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„Grace erwachte, als jemand an ihr rüttelte. Sie schlug die Augen auf und war von diffuser Dunkelheit umgeben. Nach einem Moment, den sie brauchte, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen, sah sie einen spinnenbeinigen Roboter, der etwas von ihr fortzog. Schlagartig erinnerte sie sich an alles. Die Aasgeier waren unterwegs und verrichteten ihr nächtliches Werk.“ Zwei Frauen, zwei Männer und ein Roboter stehen im Zentrum des Geschehens, unter ihnen John, der smarte Taschendieb, der durch eine simple Verwechslung in diese undurchsichtige Intrige gerät, in deren Verlauf sich ihrer aller Wege ausgerechnet hier, am trostlosesten aller Orte kreuzen… …willkommen in Sektor H
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Reimon Nischt
Willkommen in Sektor H
Roman
Herausgegeben von:
www.bilderarche.de
© 2018 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf
Engström hatte Arme und Beine angewinkelt und drehte sich auf dem Bürostuhl. Das tat er immer, wenn es ihm schwerfiel, seine Ungeduld zu zügeln. Endlich ging die Tür auf. Engström streckte Arme und Beine von sich. Die Physik tat ihr Werk, die Rotationsgeschwindigkeit des Mensch-Maschine-Systems verlangsamte sich spürbar und hielt in der Position, dass Engström dem Eintretenden direkt in die Augen sehen konnte. Eine Leistung, die viele Jahre Training erfordert hatte.
„Cortez, sieh an. Reden Sie schon, hat es Fortschritte bei den Verhandlungen gegeben?“
„Ihnen auch einen schönen Tag, Engström. Wir treten auf der Stelle. Ich glaube, unser Kontrahent spielt auf Zeit.“
„Sie meinen, die Bande hat eine neue Teufelei in der Erprobungsphase, die sie demnächst gegen uns einsetzen wird?“
„Für mich sieht es genauso aus und wir stehen im Dunkeln.“
„Soll ich Walker losschicken?“
„Der Boss sagt Nein.“
„Der Boss sagt immer Nein. Würde er einmal Ja sagen, ginge die Sonne im Westen auf.“
„Wie lange machen Sie jetzt diesen Job?“
„Neun Jahre. Worauf wollen Sie hinaus?“
„Wenn etwas schief geht, landen wir beide in Sektor H, ist Ihnen das klar, Engström?“
„Für wie naiv halten Sie mich? Geben Sie schon den Startschuss. Walker ist bereit.“
„Wir haben wirklich keine andere Wahl. Dann los.“
Cortez und Engström wandten sich der einzigen unverstellten Wand zu, die sich in einen Monitor verwandelte. Es wirkte, als sähen die beiden aus einem Fenster. In gewisser Weise verhielt es sich auch so.
John Lowry sah das blinkende Hinweisschild Letzter Halt in Sektor C. Eine freundliche Stimme wiederholte den Text mehrmals. Heute am frühen Morgen von Sektor D aufgebrochen, wo er eine winzige Wohnung in einem großen Häuserblock sein Zuhause nannte, war er fast am Ziel seiner Reise angelangt.
Die U-Bahn hielt und die Fahrgäste strömten den offenen Türen entgegen. John blieb sitzen. Sein Ziel war Sektor B. Er sah sich um. Mit ihm hielten sich nur noch fünf Personen in dem Abteil auf. Doch das entsprach seinen Erwartungen.
John ging seiner Arbeit nur in den Sektoren D, C und B nach. Einmal, zu Beginn seiner Tätigkeit, hatte er einen Versuch in Sektor E gestartet. Als er damals das Bahnhofsgebäude verlassen hatte, war sein erster Gedanke, dass er hier ein Jahr lang für die Ausbeute arbeiten müsste, die er in Sektor B in einer Woche erzielen konnte.
John hatte trotzdem zu arbeiten begonnen. An den Gebäuden, egal ob Wohn- oder Geschäftshaus, konnte er den Vermögensstand der Leute gut abschätzen und nachdem er zwei, drei Börsen zu fassen bekommen hatte, war er endgültig zu dem Schluss gelangt, dass er das Geld dieser Leute nicht brauchte. Es war einfach zu teuer.
Ein Merkmal zeigte John an, in welche Richtung er fuhr. Überschritt er eine Sektorengrenze auf dem Weg nach Sektor B, wurden die Bahnhöfe geschmackvoller gestaltet. Sie wirkten größer und heller und konnten in Sektor B als prunkvoll bezeichnet werden. So war Johns Weg zur Arbeit immer schöner als der Weg zurück, was allerdings durch das erbeutete Geld in seiner Tasche kompensiert wurde.
An der nächsten Haltestelle stiegen alle Reisenden aus und passierten einen schmalen, röhrenartigen Gang, der sich am Ende auffächerte, sodass zehn Personen gleichzeitig die Schleuse nach Sektor B betreten konnten, sofern sie einen gültigen Passierschein besaßen.
Als John an der Reihe war, hielt er seinen Schein hoch und die Tür öffnete sich geräuschlos. Er betrat eine Halle und sein Blick wurde auf vier wuchtige Rolltreppen, die in den Himmel zu ragen schienen, gelenkt. Wie alle anderen Reisenden auch, schlug er diese Richtung ein. Wenige Minuten später fand er sich in einer Bahnhofshalle wieder, die nach ihren Dimensionen zu schließen für Riesensaurier gebaut worden war. Er schaute sich um, doch da er kein bestimmtes Fahrziel verfolgte, begab er sich zu den Wartenden, die am nächstgelegenen Bahnsteig standen. Jeden Moment musste eine U-Bahn einfahren. John musterte die Leute unauffällig, doch sehr genau. Ihr Verhalten unterschied sich nicht großartig von Wartenden in anderen Sektoren. Das lag sicher an der Örtlichkeit, Bahnhöfe glichen sich überall. Ihre Shopping Malls, die sich über mehrere unterirdische Stockwerke verteilten, boten gute Einkaufsmöglichkeiten und die vielen Cafés Gelegenheiten, sich von den Käufen zu erholen. Auch wenn dieser Bahnhof mit seinen noblen Geschäften prunkvoller ausgestattet war als alle anderen, die John je betreten hatte, war er eben auch nur ein Bahnhof. Doch einen signifikanten Unterschied zu den Bahnhöfen, die er kannte, gab es und der betraf die Werbung. John staunte, wie wenig hier unternommen wurde, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das dezent in Szene gesetzte Produkt spielte die Hauptrolle. Keines der Hologramme versuchte die Werbung des benachbarten Geschäftes zu übertreffen, wie es in seinem Sektor der Fall war. Einige Durchreisende waren in Eile und hatten kein Auge für die dezent dargebotenen Verführungen, doch Reisende ohne Zeit, waren hier die Ausnahme.
Die Leute, die auf einen Zug warteten, schienen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle geschäftlich unterwegs zu sein und nur diese interessierten ihn. Er hatte gerade seine Studien beendet und sich für einen Mann entschieden, als der Zug in den Bahnhof fuhr. Alle Wartenden stiegen ein, nur der Mann, den John sich auserkoren hatte, blieb auf dem Bahnsteig zurück. Es war das erste Mal, dass ihm so etwas widerfuhr, weshalb er den Fehler machte, ebenfalls nicht einzusteigen. Als er seinen Irrtum erkannt hatte, schlossen sich die Türen und die U-Bahn fuhr leise surrend davon. Er sah durch die Fensterscheiben in die hell erleuchteten Abteile und fühlte wie ein Teil von ihm mit dem Zug entschwand.
Noch Jahre später konnte John sich an die U-Bahn erinnern, weil er glaubte, dass sein Leben nicht aus dem Ruder gelaufen wäre, wenn er sie genommen hätte.
