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Per, der zwischen Farnwedeln in Deckung gegangen war, verfolgte das Geschehen. Der Wagen wurde langsamer, wendete und hielt mit dem Heck zum Haus. Zwei Männer stiegen aus. Keiner von ihnen ähnelte Pers Zielperson. Die Männer gingen zum Haus und traten ein. Er konnte nicht erkennen, ob sie einen Schlüssel benutzt hatten oder eingebrochen waren. Stille senkte sich herab, wie beim ersten Schneefall des Jahres. Per kam es zu still vor und er tauchte unter den Farnen ab. Er hielt die kleine Pistole in der Hand. In jedem Lauf steckte eine Patrone. Sie wirkten friedlich, nur in der Ruhe lag etwas Bedrohliches. Per fährt nach Öland, um Martin Sjöwall zu töten. Er ist nicht auf Rache aus, sondern nur der Vollstrecker eines Kontraktes. Doch bald merkt Per, dass sich noch jemand für Sjöwall interessiert. Die Dinge laufen aus dem Ruder.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Reimon Nischt
Ein gewöhnlicher Auftrag
Roman
Herausgegeben von:
www.bilderarche.de
© 2025 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf
Teil Eins
Per betrat das Hotel und ging rechts an der Rezeption vorbei in den höher gelegenen Barbereich. Bis auf einen Mann und eine Frau, die sich an einem Tisch gegenüber saßen, war alles frei. Per ging zu einem Sessel, der sich hinter einem kleinen runden Tisch in einer Ecke im Halbdunkeln verbarg. Er setzte sich hinein und versank, ohne Halt zu finden. Als er merkte, dass er es nicht mit einem fleischfressenden Sessel zu tun hatte, lehnte er sich entspannt zurück. Er ignorierte die Getränkekarte und wartete auf die Bedienung. Er hatte es nicht eilig und sah zu dem besetzten Tisch hinüber. Während der Mann an seinem Gin Tonic nippte und nach dem Geschmack fahndete, nahm die Frau einen tiefen Schluck von ihrem Lillet Berry. Keiner sagte ein Wort und auch sonst verhielten sie sich so, als wären sie schon lange miteinander verheiratet. Per blickte über das Paar hinweg in eine sternenklare Nacht, deren Anblick ihm die durchsichtige Fassade aus Glas ermöglichte.
„Was darf ich Ihnen bringen?“
Per ließ von den Sternen ab und sah zu der Bedienung auf. Er kam sich in dem Sessel wie ein Zwerg vor.
„Einen Gimlet, bitte.“
„Ich glaube, der steht nicht auf unserer Karte.“
„Ich vertraue dem Mann hinter der Bar, sollte ich falsch liegen, nehme ich einen Gin Sour.“
Sie nickte und ging mit einem skeptischen Blick davon. Er sah ihr nach, hörte allerdings nicht, was sie zum Barkeeper sagte, sondern bemerkte nur sein Nicken. Bald darauf genoss er seinen Gimlet.
Nachdem er einen zweiten getrunken hatte, nahm der den Fahrstuhl in die dritte Etage und ging in sein Zimmer. Er startete sein Notebook und scrollte durch die aktuellen Meldungen, die wie üblich die Vorgänge in grellem Licht zeigten. Jede Banalität wurde zu einem Ereignis aufgeblasen. Alles nur, um ein paar Klicks zu generieren. Doch die Meldung, nach der er suchte, war nicht darunter. Er lehnte sich entspannt zurück und schloss die Augen. Er hatte sauber gearbeitet und keine Aufmerksamkeit erregt.
Er wäre gerne einer der Schützen beim Attentat auf John F. Kennedy gewesen. Natürlich nicht Oswald, sondern einer der anonymen CIA-Agenten. Er bewunderte das Attentat und hielt seine öffentliche Darstellung für ein Meisterwerk der Manipulation. Er war der Ansicht, dass die meisten Menschen auch noch tausend Jahre nach der Ermordung Kennedys dem Warren-Report Glauben schenken würden, der besagte, dass Lee Harvey Oswald der Attentäter war. Oder vielleicht sogar Donald Duck, denn die Theorie vom Einzeltäter war so lächerlich, dass Per sich fragte, wie sie zur Wahrheit erklärt werden konnte. Und genau das war der Punkt, der ihm daran besonders gefiel. Er vermutete, dass die Mittel zur Manipulation der öffentlichen Meinung schier grenzenlos waren.
Diese Gedanken hatten wenig Bezug zu seinem Leben, außer dass sie ihn davon abhielten, politisch motivierte Aufträge anzunehmen. Wann immer er in Versuchung geriet, dachte er an das Kennedy-Attentat und daran, wie es Oswald ergangen war: hingehängt von seinen eigenen Leuten, die einen Sündenbock brauchten und ihn dafür auserkoren hatten. Zu gerne hätte er Oswalds Version des Attentats gehört, das was er wusste und vor allem, was er nicht wusste.
Nach Ablauf der Sperrfrist hatten die nachfolgenden US-Präsidenten gezögert, die noch nicht veröffentlichten Akten freizugeben. Diesem ängstlichen Zaudern, das dem mächtigsten Mann der Welt nicht gut zu Gesicht stand, setzte Joe Biden ein jähes Ende: Er übertrug die Aktenhoheit den einzelnen Behörden, was bedeutete, dass die CIA den Veröffentlichungstermin der Dokumente bestimmen konnte. Den Bock zum Gärtner zu machen, war eine Entscheidung gewesen, die ihm das Wohlwollen einiger mächtiger Männer eingebracht hatte. Doch für all jene, die die Hoffnung hegten, noch zu ihren Lebzeiten die ganze Wahrheit zu erfahren, egal ob sie nun 80 oder erst 18 Jahre alt waren, wirkte diese Entscheidung wie blanker Hohn. Bidens Nachfolger machte die Anordnung umgehend rückgängig und gab alle Dokumente frei. Jeder, der es sehen wollte, konnte nun die Verstrickung der CIA in den Mord erkennen.
Per wünschte sich für seine Tätigkeit die gleichen Freiheiten wie die CIA, doch das war ein Traum, der nie in Erfüllung gehen würde. Er brachte nur ganz normale Leute gegen ein entsprechendes Entgelt für immer zum Schweigen und wenn er es verbockte, war er auf sich allein gestellt.
Nach dem Besuch in der Bar hatte Per gut geschlafen und stand am nächsten Morgen um 7.00 Uhr auf. Er duschte kalt, zog sich an und frühstückte reichhaltig. Gestärkt ging er auf sein Zimmer, packte seinen Handkoffer und nahm den Fahrstuhl nach unten zur Rezeption. Er hatte es nur für eine Nacht gebucht.
„Zimmer 312. Hat jemand etwas für mich abgegeben?“
„Einen Augenblick, Herr Wegener“, sagte der Hotelangestellte und kam mit einem Umschlag zurück. Per bedankte sich und bezahlte die Rechnung. Dann verließ er das Hotel und ging zur Stadtbibliothek. 19 Minuten später betrat er das Gebäude, in der Hand den Schlüssel, der ihm mit dem Brief übergeben worden war und suchte nach dem entsprechenden Schließfach. Er sah sich um, registrierte nichts Verdächtiges und öffnete die Tür. Er fand einen dicken Umschlag in Briefgröße und einen dünnen im A4-Format. Er steckte den dicken in die Innentasche seiner Jacke und legte den anderen in den Koffer, den er im Schließfach deponierte. Dann griff er sich einen Korb und verschwand zwischen den Bücherregalen. In die Abteilung über Kunst hatte sich niemand verlaufen. Er setzte sich an einen Tisch und zog den Umschlag hervor. Wie erwartet, enthielt er gebrauchte Geldscheine. Er zählte sie schnell durch und steckte sie in seine Brieftasche. Es war die vereinbarte Summe. Dann holte er seinen Handkoffer aus dem Schließfach und verließ die Bibliothek.
Er ging auf direktem Weg zum Parkplatz, stieg in seinen Wagen und nahm den großen Umschlag zur Hand. Er wusste, dass darin alle Informationen für seinen nächsten Auftrag zusammengestellt waren. Wie immer hielt er kurz vor dem Öffnen einen Moment inne, fragte sich, was ihn erwartete, riss den Umschlag auf und sah hinein. Er enthielt ein Foto und ein gefaltetes A4-Blatt. Das Foto in der Größe 13x18 zeigte einen ernst blickenden Mann in mittleren Jahren, dessen Haare kurz und von schmutzigem Blond waren. Die Nase wirkte schmal und beinahe kantig, doch die dunklen Augen verliehen dem Gesicht eine gewisse Aggressivität. Mit längeren Haaren wäre er als brandschatzender Wikinger durchgegangen.
