dollar inclusive eines neuwertigen Akkus.“
„Ein fairer Preis.“
„Das will ich meinen. Brauchen Sie sonst noch was?“
„Ich suche nach einem dazu passenden Solarmodul.“
„Dachte ich mir. Sollten Sie mit fünf Stunden Aufladezeit zufrieden sein, kann ich Ihnen eins mit kleinem Packmaß anbieten. Kostet nur 600 Dollar.“
„Für die geringe Leistung, eine Menge Holz.“
Der Mann griff gezielt ins Regal, das die Breite des Büros ausfüllte und streckte ihm ein Paket entgegen: „Immer noch skeptisch?“
Baxter tat nicht nur überrascht, er war es auch. Solch geringes Packmaß hatte er nicht erwartet.
„Sie haben mich überzeugt. In der Mittagshitze lege ich mich in den Schatten und döse vor mich hin.“
„Das ist auch meine Devise. Falls Sie noch kein Seil haben, sollten Sie sich eins zulegen“, sagte der Mann und zeigte auf das entsprechende Regalfach. „Macht sich in den Bergen immer bezahlt.“
„Sie können wohl Gedanken lesen“, meinte Baxter und suchte sich zwei 20 Meter lange Seile aus. „Das kleine Monster auf Ihrem Schreibtisch können Sie auch noch dazu legen. Dann fühle ich mich nachts nicht so allein.“
„Pech gehabt. Das ist ein Geschenk meiner Enkelin. Wir sind vor vielen Jahren zusammen im Kino gewesen. Heute studiert sie Kunstgeschichte. Mein Gott, wie die Zeit vergeht.“
Baxter nickte und sah sich das Monster genauer an. Er kannte nicht nur den Film, sondern auch den Künstler, der es kreiert hatte.
„Das Monster ist demnach unbezahlbar. Wie viel bekommen Sie für die anderen Sachen?“
„3650 Dollar, fast geschenkt.“
Baxter zählte dem Mann die geforderte Summe passend auf die Hand und erhielt den Schlüssel zusammen mit den Papieren ausgehändigt.
„Hab den Akku heute aufgeladen. Hatte so eine Ahnung“, sagte der Mann, ging zu der Zero, setzte den Akku ein und verabschiedete sich, während Baxter Rucksack nebst Solarmodul verstaute. Anschließend rollte er geräuschlos vom Gelände und fuhr Richtung Sierra Nevada davon, wo er in knapp eineinhalb Stunden deren südliche Ausläufer erreichen würde.
Nur hatte er nicht die Absicht, jemals dort anzukommen. Die Polizei würde seiner Spur folgen und mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Motorradhändler treffen, der im Brustton der Überzeugung behauten würde, der Gesuchte wäre in die Sierra gefahren. Mit etwas Glück liefen sie dort ins Leere.
Sollte Baxter jetzt fliehen, würde er immer auf der Flucht sein. Genügend Geld, um sich eine neue Identität zu verschaffen, besaß er nicht. Er hatte als McKellans Sachverständiger einiges von ihm gelernt, was die Verfolgung von Flüchtigen betraf. Im offenen Gelände oder wenig bewohnten Gebieten wurden Drohnen eingesetzt, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet waren und eine Erfolgsquote besaßen, von der jeder Polizist nur träumen konnte. Und genau solch eine Verfolgung musste er befürchten, wenn er in die Sierra fuhr. In Vincent verließ er den Highway und nahm einen anderen Weg nach Glendale zurück, sodass er zwei Stunden nach seiner Abfahrt wieder dort eintraf.
Baxter musste den Mord an Liza aufklären, um seine Unschuld zu beweisen. Durch seine Flucht hatte er sich in eine schwierige Situation gebracht. Das LAPD würde anstatt den Mörder zu suchen, hinter ihm her sein und dadurch ihre Chance verspielen, den wahren Täter zu finden. Zeit war der entscheidende Faktor bei einer Ermittlung. Dies hatte ihm McKellan während ihrer Zusammenarbeit deutlich zu verstehen gegeben. Konnten die Ermittler nach einer Woche keine brauchbaren Ergebnisse vorweisen, schwand die Aussicht, den Schuldigen zu finden. Baxters Flucht mochte überstürzt gewesen sein, doch befände er sich jetzt in den Fängen von Polizei und Justiz, bliebe ihm nur Hoffnung. Stattdessen war er frei und traf selbstständig Entscheidungen. Er kam zu dem Schluss, dass er Hilfe brauchte.