John wandte sich von den roten Schlusslichtern, die noch in der Ferne zu tanzen schienen, ab und sah sich nach dem anderen Mann um. Ihre Blicke trafen sich.
„Sie sind John Lawrence, wenn meine Informationen stimmen.“
John tat, als wäre er überrascht, angesprochen zu werden.
„Wenn Sie mich meinen, dann stimmen Ihre Informationen nicht. Tut mir leid.“
John wandte sich ab und ging Richtung Rolltreppe, die nach oben führte. Doch bevor er die Treppe erreichte, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
„Wen sollte ich sonst meinen? Wir sind hier die einzigen, Mr. Lawrence.“
John versuchte die Hand abzuschütteln, doch der Griff verstärkte sich.
„Hören Sie auf, Mann. Sie brechen mir die Schulter!“
„Sie sind John Lawrence, wohnen in Sektor C und sind Mathematiker. Ich lasse Sie jetzt los, wenn Sie versprechen, nicht davonzulaufen.“
„Schon gut, überredet. Hier liegt eine Verwechslung vor, mein Name ist nicht John Lawrence. Ich wohne in Sektor D und bin Geschäftsmann. Ich habe eine ID-Card, die das beweist.“
„Ich vertraue meinen Informationen. Damit bin ich immer gut gefahren.“
„Ach ja? Wie heißen Sie Schlaumeier überhaupt?“
„Mein Name ist Walker, William Walker.“
„So, wie Sie zugedrückt haben, hätte ich sie für einen Androiden gehalten.“
Walker schnaufte verächtlich. John massierte sich die Schulter. Morgen würde er dort einen prächtigen Bluterguss sehen.
„Doch Sie haben mich gemustert, als stünden Sie vor einem mathematischen Problem.“
„Wir haben uns wohl beide geirrt. Was wollen Sie von mir, Mr. Walker?“
„Wir brauchen Ihre Fähigkeiten. Ab sofort arbeiten Sie für uns. Ich bin Ihr Verbindungsmann.“
„Wie ich schon sagte, Sie verschwenden Ihre Zeit. Suchen Sie Ihren John Lawrence. Für Ihre Spielchen stehe ich nicht zur Verfügung.“
„Daraus wird nichts. Sie sind meine Zielperson.“
John griff in die Innentasche der Jacke und zog seine ID-Card hervor.
„Die können Sie stecken lassen, ich bin überzeugt, ihr Name fängt mit den gleichen Initialen an.“
„Sie sind ungemein stur. Wie sieht meine Zukunft aus, wenn ich mich weiterhin um meine eigenen Belange kümmere?“
„In Sektor H gibt es Roboter, die jeden Morgen die Toten der Nacht einsammeln und der Endverwertung zuführen. In sehr naher Zukunft wird sich unter den Toten ein gewisser John Lawrence befinden.“
John wollte entgegnen, soll mir recht sein, doch dann entschied er sich um, weil er hoffte, so Walker zu entkommen.
„Sie können einem die Entscheidung wirklich leicht machen. Wer benötigt meine spezielle Begabung?“
„Das müssen Sie nicht wissen.“
„Und was soll ich tun?“
„Wir werden zu gegebener Zeit auf Sie zukommen.“
„Da ich meiner Tätigkeit nicht wie gewohnt nachgehen kann, wäre ein Vorschuss willkommen.“
„Sie genießen unser Vertrauen.“
„Ich hatte da etwas weniger Ideelles im Blick.“
„Sie bleiben am Leben.“
„Walker, Sie sind unverschämt. Sie haben ein Bündel Scheine für mich dabei, um Ihr Interesse zu dokumentieren und die will ich jetzt sehen.“
Walker wirkte einen Moment lang irritiert, griff in seine Aktentasche und reichte John einen Umschlag.
„Danke, Walker. Mathematiker sind keine Idioten und leben in der Wirklichkeit. Oder hat man Sie falsch informiert?“
Walker deutete ein Nicken an, nahm die Rolltreppe, die nach oben führte und ließ John stehen. Er drehte sich noch einmal um und rief: „Wir behalten Sie im Auge.“
John wartete solange, bis der Mann nicht mehr zu sehen war und fuhr ebenfalls nach oben. Seine Nerven waren angespannt. Heute zu arbeiten, schien ihm nicht besonders klug. Zur Kontrolle streckte er seine rechte Hand aus. Selbst in der glänzenden, alles verzerrenden Verkleidung der Rolltreppe sah er sie zittern. Diese Finger würden heute keine Brieftasche unbemerkt entwenden können. Er suchte sich zu entsinnen, wann das zum letzten Mal der Fall gewesen war und musste passen. Er fühlte nach dem Umschlag, der für ihn eine kleine Entschädigung bereit hielt.
Als John ins Freie trat, atmete er tief durch. Er bemerkte weder die angenehme Luft noch die in grüne Parks eingebetteten Straßen und Gebäude. Erst nach und nach nahm er die fremde Umgebung in sich auf. John sah sich nach einer Bank um und wählte eine, die in der Nähe eines wenig frequentierten Fußweges stand und von einer alten Linde beschattet wurde. Dort ließ er sich nieder.
Er wusste immer noch nicht, was ihm auf dem Bahnsteig widerfahren war. Wie hatte es nur zu dieser Verwechslung kommen können? Sein neuer Arbeitgeber wollte offiziell nicht in Erscheinung treten und stand vielleicht einem Geheimdienst oder einer anderen obskuren Organisation nahe. Wie auch immer, er saß in der Falle und wurde wahrscheinlich beobachtet. Für einen Taschendieb keine gute Option. John war es nicht gewohnt, von anderen als Spielball benutzt zu werden. Er grübelte vor sich hin, bis ihm der Gedanke kam, Walker und Konsorten zu entwischen, indem er sich nach Sektor H absetzte. Dort würde er nur ein weiterer Namenloser unter all den anderen Verlierern sein. Einen Versuch war es wert.
John öffnete den Umschlag und nickte anerkennend.
Craig Gordon hatte in der Nacht zu seinem dreißigsten Geburtstag nur wenig Schlaf gefunden. Das ging zum großen Teil auf die Anwesenheit von Honey zurück, die es verstanden hatte, ihre körperlichen Reize richtig einzusetzen. Trotzdem war er wie jeden Morgen um die gleiche Zeit erwacht. Seit längerem hatte er sich abgewöhnt, den Schlafrhythmus auf Arbeit oder Freizeit umzustellen. Er war bereits wach und ließ die Erinnerungen an die Nacht Revue passieren, als sein Haushaltsroboter um 6.30 Uhr das Licht anschaltete.
„Boy, mach mir drei Rühreier und Toast zum Frühstück.“
„Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Master?“
Craig machte eine Handbewegung und der Roboter verschwand. Die Luft im Zimmer fühlte sich kühl an. Mit Beginn des Oktobers hatten sich die letzten Spuren des Sommers verflüchtigt. Als Craig aus dem Fenster blickte, sah er, wie die ersten Sonnenstrahlen den Raureif, der die Dächer überzogen hatte, zum Glitzern brachte. Craig duschte ausgiebig und nachdem er sich etwas Legeres angezogen hatte, ging er in seine kleine Küche, die einem Tisch, zwei Stühlen und dem Androiden eine Heimstatt gab.
„Boy, mein Frühstück, pronto!“
„Sofort, Master“, sagte der Roboter, stellte das Essen auf den Tisch und wartete auf weitere Anweisungen.