Per faltete das beigefügte Schreiben auseinander. Der Mann hieß Martin Sjöwall, wohnte in Malmö, war verheiratet und 47 Jahre alt. Er hatte ein Transportunternehmen und war für die Gesellschaft tätig, die den Tunnel im Fehmarnbelt baute. Zurzeit machte er auf Öland Urlaub, wo er seit 12 Jahren eine Hütte besaß, die dem offenen Meer zugewandt und abgeschieden lag. Per blickte zum Foto und fragte sich, ob Sjöwall allein beim Anblick der Wellen entspannen konnte, denn über die Anwesenheit seiner Ehefrau schwieg sich der Text aus. Vielleicht verbrachte er den Urlaub mit seiner Geliebten. Alles schien möglich. Per schüttelte den Kopf: Von ihm wurde saubere Arbeit erwartet, doch das Papier, das dafür die Arbeitsgrundlage bildete, konnte er nur als oberflächlich recherchiert bezeichnen. Er nahm sich vor, mit seinem Auftraggeber Rücksprache zu halten, um demnächst Aufträge abzulehnen, die mehr Fragen aufwarfen als Antworten zu geben.
Mit dieser unzureichenden Vorarbeit schienen die fünf Riesen, die Per avisiert wurden, kein leicht verdientes Geld zu sein. Er steckte das A4-Blatt zurück in den Umschlag. Bevor er das Foto dazu legte, tat er einen Blick in die Zukunft und ergänzte es in Gedanken um ein kleines Einschussloch, das er in der Stirnmitte platzierte.
Per nahm die A1 nach Norden und solange er sich auf der Autobahn befand, kam er zügig voran. Doch die endete vor Heiligenhafen und er fuhr auf der B207 weiter, deren Ausbau noch nicht abgeschlossen war. Vor der Brücke nach Fehmarn gab es einen Rückstau, da wieder einmal Reparaturarbeiten vorgesehen waren. Die Absperrungen standen bereits und dem Schild konnte er entnehmen, dass Seile entrostet werden sollten. Er zuckelte mit den anderen an der Baustelle vorbei. In Puttgarden wartete er 17 Minuten auf die Fähre nach Rødby, die und er freute sich darüber pünktlich ablegte. Die Überfahrt dauerte eine Dreiviertelstunde und fühlte sich fast wie ein Urlaubsbeginn an.
Mit der Fährüberfahrt war endgültig Schluss, sollte der Tunnel irgendwann einmal fertig werden. Dann würde es keine Unterbrechung der Autofahrt geben, sondern ein zehnminütiges Tunnelrasen unter dem Meeresboden. Doch Per hatte aufgehört, die Terminverschiebungen zu zählen. Als Jahr der Fertigstellung wurde jetzt 2036 genannt und alle Verzögerungen gingen bisher von deutscher Seite aus. Egal, wie es mit dem Bau weiterging, Dänemark würde das letzte europäische Land sein, das sich auf ein Großprojekt mit Deutschland einließ. Alle Welt sah, was es brachte, mit einem Partner zusammen zu arbeiten, der nichts auf die Reihe bekam. Das Bauwerk sollte der längste Absenktunnel der Welt werden, doch es war zu befürchten, dass Deutschland das Projekt noch vor seiner Fertigstellung versenken würde.
Per lehnte sich an die Reling und achtete darauf, nicht im Abgasstrom des riesigen Schornsteins zu stehen. Nur wenige Menschen befanden sich an Deck. Er vermutete, dass es an der steifen Brise lag, die auch seinen Anorak wie einen Ballon aufblähte. Er beobachtete die Möwen, die wie Drachen, nur ohne Leine am Himmel über der Fähre standen, hin und wieder abdrehten und sich neu positionierten. Manchmal fotografierte Per die Flugkünstler, doch diesmal hatte er seine Fotoausrüstung im Auto gelassen. Er nahm sie überall mit hin, egal ob er arbeitete oder nicht. Mit einer Kamera in der Hand galt er als Tourist und das hatte ihm bisher immer als gute Tarnung gedient.
Per war einer der letzten, die das Deck verließen und zu ihren Autos gingen. Einige Fahrzeuge standen so dicht nebeneinander, dass er sich zwischen ihnen hindurch schlängeln musste. Als er sein Auto erreicht hatte und einsteigen wollte, bekam er die Fahrertür nur so weit auf, dass er sich gerade noch hinter das Lenkrad zwängen konnte. Ein anderer Fahrer beobachtete ihn und quittierte sein Manöver mit einem erhobenen Daumen. Per lächelte zurück.
Wenige Minuten nachdem die Fähre angelegt hatte, wurde die Luke geöffnet und auf das folgende Signal hin entleerte sich ihr voluminöser Bauch. Per folgte der Europastraße nach Malmö. Das flache Land zog an ihm vorbei. Nach mehr als einer Stunde passierte er das Schild Last Exit in Denmark und gelangte bald darauf in den Tunnel. Jede Tunnelfahrt ermüdete ihn, sodass die Ausfahrt auf die Sundbrücke einem intensiven Durchatmen glich. In der Tiefe sah er Segelboote auf den Wellen hüpfen und Möwen im Wind gleiten.
Die Mautstation bremste sein Hochgefühl. Die Straße fächerte sich auf und er reihte sich in eine Schlange ein, die zu einer Schranke führte, die er mit seiner Kreditkarte acht Minuten später öffnete. Er fuhr auf den hinter der Mautstation gelegenen Parkplatz und machte eine Pause. Er setzte sich an einen windgeschützten Tisch, der von grünenden Hecken umgeben war. Er dachte, er wäre allein und hatte nicht mit den Dohlen gerechnet, die ungeniert einen Anteil von seinem Frühstück forderten. Sie landeten auf der gegenüberliegenden Bank und verfolgten ihn mit Blicken. Griff er zur Kamera, suchten die Vögel Schutz in den umstehenden Bäumen. Bevor er seine letzte Stulle einpackte, bröckelte er einige Krumen ab und ließ sie auf dem Tisch zurück. Dann machte er sich auf den Weg, fuhr an Malmö vorbei und nahm die E22 Richtung Kalmar.
Es kam ihm vor, als wäre er allein unterwegs. Er hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und rechnete damit, Kalmar in drei Stunden zu erreichen. Die Urlaubssaison stand noch bevor, aber die Temperaturen hatten bereits die 20-Grad-Marke überschritten. Sonne und Wolken wechselten sich ab und er hätte darüber vergessen können, weshalb er nach Schweden gekommen war.
Zur vorgesehenen Zeit erreichte er Kalmar, folgte dem Hinweisschild Öland und überquerte die Brücke, die zur Insel führte. Dann bog er nach Färjestaden ab und fuhr zu dem Campingplatz, der gleich an der nächsten Abfahrt lag. Er hielt vor der Rezeption und stieg aus.
Immer wenn er in den Norden fuhr, nahm er Zelt, Isomatte, Schlafsack und Spirituskocher mit. Er hatte schon einige Male in der Wildnis übernachten müssen, doch jetzt, in der Vorsaison, rechnete er nicht damit. Wegen der Unwägbarkeiten seiner Arbeit fand er es von Vorteil, immer alles dabei zu haben.
Er ging zum Tresen, wo ihn eine junge Frau freundlich begrüßte. Er schaute sich kurz um, gewahrte einen drehbaren Zeitungsständer und drei Laptops, auf denen ein Begrüßungsvideo in Schleife lief. Er buchte eine kleine Hütte für eine Woche. Die Frau zeigte ihm den Standort auf dem Lageplan. Sie kam ihm dabei so nahe, dass er ihr Shampoo riechen konnte. Verwirrt sah er auf. Lächelnd gab sie ihm den Schlüssel. Er bedankte sich und fuhr direkt zu der Unterkunft. Er parkte das Auto, nahm die Tasche aus dem Kofferraum, schulterte die Fotoausrüstung und betrat die Hütte. Ein Blick genügte: Wer eine dieser Hütten gesehen hatte, kannte sie alle. Gleich am Eingang standen der obligatorische Zweiplattenherd und ein Kühlschrank. In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch mit zwei Stühlen und an der Wand ein Doppelstockbett. Die kleinen, mit Vorhängen versehenen Fenster dunkelten den Raum angenehm ab. WC und Dusche befanden sich im Sanitärtrakt, der nur ein kurzes Stück entfernt lag. Er nahm die Hütte in Besitz.
Per breitete ein weiches Tuch auf dem Tisch aus, öffnete den Fotorucksack, entnahm ihm drei kleine Behältnisse, die nur wenig größer als seine Handfläche waren und leerte den Inhalt auf das Tuch. Er prüfte alle Teile und fügte sie zusammen. Er empfand Freude an der Arbeit und als er alles verbaut hatte, lag ein kleines Kunstwerk vor ihm. Er nahm es in die rechte Hand und betrachtete es von allen Seiten. Die Pistole war klein und leicht und fühlte sich kühl an. Sie hatte zwei nebeneinander liegende Läufe, die jeweils mit einer Patrone des Kalibers .22 geladen werden konnten. Gewöhnlich benötigte Per nur einen Schuss, um seine Zielperson zu eliminieren. Doch eine weitere Patrone in Reserve zu haben, gab ihm Sicherheit. Er nahm die Waffe in die Hand, spannte den Schlagbolzen, streckte den Arm aus und drückte ab. Ein leises, trockenes Klicken ertönte.
