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"Was mir am alten Hollywood-Kino gefällt, ist das Arbeiten mit Testvorführungen. Vielleicht ist mein bisheriges Leben auch nur ein Testlauf, aus dem die nicht gelungenen Szenen noch entfernt werden müssen", sinniert Daniela, die Hauptperson des Romans. Und so bieten sich ihr gleich mehrere Testläufe, deren Auslöser die Beerdigung Ihres Großvaters ist. Nicht ohne Ironie lässt uns der Autor erahnen, dass Danielas Handlungsspielraum dem eines Hamsters im Laufrad gleicht. Einzig vom Augenblick getrieben, verliert sie sich in Beziehungsgeflechten und merkt nicht, wie das Leben an Ihr vorbeizieht. Ein einziges Mal scheint sie innezuhalten, beim Blick in die weit geöffneten Augen eines am Straßenrand stehenden Rehs.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Reimon Nischt
Im schwachen Lichtschein lautlos
Roman
Herausgegeben von:
www.bilderarche.de
© 2022 Reimon Nischt, Morierstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf
Daniela - Some like it hot
Da vorne in der Urne befindet sich das, was von meinem Opa übrig geblieben ist: Eine Mischung aus Asche und Knochenstücken. Die Geschichte seines Lebens, so rührselig sie auch dargeboten wird, lässt mich kalt. Ich kann die Worte nicht glauben, mit denen die Liebe meines Opas zu seiner Frau verherrlicht wird. Angeblich war seine Liebe zu ihr so groß, dass er sich nach ihrem Tod ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte und den Freitod gewählt hat. Wer kann sagen, dass es sich nicht so verhalten hat, doch ich kannte meinen Opa besser als die meisten der hier Anwesenden und ich bin mir sicher, dass er der erste wäre, der dieser Darstellung widersprochen hätte.
Ich bin auch schon einige Jahre auf dieser Welt und weiß, was es heißt, jemanden zu lieben. Ich weiß allerdings auch, wie flüchtig dieser Zustand sein kann und wie zerbrechlich. Meine Großeltern waren mehr als 60 Jahre miteinander verheiratet, was Liebe als Grund ihres Zusammenseins schon mal ausschließt. Gewohnheit heißt das Zauberwort, das Beziehungen über die Zeit rettet. Doch dazu gehört eine große Portion Durchhaltevermögen und da mangelt es mir an Erfahrung, weil ich bis zu diesem Punkt in meinen Beziehungen noch nie gekommen bin.
Prompt bin ich wieder bei meinem Leben gelandet. Sebastian hat mich verlassen und ich bekomme ihn nicht aus dem Kopf. Das ist ein Klischee und diese Zeile findet sich etwas abgewandelt in jedem zweiten Schlagertext wieder. Trotzdem kann es der Wahrheit entsprechen, was wiederum kein Trost ist, da es bedeutet, dass ich eine dumme Nuss bin. Durchschnitts-dumm. Ich falle jedes Mal auf einen gutaussehenden Typen herein, der nach einer gewissen Zeitspanne das Interesse an mir verliert. (Im Schlager heißt es an der Stelle immer, dass einem das Herz gebrochen wird.) Er erinnert sich an mich wie an den schimmeligen Geruch einer alten Matratze und ich bekomme Herzrasen, sofern ich die Augen schließe und sein Abbild auf meinen Augenlidern in voller Schönheit erscheint. Reiße ich dann die Augen auf, bleibt die Projektion erhalten. Es ist Betrug, dass ich an ihn denken muss und wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappe, obwohl er mich längst vergessen hat.
Was macht Sebastian in meinen Augen zu einem besonderen Menschen? Ist er das überhaupt oder benehme ich mich wie ein dummes Mädchen, das ihre Lieblingspuppe nicht hergeben will? Kann ich mich ehrlich mit dem Scheitern unserer Beziehung auseinandersetzen oder werfe ich mich, wie üblich, vor lauter Verzweiflung dem nächsten an den Hals? Das einzig gute an der Trauerfeier besteht darin, dass ich diese Fragen vergessen habe, bevor sie vorüber ist. Selbstreflexion ist nicht meine starke Seite.