„Was steht heute an?“
„Sie haben einen Termin in der Stadtverwaltung zur Lungenvolumenmessung, um 10.00 Uhr.“
„Kann mich an keinen Termin zu dieser Uhrzeit erinnern. Ich meine, er ist erst für 14.00 Uhr angesetzt. Bring mir bloß nicht meine Termine durcheinander!“
„Nein, Master. Die Aufforderung kam erst vor 25 Minuten herein. Ein Termin ist ausgefallen und Ihrer wurde vorgezogen. Soll ich den neuen Termin bestätigen?“
„Ja, natürlich. Sonst noch was?“
„Nein, Master. Das wäre alles für heute.“
„Dann verschwinde und mach deine Arbeit.“
Craig verfolgte die Nachrichten aus seinem Sektor und schlürfte Kaffee dazu, den er sich noch immer selber zubereitete. Die Neuigkeiten ödeten ihn an, sodass er nicht mal drei Minuten darauf verschwendete und sich Musik wünschte. Jazzklänge erfüllten die gesamte Wohnung, die noch aus einem kombinierten Wohn- und Arbeitszimmer bestand.
Craig loggte sich in seinen Laptop ein, um an dem Problem weiter zu arbeiten, das ihn letzte Nacht einige Male von Honey abgelenkt hatte. Er war Softwaredesigner bei der World Game Company, doch versuchte er, unter der Marke Dark Reality eigene Spiele auf den Markt zu bringen. Ideen hatte Craig genug, nur mit dem Marketing haperte es. Doch sein erklärtes Ziel bestand darin, sich selbstständig zu machen.
Craig spürte, dass die Lösung seines Problems in greifbare Nähe rückte, doch bevor er den Durchbruch erzielte, wurde er von seinem Haushaltsroboter unterbrochen.
„Master, es ist Zeit für Ihren Termin in der Stadtverwaltung.“
„Mist, ich war gerade so gut in Schwung.“
„Soll ich Ihren Termin absagen?“
„Nein, verdammt noch mal. Verschwinde in deine Ecke.“
Craig speicherte den Zwischenstand ab, machte sich schnell ein paar Notizen und brach auf.
Die U-Bahnstation lag fünf Etagen unter der Stadtverwaltung, weshalb ihm der Anblick dieses wuchtigen Blocks erspart blieb. Der einzig gute Aspekt dieser Architektur war, dass das Gebäude wahrscheinlich 1000 Jahre überdauern und damit als Mahnmal einer Bausünde in die Geschichte eingehen würde.
Es hatte den Anschein, als hätten alle Einwohner des Sektors einen Termin in der Verwaltung. Er drängelte sich durch die Menge und landete in einer Menschentraube vor den Aufzügen. Kurz entschlossen nahm er die Treppe, auf der niemand unterwegs war. Drängelei am Morgen war ihm ein Graus.
Außer Atem kam er im fünften Stock an, wo die Abteilung für Lungenvolumenmessung ihr Domizil hatte. Craig hielt seine ID-Card vor den Scanner. Eine Tür öffnete sich und er betrat einen leeren Warteraum. Wo wollten nur all die anderen Leute hin?
Pünktlich um 10.00 Uhr wurde er aufgerufen. Er ging in ein kleines Zimmer, das weder Stuhl noch Tisch vorweisen konnte. Die gegenüber liegende Tür öffnete sich für einen hereinfahrenden Roboter, der ihn freundlich begrüßte. Craig nickte als Erwiderung. Der Roboter bestückte seinen rechten Arm mit einem sauberen Mundstück und hielt es Craig entgegen.
„Mr. Gordon, bitte pusten Sie hier kräftig hinein!“
Die Prozedur hatte sich seit dem letzten Mal nicht geändert, wie Craig feststellte. Er blies solange, bis er angewiesen wurde, innezuhalten.
Die Messergebnisse dienten dazu, seinen Sauerstoffverbrauch für die nächsten fünf Jahre zu ermitteln. Ab dem dreißigsten Lebensjahr musste sich jeder Einwohner nur noch alle fünf Jahre dieser Prozedur unterziehen, nicht wie die Jüngeren, alle zwei. Craig hätte seinen Geburtstag vergessen können, doch die Verwaltung vergaß nichts.
Für die Luftqualität wurde jeder Bürger zur Kasse gebeten. Die Bezahlung erfolgte monatlich. Wer nicht in der Lage war, den ausstehenden Betrag zu begleichen, wurde in einen Sektor zwangsumgesiedelt, den er sich leisten konnte. Kam der Betreffende der Aufforderung nicht nach, wurde er am Stichtag mit Polizeigewalt aus seiner Wohnung eskortiert. Es geschah recht häufig, dass der Betreffende danach zuerst die medizinische Einrichtung im neuen Sektor kennenlernte.
Craig, der über ein mittleres Einkommen verfügte, wohnte in Sektor C. Sektor B war für ihn unerschwinglich, weshalb er dort höchstens alle paar Jahre Urlaub machte. Wie gut die Luft in Sektor A sein mochte, konnte er nur vermuten. Gerüchte besagten, dass es dort nicht einmal Kuppeln gab, unter denen man sich aufhalten musste. Doch Craig misstraute Gerüchten.
Er erinnerte sich allerdings noch gut an seine erste Reise nach Sektor E. Als er das Bahnhofsgebäude verließ, begegneten ihm nur Menschen mit Mundschutz. Er hielt sich sofort einen Ärmel vor den Mund, machte kehrt und besorgte sich eine Maske im Bahnhof. Selbst wenn er heute daran zurückdachte, lief es ihm kalt über den Rücken. Er konnte sich das Leben in einem angenehmen Sektor leisten, da Softwaredesigner gut bezahlt wurden. In Sektor H war Atemluft gratis. Das sagte ihm alles.
Solange er bei WGC unter Vertrag stand, musste er sich keine Gedanken um seine Zukunft machen. Die Spiele hatten sich, was ihre Themen betraf, in den letzten hundert Jahren kaum weiterentwickelt. Nur der Look wirkte heute so realistisch, wie es die Realität nie würde sein können. Leider waren Gerüchte aufgetaucht, die besagten, dass bald eine neue Generation von Soft- und Hardware die Gamewelt revolutionieren würde. Die Rede war von RLAG, worunter Craig sich alles oder nichts vorstellen konnte.
Er erhielt einen Beleg über den Betrag, den er zu zahlen hatte und verließ die Verwaltung. Craig sah auf seine Uhr: Zeit für einen Espresso. Er zückte seinen Kommunikator und rief Pauline an.
John
John betrat den Gemeinschaftssaal, der im Dämmerlicht größer erschien, als er tatsächlich war. Der Raum war gut gefüllt. Die Gespräche der Leute verdichteten sich zu einem Summen, aus dem Husten, Räuspern und rasselnde Atemgeräusche herauszuhören waren. Seit einer Woche wurde John von dieser Kakophonie der Trostlosigkeit begleitet, an die er sich nie gewöhnen würde.
John war die Flucht nach Sektor H gelungen. Nach der Begegnung mit Walker war er vorsichtshalber nicht mehr in seine Wohnung zurückgekehrt. Er hatte sich im Bahnhof noch schnell eine kleine Hightech-Überlebensausrüstung zugelegt, die aus Atemschutzmaske und Isomatte bestand.
Im Saal gab es fünf Bediensäulen und an jeder befand sich ein Knopf in Augenhöhe, dem selbst ein Hammerschlag nichts anhaben konnte. Unzählige schmutzige Hände hatten die Oberfläche des Knopfes mit einer Patina überzogen, die John wünschen ließ, er hätte Handschuhe dabei. Es herrschte reger Betrieb und er stellte sich ans Ende der Schlange. Als John an der Reihe war, schlug er mit der Faust auf den Knopf. Augenblicklich öffnete sich eine Luke, die zwei abgegriffene Kunststoffbehälter freigab. Wie immer enthielt der Becher dünnes Bier und der Napf einen satt machenden Brei, der nach Huhn, Schwein oder Rind schmeckte, ohne wirklich etwas davon zu enthalten. Das Essen war, wie alles in Sektor H, kostenlos. John gab sich keinen Illusionen hin, was die Qualität der Zutaten betraf. Doch er war hungrig und wer hungert, mäkelt nicht. Mäkeln war Luxus, den er sich erst wieder leisten konnte, wenn er seinen Geschäften nachging. Wann das sein würde, stand in den Sternen. John griff nach seiner Bestellung und suchte sich einen Platz, wo er in Ruhe essen konnte.