Auf die Bauanleitung war er im Darknet gestoßen. Sie hatte ihm sofort gefallen, weil die meisten Teile in einem gewöhnlichen Baumarkt zu bekommen waren. Die wenigen, die er selbst herstellen musste, fertigte sein 3D-Drucker nach Vorlage. Die Pistole sah wie ein Spielzeug aus, war aber auf eine Entfernung von fünf Metern genau und tödlich. Das genügte ihm. Er erledigte seine Aufträge en passant.
Per griff in die Fototasche, holte einen länglichen Zylinder heraus und schob ihn über den Lauf, bis er festsaß. Der Schalldämpfer war eine Eigenkonstruktion und reduzierte die Lautstärke um die Hälfte, vielleicht auch etwas mehr. Es handelte sich lediglich um eine Schätzung, ein Gerät, das den genauen Wert ermitteln konnte, besaß er nicht. Er hatte bei der Fertigung des Schalldämpfers keine Mühe gescheut, doch benutzte er ihn nur selten. Er zerlegte die Waffe und verstaute die Einzelteile in den dazugehörigen Behältnissen und legte alles in die Fototasche zurück.
Dann ging er zur Rezeption. Die Frau saß an ihrem Platz und blätterte in einem der Magazine, die hier verkauft wurden. Als sie ihn bemerkte, ließ sie es achtlos liegen und kam zum Tresen. Ihn erfreute der Anblick ihrer gleitenden Bewegungen, vielleicht traf es Schweben noch etwas besser. Er wollte seine Frage stellen, doch sie kam ihm zuvor.
„Wie kann ich dir helfen?“
„Ich suche einen Fahrradverleih.“
„Bosses Cyklar ist der nächste, nur zwei Querstraßen entfernt“, sagte sie und beschrieb ihm den Weg. Er bedankte sich und ging zur Hütte zurück. Nach einigen Schritten drehte er sich um. Sie stand am Fenster und sah ihm nach. Dann hob sie die Hand, zeigte ein Lächeln und verschwand im Büro.
In der Hütte wärmte er eine Büchse mit Bohneneintopf auf, leerte den Inhalt auf einen Teller und löffelte ihn in sich hinein. Es aß, ohne etwas zu schmecken. Seine Gedanken kreisten um ein schwebendes Lächeln, das nach Shampoo roch.
Am nächsten Morgen holte Per seinen Fahrradsattel aus dem Auto und ging zu dem empfohlenen Fahrradverleih. Er hielt auf ein Haus zu, dessen Fassade von Fahrrädern umzingelt war und sah sie sich an.
„Ich bin Bosse“, begrüßte ihn ein Mann in mittleren Jahren und einem Gewicht, das keines seiner Räder würde tragen können. „Hast du deinen eigenen Sattel mitgebracht?“
„Ja. Ein wunder Hintern ist die Hölle, besonders, wenn man noch den Rückweg vor sich hat.“
Der Mann lachte und zeigte auf ein Trekking E-Bike. Er nahm Per den Sattel ab und tauschte ihn aus.
„Das habe ich gerade flott gemacht. Mach eine Probefahrt.“
Das Rad wäre nicht Pers erste Wahl gewesen, doch nachdem er einige Runden gedreht hatte, nickte er zufrieden. Er mietete es für eine Woche und fuhr zum Campingplatz zurück.
Er füllte seine Trinkflasche mit Leitungswasser, nahm die übrig gebliebene Stulle aus dem Kühlschrank und steckte die Sachen in die Seitentaschen des Fotorucksacks. Er warf ihn sich über und verließ die Hütte. Er fuhr zur Ostseite der Insel und nahm die Straße nach Norden. Die Sonne schien und bei dem nur mäßigen Gegenwind kam er zügig voran. Mit der leichten Windjacke hatte er die richtige Wahl getroffen. Gelangte er zu einem Pfad, der zum Meer führte, folgte er ihm. Die vereinzelten Hütten und Boote, die er dort sah, hatten ihre besten Zeiten hinter sich. Er hielt oft an und suchte nach Motiven. Mit seinem Weitwinkelobjektiv fing er den Grad ihrer Verwahrlosung überdimensional ein. Er wollte wie ein echter Tourist wirken und die Insel machte es ihm leicht.
Anfangs schob er sein E-Bike am Ufer entlang, doch als es ihm zu beschwerlich wurde, legte er es in die Böschung und ging zu Fuß weiter. Ein kleiner Steg wies auf eine hinter Bäumen versteckte Hütte hin. Das musste die von Sjöwall sein. Er näherte sich unbekümmert, indem er nach Fotomotiven Ausschau hielt und hier und da eine Aufnahme machte. Als er den Steg erreicht hatte, ging er bis zum Ende vor und legte sich flach auf die Bohlen. Das Wasser war klar und er fotografierte den Meeresboden, der hier kaum einen Meter tief war. Er versuchte die Lichtreflexe einzufangen, die den Pfählen des Steges Leben einhauchten und scheiterte. Schließlich kehrte er ans Ufer zurück und verschwand zwischen den Bäumen. Er fand einen Trampelpfad, der ihn zur Vorderseite der Hütte führte. Dort gab es einen Parkplatz mit der nötigen Zufahrt. Der Platz war leer.
Per ging zurück zum Wasser und folgte seinen Spuren im Sand, bis er das E-Bike erreichte. Er schob es bis zum nächsten Weg und gelangte zur Landstraße, auf der er nach Norden fuhr. Er radelte an der Zufahrt zu Sjöwalls Hütte vorbei und bog in den danach kommenden Waldweg ein. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er das Haus unbemerkt beobachten konnte. Unter Farnen, die überall den Boden bedeckten, versteckte er das E-Bike neben zwei dicht nebeneinander stehenden Kiefern. Falls er den Platz verlassen musste, hatte er wenigstens einen Anhaltspunkt, wo er sein Rad finden konnte. Er legte den Fotorucksack ab, setzte sich an einen Baum und aß eine Stulle.
*
Nach dem Essen wurde er schläfrig. Zuerst kämpfte er dagegen an, doch dann gönnte er sich den Minutenschlaf. Als er nach einer Viertelstunde erwachte, sah er zum Haus. Dort hatte sich nichts geändert und er lehnte sich entspannt an den Baum.
Er erinnerte sich an eine Beschattung auf Borkum. Er war seiner Zielperson in die Dünen gefolgt und als diese kopflos umher lief, weil sie die Orientierung verloren hatte, begleitete er sie zurück. Als die Person wieder allein zurechtkam, trennten sie sich. Er ließ ihr einen Vorsprung und beschattete sie erneut. Doch auf solche Spielchen hatte Per danach stets verzichtet. Er wollte seinem potentiellen Opfer nicht vor der Zeit nahe kommen. War es dann soweit, erledigte er den Job aus kurzer Distanz.
Er sah sich um, stand auf und vertrat sich die Beine. Er trank einen Schluck Wasser und lehnte sich wieder an den Baum. Es gab nichts, was er tun konnte und so kramte er in seinen Erinnerungen. Bei seinem ersten Auftrag musste er einen alten Mann erledigen und es wie einen Raubmord aussehen lassen. Er hatte die Wohnung nach Wertsachen durchsucht, eine kleine Verwüstung angerichtet und alles, was er an Bargeld fand, mitgenommen. Er konnte sich kaum noch an Details erinnern, aber dass seine Hand nicht gezittert hatte, als er den Abzug betätigte, wusste er mit absoluter Sicherheit. Das war die Konstante in seiner Karriere.
Er baute seine Pistole zusammen, obwohl er nicht damit rechnete, sie heute einzusetzen. Es schadete nie, seine Fingerfertigkeit zu trainieren. Schließlich beendete er die Warterei und fuhr zum Campingplatz zurück. Als er an der Rezeption vorbeikam, hörte er laute Stimmen. Er stellte das E-Bike ab und trat ein. Die junge Frau und ein fremder Mann bemerkten seine Anwesenheit nicht. Ihre Gesichter waren erhitzt und es hatte den Anschein, dass keiner der beiden nachgeben wollte. Per trat näher, bis sie ihn bemerkten. Ihre Stimmen erstarben, als wäre ihnen die Luft abgedreht worden. Der Mann wandte sich ihm zu.
„Die Rezeption ist geschlossen. Kannst du nicht lesen?“
„Wenn ich eine private Auseinandersetzung gestört habe, bitte ich um Entschuldigung. Gute Nacht“, antwortete Per und sah die Frau an.
„Nein, bleib hier. Arne wollte gerade gehen.“
Der Mann verknifft sich eine Bemerkung, eilte grußlos davon und warf die Tür zu, dass der Rahmen zitterte. Die Frau zuckte zusammen.