Ich bin vor zwei Monaten 25 Jahre alt geworden, das ist ein Vierteljahrhundert und Jahrhundert ist ein Ehrfurcht gebietendes Wort. Doch ich mache weiter, als ob Zeit mir nichts anhaben könnte. Na gut, noch ist mein Körper in Hochform und die ersten Fältchen an den Augenrändern übersehe ich voller Zuversicht. Denn noch brennt die Kerze nicht von beiden Enden.
Die Trennung von Sebastian wäre nicht so betrüblich gewesen, hätte ich sie nicht kommen sehen. Wir waren beinahe ein Jahr zusammen und ich habe mich auf den Jahrestag gefreut. Doch unsere Beziehung lag bereits im Sterben, hatte sich abgenutzt wie die Schneide eines zu oft benutzten Messers, die nicht nachgeschliffen wurde. Blöder Vergleich, zugegeben, doch Sebastian hatte mich und meine Wünsche in letzter Zeit immer öfter ignoriert und ließ mich seinen abschätzigen Blick sehen, der nur eines bedeuten konnte: Was will die Alte jetzt schon wieder von mir? Oder etwas in der Preislage. Dabei hatte ich mich ihm in jeder nur denkbaren Beziehung geöffnet.
Damit ist jetzt Schluss. Das Betteln um die Gunst eines Mannes findet hier und heute sein Ende. Mein Opa hat aus Trauer über den Tod seiner geliebten Frau Selbstmord begangen. Das ist zwar ausgemachter Blödsinn, doch ich bin bereit, dieses Märchen zu glauben, wenn mein Liebesleben wieder funktioniert.
Verdammt, jetzt laufen mir vor lauter Rührung schon wieder Tränen über die Wangen. Mein Vater schluchzt neben mir zum Herzerweichen. Was für ein Schmierenkomödiant. So sollte ich nicht über ihn denken, doch er hat seinen Teil dazu beigetragen. Vor kaum zwei Wochen habe ich meinen Opa besucht. Während wir uns unterhielten, klingelte jemand an der Tür und als ich öffnen wollte, sagte mein Opa, ich solle in der Küche bleiben und mich nicht blicken lassen, egal was passiert. Ich tat wie geheißen, doch meine Neugierde war geweckt. Die Stimme des Besuchers erkannte ich sofort. Es war die meines Vaters und das folgende Gespräch verlief nicht, wie er es sich erhofft hatte. Ich konnte jedes Wort verstehen.
„Hallo, Papa, geht es dir gut?“
„Kommt darauf an, was du mir zu sagen hast.“
„Wir müssen nicht um den heißen Brei herumreden. Du kommst ins Altersheim.“
„Sagt wer? Noch bin ich mein eigener Herr.“
„Richtig, die Betonung liegt auf noch. Ein Gutachten, das deine Zurechnungsfähigkeit in Frage stellt, könnte das leicht ändern. Also sieh dir lieber die Prospekte an, die ich mitgebracht habe.“
„Hast du meinen Besitz schon zum Verkauf angeboten? Was ist er wert, eine halbe Million?“
„Du weißt, dass ich so etwas nie tun würde.“
„Ich weiß nur eines: Lebend bekommt ihr mich nicht von meinem Grund und Boden herunter.“
Die Antwort des alten Mannes führte, nachdem er sein Versprechen wahr gemacht hatte, bei meinem Vater zu Schuldgefühlen. Doch damals, als die Worte für mich kaum hörbar über die Lippen meines Opas kamen, hat er nur verächtlich gelacht. Seine Schuldgefühle werden sich bald abgenutzt haben und seine Tränen bald getrocknet sein.
Die Wahrheit ist in den wenigsten Fällen erbaulich. Mein Opa hat sich umgebracht, weil er es allen zeigen wollte. Da bin ich mir ziemlich sicher. Er galt bei einigen im Dorf seit längerem als verschroben. Seine Erscheinung, er ging stark nach vorne gebeugt und war kaum noch eineinhalb Meter groß, trug das ihrige zu diesem Vorurteil bei. Doch was andere über meinen Opa dachten, war ihm egal. Nach dem Gespräch mit seinem Sohn kam er zurück in die Küche und sagte, dass ich nun wisse, wie es um ihn stehen würde. Es war ihm nicht anzusehen, was er zu tun beabsichtigte und aus seinem von tiefen Falten zerfurchten Gesicht etwas herauszulesen, gelang mir nicht. Doch in seinen Augen steckte ungebrochenes Leben und so hat mich sein Tod sehr getroffen.