Es war ihm noch nie so schlecht gegangen, dass er Zuflucht in Sektor H nehmen musste. Selbst den Androiden, die sonst jede Arbeit verrichteten, war es untersagt, hier zu arbeiten. Sie wurden durch billige Roboter ersetzt. Aber gegen Roboter hatte John nichts einzuwenden. Angenehm war auch der Umstand, dass es keine Polizei gab, die überall herumschnüffelte, sondern nur Aasgeier genannte Serviceroboter, die vor Sonnenaufgang alle Toten wegschafften. Eine Woche lang hatte John es bereits geschafft, nicht von ihnen aufgesammelt zu werden.
Gesättigt verließ John das Gebäude. Er musste sich um eine Schlafstätte für die kommende Nacht kümmern. Für den Fall, dass Walker ihn suchte, wechselte John vorsichtshalber jeden Tag sein Lager. Sektor H war reich an verwahrlosten Gassen, Winkeln und Gebäuden, in die er sich zurückziehen konnte.
Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten. Obwohl es hier weder richtig hell noch ganz dunkel wurde, war es besser, sich rechtzeitig einen Unterschlupf zu sichern. John sah sich nach allen Richtungen um. Wahrscheinlich war es egal, für welche er sich entschied, da sich alle Viertel, die er bisher durchstreift hatte, ähnelten. Er war noch auf kein einziges Geschäft gestoßen. Allmählich dämmerte ihm, dass es in Sektor H überhaupt keine Geschäfte gab. Wer hier leben musste, hatte kein Geld. So einfach verhielt sich das. Mit Befremden registrierte er auch den Umstand, dass es keine Transportmittel gab. Die Gleise der U-Bahn endeten an der Sektorengrenze. Die Hinweise mehrten sich, dass John nicht viel über den Sektor wusste, in dem er sich jetzt aufhielt. Er hatte nicht genügend Zeit gehabt, sich auf Sektor H vorzubereiten, weshalb er noch mit einigen bösen Überraschungen rechnete.
Der Mundschutz, den die meisten Bewohner trugen, war für die zum Schneiden dicke Luft nur ein Placebo. Trotzdem trug John die Atemschutzmaske nur, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Er wollte mit diesem Luxusartikel keine Aufmerksamkeit erregen, da er fürchtete, nicht nur die Maske, sondern auch sein Leben zu verlieren.
Die Gassen in Sektor H waren namenlos. Er wusste nicht, ob sie jemals Namen gehabt hatten oder die Straßenschilder im Laufe der Zeit zerstört worden waren. Am ersten Tag war er in der Gegend umhergeirrt, bis er sich markante Details eingeprägt hatte, die ihm halfen, sich zu orientieren. Jetzt markierte er die Häuser, wenn er eine Kreuzung passierte, um sich besser zurechtzufinden und zeichnete alles in seinen Plan ein, der immer mehr Struktur annahm.
John war erst wenige Minuten unterwegs, als er seine Atemschutzmaske aufsetzte. Er fühlte sich ausgelaugt, als hätte er eine Bergbesteigung hinter sich.
John hielt einen Moment inne. Er vernahm das Grundrauschen einer zerstörten Umwelt, in dem der Wind für melodiöse Abwechslung sorgte. Die Straße ähnelte den anderen, die er bisher erkundet hatte. John betrat das erstbeste Gebäude und lauschte auf das charakteristische Schnaufen der Einheimischen. Nachdem er keinen verräterischen Laut vernommen hatte, ging er in den ersten Stock hinauf. Er schlief nie Parterre und suchte sich immer ein Zimmer, das mehrere Ausgänge oder Fenster hatte. Falls er eines Nachts überfallen werden sollte, wollte er sich Fluchtmöglichkeiten offen halten.
John war in einen leichten Schlaf gefallen und träumte, dass seine Hände wieder ihrer Lieblingstätigkeit nachgingen. Er tastete gerade sein Opfer ab und frohlockte schon über die zu erwartende Beute, als er ein Rasseln wahrnahm, das nicht in seinen Traum passte. Augenblicklich saß er aufrecht auf der Matte. Der Überlebensinstinkt des Taschendiebes funktionierte noch in ihm. Jemand schlich leise durch die Gänge und er hörte ein schweres Atmen. John verstaute die Isomatte und bedachte seine Optionen.
„Jetzt bist du fällig!“
Eine Stimme, so brüchig wie rostiges Eisen, riss John aus seinen Gedanken. Er konnte den Mann, der eben den Raum betreten hatte, nur schemenhaft erkennen, spürte aber dessen physische Präsenz deutlich.
John stand mit angespannten Muskeln da und beobachtete den Mann, der langsam auf ihn zukam. Er war so flink, dass der Versuch des Eindringlings, ihn zu packen, plump wirkte. John hechtete aus dem Fenster und schlug dabei die Glasscherben mit den Beinen heraus, die auf der Straße zersplitterten.
„Greif ihn dir, Bob!“
John hörte die Worte durch das Fenster hallen, das er gerade durchflogen hatte. Er landete auf beiden Beinen, rollte ab und rappelte sich auf. Schnell sah er sich um und bemerkte eine dunkle Gestalt, die auf ihn zukam. John ließ sich nicht auf einen Kampf mit Bob ein, sondern überließ ihm das Feld. Mit seiner Sauerstoffversorgung erschien ihm die Flucht erfolgversprechender zu sein als die Unwägbarkeiten eines Kampfes. Die Männer würden ohne zusätzlichen Sauerstoff die Verfolgung nach wenigen Minuten aufgeben müssen. John bog in die nächste Querstraße ein, presste sich an die Hauswand und lugte vorsichtig um die Ecke. Er hätte viel dafür gegeben, seine Verfolger zu sehen, doch an ihrem Keuchen erkannte er, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch standen. Auch ihm hatte die Flucht alles abverlangt. Noch ein wenig außer Atem stierte John in die trübe Dunkelheit, als könne er damit seine Verfolger zum Auftauchen zwingen.
Hatte er eben eine Bewegung wahrgenommen? Im nächsten Moment hörte er einen kurzen, trockenen Knall und gleich noch einen. Die Stille, die darauf folgte, war beredt. John drückte sich noch enger an die Hauswand. Zwei Schatten schwebten wenige Meter von ihm entfernt herab. Einer hielt etwas in der Hand, das als Waffe durchgehen konnte.
John erinnerte sich an Gerüchte, die von Maskierten handelten, die Jagd auf Menschen machten und als Trophäe die Köpfe ihrer Opfer mitnahmen. Jetzt konnte er sich davon überzeugen, ob diese Gerüchte stimmten. Einer der Jäger zog einen Gegenstand unter seinem Mantel hervor, mit dem er für Sekunden die Szenerie erhellte. John vermutete, ohne es genau zu sehen, dass die am Boden liegenden Männern enthauptet wurden. So lautlos wie die Jäger gekommen waren, verschwanden sie.
John wartete einen Augenblick und schlich zu seinen getöteten Verfolgern hinüber. Schon beim Näherkommen sah er, dass die Gerüchte nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten, sondern der Wahrheit nur nahekamen.
Keine Frage, die Jäger beherrschten ihr Handwerk, obwohl sie die Köpfe nicht abgetrennt hatten. John bot sich ein ungewohnter Anblick. Den Männern war die Kopfhaut vollständig abgezogen worden, als wären es ihre Mützen. Die Augen lagen, vom Muskelgewebe gehalten, immer noch in ihren Höhlen und starrten blind in die Dunkelheit. Die Zähne grinsten John dreist an und schienen stolz darauf zu sein, noch nie eine zahnärztliche Behandlung genossen zu haben. Die ganze Arbeit erinnerte ihn an einen Beitrag über plastische Chirurgie, in der ein mikroskopisches Skalpell zum Einsatz gekommen war.