„Danke.“
„Keine Ursache. Ich bin Per.“
„Ich weiß, du bist gestern angereist. Kristina.“
„Freut mich. Ich habe noch nicht zu Abend gegessen. Darf ich dich einladen?“
„Ich glaube, das ist keine gute Idee.“
Er nickte und wandte sich zum Gehen.
„Warte“, rief sie, als er die Tür öffnete. „Ich kann uns Spiegeleier braten.“
„Ich will dir keine Umstände machen.“
„Tust du nicht.“
Er kam zurück und legte den Fotorucksack ab.
„Willst du darüber reden?“
„Das lohnt nicht. Arne und ich haben uns getrennt, doch bei ihm ist es noch nicht angekommen.“
Sie betrat die kleine Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm sechs Eier heraus. Er folgte ihr, lehnte sich an den Türrahmen und sah ihr zu.
„Kann ich dir helfen?“
Er fragte nur, um etwas zu sagen. Sie schüttelte den Kopf.
„Wenn ich beim Spiegeleier braten Hilfe bräuchte, wäre nicht viel mit mir los.“
„Da hast du auch wieder recht.“
Sie drehte sich um. Er sah sie verschmitzt an.
„Was ist in deinem Rucksack?“
„Meine Fotoausrüstung.“
„Warst du heute in der Alvaret?“
„Nein. Ich habe an der Ostküste fotografiert. Verrottete Boote an verrotteten Stegen. Nichts Besonderes.“
„Dafür kommst du extra nach Öland?“
„Nichts Besonderes gefällt mir hier besser als zu Hause.“
Sie lachte, stellte die Spiegeleier auf den Tisch und legte Besteck dazu. Sie setzten sich gegenüber. Per merkte, dass er hungrig war und schwieg während des Essens. Kristina lächelte, als sie sah, wie gierig er aß.
„Fotografierst du morgen wieder?“
„Ja. Spätestens um fünf mache ich mich auf den Weg.“
„Das ist nicht dein Ernst?“
„Aber sicher. Alle Naturfotografen lieben das Morgenlicht.“
Nach dem Essen setzte er durch, dass er abwaschen durfte. Jetzt stand sie in der Tür und sah ihm zu.
„Ich begleite dich noch nach Hause“, sagte er und stellte den letzten Teller in den Schrank.
„Unsinn, Arne lauert mir nicht auf.“
„Wie du meinst.“
Per schulterte den Rucksack und verabschiedete sich.
„Sehen wir uns morgen?“, fragte sie.
„Bestimmt.“
Um fünf Uhr hatte Per bereits den Posten vor Sjöwalls Haus bezogen. Eine Stunde später fuhr ein E-Auto die Zufahrt entlang. Der Motor war kaum zu hören, doch die Abrollgeräusche verrieten es. Per, der zwischen Farnwedeln in Deckung gegangen war, verfolgte das Geschehen. Der Wagen wurde langsamer, wendete und hielt mit dem Heck zum Haus. Zwei Männer stiegen aus. Keiner von ihnen ähnelte dem Bild, das Per in der Hand hielt. Die Männer gingen zum Haus und traten ein. Er konnte nicht erkennen, ob sie einen Schlüssel benutzt hatten oder eingebrochen waren.
Stille senkte sich herab, wie beim ersten Schneefall des Jahres. Per kam es zu still vor und er tauchte unter den Farnen ab. Er hielt die kleine Pistole in der Hand. In jedem Lauf steckte eine Patrone. Sie wirkten friedlich, nur in der Ruhe lag etwas Bedrohliches.
Per steckte die Waffe in die linke Innentasche der Jacke, nahm die Kamera zur Hand und fotografierte das Auto. Nach sechs Minuten verließen die Männer das Haus. Sie hatten es eilig. Per gelang es trotzdem, sie auf den Fotochip zu bannen. Dann wartete er wieder.
Zwei Stunden später kam erneut ein Auto den Weg entlang. Diesmal war es ein Nissan. Der Wagen hielt ohne zu wenden. Sjöwall stieg aus, schlug die Autotür zu und sah sich um. Er wirkte unschlüssig.
„Hej“, rief Per, „ist das deine Hütte?“
Sjöwall drehte sich langsam um.
„Was geht dich das an?“
„Wenn du der Besitzer wärst, hätte ich dir etwas zu sagen.“
„Wenn ich der Besitzer wäre, würde ich dich fragen, was du hier machst.“
„Das nennt man eine Pattsituation. Fangen wir noch einmal von vorne an: Ich bin Per und suche hier nach Fotomotiven“, sagte er und schwenkte seine Kamera.
„Du scheinst nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Hau ab, bevor ich ungemütlich werde.“
„Gut. Damit hast du signalisiert, dass dir die Hütte gehört. Zwei Männer waren hier, haben das Haus durch die Eingangstür betreten und sind nach wenigen Minuten wieder gegangen. Das war alles, was ich dir mitteilen wollte.“
Per drehte sich um und ging zu seinem Fotorucksack.
„Nicht so schnell, junger Mann. Tut mir leid, dass ich so unfreundlich war.“
„Schon gut“, sagte Per, kam zurück und reichte Sjöwall die Hand.
„Ich bin Martin. Wie lange hast du hier gewartet?“
„Etwa zwei Stunden.“
„Komm mit rein. Ich mache uns Kaffee.“
„Danke, ich hole nur schnell meinen Fotorucksack“, sagte Per und folgte dann Sjöwall ins Haus. Er betrat einen kleinen Flur. An der Garderobe hingen mehrere Jacken und darunter standen Stiefel auf einem Schuhregal. Er machte es wie der Hausherr und zog seine Schuhe aus. Dann betraten beide einen großen Raum. Helle Holzdielen auf dem Boden und ein halb offenes Dach mit mächtigen Deckenbalken prägten den Raum. An der längsten Wand standen hölzerne Regale und Schränke. Gegenüber, etwas getrennt vom Wohnraum, befand sich die offene Küche. Dort stand Sjöwall, bereitete den Kaffee und bedeutete Per, sich an den Tisch zu setzen. Per stellte den Rucksack ab, nahm auf einem Stuhl Platz und sah durch eine Glasfront hinaus in einen Hof, der von einer grünen Hecke umgeben wurde. Das Haus war hell und luftig. Er wollte sofort einziehen.
Sjöwall kam mit zwei großen, dampfenden Bechern zum Tisch und setzte sich ihm gegenüber.
„Hier lässt es sich leben“, sagte Per und pustete den Schaum zur Seite.
„Gefällt dir das Haus?“
„Ja, außerordentlich.“
„Hast du die Männer fotografiert?“
Per stellte den Becher ab und hielt Sjöwall das Display hin. Er warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Per ließ sich nichts anmerken, ob er ihm glaubte oder nicht und widmete sich wieder dem Kaffee.
„Du glaubst mir nicht?“
„Zwei Fremde brechen bei dir ein und du benimmst dich, als wäre alles in Ordnung.“
„Stimmt, das ist seltsam. Du kennst ja die angespannte Situation in den Ländern rund um die Ostsee. Alle fürchten sich vor Sabotage ihrer Infrastruktur. Beim Bau des Fehmarnbelt-Tunnels ist das nicht anders. Mein Transportunternehmen arbeitet für den Tunnelbau und ich Glückspilz habe auf der Baustelle durch Zufall einen Container mit Sprengstoff entdeckt.“
Sjöwall machte eine Pause.
„Willst du damit sagen, dass Sprengstoff nicht zum Bau des Tunnels benötigt wird?“
„Genau das. Ich habe es dem verantwortlichen Lagerverwalter gemeldet. Er riet mir zu schweigen.“
„Das ist interessant.“
„In der Tat. Außerdem sagte er noch, dass meine Frau stirbt, wenn ich rede.“
„Das ist übel. Weiß deine Frau Bescheid?“
„Nein.“
„Ist vielleicht besser so.“
„Das denke ich auch.“
„Du bist nur am Leben, weil diese Leute jegliches Aufsehen vermeiden wollen. Die Ermittlungen, die anlässlich deines Todes erfolgen würden, könnten Dinge zutage fördern, die unerwünscht sind.“
„Gegen mein vorzeitiges Ableben habe ich etwas unternommen. Ich habe alles aufgeschrieben und gedroht, es im Falle meines Todes über meinen Anwalt zu veröffentlichen. Das ist meine Lebensversicherung.“
„Wenn dem Anwalt gedroht wird und er einknickt, ist sie nicht viel wert.“
„Nichts ist ohne Risiko.“
„Wohl wahr. Wie stelltst du dir den Anschlag vor?“
„Mein Favorit wäre ein Sabotageakt bei der Fertigstellung des Tunnels: Wenn das letzte Element die beiden Teilstrecken vereint, wird der Sprengstoff gezündet und reißt die Röhre auseinander. Der Tunnel läuft voll Wasser und Milliarden Euro versinken im Meer. Alle Welt kann dabei zusehen, weil die Fertigstellung des Tunnels als mediales Ereignis inszeniert wird. Der Anschlag wird alle Investoren abschrecken, den Bau zu vollenden.“
„Das hat nicht nur eine wirtschaftliche Dimension, sondern auch eine politische.“
„Sicher. Man braucht keine Beweise, um den Schuldigen zu ermitteln, man kann einfach mit dem Finger auf das Land zeigen. Das ist ein Selbstläufer.“
„Stimmt. Doch der wahre Nutznießer ist Scandlines. Die Firma hat mit einem Schlag keine Konkurrenz mehr auf dieser Strecke und wird den Fährverkehr wieder ausbauen.“
„So sieht es aus“, sagte Sjöwall, brachte die leeren Kaffeebecher in die Küche und spülte sie aus. Per sah ihm zu und machte sich bereit. Blitzschnell drehte Sjöwall sich um und zielte mit einer Pistole auf ihn.