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, weil ich ihn nicht öfter besuchen ging. Doch seine drastische Tat lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Mein Opa wusste nur zu gut, dass er den Kampf um seinen Besitz verlieren würde. Doch ließ er sich nicht brechen. Selbst im Alter von 87 Jahren gab er niemandem das Recht, über sein Leben zu bestimmen. Vor allem nicht seinem Sohn. Was er kaum ahnen konnte, war, dass sie aus seinem Freitod eine verklärte Liebesgeschichte machen würden. Doch wer weiß, jemand der auf so vielen Beerdigungen zugegen war, wusste wahrscheinlich, wie das Leben der Verstorbenen geschönt wird und es mag ihm egal gewesen sein, was sie aus seinem machen würden, denn das lag nicht mehr in seiner Verantwortung.
Was ich heute hier zu hören bekomme, würde nur ein Schnulzendichter zu reimen wagen. Ich mochte meine Oma Erna wirklich und hätte ihr diese Liebe gegönnt. In meiner Erinnerung wird sie immer eine zurückhaltende, freundliche Frau sein, die alles für ihren Mann getan hat. Doch egal, wie aufopferungsvoll sie arbeitete, ihr Mann nahm alles für selbstverständlich. Das mag für einige als Liebe durchgehen, doch meiner Meinung nach hat Unterwürfigkeit wenig mit Liebe zu tun.
Ich möchte mit meinem Partner auf Augenhöhe leben und doch lasse ich jedes Mal zu, dass er mich unterbuttert. Je mehr ich ihn haben möchte, desto größer wird seine Macht über mich, was meistens mit einem geringer werdenden Interesse an mir einhergeht. Doch warum ich immer das Gleiche tue und andere Ergebnisse erhoffe, weiß ich nicht. Nur, was ist verkehrt daran, mit jemanden zusammenleben zu wollen. Ich bin ziemlich ratlos, was mein Liebesleben anbelangt und schätze, dass es den meisten Menschen ebenso geht.
Für mich wird es jetzt höchste Zeit, Richtungsänderungen vorzunehmen. Ich darf mich nicht Hals über Kopf in eine neue Beziehung stürzen, muss mir mehr Zeit geben und ehrlicher zu mir und meinem Partner sein. Ich sollte es schaffen, mich nicht zu belügen und mir die Dinge schönzureden. Doch wie wirkt Ehrlichkeit auf andere? Ich habe keine Ahnung, nur fürchte ich, dass Ehrlichkeit in der heutigen Zeit ein veralteter Maßstab ist, denn sie bereitet Unbehagen und wird oft als ungehörig wahrgenommen.
Mein Vater stößt mich an und bedeutet mir, aufzustehen. Ich bin so in Gedanken vertieft, dass ich die Aufforderung des Redners nicht mitbekommen habe. Sein Vortrag ist für mich belanglos, denn von den Dingen, die mein Opa und ich zusammen erlebt haben, hat er nicht den blassesten Schimmer.
Vor vielen Jahren, es mochte Ende Juli oder Anfang August gewesen sein, ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, hielten wir uns noch vor Sonnenaufgang am Waldrand verborgen, um die Paarung der Rehe zu beobachten. Mein Opa verfolgte sie dort schon seit mehreren Jahren, doch ich hatte so etwas noch nie gesehen, weil diese frühe Stunde, auch heute noch nicht, meine Zeit ist. Ich war enttäuscht, weil sich zunächst kein Reh blicken ließ. Noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, um zu fragen, wo die Tiere denn wären, zeigte mein Opa mit dem Arm Richtung Wiese. Nach und nach erhoben sich dort die Rehe aus dem hohen Gras. Der einzige Rehbock darunter hatte nichts eiligeres zu tun, als an einer Ricke zu schnuppern. Beim Blick durch das Fernglas meinte ich zu sehen, wie er seine Augen verdrehte. Von diesem Moment an war der Bock wie hypnotisiert und folgte der Ricke überall hin. Sie lief im Kreis, machte Schlenker und wechselte die Richtung. Dann ließ die Ricke ihn nahe herankommen, sodass er erneut ihrem Duft erlag und lief wieder davon. Plötzlich blieb sie stehen. Der Bock überlegte nicht lange und ritt zur Paarung auf. Selbige dauerte, für mich enttäuschend, nur einen Moment und die Ricke lief wieder davon. Doch was ich als das Ende angesehen hatte, war der Start zur nächsten Runde. Eine halbe Stunde später kehrten wir wieder zum Haus meines Opas zurück.