Jetzt erst bemerkte John die Einschusslöcher im Brustbereich der Männer. Er kannte Einschusslöcher nur aus alten Filmen, denn Laserwaffen hinterließen gewöhnlich nur verbrannte Flecken. Hier waren altertümlichen Waffen zum Einsatz gekommen. Nur warum? John wusste, dass Waffen Sektorengrenzen nicht passieren durften. Wenn jemand eine brauchte, kaufte er sich eine neue. Das war natürlich nur in Sektoren möglich, die Geschäfte besaßen.
John hatte von einem Gesetz gehört, das Waffen nicht als Waffen deklarierte, wenn es sich dabei um Kulturgüter einer vergangenen Epoche handelte. Das Gesetz bemaß ihnen nur einen musealen Wert bei. Die vor ihm liegenden Männer waren durch Kulturgüter ums Lebens gekommen. Was in anderen Sektoren einen Anachronismus darstellen würde, entsprang hier in Sektor H praktischen Erwägungen. John hätte Bob gerne gefragt, was er von dem Gesetz hielt.
John kniete sich nieder und durchsuchte die Taschen der Getöteten. Mit geübter Fingerfertigkeit fand er bei dem Großen, der in sein Zimmer eingedrungen war, einen Schlagring, ein Klappmesser und im Gürtel ein Geldversteck. John wog das Messer in einer Hand, öffnete und schloss die Klinge, bevor er es schließlich einsteckte. Das Geld, auch wenn es keine große Summe war, nahm er ebenfalls an sich. Danach wandte er sich Bob zu. Aus einer Jackentasche zauberte John einige Geldscheine hervor. Die beiden hatten ihren ganzen Besitz mit sich herumgetragen. In Sektor H traute niemand einem Versteck.
John sah sich um. Alles war still. Trotzdem hielt er es nicht für ratsam, noch länger an diesem Ort zu verweilen. Diese Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden.
Nach eingehender Betrachtung verwahrte Craig die Ausbeute der letzten Woche in dem kleinen Eckschrank im Wohnzimmer. Zufrieden ließ er sich in seinen Sessel fallen und rief Pauline an. Sie nahm den Anruf sofort entgegen.
„Hallo Craig, wollen wir uns auf einen Espresso treffen?“
„Pauline, lass mich doch erst mal zu Wort kommen. Ich habe eine Überraschung für dich. Wenn du Zeit hast, komm doch auf einen Sprung vorbei.“
„Sind sie schon fertig?“
„Überraschungen verrate ich grundsätzlich nicht.“
„Ich bin schon unterwegs.“
„Gut, bis gleich.“
Craig hatte Pauline auf einer Party bei Freunden kennengelernt. Sie sprach über moderne Malerei oder etwas ähnlich Uninteressantes und er war überrascht, wie viele Zuhörer sie damit in ihren Bann zog. Später gesellte er sich zu ihr, als sie, allein vor einem Fenster stehend, die hell erleuchtete Stadt betrachtete. Daran konnte er sich noch gut erinnern. Sie kamen ins Gespräch und stellten bald fest, dass sie beide ihren Lebensunterhalt mit Programmierung verdienten. Er hatte sie fälschlicherweise für eine Kunststudentin gehalten. Danach trafen sie sich ab und an auf einen Espresso. Irgendwann zeigte Craig ihr sein Projekt Dark Reality. Interessiert hatte sich Pauline alles angesehen und sofort einige Verbesserungsvorschläge für Hintergrunddetails parat. Seitdem half sie ihm, wenn die Hintergrundgestaltung Probleme bereitete. Er war für jede Hilfe dankbar, die ihn nichts kostete.
„Pauline ist da, Master. Soll ich sie hereinbitten?“
„Das mache ich selber. Ab mit dir in die Küche, Boy.“
„Ja, Master.“
Craig ging zur Wohnungstür und konnte auf dem Monitor eine ungeduldig wirkende Pauline beobachten. Ihm gefiel, was er sah. Ihr eng anliegendes Oberteil ließ einen wohlgeformten Körper erahnen. Doch Frauen, die Hosen trugen, fand er weniger sexy als solche, die Kleider bevorzugten und Pauline trug immer Hosen. Er öffnete die Tür und sah in ein strahlendes Lächeln.
„Herein mit dir, Pauline.“
Sie umarmte ihn flüchtig und eilte ins Wohnzimmer voraus. Er schloss die Tür und folgte ihr.
„Ich kann es kaum erwarten, Craig. Wo sind sie?“
Als er Pauline da draußen auf dem Flur gesehen hatte, wollte er sie warten lassen, doch einer spontanen Regung nachgebend, entschloss er sich, sie nicht unnötig auf die Folter zu spannen. Er führte sie zu dem kleinen Eckschrank im Wohnzimmer und stellte sich so hin, dass er ihre Reaktion genau beobachten konnte, wenn sich die Schranktür öffnete. Craig drückte auf einen versteckt angebrachten Knopf in der Wand. Allmählich gab die sich öffnende Tür den Blick auf das Verborgene frei. Craig wurde nicht enttäuscht. Er sah, wie sich Paulines Augen weiteten und sich über das ganze Gesicht ein Strahlen ausbreitete. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung.
„Darf ich einen anfassen?“
„Beide, wenn du willst.“
Nachdem Craig seine Zusammenarbeit mit Pauline an Dark Reality begonnen hatte, stellten beide fest, dass sie außer ihrer Arbeit noch ein Hobby teilten: Sie hegten eine Faszination für Schrumpfköpfe. Craig hatte zuerst gezögert, Pauline seine Sammlung zu zeigen, doch dann beschlossen, das Geheimnis mit ihr zu teilen. Beim Anblick der Sammlung hatte sie nach Luft geschnappt und vor Begeisterung gekreischt, was ihn ermutigte, ihr alles anzuvertrauen. Als er ihr mitgeteilt hatte, dass alle Arbeitsgänge, die die Herstellung der Schrumpfköpfe erforderten, von ihm allein ausgeführt worden waren, stand sie einer Ohnmacht nahe.
Pauline hielt einen Schrumpfkopf in der Hand und besah ihn von allen Seiten.
„Erkennst du ihn wieder?“
„Nein, nach dem Schrumpfungsprozess ist das so gut wie unmöglich. Weißt du denn, wer wer ist, Craig?“
„Klar, aber nur, weil ich einen markiert habe. Du hältst den von dem Großen in der Hand. Such dir einen aus.“
„Im ernst? Danke.“
Er genoss Paulines spontane Umarmung. Sie war intensiver als zur Begrüßung. Die Berührung mit ihrer vor Erregung erhitzten Haut löste bei ihm ein Kribbeln aus. Er löste sich von ihr.
„Entschuldige Pauline, ich muss heute noch ein paar Dinge für WGC erledigen.“
Craig bemerkte, wie das Leuchten ihrer Augen verblasste.
„Kein Problem, ich habe auch noch etwas vor.“
Er hatte sie verletzen wollen und lockte sie gleich wieder mit einem neuen Angebot.
„Bist du dabei, wenn ich wieder auf Jagd gehe?“
„Auf jeden Fall.“
„Ich rufe dich an.“
Pauline steckte den Schrumpfkopf, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, in ihre Umhängetasche und verabschiedete sich. Craig begleitete sie noch bis zum Ausgang und eilte, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, zur Küche.