Die Sekunden gerieten aus dem Takt und widerstanden dem immerwährenden Lauf, sich zu Minuten anzuhäufen. Zeit verlor ihre Bedeutung, ein Zustand wie vor dem Urknall. Per war dieser Zustand nicht fremd. So verhielt sich die Welt, bevor er den Finger am Abzug krümmte.
Der scharfe Knall, der den Raum erfüllte, veranlasste die Zeit, weiterzulaufen. Was folgte, überraschte Per nicht. Auf Sjöwalls Stirn zeichnete sich ein dunkler Fleck ab, aus dem Blut sickerte. Der Mann blickte erstaunt ins Zimmer, ohne etwas wahrzunehmen. Er wusste noch nicht, dass er tot war. Per wartete, bis sich Gewissheit einstellte. Dann entfernte er die leere Patronenhülse und steckte sie ein. Er schulterte den Rucksack und wandte sich zum Gehen. An der Flurtür angelangt, hörte er den Körper dumpf auf die Dielen schlagen. Per zog sich die Schuhe an und trat ins Freie. Tief sog er die frische Luft ein. Die Ruhe, die über der Szene lag, überwältigte ihn.
Er eilte zu seinem Rad und fuhr ans Meer. In hohem Bogen warf er die Patronenhülse hinein. Sie versank mit einem leisen Plob. Dann suchte er sich einen Platz im Schatten einer bewachsenen Böschung und schloss die Augen. Als er die Sonne im Gesicht spürte, wachte er auf. Benommen sah er sich um. Die Gegend kam ihm fremd vor. Dann erinnerte er sich und fand wieder zu sich. Er stand auf, schüttelte den Sand ab und sah auf die Uhr. Es war immer noch Vormittag. Er nahm sein E-Bike und folgte dem ersten Weg, der zur Westküste führte.
In der Alvaret, dieser kalkigen Steppe, machte er Fotos, die an den Mond denken ließen. Er fühlte sich erschöpft, sein Kopf war leer und die Energie, die ihn am Morgen angetrieben hatte, war verpufft. Er wusste nicht, ob er die Bilder gebrauchen konnte und hörte auf zu fotografieren.
Am Campingplatz angekommen, fuhr er zu seiner Hütte. Beiläufig lehnte er das E-Bike an die Wand und betrat den halbdunklen Raum. Er legte den Rucksack ab und nahm die Waffe heraus. Er reinigte sie mit einem Lappen und etwas Öl, mehr benötigte er nicht dafür. Als er damit fertig war, zog er sich aus, warf den Bademantel über und ging zum Servicetrakt. Er trat ein und sah sich um. Linker Hand befanden sich sechs Waschbecken, die dicht nebeneinander angebracht waren und darüber die jeweiligen Spiegel. Auf der anderen Seite gab es sechs kleine Duschabteile ohne Tür. Er legte den Bademantel ab, ging gleich ins erste Abteil und stellte das Wasser an. Er fühlte die Tropfen auf seinen Körper prasseln. Alle Taten des Morgens perlten von ihm ab. Erfrischt betrat er seine Hütte und schickte seiner Agentur eine E-Mail. Hallo, liebe Kollegen, die Insel ist toll und das Wetter auch. Der Text war belanglos, da die Nachricht in den RGB-Werten bestimmter Pixel des Fotos codiert war, welches er an die E-Mail hängte. Er hatte sich für ein Motiv aus der Alvaret entschieden, das eine Steinmauer unter einem dramatischen Himmel zeigte. Nichts daran ließ eine versteckte Nachricht vermuten. Mit diesem Verfahren, das sich die Agentur ausgedacht hatte, codierte er Datum und Uhrzeit des erledigten Auftrages. Er wusste nicht, wie diese App funktionierte und er brauchte es auch nicht zu wissen.
Er zog sich an und ging zur Rezeption. Kristina hatte ein Schild mit der Aufschrift Bin gleich wieder zurück an die Tür gehängt. Er sah sich um und setzte sich auf die Bank, die unter dem Fenster stand. Er schloss die Augen und genoss die Wärme auf seinem Gesicht.
„Wartest du auf mich?“
Er lächelte sie an.
„Du nennst mir ein Restaurant, das dir gefällt und ich lade dich zum Mittagessen ein.“
„Fein. Du musst dich noch einen Moment gedulden. Meine Pause beginnt in zehn Minuten.“
Er stand auf und folgte ihr in die Rezeption. Er nahm sich ein Magazin und blätterte es durch. Viele Hochglanzfotos und wenig Substanz. Was dort gezeigt wurde, lag fern seiner Möglichkeiten und kam seinem Traum nicht einmal nahe. Von einer Blockhütte an einem einsam gelegenen See, die einfach aber funktional eingerichtet war, würden nur die wenigsten träumen. Die meisten Menschen hegten ambitioniertere Wünsche und das erwies sich oft als Problem. Nur deshalb gab es Leute wie ihn, Problemlöser.
„Kommst du?“
Kristina wartete an der Tür. Er ließ seine Gedanken im Raum zurück und sie schloss hinter ihm ab.
„Ich kenne einen Italiener in der Nähe.“
„Klingt gut“, erwiderte er ohne Begeisterung.
„Ist dir das nicht recht?“
„Doch. Mein fotografisches Gespür hat mich heute im Stich gelassen und das wirkt immer etwas nach.“
„Gute und schlechte Tage hat doch jeder.“
„Klar. Nur sollte ich mich bei dir nicht über meine misslungenen Fotos beklagen. Ich bin ein Idiot.“
„Entschuldigung angenommen. Solange du deine Kamera nicht im Meer versenkt hast, ist doch alles nur halb so schlimm.“
„Stimmt, das wäre ein Tiefschlag.“
„Mich zum Essen einzuladen ist doch ein guter Anfang, auf andere Gedanken zu kommen oder war das nicht deine Absicht?“
Sie schmunzelte und zeigte auf das Restaurant, das an der nächsten Straßenecke lag.
„Dass ich so leicht zu durchschauen bin, hätte ich nicht gedacht.“
„Alles nur Übungssache. Wer an der Rezeption arbeitet, bekommt es mit vielen Leuten zu tun und einige sind wirklich speziell.“
Per nahm eine Arrabiata und gönnte sich einen Montepulciano. Kristina entschied sich für die Pesto Verde und eine Flasche Wasser. Sein Essen war scharf und wirkte belebend. Zu Beginn bestritt Kristina vorwiegend die Unterhaltung und er war kaum mehr, als eine Wand, die ein Echo warf. Doch im Laufe des Essens kam er immer besser in Schwung und sie verplauderten die Zeit. Schließlich fragte die Bedienung, ob es noch etwas sein dürfe. Nach einem Blick in Kristinas Augen bat Per um die Rechnung.
Auf dem Rückweg griff sie nach Pers Handgelenk, an dem er eine Uhr trug und sagte Ups, ich habe meine Pause überzogen. Sie lachte und machte keine Anstalten, schneller zu gehen. Als sie an der Rezeption ankamen, stand niemand Schlange und sie verabschiedeten sich.
In der Hütte setzte Per sich ans Notebook und meldete sich am WLAN an. Er gab Martin Sjöwall ein und alles, was ihm die Suche auflistete, betraf dessen Arbeit in der Firma. Es wurde keine private Anschrift oder E-Mail angezeigt. Dann kopierte er seine Fotos auf das Notebook. Da er keine Lust hatte, sie durchzusehen, ging er nach draußen und setzte sich auf die Stufe vor dem Eingang: Sjöwall hatte ihm eine tolle Geschichte erzählt. Sie hatte nur den Nachteil, dass Per kein Wort davon glaubte. Sjöwall kannte die beiden Männer und es ging ihm gegen den Strich, dass Per sie fotografiert hatte. Per wusste nicht warum, aber für Sjöwall war es wichtig. Immerhin hatte er versucht, Per zu töten. Zugegeben, ein kläglicher Versuch, aber immerhin.