„Du bist so still, Daniela. Hat sich das frühe Aufstehen nicht gelohnt?“, fragte mein Opa, als ich auf dem Heimweg schwieg.
„Doch, schon. Läuft jede Paarung so ab?“, entgegnet ich lahm.
„Ja, mehr oder weniger.“
„Zuerst habe ich den Bock beobachtet und der schien seine Lust auszuleben. Ich habe die Gier in seinen Augen sehen können. Die Ricke stand einfach nur da und hat es über sich ergehen lassen. Sie machte einen abwesenden Eindruck. Einmal hat sie sogar dabei gegrast.“
„Verstehe, dir ist die Ricke zu passiv. Doch sie lockt den Bock an und bestimmt den Zeitpunkt der Paarung. Wenn sie nicht bereit ist, kommt auch der Bock nicht zum Zug.“
„Mag sein, doch kam mir alles wie eine Inszenierung vor. Weder Rehbock noch Ricke, schienen mir eine Wahl zu haben. Sie wirkten ferngesteuert. Von Zärtlichkeit oder Liebe fehlte jede Spur.“
„Mit Liebe hat das auch nichts zu tun. Der Ablauf dient der Fortpflanzung und funktioniert. Im Frühjahr werden hier Kitze herumtollen.“
Ich brummte zur Bestätigung.
„Dir spukt das Wort Liebe im Kopf herum. Hast du Sorge, dass sich das Verhalten von Rehen und Menschen ähnlicher ist, als du es möchtest?“
Ich sah meinen Opa herausfordernd an.
„Ich weiß es nicht, du bist in dieser Hinsicht doch viel erfahrener. Also, existiert so etwas wie Liebe überhaupt?“
„Tja, wer weiß das schon.“
„Mehr kannst du dazu nicht sagen, Opa?“
„Ich bin untröstlich, doch das muss jeder für sich selber herausfinden. Warte, bis du deinen ersten richtigen Freund hast.“
„Du bist schon eine Ewigkeit mit Oma verheiratet. Du musst es doch fühlen.“
„Du lässt mir wirklich keinen Ausweg. Erna und ich führen ein gutes Leben. Wir haben uns über die Jahre zusammen gerauft und können uns aufeinander verlassen. Das ist schon eine ganze Menge.“
„Aber Liebe ist es nicht?“
„Wer weiß?“, antwortete mein Opa, sah zu mir herüber und schüttelte kaum merklich den Kopf. Den Rest des Weges hing jeder seinen Gedanken nach.
Vielleicht sollte ich jetzt zum Redner gehen und ihn bitten, mir das Podest zu überlassen, um diese Episode allen Anwesenden vorzutragen. Auf die Reaktionen der Leute wäre ich sehr gespannt.
Ich sehe zu Lars, einem ehemaligen Mitschüler, hinüber. Er scheint dem Redner zu lauschen, doch bin ich mir dessen nicht sicher. Eine Woche nach der Rehbeobachtung hatte Lars versucht, mich zu küssen und meine schon damals wohlgeformten Brüste begrapscht. Es gibt nichts Schlimmeres als einen unbeholfenen Jungen, der glaubt, einem Mädchen gefalle es, wie Teig geknetet zu werden. Ich musste ihm beibringen, dass der Reiz des Spieles darin bestand, unsere anatomischen Unterschiede tastend zu erkunden. Mit dem daraufhin beginnenden Gefummel sammelte ich meine ersten Erfahrungen. Diese Beziehung endete, nachdem ich mich geweigert hatte, aufs Ganze zu gehen. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, fürchte jedoch, mich eine Zeit lang in den Schlaf geheult zu haben.