Baxter wartete den Abend ab, fuhr nach North Hollywood und hielt vor einem Grundstück, das im Gegensatz zu allen anderen einer grünen Oase glich. Vor lauter Grün konnte er das Haus nicht erkennen und hoffte, dass es tatsächlich existierte und Albert Dekker noch dort wohnte. Albert war der Künstler, der das Filmmonster erschaffen hatte, das bei Bernies Bikes als unverkäuflich galt. Bei diesem Mann hoffte Baxter unterzukommen. Er öffnete die Gartenpforte, die ihm einen schmalen Pfad durch den kleinen Urwald bis zur Haustür wies. Seitlich der Tür stand eine Bank, auf der eine schwarze Katze lag und den Kopf hob, als er näher trat. Ihre grünen Augen musterten ihn eindringlich.
„Du bist mir ja eine Hübsche“, begrüßte er sie.
„Du siehst auch nicht übel aus“, ließ sich die Katze vernehmen. Abrupt blieb Baxter stehen.
„Was ist los? Hat das noch niemand zu dir gesagt?“
„Das ist es nicht. Ich war einfach nicht auf eine sprechende Katze gefasst.“
„Das geht in Ordnung. Ich hab schon Typen umgehauen, die waren kräftiger als du gebaut. Also, wer bist du?“
„Ich heiße J.P. Baxter und habe mal mit Albert zusammengearbeitet.“
„Ach ja? Wann war das?“
„Vor etwa 5 Jahren bei seinem letzten Filmprojekt. Er konnte phantastische Wesen kreieren und hat die Computer animierten immer verabscheut.“
„Seine Arbeiten wollte kein Studio mehr bezahlen. Digital ist billiger. Das hat er nicht verwunden.“
„Ich fürchte, mir wird es auch bald so ergehen. Stuntman ist ein aussterbender Beruf.“
„Wofür steht J.P.?“
„Für Jean-Pierre.“
„Jean-Pierre Baxter? Du verulkst mich doch. Wenn du meine Krallen spüren willst, mach nur so weiter.“
„Nein, ernsthaft. Meine Mutter liebte die Filme des französischen Regisseurs Jean-Pierre Melville.“
„Kein Witz? Der Mann hieß mit bürgerlichem Namen Grumbach und hat sich nach dem Schriftsteller Melville benannt. Ich werde dich Herman nennen.“
„Keine Frage, du kennst dich aus. Wie lautet dein Name?“
„Simone.“
„Nach Simone Simon, der Hauptdarstellerin des Films Cat People?“
„Du willst ein Stuntman sein?“
„Ja und ich nenne dich Jacques, nach dem Vornamen des Regisseurs.“
Simone fauchte und zeigte ihre Krallen.
„Deine Art gefällt mir. Wenn du dich traust, kraul mich hinter den Ohren.“
„Gewöhnlich tue ich das bei Katzen unaufgefordert“, sagte Baxter und streckte seine Hand nach ihr aus. Augenblicklich zeigten sich rote Spuren auf seinem Handrücken. Er hatte keine Chance gehabt, die Hand zurückzuziehen.
„Ich bin alles, nur nicht gewöhnlich.“
„Das habe ich eben gespürt. Wo ist Albert überhaupt?“
„Ist dir die Lust auf eine Unterhaltung mit mir bereits vergangen?“
„Das ist es nicht. Ich möchte nur den Herrn des Hauses begrüßen.“
„Du kommst zu spät. Albert ist seit über einem Jahr tot.“
„Das tut mir leid. Das war mir nicht bekannt.“
„Wie sollte es auch. Offiziell ist er noch am Leben. Albert wünschte es, damit ich nicht obdachlos werde.“
„Du bist seine letzte Kreation.“
„Darauf kannst du wetten und bei mir hat er sich wirklich ins Zeug gelegt.“
„Ich brauche einen Unterschlupf. Kann ich vorläufig bei dir wohnen?“
„Du bist allein und hast keine sieben Zwerge in deinem Rucksack versteckt?“
„Nein, nicht mal einen.“
„Warum trägst du eine Glock mit dir herum?“
„Ich sehe schon, ich muss dir alles erzählen.“
„Was für ein wunderbarer Anfang.“
„Ist in der Garage noch Platz für ein Motorrad?“
Simone verdrehte die Augen. Baxter holte die Zero und stellte sie in der Garage ab. Der Ford, der dort parkte, war ein Relikt aus der Vergangenheit und besaß einen Verbrennungsmotor. Mit diesem Wagen würde er überall auffallen, weshalb er sich für die Mordermittlungen einen anderen besorgen musste.