„Honey, komm. Mach schnell.“
Der Androide, der in der Ecke stand, löste sich aus seiner Erstarrung. Sein Körper nahm weibliche Formen an, die Augen wurden größer und die Lippen voller. Die Verwandlung war nach wenigen Sekunden vollendet, doch kam sie Craig wie eine Ewigkeit vor. Er stürzte sich auf die schöne Gestalt. Der Körper des Androiden besaß makellose Haut, deren Temperatur an die des ihn berührenden Menschen angepasst wurde. Nur transpirieren konnte die Haut nicht, was Craig als angenehm empfand.
„Nicht so schnell, Craig, lass es uns genießen.“
„Nicht jetzt, Honey. Pauline hat mich ganz aus der Fassung gebracht.“
„Ich weiß. Ich glaube, sie hatte mehr von dem Abend erwartet.“
„Da hast du wohl recht. Ich spüre noch immer die Berührung ihrer Haut.“
Er griff dem Androiden zwischen die Beine, drang in das Wunderwerk menschlicher Ingenieurskunst ein und arbeitete wild dem Höhepunkt entgegen. Als seine Gier gestillt war, beendete er die Mensch-Maschine-Interaktion und ging Richtung Bad davon. Bevor er unter der Dusche verschwand, rief er durch die Wohnung: „Danke, Honey. Wenn ich geduscht habe, möchte ich zu Abend essen, Boy.“
Craig flüchtete immer ins Bad, wenn aus Honey wieder die Haushaltshilfe wurde. Er ließ das Wasser heiß auf seinen Körper prasseln. Der Haushaltsroboter war eine gute Investition gewesen. Zuerst hatte ihn der hohe Preis abgeschreckt, doch die Verkäuferin, die ihm die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten aufzeigte, konnte ihn überzeugen. Sie hatte ihm gesagt, das einzig Antiquierte an der Haushaltshilfe sei die Bezeichnung Roboter, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte, als die ersten auf den Markt kamen. Daraufhin hatte die Verkäuferin die Wandlungsfähigkeit des Körpers demonstriert und er durfte alles genau in Augenschein nehmen. Craig war ihr immer noch dankbar.
John war auf dem Weg zu dem medizinischen Versorgungszentrum, das auf dem Hinweisschild neben der Eingangstür des Gemeinschaftssaales erwähnt wurde. Im Laufe der Jahre von einer undefinierbaren Schicht überzogen, war die Schrift kaum noch zu erkennen. John hatte sich die Mühe gemacht, alles zu entziffern, weil er vermeiden wollte, vor den Männern als unerfahrener Einzelgänger dazustehen, der einen von ihnen um Rat fragen musste. Er hatte sich die Wegbeschreibung eingeprägt und war erfreut, das MedZen auch tatsächlich zu finden. Er stand vor dem Eingang und wartete, dass sich die Tür öffnete. Als das nicht geschah, betätigte er nach kurzer Suche den einzigen Knopf, der außen angebracht war. In Sektor H passierte nichts ohne Knopfdruck. Langsam sollte er sich an diesen Umstand gewöhnen.
John ging auf den Tresen zu, hinter dem ein Serviceroboter auf Kundschaft wartete.
„Willkommen im MedZen. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Schmeißt du den Laden hier ganz allein?“
„Ja, wenn Sie verletzt sind, bin ich Ihr Arzt.“
„Schön zu wissen. Wie nennt man dich?“
„Das hängt vom jeweiligen Kunden ab. Manche nennen mich Blecheimer, andere Eisenmann oder Schrotthaufen. Ich helfe jedem, egal wie ich genannt werde.“
„Das ist ehrenwert. Mein Name ist John. Wenn ich dich Albert nenne, wärst du damit einverstanden?“
„Wenn Sie das wünschen, ist es mir recht.“
„Nein, so war das nicht gemeint. Stell dir vor, du könntest dir einen Namen aussuchen. Welchen würdest du wählen?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“
„Na dann wird es aber höchste Zeit. Ich warte.“
„Sie können mich Hal nennen.“
„Schön Hal und jetzt duzen wir uns. Ist das für dich ein Problem?“
„Nein, John.“
„Wunderbar. Hal, ich möchte mich desinfizieren lassen.“
„Du bist neu hier. Die Alteingesessenen haben es längst aufgegeben, sich dieser Prozedur zu unterziehen.“
„Die Männer im Gemeinschaftssaal konnte ich täuschen, dich nicht. Was hat mich verraten?“
„Die Alteingesessenen würden nie ein Gespräch mit einem Roboter anfangen, wenn sie nicht müssten. Die Bewohner in diesem Sektor brauchen jemanden, auf den sie herabsehen können und das sind wir, die Roboter.“
„Ich habe nicht vor, ein Alteingesessener zu werden. Wie läuft das mit der Desinfektion ab?“
„Du gehst in die Kabine, deren Tür blinkt und schließt deine Augen, wenn der Gong ertönt. Schlägt der Gong ein zweites Mal, ist der Vorgang beendet und du kannst die Kabine wieder verlassen.“
Die monotone Sprechweise des Roboters hatte etwas Beruhigendes. John hätte am liebsten seine Isomatte ausgebreitet und ein Stündchen geruht, so behütet fühlte er sich hier.
„Wo kann ich meine Sachen ablegen?“
„Du musst die Sachen anbehalten, John, Gebot des Hauses.“
„In Ordnung, Hal. Wie lange wird das Ganze dauern?“
„Etwa eine halbe Minute.“
John betrat die Kabine, die gerade so viel Platz bot, dass er die Arme ausbreiten konnte. Die Reinigung verlief unspektakulär. Er hatte überhaupt nichts gespürt und wäre der Gong nicht zum zweiten Mal erklungen, würde er jetzt immer noch auf den Beginn der Prozedur warten. Er war nahe daran gewesen, alles für einen Schwindel zu halten. Doch dann sah er seine sauberen Sachen und verließ die Kabine.
„Hal, ich brauche noch einen extra großen Mundschutz, Pflaster, Verbandszeug und eine Schere.“
„Ich habe den Mundschutz nur in einer Größe vorrätig.“
„Auch gut, den nehme ich.“
„Du kannst jetzt die Schublade, die blinkt, aufziehen.“
John tat wie geheißen und steckte alle Utensilien ein. Er wollte sich schon vom Tresen abwenden, als ihm noch eine Frage einfiel.
„Wie kommt es, dass ich bisher kein einziges Geschäft gesehen habe? Gibt es hier keine?
„Nein, John, in Sektor H fehlt es an allem, was Menschen das Leben lebenswert macht. Es gibt keine Geschäfte, keine Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, keine auf Technik basierenden Kommunikationswege. Sektor H ist nur zum Überleben eingerichtet.“
„Und wie komme ich an einen Passierschein?“
Vor der Antwort war ihm Bange, denn sie konnte seine Zukunft schwer beeinträchtigen.
„Das weiß ich nicht. Du hättest dir in jedem anderen Sektor einen kaufen können, hier ist es unmöglich.“
John ließ die Antwort in sein Bewusstsein sickern und rührte sich nicht.
„Das hatte ich befürchtet, doch es zu wissen, ist etwas anderes.“
„Einen Moment, ich bin gleich wieder da.“
Hal verschwand hinter einer Tür und kam mit einer Flasche in seinem Greifarm zurück, die er vor John auf dem Tresen positionierte. Einen Becher stellte er dazu.
„Was ist das für ein Gebräu, Hal?“
„Absinth, zur Linderung besonderer Schmerzen.“
Hal füllte den Becher zu einem Drittel. John stürzte das Getränk mit einem Schluck hinunter. Er spürte ein heißes Brennen. Tränen standen in seinen Augen.
„Danke, Hal, für alles. Bis zum nächsten Mal.“
„Auf Wiedersehen, John.“
Er winkte dem Roboter zum Abschied. Eine unsinnige Geste, wie er meinte und war erstaunt, als Hal den Gruß mit seinem Greifarm erwiderte.