Lars ist inzwischen verheiratet und wenn ich mich recht erinnere, stehen bald Vaterfreuden ins Haus. Seine bessere Hälfte habe ich vor wenigen Wochen ebenfalls kennengelernt. Sie war nett, wirklich, doch ich musste sofort denken, so sieht eine Frau aus, die sich beim Sex durchkneten lässt. Vor seiner Hochzeit galt Lars in meinen Augen als drahtiger Bursche. Was eine knapp zweijährige Ehe bei ihm bewirkt hat, gibt mir den Glauben an ein erfülltes Singledasein zurück. Viel Glück auf den Weg, Lars. Auf dich falle ich nie wieder herein.
Als ich noch klein war, habe ich bei meinem Opa oft Filme gesehen. Er hatte unter dem Spitzdach des Hauses ein richtiges Kino mit separatem Vorführraum eingerichtet. Mit seinem 16-mm-Projektor zeigte er mir Märchenfilme, wie König Drosselbart oder Frau Holle. Die Filme waren damals schon alt, doch ich liebte sie über alles. Manchmal kam es vor, dass der Film riss. Dann stieß mein Opa einen Fluch aus, der so furchterregend klang, dass ich mich in meinem Sessel ganz klein machte. Kaum war sein Fluch verklungen, ging das Licht an und ich durfte zusehen, wie er die gerissenen Enden abschnitt und den Film zusammenklebte. Damals war mir überhaupt nicht bewusst, dass ein fehlendes Bild im Film kaum wahrzunehmen ist, doch mehrere fehlende Bilder zu Sprüngen im Filmablauf führen. Diese Sprünge habe ich immer als störend empfunden, ohne zu wissen, wodurch sie entstanden sind.
Bei einer dieser Unterbrechungen hat mir mein Opa erklärt, wie wichtig die richtige Anordnung der Szenen im Film ist. Wer die Macht besitzt, Bilder herauszuschneiden, kann auch ganze Szenen verschwinden lassen oder an anderer Stelle einfügen. Wenn in dem Film Frau Holle die Goldmarie ihre Belohnung nicht erhielte, würde der Zuschauer sich zu Recht fragen, warum die faule Schwester darauf drängt, Frau Holle aufzusuchen.
Die Art und Weise, in der eine Filmhandlung verändert werden kann, habe ich mir oft für mein Leben gewünscht. Was mies gelaufen ist, wird einfach herausgeschnitten und ist somit nie passiert. Ich stelle mir vor, dass ich vor meinem Spiegel stehe, die zu löschende Begebenheit visualisiere und mir wie zur Bestätigung zuzwinkere. Schon kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Allerdings dürfte nur ich über diese Fähigkeit verfügen. Sollte es auch nur einem anderen möglich sein, mein Leben durch ein Augenzwinkern zu verändern, käme das einem Dasein in einem Horrorfilm gleich.
Obwohl die Kinoveranstaltungen immer am Nachmittag stattgefunden haben, kam es mir stets wie abends vor. Vielleicht lag es daran, dass der Raum so abgedunkelt war, dass ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Meine Oma war nie bei den Filmvorführungen dabei. Ich habe damals nicht groß darüber nachgedacht, denn meine Oma war immer mit etwas beschäftigt, das sie wegen eines kurzweiligen Vergnügens nicht einfach liegen lassen wollte. Ich habe sie nie anders erlebt.
Jahre später hatte mein Opa sich einen Beamer zugelegt. Die Bildqualität des Gerätes war vom Feinsten, nur die Kinostimmung, die der alte Projektor erzeugt hatte, war dahin. Doch jetzt war mein Opa in der Lage, sich eine große Filmauswahl auf DVD zuzulegen. Er liebte die Filme von Billy Wilder. Jeder in unserer Familie kam mit den Filmen dieses Filmemachers in Berührung oder anders gesagt, konnte ihnen nicht entgehen, da mein Opa regelmäßig zu Filmabenden einlud.
Für mich hatte es an diesen Abenden zuerst Popcorn und Cola gegeben, bis ich später wie die Erwachsenen zu Wein griff. Selbst meine Mutter, die wenig von ihrem Schwiegervater hielt, fand die Filmabende schön. Wir saßen wie im Kino in einer Reihe nebeneinander und jeder nannte einen Beistelltisch für Getränke und Knabbergebäck sein eigen.