Simone stand in der offenen Tür und bat Baxter herein. Er sah sich um. Die Einrichtung entsprach nicht dem Zeitgeschmack, doch er fand sie gemütlich. Er setzte sich in einen Sessel und ehe er sich versah, lag die Katze auf seinem Schoß. Baxter erzählte ihr alles.
Simone hörte interessiert zu, was er daran merkte, dass sie wiederholt ihre Ohren spitzte. Manchmal sah sie ihn mit weit geöffneten Augen an, deren Grünton ihn zu hypnotisieren schien, wodurch er den Faden verlor und neu ansetzen musste. Er wusste nicht, ob dieses Verhalten typisch für Simone war oder ob es auf der Wirkung seiner Geschichte beruhte. Als er geendet hatte, blieb sie eine Weile schweigend liegen und fuhr ihre Krallen aus. Baxter sah sie beunruhigt an.
„Da müssen wir wohl in Lizas Vorleben eintauchen.“
„Wir?“
„Selbstverständlich. Du hast mir doch gerade erzählt, dass man dich an die Hand nehmen muss.“
„Du bist mir aber ein kritischer Partner.“
„Ja und so muss es auch sein. Wenn ich dich nur anschnurre, machst du in deinem Stil weiter, was die Bullen unweigerlich auf unsere Spur führen wird. Ich muss kritisch sein, schon aus Selbstschutz.“
„In dir steckt doch mehr, als man erwarten würde. Sag jetzt nicht, Albert hat deinem Innenleben eine KI spendiert.“
„Du brauchst ziemlich lange für das Offensichtliche. Albert hatte neben dem Kreieren von Monstern noch eine andere Leidenschaft, von der niemand wusste. Er hat sich mehr als 40 Jahre lang mit künstlicher Intelligenz beschäftigt und dabei auf den Lerneffekt gesetzt.“
„Du weißt schon, dass der Schaffensprozess, dessen Endprodukt du bist, unter Strafe steht. Motorische Fähigkeiten und Algorithmen, die der Orientierung dienen, sind erlaubt, Intelligenz ist tabu.“
„Ich sage es niemandem weiter. Wie steht es mit dir?“
„Du nimmst das auf die leichte Schulter. Doch sobald du gefasst wirst, ist der Spaß vorbei. Sie werden erkennen, dass du ein Hightech-Produkt bist.“
„Das war wenig charmant. Ich bin kein Produkt, niemand kann mich kaufen. Außerdem möchte ein menschliches Wesen, das eine Katze sieht, diese streicheln. Niemand käme auf die Idee, in einer Katze nach künstlicher Intelligenz zu suchen.“
„Zugegeben, da ist etwas dran.“
„Wir beide passen gut zusammen. Body und Brain.“
„Ich glaube, das war ursprünglich in einem anderen Zusammenhang gemeint.“
„Bist du verstimmt, weil ich dich auf deinen Körper reduziert habe? Musst du nicht. Du bist ein Kraftpaket. Das gefällt mir.“
„Danke. Jetzt, wo klar ist, wer das Grobe zu erledigen hat, lausche ich deinen Worten. Wie werden wir vorgehen?“
„Wir müssen alles über den Tatort und den Stand der polizeilichen Ermittlungen in Erfahrung bringen.“
„Ist das so?“
„Ironie ist hier fehl am Platze. Ich werde mich darum kümmern.“
„Und was mache ich inzwischen? Aufbautraining für meine Muskeln?“
„Du fährst mich zur Northeast Police Station und wartest so lange, bis ich den Job erledigt habe.“
„Das klappt doch nie.“
„Hab vertrauen in deinen Partner. Ich bin eine Katze, schon vergessen. Mehr musst du nicht wissen.“
„Jetzt fällt bei mir der Groschen. Du hast auf die Art für Albert gearbeitet, bist in Häuser eingebrochen, um Brieftaschen zu entwenden.“
„Knapp daneben“, sagte Simone und zog eine Schublade auf, die mit Kreditkarten gefüllt war.