Per holte die Flasche Brennspiritus aus dem Kofferraum seines Wagens und steckte sie in eine Plastiktüte verpackt in die Außentasche des Fotorucksacks. Dann schwang er sich auf das E-Bike und radelte los. Er näherte sich Sjöwalls Hütte von der Seeseite, ließ sein Rad in einem Gebüsch zurück und ging zu Fuß weiter. Er schlich ums Haus und wartete unter Farnen versteckt, ob sich etwas regte. Er setzte den Rucksack ab und nahm die Tüte in die Hand. Der Nissan stand nicht mehr vor dem Haus und Per überkam ein ungutes Gefühl. Er lauschte auf die Geräusche und hörte den Wind in den Zweigen und einige Vögel singen. Die Stille, die die Anwesenheit von Fremden verkündete, fehlte.
Per ging zum Hintereingang. Jemand hatte den Nissan hier abgestellt. Er öffnete die Tür und verharrte einen Moment. Den Tatort noch einmal aufzusuchen, widersprach den Regeln, die ein Profi beherzigen sollte. Er ging das Risiko ein und folgte seiner Neugier.
Er bemerkte die Veränderung. Der Geruch nach Blut, der schwer in der Luft hängen müsste, war kaum wahrnehmbar. Statt dessen roch es nach Reinigungsmittel. Er schloss die Tür und eilte zu seinem E-Bike.
Er wusste, dass der Tote nicht mehr in der Küchenecke lag. Das angetrocknete Blut, das bei dem Licht wie Leder ausgesehen hätte, war beseitigt worden. Jemand hatte hinter ihm aufgeräumt. Er brauchte den Brennspiritus nicht, um die Aufmerksamkeit auf den Toten zu lenken. Per verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
*
Per saß auf einem Findling und sah übers Wasser. Die Brücke nach Kalmar war erleuchtet und über der Stadt hing eine diffuse Lichtglocke. Der Wind wehte vom Festland und brachte die sich über dem Sund abkühlende Luft mit. Per hielt der nächtlichen Kälte stand. Er hatte die Kamera auf ein Stativ montiert und machte Langzeitbelichtungen. Die Brücke war ein schönes Motiv, doch wie immer bei schönen Motiven, wurden sie von allen fotografiert. Er musste dem Motiv seinen speziellen Blick aufdrücken. Auch deshalb saß er auf dem großen Stein.
Jemand war auf ihn angesetzt worden und hatte sein Tun die ganze Zeit über verfolgt. Dieser Jemand war nicht eingeschritten, als Sjöwall erschossen wurde, sondern hatte danach brav sauber gemacht. Dieser Mann wusste von dem Auftrag, Sjöwall zu töten. Oder?
Per packte die Kamera ein und schob die Stativbeine zusammen. Mit dem Stativ in der Hand und dem Fotorucksack auf dem Rücken sprang er von Stein zu Stein, bis er den Strand erreichte und von dort direkt zu seiner Hütte ging. Morgen würde er zum Leuchtturm fahren und diesen Teil der Insel erkunden.
Er hörte ein E-Auto säuseln. Er wunderte sich, dass es ohne Licht fuhr. Als es vor seiner Unterkunft hielt, war aus dem Wundern Neugierde geworden. Per befand sich drei Hütten von seiner entfernt und ging hinter einem parkenden Auto in Deckung. Fahrer- und Beifahrertür wurden geöffnet und zwei Männer stiegen aus. Obwohl sie die Türen offen ließen, blieb es im Wageninneren weiterhin dunkeln. Während er die Fremden beobachtete, legte er den Rucksack ab, holte die in Einzelteilen zerlegte Pistole heraus und baute sie blind zusammen. Dann lud er sie mit zwei Patronen. Inzwischen war einer der Männer dabei, die Tür aufzubrechen. Es gelang ihm in kurzer Zeit und er öffnete sie leise. Beide huschten hinein und schlossen die Tür.
Per zögerte keinen Augenblick. Er rannte zum E-Auto, stieg auf der Fahrerseite ein und kroch in den Fond, wo er sich hinter dem Beifahrersitz versteckte. Er lugte hinaus. Kurzzeitig flackerte Licht in seiner Hütte auf, dann hörte er einen unterdrückten Fluch und gleich darauf traten die beiden ins Freie. Per duckte sich ab. Kurz nacheinander schlugen die Wagentüren zu und der Motor begann zu säuseln. Der Fahrer wendete und der Wagen rollte vom Campingplatz. Sie fuhren Richtung Süden und hatten es nicht eilig.
„Wo steckt der Kerl nur?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Ich meinte es nur rhetorisch.“
„Ich nicht.“
Dann schwiegen beide und jeder grübelte über den Misserfolg nach. Per riss die Pistole hoch und schoss dem Beifahrer in den Hinterkopf. Die kleinkalibrige Kugel durchschlug den Schädelknochen und blieb beim Austritt stecken. Vielleicht prallte sie auch von der Innenseite des Schädels ab und bahnte sich einen Weg durch die Hirnmasse wie ein Maulwurf durch den Erdboden, nur wilder und verheerender. Jedenfalls blieben die Insassen des Autos von einer Sauerei, die eine .357 Magnum anrichtete, verschont.
Dem Fahrer reichte es auch so. Er trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Per wurde zuerst gegen den Vordersitz gepresst und dann, als sich der Wagen um die eigene Achse drehte, gegen die Tür geschleudert. Der Fahrer versuchte seine Waffe zu ziehen, wurde aber vom Sicherheitsgurt daran gehindert. Er fluchte, löste den Gurt und bekam sie endlich zu fassen. Bevor er die Glock abfeuern konnte, krachte der Wagen in die Böschung. Per schlug gegen den Vordersitz, prallte ab und flog mit einer Wucht auf die Rückbank, dass ihm schwindelte. Der Fahrer knallte mit dem Kopf an die Frontscheibe und sackte über dem Lenkrad zusammen.
Per kroch aus dem Wagen und rappelte sich auf. Er fühlte sich neben der Spur, als hätte ihn ein Gorilla in die Mangel genommen. Er tastete nach seinen Verletzungen. Nichts schien gebrochen, er hatte nur Blessuren davon getragen. Per öffnete die Fahrertür, fand die Waffe und nahm sie an sich. Dann wartete er. Der Mann hinter dem Lenkrad bewegte sich. Als ihre Blicke sich kreuzten, lächelte Per ihn an.
„Endstation.“
„Yeah“, sagte der Fahrer und sah in die Mündung seiner Glock.
„Wer bist du?“
Schweigen.
„Ich habe dich und deinen Partner vor Sjöwalls Hütte gesehen. Fällt dir dazu was ein?“
Schweigen.
„Ihr seid in meine Hütte eingebrochen. Warum?“
Schweigen.
„Die nächste Frage musst du beantworten oder du bekommst nie mehr die Gelegenheit, zu antworten.“
„Go to hell.“
„Das gilt nicht. Die Frage kommt jetzt: Für wen arbeitest du?“
Per zählte von zehn abwärts. Bei Null zerriss die Explosion der Pulverladung die Stille der Nacht. Die Kugel durchschlug die Brust des Mannes und er prallte mit Wucht auf den Beifahrer. Per zog ihn an den Beinen hinaus, legte ihn neben das Auto und durchsuchte ihn. Er fand keine Papiere. Mit dem Beifahrer verfuhr er genauso. Bis auf eine Glock kam er zum gleichen Resultat.
Er nahm das Magazin aus der Waffe, mit der er geschossen hatte und stellte fest, dass zwei Patronen fehlten. Er zog den Schlitten zurück und fing die herausspringende Patrone mit der Hand auf. Er drückte sie ins Magazin, schob dieses in den Pistolengriff und steckte die Glock in die Jacke. Die andere Waffe warf er auf den Beifahrersitz. Dann öffnete er den Kofferraum. Er hatte keine bestimmte Vorstellung von dem, was ihn erwartete, doch der Kofferraum war leer. Sein Inhalt stand symbolisch für das Leben, das in den beiden Männern steckte. Per atmete tief durch und machte sich an die Arbeit, die beiden im Kofferraum zu verstauen. Trotz der niedrigen Ladekante war es Schwerstarbeit. Tote verhielten sich in dieser Beziehung recht stur.
Dann sah Per sich den Wagen an. Er war froh, dass es nur ein Blechschaden war. Er fuhr zurück auf die Straße und folgte dem ersten Abzweig Richtung Kalmarsund. Vor langer Zeit war hier ein großer Hühnerstall errichtet worden, der seit mehreren Jahren nicht mehr genutzt wurde. Als er an dem Gebäude hielt und ausstieg, überwältigte ihn der Gestank, als hätten sich Kot, Blut und Angst in die Mauern gefressen. Er öffnete das vergammelte Eingangstor und fuhr den Wagen hinein.