Ich weiß nicht, wie oft wir uns Some like it hot zusammen angesehen und immer wieder an den gleichen Stellen gelacht haben. Damals fand ich Sugar, die von Marilyn Monroe gespielt wurde, ziemlich dumm, weil sie immer auf den gleichen Typ Mann hereinfiel. Sie war auf Saxophonspieler fixiert, was für sie bedeutete, ausgenutzt und verlassen zu werden. Heute kommt sie mir eher wie eine Schwester vor. Gemeinsames Leiden verbindet.
Aber der Film hat natürlich ein Happyend. Der Millionär, den Sugar zu ergattern glaubte, ist, Ironie des Schicksals, in Wirklichkeit ein Saxophonspieler. Diese Wendung hätte Sugar eigentlich niederschmettern müssen, doch anstatt aufzubegehren, gehört ihre Liebe weiterhin dem Saxophonspieler.
Da habe ich den Film unzählige Male gesehen und erst jetzt beginne ich zu verstehen: Ich kann mir genauso wenig entfliehen wie Sugar und sollte lernen, das Beste daraus zu machen.
Meine Mutter hatte es schwer mit mir. Ich habe sie auf der ganzen Linie enttäuscht, weil ich, beginnend von meinem ersten Schultag an, immer weniger ihre Hilfe in Anspruch genommen habe. Als ich mich dann zum ersten Mal mit einem Jungen eingelassen hatte, bin ich nicht zur ihr gelaufen und habe davon berichtet. Da ihr keine Veränderungen an mir aufgefallen sind, wollte ich es dabei belassen und sie nicht mit meinem Liebesleben behelligen. Mütter werden meistens überschätzt was ihre Instinkte betrifft, oder sollte meine die einzige Ausnahme sein?
Doch ich bin nicht blind, was meine Mutter betrifft. Sie hat sich in letzter Zeit verändert. Sie ist entspannter geworden. Hin und wieder zeigt sich die Spur eines verträumten Lächelns in ihrem Gesicht. Es hat eine Weile gedauert, bis bei mir der Groschen gefallen ist: Sie geht fremd. Nicht, dass mich die Erkenntnis aus der Bahn geworfen hätte, denn etwas musste sie unternehmen, um nicht Jahre vor ihrer Zeit an der Seite ihres Mannes zu verwelken. Sie hat sich in dieser Ehe so gut es geht eingerichtet und obschon es fast zu spät für einen Ausbruch war, hat sie es doch noch getan. Ich war überrascht, weil ich es ihr nicht zugetraut habe.
Doch ich weiß nicht, wie mein Vater reagieren wird, wenn er von ihren ehelichen Abwegen erfährt. So wie er mit Opa umgesprungen ist, lässt das nichts Gutes für meine Mutter erwarten.
Günter saß zwischen seinen beiden Frauen. Zur Linken Martha, seine Angetraute, und auf der anderen Seite seine Tochter Daniela. Mit beiden hatte er es sich verscherzt, wobei er hoffte, seiner Frau mit der zu erwartenden Erbschaft wieder näher zu kommen. Der Selbstmord seines Vaters, einschließlich der polizeilichen Untersuchung, war für Martha einer öffentlichen Demütigung gleichgekommen. Günter wusste, dass sie den alten Zausel noch nie hatte leiden können, weshalb er erstaunt war, dass sie ihm dessen Selbstmord immer noch anlastete. Günter war auf ihre Anschuldigung gar nicht erst eingegangen, doch er wusste, dass die Wahrheit dunkle Facetten hatte. Paul Hartmann war nicht müde geworden, jedem, der es hören wollte, zu sagen, dass er seinen Grund und Boden niemals im Leben verlassen würde. Günter hatte es einfach zu oft gehört, als dass er daran hätte glauben können. Ein bedauerlicher Fehler, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ.
Günter hatte dem Redner einige Eckdaten aus dem Leben seines Vaters gegeben, die dieser, das erkannte er neidlos an, zu einer ergreifenden Geschichte von großer Liebe, die über den Tod hinausging, aufgebauscht hatte. Selbst ihm waren vorhin die Tränen gekommen, obwohl er niemanden kannte, der ihm Rührseligkeit nachgesagt hätte.