Die betäubende Wirkung des Alkohols hatte eingesetzt und John ging zu dem Gebäude zurück, in dem er letzte Nacht Unterschlupf gefunden hatte. Er wollte mit den Materialien seine Atemschutzmaske so umbauen, dass sie wie ein normaler Mundschutz aussah. In Sektor H an ausreichend saubere Luft zu kommen, war ein nicht zu unterschätzender Vorteil im Überlebenskampf, besonders da er, wie es jetzt schien, bis auf weiteres würde hierbleiben müssen. John machte sich an die Arbeit und testete jede seiner Modifikationen, bis ihn das Resultat zufriedenstellte.
Grace de Ville verbrachte viel Zeit damit, nach den Sternen zu schauen. Sie fotografierte kosmische Objekte aller Art, die nur eine Bedingung zu erfüllen hatten: Sie mussten ihr gefallen. Im Verlauf der Reise hatte sie eine wunderschöne Sammlung zusammengetragen. Grace und weitere 49 Wagemutige waren mit ihrem Raumschiff, der Hemera, zu Xerxes107, einem weit entfernten Sonnensystem, aufgebrochen, in der Hoffnung, dort auf eine fremde Zivilisation zu treffen. Alpha Xerxes, das Zentralgestirn, gehörte zu derselben Sternenklasse wie die irdische Sonne. Sechs Planeten waren bisher nachgewiesen worden, wobei sich einer davon in der Lebenszone befand. Von diesem Planeten hatten die Radioteleskope auf der Erde Signale empfangen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit künstlichen Ursprungs waren. Innerhalb eines Jahres wurde ein Team aus Spezialisten zusammengestellt, die einen fünf Jahre dauernden Raumflug auf sich nahmen, um den ersten Kontakt zu einer außerirdischen Intelligenz herzustellen.
Grace war Linguistin und hoffte, dieser Herausforderung gewachsen zu sein. Manchmal plagten sie Zweifel, weil sie sich vorstellte, dass der Kontakt wegen ihrer Unfähigkeit nicht zustande kommen würde. Schlimmer war nur noch die Vorstellung, dass sie am Ende der Reise auf einen toten Gesteinsbrocken treffen würden, auf dem es kein Leben gab.
Obwohl sie gerade erst ein Drittel ihrer Reise hinter sich gebracht hatten, registrierte Grace bereits erste Anzeichen von Gleichgültigkeit und Desinteresse bei einigen Besatzungsmitgliedern. Sie fühlte sich noch ausgesprochen gut, obwohl sie zu den Ältesten an Bord gehörte. Grace hatte sich nicht aus Abenteuerlust für diesen Flug entschieden, sondern wegen des Angebotes, kostenlos in Sektor B wohnen zu können. Da ihre akademische Laufbahn ihr nicht die Möglichkeit geboten hatte, große Reichtümer anzuhäufen, hätte sie demnächst nach Sektor D umziehen müssen. Diese persönliche Katastrophe hatte Grace erfolgreich abgewendet.
Da das Teleskop des Schiffes erst zum Einsatz kommen würde, wenn die Hemera Xerxes107 erreicht hatte, stand es Grace bis dahin als Objektiv zur Verfügung.
Der Alltag auf der Hemera war stark strukturiert. Die Mannschaft arbeitete in drei Schichten. Die Drittelung des Tages in die Teilbereiche Arbeit, Freizeit und Ruhe war vorgeschrieben und deren Einhaltung, besonders die der Ruhezeiten, wurde überwacht. Grace, obwohl von diesem Reglement nicht betroffen, hielt sich trotzdem weitestgehend daran.
Sie hatte bereits den halben Vormittag im Observatorium fotografiert und legte, als sie merkte, dass ihre Konzentration nachließ, eine Teepause ein. Natürlich waren Essen und Trinken im Observatorium verboten, woran Grace jedoch keinen Anstoß nahm.
Während sie ihren Tee trank, sah sie hin und wieder zum Display hinüber, das den Kameraausschnitt zeigte. Plötzlich erlosch das Licht der Sterne. Der Bildschirm wurde schwarz.
„Mist, meine Kamera ist kaputt.“
Grace, die beim Fotografieren immer allein war, hatte sich angewöhnt, Selbstgespräche zu führen. Sie startete das Diagnoseprogramm der Kamera und musste einen Moment auf das Resultat warten. Natürlich hatte Grace eine Ersatzkamera dabei, doch hoffte sie, es möge nur eine Störung vorliegen, die ein Techniker vor Ort beheben konnte. Das Ergebnis der Diagnose irritierte sie, da das Tool ihrer Kamera volle Funktionstüchtigkeit bescheinigte.
„Unmöglich, das würde ja bedeuten, dass das Teleskop des Schiffes ausgefallen ist!“
Grace hatte keine Ahnung, ob das überhaupt möglich war und rief den für diese Technik verantwortlichen Mitarbeiter an, der auch die Kamera mit dem Teleskop verbunden hatte.
„Hallo Renzo, kannst du mal prüfen, ob unsere Optik funktionstüchtig ist?“
„Das kann ich dir versichern, Grace, sonst würde ich hier nicht so entspannt mit dir plaudern.“
„Tja, dann hat jemand soeben den Sternen das Licht ausgeknipst, denn meine Kamera arbeitet laut Diagnoseprogramm ebenfalls fehlerfrei.“
„Das halte ich für ausgeschlossen. Dein Tool spinnt. Bis dann, Grace.“
„Halt, Renzo. Willst du gar nichts unternehmen?“
„Nein, deine Kamera ist dein Hobby.“
„Meine Kamera ist aber in Ordnung!“
„Erkläre mir nicht meinen Job, Grace.“
Renzo hatte einfach aufgelegt. Techniker waren nun einmal Ignoranten, das wusste Grace. Sie rief in der Kommandozentrale an.
„Tashiro, Kommandozentrale, was gibt es denn wichtiges, Grace?“
„Hallo Tashiro, unser Teleskop ist ausgefallen.“
„Das ist Sache der Technik, wenn du weiter nichts auf dem Herzen hast ...“
„Ich habe der Technik Bescheid gegeben, doch Renzo ist der Auffassung, alles sei in Ordnung. Bitte, unternimm du etwas.“
„In Ordnung, Grace.“
„Danke Tashiro.“
Grace räumte ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zu ihrer Kabine. Eine Durchsage des zweiten Offiziers ließ sie innehalten.
„Achtung, das ist kein Test. Alle Mitglieder der Mannschaft begeben sich umgehend zur Lounge. Ende.“
Grace gehörte zu den Ersten, die dort eintrafen. Binnen weniger Minuten waren alle Crewmitglieder versammelt, die keinen Dienst taten. Massimo Troiani, der Kommandant, war über einen Monitor mit der Lounge verbunden.
„Danke, dass ihr so schnell gekommen seid. Tashiro, unser Navigator, hat festgestellt, dass wir einen Ausfall unseres Zentralcomputers zu verzeichnen hatten. Der Ausfall hat nur einen winzigen Moment gedauert, doch genügt, um alle Kursinformationen zu vernichten. Wassili, unser Computerspezialist, den sonst nichts aus der Ruhe bringt, hat einen Zusammenbruch erlitten und liegt auf der Krankenstation. Zuvor hat er mir erklärt, dass das, was passiert ist, unmöglich geschehen konnte. Das Vorkommnis ist ihm ein Rätsel. Stand der Dinge ist folgender: Wir haben keine Informationen über unsere Position und kennen den Kurs nicht, auf dem wir fliegen. Unsere einzige Option ist, Ruhe zu bewahren. Unser Schiff ist autark. Ich danke euch allen, ciao.“
Noch bevor der Bildschirm dunkel wurde, brach die Hölle los. Alle redeten durcheinander, einer lauter als der andere. Grace entfloh diesem Chaos. Sie ging ins Observatorium, wo sie Ruhe fand und schließlich eine Möglichkeit, die Position des Schiffes zu bestimmen. Nachdem Grace sich davon überzeugt hatte, dass das Teleskop wieder funktionierte, begann sie erneut, die Sterne zu fotografieren. Auf ihrem Tablet startete sie eine App, die ihre Fotos, vor und nach dem Ausfall, zeitlich sortierte und mit den entsprechenden Sternkarten abglich. Anschließend rief sie den Kommandanten an.