Per lief den Weg zurück und brauchte etwa eine Stunde bis zum Campingplatz. Er eilte zu der Hütte, an der er den Fotorucksack abgelegt hatte und betrat danach die eigene. Er zog sich aus, legte Hose und Jacke in die Abwäsche und weichte sie ein. Morgen würde er sich um das restliche Blut kümmern. Nackt rannte er zum Sund, tauchte ins Wasser und wusch sich schnell. Vor Kälte zitternd kam er heraus, rubbelte sich trocken und lief zurück. Er schloss seine Tür von innen ab und verkroch sich in den Schlafsack. Mit einer weiteren nächtlichen Überraschung rechnete er nicht. Per fühlte die körperliche Erschöpfung, als hätte er den ganzen Tag einen Mantel aus Blei getragen, doch seine Nerven waren überreizt. Er fand nur langsam in den Schlaf.
Gegen neun Uhr morgens wachte er auf. Er zog sich frische Sachen an und wrang die Eingeweichten in der Spüle aus. Das Blut hatte sich gelöst und er hängte sie draußen auf die Leine.
Er hatte Hunger. Im Kühlschrank war Milch und er goss sie in eine gut mit Müsli gefüllte Schale. Dann machte er sich eine Kanne schwarzen Tee. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, reinigte er die Pistole und verstaute sie in Einzelteilen zerlegt im Rucksack. Die Patronenhülse steckte er in die Jacke. Die beiden Glocks heftete er mit Klebeband an die Tischunterseite.
Nachdem er das Müsli in sich hineingeschaufelt hatte, schenkte er sich Tee ein und lehnte sich zurück. Er nahm einen kleinen Schluck und fragte sich, was letzte Nacht geschehen war. Ihm fiel keine angemessene Antwort ein. Vielleicht war das Internet schlauer. Per schüttelte den Kopf. Er hatte es mit einem Gegner zu tun, den er nicht kannte und wusste daher nicht, wo die Gefahr lauerte. Der Tod wartete auf ihn und er konnte nur Tee trinken. Er führte die Tasse zum Mund und merkte dann, dass sie bereits leer war. Er schenkte sich nach und hatte beim zweiten Versuch Erfolg. Er machte Witze über seine Situation, was er als gutes Zeichen ansah.
Nachdem er die Kanne Tee ausgetrunken hatte, spazierte er zum Sund und warf die leere Hülse ins Wasser. Er ging wieder zurück und suchte im Internet nach Neuigkeiten, die seinen Tätigkeitsbereich betrafen. Nichts über Sjöwall oder die beiden Toten der letzten Nacht. Er suchte die Sachen für die Fototour zusammen und setzte sich hinters Steuer. Er hielt an der Rezeption und kam auf einen Sprung zu Kristina herein. Sie zog die Brauen hoch, als sie ihn sah.
„Heute keine Lust zu fotografieren?“
„Doch. Ich fahre jetzt zum Leuchtturm und sehe mich dort um. Hast du heute Abend Lust, mit mir essen zu gehen?“
„Schon wieder eine Einladung? Gibt es etwas zu feiern?“
„Nur, dass ich lebe und hier sein darf.“
„Das ist natürlich ein Grund. Zum Feierabend treffen wir uns hier.“
„Gut, bis dann.“
Sie winkte ihm zu und ging an ihre Arbeit. Per nahm die gleiche Straße aus dem Ort wie bei der nächtlichen Schwarzfahrt. Nach wenigen Minuten fuhr er an der Unfallstelle vorbei. Die Bremsspuren wirkten wie in den Asphalt gefräst. Er hielt nicht an.
Im Süden der Insel waren die Vogelbeobachter unter sich. Sie hatten Ferngläser, Spektive oder Kameras mit großen Telebrennweiten dabei. Technik vom Feinsten, fast wie auf einer Fotomesse, hier wurde sie vorgeführt. Beidseitig der Straße standen die Autos und Per stellte seins auch dort ab. Er stieg aus, sah sich das Treiben eine Weile lang an und entschied dann, einen Rundgang zu machen. Er setzte sein langes Tele an die Kamera und marschierte Richtung Leuchtturm. Am Ufer standen die Wasservögel in Gruppen und ließen sich von den Menschen nicht stören. Sie kannten es auf Öland nicht anders. Für Per war es ungewohnt, sich unter derart vielen Fotografen zu bewegen. Er fotografierte lieber allein. Er entfernte sich vom Ufer und folgte den Wegen, die in den Wald führten. Hier begegnete er nur vereinzelten Wanderern. Hinter der nächsten Biegung verschwand er im Unterholz und verhielt sich still. Er wartete auf seinen Verfolger. Es war lediglich eine Annahme, doch eine begründete. Seine Widersacher konnten nur auf ihn aufmerksam geworden sein, als er Sjöwalls Hütte beobachtet hatte. Sollten dort Kameras angebracht sein? Unsinn. Er wusste es nicht und ließ das Spekulieren.
Sjöwall hatte Per nicht wegen eines Kaffees ins Haus gebeten, sondern weil er dort eine Pistole aufbewahrte. Die Geschichte vom Anschlag auf den Tunnel war ein reines Phantasieprodukt und Per hatte mitgeholfen, es glaubwürdiger zu gestalten. Inzwischen war er in Sjöwalls Angelegenheiten verwickelt, ohne zu wissen, worum es ging. Er wusste nicht einmal, ob alles, was Sjöwall ihm erzählt hatte, gelogen war. Willkommen im Land der Halbwahrheiten.
Per hielt seine Kamera bereit, jeden zu fotografieren, der ihm verdächtig erschien. Zuerst kam ein Paar den Weg entlang. Sie redeten aufeinander ein und ignorierten ihre Umgebung. Sie hatten genug mit sich zu tun und kamen als Verfolger nicht infrage. Nach einer Weile lief ein Mann mit Stativ auf dem Rücken und Kamera in der Hand an seinem Versteck vorbei. Er hatte ein Ziel vor Augen und ging, ohne sich ablenken zu lassen, direkt dorthin. Von Norden aus kam ihm ein Mann zügig entgegen, der eine Hand in der Jackentasche hielt. Als die beiden aneinander vorbeigingen, nahm er sie heraus. Diesen Mann lichtete Per ab.
Nach einer Stunde hatte er fünf Personen fotografiert. Wer jetzt noch kam, konnte kein Verfolger sein. Er verließ seinen Posten und ging den Weg weiter. Er blickte sich hin und wieder um und tat, als wäre er auf Motivsuche. Schließlich schlug er die Richtung ein, die ihn zu dem Ausgangspunkt führte, wo sein Auto stand. Auf diesem Stück nutzte er die natürliche Deckung, um unbemerkt voranzukommen. Da ihn der Verfolger verloren hatte, würde er vielleicht bei den Autos warten. Sah er dort einen von den gerade Fotografierten, konnte das ein Indiz sein, dass er keinem Hirngespinst nachjagte.
Er wartete, bis ein Fotograf den Weg in seine Richtung ging und schloss sich ihm an. Sie kamen schnell ins Gespräch und Per musste eine Geschichte fotografischer Heldentaten über sich ergehen lassen. Als sie die parkenden Autos erreichten, verabschiedeten sie sich. Per legte die Kamera auf den Beifahrersitz und fuhr los. Noch am Südzipfel der Insel bog er bei einem verlassenen Gehöft vom Weg ab und verbarg das Auto hinter einer Hecke. Er nahm die Kamera, stieg aus und suchte sich einen geschützten Platz, der ihm einen guten Blick auf die Straße bot. In der nächsten Viertelstunde fotografierte er alle Wagen, die Richtung Norden vorbeikamen. Danach fuhr er zum Campingplatz zurück.
In der Hütte lud er die Fotos von der Kamera auf das Notebook. Sie waren in Ordnern nach Datum sortiert abgelegt und Per öffnete den aktuellen. Er sah sich die fünf Männer an. Alle kamen ihm unbekannt vor. Dann betrachtete er die Autos und ihre Fahrer. Im zweiten saß der Mann, den er zuerst fotografiert hatte. Das war die einzige Übereinstimmung. Er bearbeitete das Foto und druckte es aus. Dann duschte er im Servicetrakt und zog sich für das Abendessen an. Er steckte das Notebook in den Fotorucksack und ging zur Rezeption. Er war zu früh dran und setzte sich auf die Bank.
„Ich habe dich kommen sehen“, rief Kristina durch die halb geöffnete Tür. „Ich bin gleich soweit.“
„Ich warte bis kurz vor Sonnenaufgang, dann muss ich fotografieren.“
Kristina lachte. Dann stand sie vor ihm und drehte sich.
„Nimmst du mich so mit?“
„Aber sicher.“
„Wieso schleppst du den Rucksack mit?“
„Ich hatte letzte Nacht Besuch.“
„Wirklich? Warum hast du nichts gesagt?“
„Es hat keinen Ärger gegeben. Ich habe den Eindringling mit einer Taschenlampe geblendet und schon war er weg.“
„Ich kann den Rucksack in der Rezeption einschließen.“
„Danke, doch dann musst du nach dem Essen hierher zurückkommen. Mich stört er nicht, ich bin sein Gewicht gewohnt. Hast du ein Restaurant ausgesucht?“
„Ja“, sagte sie und schmunzelte.
„Gut. Ich folge dir überall hin.“
Eine Viertelstunde später hielt Kristina vor einem Haus mit kleinem Garten.