Diese Beerdigung war eine Zäsur. Sie gehörte zu seinem alten Leben, das mit der Erbschaft ein Ende fand. Mit dem Geld würde er zusammen mit seiner Frau eine Weltreise unternehmen und seiner Ehe eine letzte Chance geben. Fürs Reisen konnte er Martha noch immer begeistern. Sollte sie ihm weiterhin die kalte Schulter zeigen, würde ihr auf dieser Reise ein Unfall zustoßen. War man einmal über den Abgrund gesprungen und hatte es gewagt, jemanden in den Tod zu schicken, fiel es einem beim zweiten Mal gewiss leichter. Ab und an plagte einen das Gewissen und man verachtete sich für das, was man getan hatte. Doch diese Momente gingen vorüber. Mit jedem weiteren Mal wurden sie schwächer, bis sie im Grundrauschen des alltäglichen Lebens nicht mehr wahrzunehmen waren.
Günter erschrak über seine Gedanken, war von der lapidaren Art, in der er über den Tod seiner Frau sinnierte, entsetzt. Er sah sich vorsichtig um, als ob es jemanden geben könnte, der es verstand, Gedanken zu lesen. Dann zuckte er unmerklich mit der Schulter. Er war schließlich auf einer Beerdigung, morbide Gedanken fing man sich hier schnell ein.
Vergangenheit blieb nie Vergangenheit. Längst vergangen geglaubtes holte einen immer wieder ein. Seiner Frau gelang es stets aufs Neue, ihn mit Aussagen zu konfrontieren, die er vor ewigen Zeiten getätigt haben sollte. Für Günter waren sie mit dem Ereignis in Vergessenheit geraten, doch Martha kramte sie wieder hervor, um ihn mit seinen damaligen Ansichten zu konfrontieren. Jede Ehe hatte ihre Eigenheiten und egal, was einen Partner dazu brachte, sich nicht wie ein solcher zu verhalten, würde Außenstehende nur ungläubig mit dem Kopf schütteln lassen.
Die Ehe seiner Eltern hatte 60 Jahre lang gehalten. Wenn die mit Martha ebenso lange dauern sollte, legte er sich schon mal einen Strick zurecht, um sich einen Fluchtweg offen zu halten. Auch wenn die Gründe unterschiedlich waren, würde er dem Vorbild seines Vaters nacheifern und mit etwas Glück setzte sich diese Art, aus dem Leben zu scheiden, als Tradition in seiner Familie fort.
Günter hatte nicht erwartet, dass ihn die Beerdigung seines Vaters so aufmuntern würde. Noch weitere derartige Gedanken und er begann womöglich zu tanzen.
Ein Blick zu seiner Frau ernüchterte ihn augenblicklich. Sie trug es schwer. Der Gedanke an den Tod hielt sie fest im Griff. Nachher beim Kaffee würde er ihr einen Weinbrand einschenken. Das hatte auf Martha immer eine beruhigende Wirkung.
Er betrachtete seine Frau erneut und suchte in ihr nach dem Mädchen, das er einst begehrenswert fand. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, etwas finden zu wollen, das nie existiert hatte, sondern nur Teil seiner Vorstellung war. Jugend und Wollust hatten seinen Blick getrübt. Günter hatte das gleiche Heilmittel genommen wie schon unzählige Männer vor ihm und war die Ehe eingegangen, ohne auf den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen zu achten. Die Ehe war eine mit dreckigem Wasser gefüllte Grube, deren Bodensatz aus den Illusionen der Unbedarften bestand.
Günter sah sich in der Kapelle um und entdeckte Lars, der mit Daniela in eine Schulklasse gegangen war. Der Bursche würde demnächst Vater werden und beglückte seine Eltern mit einem Enkelkind. Er wünschte, seine Tochter könnte sich auch dazu entschließen, ein Kind zu bekommen. An Männern dazu hatte es bisher nicht gemangelt. Martha wäre über ein Enkelkind bestimmt sehr glücklich und vielleicht würde auch er einen gütigen Großvater abgeben.
In diesem Punkt hatte ihn sein Vater erstaunt. Günters Kindheit war von seinem strengen Vater dominiert worden, der noch die kleinste Kleinigkeit, die Günter angestellt hatte, wie ein Verbrechen handhabte. Manchmal brach der Rohrstock bei der Züchtigung und der hilflose Junge wurde von mühlenartig arbeitenden Armen zu Boden geworfen, wo er sich einigelte und wimmerte. Es verging kein Tag, an dem Günter nicht den Tod seines Vaters herbeigesehnt hatte. In seinen Träumen war ihm dieser Wunsch erfüllt worden, weshalb ihn morgens die Enttäuschung, seinen Vater beim Frühstück zu begegnen, wie ein Schlag in den Magen getroffen hatte.