„Hier Massimo, was gibt es, Grace?“
„Hallo Massimo, ich kann unsere Position bestimmen ...“
Er unterbrach sie sofort.
„Grace, du bist Linguistin, Hobbyastronomen sind jetzt nicht gefragt. Nichts für ungut, doch wir haben hier ein Problem zu lösen, ciao.“
Auf diesem Schiff schien ihr Beruf sie permanent in Misskredit zu bringen. Warum sollte eine Linguistin in astronomischen Dingen eine Idiotin sein. Grace hatte nicht nur die Position der Hemera ermittelt, sondern auch ihren Kurs. Schon bald würde das Schiff ein Sonnensystem erreichen und dort, wenn sie richtig lag, auf eine außerirdische Zivilisation treffen. Diese Vermutung behielt sie jedoch für sich, da ihre Meinung nicht geschätzt wurde.
Eine Woche später richtete der Kommandant wieder eine Ansprache an die Crew. Grace blieb gleich in ihrer Kabine. Auf das Geschrei, das nach der Rede von Massimo ausbrechen würde, konnte sie verzichten. Außerdem hatte ihr der Kommandant nichts zu berichten, was sie nicht schon längst wusste. Inzwischen war es den Koryphäen gelungen, den Kurs zu ermitteln. Der Zufall oder eine hoch entwickelte Zivilisation hatte dafür gesorgt, dass ihr Schiff einen unbekannten Planeten anflog. Grace glaubte nicht an einen Zufall und freute sich auf die bevorstehende Begegnung.
Leider kannte Grace das Ausmaß der Dummheit nicht, zu der die Schiffsleitung fähig war. Der Kommandant hatte den Technikern die Order erteilt, Waffen zu bauen, um sich gegen die Macht zu verteidigen, die den Kurs des Schiffes geändert hatte und sie demnächst angreifen würde.
Als Grace davon erfuhr, rief sie die Schiffspsychologin an.
„Hallo Grace, was kann ich für dich tun?“
„Einiges, Yvonne. Hast du nicht auch den Eindruck, dass die Mannschaft dem Stress einer Auseinandersetzung mit einer fremden Zivilisation nicht gewachsen ist?“
„Ganz im Gegenteil, Grace, das wird uns zusammenschweißen. Als wir unseren Kurs verloren hatten, gab es einige Zusammenbrüche, doch jetzt, wo es vereint gegen den Feind geht, schöpfen alle neuen Mut.“
„Danke, so habe ich das noch nicht gesehen, bis dann.“
Vielleicht konnte Renzo ihr weiterhelfen.
„Hallo Grace, willst du mir beim Bau einer Laserkanone helfen? Ich brauche ein paar gute Ideen, sonst können wir einpacken.“
„Sehr witzig, Renzo. Ich wollte nur wissen, ob du den Einsatz von Waffen gegen eine Zivilisation, die den Kurs unseres Raumschiffes manipuliert hat, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können, für erfolgversprechend hältst.“
„Darüber mache ich mir keine Gedanken. Der Kommandant hat uns befohlen, Waffen zu bauen und das machen wir.“
„Ach, so einfach ist das. Hast du schon mal gegen Außerirdische gekämpft? Nein? Wir sind hier nicht in einem deiner Ballerspiele, Renzo.“
Doch Renzo hatte schon aufgelegt. Grace wurde zum ersten Mal klar, dass sie von Ignoranten umgeben war. Keiner hörte ihr zu. Sie wollte gerade Massimo anrufen, als ihr Kommunikator sich meldete. Es war der Kommandant.
„Grace, mehrere Mannschaftsmitglieder haben sich über dich beschwert. Deine Äußerungen haben zersetzenden Charakter und untergraben die Moral der Mannschaft. Ich bin gezwungen, dich zu arretieren. Deine Kabinentür bleibt bis auf weiteres verschlossen und dein Kommunikator wird eingezogen, ciao.“
Grace konnte nichts erwidern, weil Massimo gleich nach seinem ciao aufgelegt hatte. Der Mann sagte immer ciao, auch wenn es nicht angebracht war.
Grace verbrachte ihre Tage mit Lesen und Fotobearbeitung. Wenn sie genug holographische Bilder von Sternensystemen durch ihre Kabine hatte schweben lassen, griff sie zu Büchern, um sich zu entspannen. Sie kam gut mit dem Alleinsein zurecht. Außer durch die offiziellen Verlautbarungen der Schiffsleitung erfuhr sie Neuigkeiten nur während der Essensausgabe. Grace lebte jetzt in ihrem eigenen Universum, doch mit ihren Vermutungen lag sie richtig. Die Hysterie, die wegen des vermeintlich bevorstehenden Angriffs ausgebrochen war, hatte mit jedem Tag, der ohne Angriff vorüberging, nachgelassen. Ihrer Meinung nach wurde die Kursmanipulation von einer außerirdischen Zivilisation initiiert, die den Kontakt zu ihnen herstellen wollte.
Als der Tag der Wahrheit kam und die Hemera, die nicht für den Atmosphärenflug vorgesehen war, beim Eintritt in die oberen Luftschichten wie durch ein Wunder nicht verglühte, musste das auch dem Letzten klar geworden sein. Doch bei all dem, was auf der Reise vorgefallen war, würde Grace ihre Hand dafür nicht mehr ins Feuer legen.
Während der Landung, die sie gespannt verfolgte, hatte sie zu keinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, in Gefahr zu sein. Die Fähigkeiten der Einheimischen mussten denen der Menschen um ein Vielfaches überlegen sein.
Kurz nach der Landung meldete sich der Kommandant auf ihrem Monitor.
„Hallo Grace, ab sofort ist deine Arretierung aufgehoben.“
„Danke, Massimo. Wen von euch werde ich begleiten, wenn wir den Kontakt zu den Planetenbewohnern herstellen?“
„Unsere Biosensoren zeigen kein Leben an, weshalb ein Kontakt nicht wahrscheinlich ist.“
„Das kommt mir seltsam vor. Die Kursmanipulation hat uns zu einem erdähnlichen Planeten geführt. Ich habe mir die Zusammensetzung der Atmosphäre angesehen und bin überzeugt, dass es hier Leben gibt.“
„Nichts gegen deine Überzeugungen, doch ich vertraue den Sensoren.“
„Habe ich die Erlaubnis, von Bord zu gehen?“
„Sicher Grace, doch bist du da draußen, bist du auf dich allein gestellt.“
„Niemand hat Interesse, mich zu begleiten?“
„Bisher hat keiner aus der Mannschaft den Wunsch geäußert, das Schiff zu verlassen.“
„Tja, dann werde ich jetzt das Schiff verlassen und Geschichte schreiben.“
Grace stand in der Schleusenkammer und wartete voller Ungeduld auf das Öffnen des Tors. Vorsichtshalber hatte sie einen leichten Raumanzug angelegt. Endlich schob sich das Tor zur Seite und gab den Blick auf eine Ebene frei, die in sattem Grün erstrahlte. Am Horizont zog sich eine Gebirgskette hin, die bis zu den Wolken reichte. Die Luft roch würzig und erinnerte sie an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. Im Alter von acht Jahren war sie zusammen mit ihren Eltern durch die Prärie gestreift, um die letzten Bisonherden in freier Wildbahn zu sehen.