„Wir sind da.“
„Bist du sicher?“
„Klar, ich weiß doch, wo ich wohne. Aber keine Angst, ich kann kochen.“
Sie öffnete die Tür und machte Licht. Der Flur war klein und von dort ging es in ein Wohnzimmer mit offener Küche. Die Möbel waren alt, nur die Küche modern eingerichtet.
„Gemütlich hier“, sagte er.
„Nimm Platz, wo du magst. Ich habe einen Nudelauflauf vorbereitet.“
„Wann hast du das gemacht?“
„In meiner Mittagspause. In einer halben Stunde können wir essen.“
„Warum hast du nichts gesagt, dann hätte ich Rotwein gekauft.“
„Ich weiß und meine Überraschung wäre dann keine mehr. Mach die auf“, sagte sie und reichte ihm eine Flasche.
„Der Korkenzieher ist ...“
„...hier.“
Sie beendete den Satz und zeigte auf eine Holzschale. Gleich daneben standen zwei Weingläser. Per öffnete die Flasche, schenkte ein und reichte Kristina ein Glas.
„Auf einen schönen Abend“, sagte er und sie stießen an.
„Huch“, rief Kristina und eilte zum Kühlschrank. „Das habe ich ganz vergessen.“
Sie hatte eine Platte mit Antipasti vorbereitet und stellte sie auf den Tisch. Dann schnitt sie ein Ciabatta auf. Er nahm ihr den Brotkorb ab und sie setzten sich wieder.
„Ich mag deine Überraschungen“, sagte er lächelnd.
„Gib dein Urteil nicht zu früh ab. Das Hauptgericht ist noch in der Röhre.“
„Da habe ich überhaupt keine Befürchtungen.“
Er schenkte Wein nach und nahm ein Stück Pecorino dazu. Dann klingelte es an der Haustür. Sie lief zum Fenster, um nachzusehen.
„Es ist Arne. Ich weiß nicht, was der hier will“, rief sie erbost. „Ich wimmel ihn ab.“
„Brauchst du Unterstützung?“
„Ich hoffe nicht.“
Sie ging zur Tür, sperrte die Kette vor und öffnete.
„Lass mich rein.“
„Geh bitte nach Hause.“
„Ist er bei dir?“
„Das geht dich nichts an.“
„Und ob, wir gehören zusammen.“
„Nicht, wenn ich auch ein Wörtchen mitzureden habe. Bitte, geh!“
Er trat gegen die Tür. Kristina schrie auf. Per rannte zum Fenster, riss es auf und sprang hinaus.
„Mach dich vom Acker, Mann.“
„Du Scheißkerl“, rief Arne wütend und schlug zu. Per wich aus und ließ den anderen ins Leere laufen.
„Ich bin schon härter getroffen worden. Komm schon, gib dir mehr Mühe.“
Arne fasste seinen Gegner ins Auge. Sein Schlag ging wieder ins Leere, doch er setzte sofort nach. Per blockte ab und wich dem nächsten aus.
„Geh und schau nach dem Essen, Kristina. Ich komme zum Fenster, wenn ich hier fertig bin.“
Sie nickte und schloss die Tür.
„Ich denke, das reicht“, sagte er zu Arne. „Wenn du jetzt nicht gehst, passiert Folgendes: Bei deinem nächsten Angriff trete ich dir gegen das Schienbein. Machst du dann weiter, breche ich dir die Nase. Hast du danach immer noch nicht genug, zertrümmere ich dir das Kniegelenk.“
Arne griff an, als hätte er die Warnungen nicht gehört. Wieder duckte sich Per ab, doch dieses Mal trat er mit dem rechten Bein zu. Er traf das Schienbein und Arne stürzte, als wäre er vom Blitz gefällt worden.
„Hast du jetzt genug?“
Arne, der langsam wieder zu Atem kam, antwortete nicht. Er humpelte in der beginnenden Dämmerung davon. Per sah ihm nach und klopfte ans Fenster.
„Das riecht gut“, rief er, als Kristina die Tür öffnete.
„Hast du was abbekommen?“
„Nein. Denk nicht mehr dran und lass uns essen.“
Sie schlang die Arme um ihn und trat die Tür zu. Er hob Kristina hoch, trug sie ins Wohnzimmer und küsste sie.
„Ich bin hungrig.“
„Und ich gierig“, erwiderte sie und biss ihm in die Lippe. Er merkte, dass sie nicht gelogen hatte. Sie saß so schnell auf ihm, dass sie eine Goldmedaille verdient hätte, wenn es in diesem Sport solch eine Auszeichnung gäbe. Es war das erste Mal, dass eine Frau derart auf ihn reagierte. Das Gefühl, begehrt zu werden, überwältigte ihn und er überließ sich ganz ihrer Führung. Einige Zeit später lagen sie schwer atmend auf den Dielen, ermattet, doch innerlich schwebend. Dieses Glück war nicht allein auf ihn beschränkt. Als er Kristina ansah, tanzte es in ihren Augen. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares gesehen.
Sie verlangte nach Wein und er reichte ihr das Glas. Sie setzte sich auf und nahm einen großen Schluck.
„Ich will mehr.“
„Zuerst wird gegessen und dann neu verhandelt.“
„Ich gehe schnell unter die Dusche.“
Er gab ihr einen Klaps und sie lief lachend aus dem Zimmer. Er wusch sich die Hände in der Spüle und sah nach dem Auflauf. Kristina hatte den Herd ausgestellt und dadurch das Essen gerettet. Er nahm den Auflauf aus der Röhre und ließ ihn abkühlen. Dann trank er einen Schluck Wein. Er fühlte sich so unbeschwert wie schon lange nicht mehr. Frauen besaßen diese Art von Magie, manche mehr, manche weniger.
Dann kam Kristina mit einem Bademantel hereingeweht, der wenig verhüllte.
„Ich gebe dir fünf Minuten, dann esse ich ohne dich.“
„Zu gnädig, Madame.“
Als er vom Duschen zurückkam, hatte sie sich bereits angezogen. Er schlüpfte schnell in seine Sachen, schenkte Wein nach und setzte sich an den Tisch. Kristina füllte auf. Sie hoben die Gläser und sahen sich in die Augen. Ihre funkelten.
„Nein, später“, rief er. Beide lachten und machten sich über den Auflauf her. Sie aßen und tranken, redeten und lachten. Auch der Rest der Nacht verging kurzweilig. In der Frühe klingelte der Wecker und Kristina stand auf.
„Willst du noch schlafen?“
„Nein. Frühstücken wir zusammen?“
„Ich wäre dafür.“
„Ich auch.“
Sie gab ihm einen Kuss und ging ins Bad. Er döste wieder ein und wachte vom Kaffeeduft auf. Sie saß mit einer Tasse Kaffee an der Bettkante und lächelte ihn an. Er war in einem Märchen erwacht. Gleich würde das Trugbild verschwinden und die Wirklichkeit ihr gewohntes Gesicht aufsetzen. Nichts dergleichen geschah, das Trugbild blieb bestehen. Das hier war echt.
„Setz dich auf, ich komme gleich mit dem Tablett.“
Er tat wie geheißen und sie frühstückten im Bett. Sein Glücksgefühl hielt immer noch an.
*
Per begleitete Kristina bis zur Rezeption, küsste sie zum Abschied und ging zu seiner Hütte. Gegen Abend wollte er sie hier wieder treffen. Mehr hatten sie nicht vereinbart. Doch als sie sich beim Abschied in die Augen sahen, war ihm klar, wie der Abend verlaufen würde und er wollte es in diesem Moment mehr als alles andere.
Das war in seiner Situation mehr als unklug. Er durfte sich durch Kristina nicht von den merkwürdigen Dingen ablenken lassen, die um ihn herum passierten. Sein Leben hing davon ab.
Er fuhr sein Notebook hoch und meldete sich am WLAN an. Dann recherchierte er in Sachen Tunnel, ohne Grund, nur weil es ihn interessierte. Er fand heraus, dass für die gesamte Strecke 89 Elemente gefertigt werden mussten, die mit mehreren Schleppern an den vorgesehenen Positionen abgesenkt werden sollten. Die Elemente mussten so ineinander geschoben werden, dass sich mit Wasser gefüllte Kammern bilden. Diese wurden anschließend leergepumpt, wodurch ein Unterdruck entstand, der eine feste Verbindung ermöglichte. Das Prinzip ähnelte dem, welches Otto von Guericke mit seinen Magdeburger Halbkugeln vor fast 400 Jahren angewandt hatte. Es gab viele Möglichkeiten, den Tunnel zu zerstören. Eine Sabotage durch eine groß angelegte Sprengung bei der Eröffnungsfeier hatte zwar einen außerordentlichen medialen Effekt, doch war der Aufwand der Inszenierung gigantisch und der Erfolg nicht garantiert. Einfacher war es, den Sprengstoff auf einem Wagen zu deponieren und während der Durchfahrt zu zünden.