Eins
Der Geruch im Speisesaal war schwer zu beschreiben. Baxter nahm eine ungenießbare Mischung aus synthetischen Nährstoffen und Reinigungsmitteln wahr. Er saß neben John und quälte sich sein Essen rein. Die Bohnen waren ein schleimiger Brei, das Stück Fleisch total verkocht und beides ohne Geschmack.
„Wie kannst du das nur essen?“
„Ich esse das nicht, ich schlucke nur“, erwiderte John.
„Baxter, du hast Talent, dich bei allen unbeliebt zu machen.“
Der Mann, der das sagte, war schwarz wie die Nacht und ein Blick von ihm genügte, dass John abzog. Der Mann nahm Baxter gegenüber Platz.
„Setz dich doch Moose. Das mag für dich so aussehen, doch ich möchte nur meine Ruhe haben. Marconi hat das verstanden, auch wenn es ihn nicht gefreut hat.“
Black Moose lächelte verhalten.
„Deine Ruhe genießt du im Big Valley erst, wenn du zu atmen aufgehört hast. Ich empfehle dir, deine Strategie zu ändern.“
„Jetzt kommen wir zum Kern der Dinge. Willst du mein Berater werden?“
Black Moose lachte lautlos.
„Übertreib es nicht, Baxter. Du bist gut, vielleicht sogar sehr gut, aber nicht unsterblich.“
„Schätze, das trifft auf dich auch zu.“
„Ich gehe mal davon aus, dass du mir damit nicht drohen willst, sondern nur unser natürliches Ableben im Blick hast.“
„So ist es. Ich möchte mit allen gut auskommen.“
„Leider leben wir hier im Big Valley und nicht in einer Märchenwelt. Gewisse Realitäten musst du einfach respektieren.“
„Die da wären?“
„Randall Bush ist nachtragend. Ich verwende absichtlich ein die Situation entdramatisierendes Wort, damit du nicht vor Schreck an den Bohnen erstickst.“
„An dir ist ein Heiliger verloren gegangen. Wenn du nicht bald mit der Sprache rausrückst, muss ich annehmen, du willst mir Schutz anbieten.“
„Vielleicht ist es so. Schau dich um, wie argwöhnisch wir beäugt werden. Wenn du klug bist, reichen wir uns jetzt die Hände und lassen alle denken, wir hätten einen Deal. Das wäre mein Vorschlag.“
„Ein Deal, der nur dafür gedacht ist, die anderen zu täuschen, ist in meinen Augen kein Deal.“
„Der Anschein reicht hier vollkommen aus. Ich komme zu dir und sage damit allen, dass ich dich respektiere. Schon genießt du mehr Ansehen und Sicherheit.“
„Gut, was für mich dabei herausspringt, sehe ich, doch wo liegt dein Gewinn?“
„Ich will, dass hier alles in seinem gewohnten Trott vor sich geht. Spielst du den Haudrauf, bringst du Unruhe in unseren Alltag und die Wärter werden nervös. Muss ich noch mehr sagen?“
„Nein. Wenn dir diese Kleinigkeit so wichtig ist, einverstanden“, sagte Baxter und seine Hand verschwand in der schwarzen Pranke. Kaum hatte Black Moose sich erhoben, kam John an seinen Platz zurück.
„Wie ich sehe, habt ihr Freundschaft geschlossen.“
„Warum tust du so erstaunt? Ich bin doch nur deinem Rat gefolgt.“
„Genau das erstaunt mich.“
Baxter schüttelte ob dieser Logik nur den Kopf.
„George, Sie können gehen“, sagte Dr.