Eines Tages wurde sein Vater Großvater und hatte fortan einen Narren an seiner Enkelin gefressen. Günter freute sich für seine Tochter, doch die Verbitterung gegen seinen Vater wuchs dadurch noch mehr, da er immer weniger verstand, was seinen Vater zu dem lieblosen Verhalten ihm gegenüber bewogen haben mochte.
Du hast deinen verdienten Tod um Jahre überlebt, war Günters bitteres Fazit, wenn er an seinen Vater gedacht hatte und dass es keine Gerechtigkeit auf der Welt gäbe, wenn man nicht eigens nachhalf. Ja, er war in den letzten Wochen vor dem Tod seines Vaters nicht sehr freundlich zu ihm gewesen, weil er wollte, dass sein Alter nachgab und ins Altersheim ging. Hätte er gewusst, dass er ihn dadurch in den Selbstmord treiben würde, wäre er viel stringenter vorgegangen, immer dem Motto folgend: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.
Günters Leben war durch die Gegenwart seines Vaters von Angst überschattet gewesen. Auch als er schon längst verheiratet war, brachen Angstattacken wie riesige Wellen über ihm zusammen. Bei allem, was er erdulden musste, kam ihm der Umstand, dass seine Mutter nie für ihn eingetreten war, gar nicht zu Bewusstsein. Immer, wenn er an seine Mutter dachte, sah er das Bild einer emsig beschäftigten Frau vor sich, die nie Zeit für ihren Sohn fand. Diese Leerstelle wurde durch seinen Vater ausgefüllt, was Günter bestätigte, dass seine Eltern unfähig waren, ihr eigenes Kind zu lieben.
Dementsprechend hätte Günter sich besonders um das Wohlergehen seiner eigenen Tochter kümmern müssen. Er hatte es versucht und schließlich versagt. Hellsichtig hatte er erkannt, dass im Kampf gegen Alltag und Frau seine Tochter die Unterlegene war. Bei dem Gedanken durchströmte ihn eine unangenehme Hitzewelle. Er fühlte, dass Daniela lieber weit weg von ihm sitzen würde. Er hatte für sein Versagen ihr gegenüber keine Ausrede, sondern konnte nur seine Schwäche anführen.
Günter kam der Gedanke, dass sein Vater ihm so wenig gewogen war, dass er sogar verstanden hatte, Daniela gegen ihn aufzubringen. Unsinn, sein Vater war kein Monster gewesen und so über ihn zu denken, sagte viel über ihn selbst aus. Vielleicht hatte sein Vater nur keinen Draht zu ihm gehabt, sowenig wie er zu seiner Tochter.
Ace in the Hole war einer jener Filme von Billy Wilder, die Günter so oft gesehen hatte, dass er darin mitspielen konnte. Er war immer wieder aufs Neue von der Skrupellosigkeit des Reporters, dargestellt von Kirk Douglas, fasziniert. Wegen einer guten Story hatte dieser das Leben eines Mannes aufs Spiel gesetzt. Die beeindruckende Geradlinigkeit und Härte, mit der der Reporter die Rettung des verschütteten Mannes zu einer Sensation aufbauschte, war eine von Günters frühen Lehrstunden. So wollte er auch werden. Kompromisslos sein Ziel ansteuern, ohne sich aufhalten zu lassen. Tatsächlich hatte er sich eine Kaltschnäuzigkeit zugelegt, vor der ihm manchmal selbst schauderte.
Manuela, eine Freundin aus seiner Jugendzeit, war die erste Person, die Opfer seiner Selbsterziehung wurde. Mit knapp 18 Jahren war sie Mieterin einer Einraumwohnung gewesen, in der ein Sofa stand, auf dem Günter schon viele schöne Momente erlebt hatte.
Auch ihr letzter gemeinsamer Abend war vielversprechend gestartet. Manuela hatte eine kleine mediterrane Spezialität zubereitet und dazu einen Rotwein kredenzt, der aus dem Weinvorrat ihrer Eltern stammte. Günter hatte Wein erst schätzen gelernt, seit er mit ihr zusammen war.
Nach dem Essen hatte Manuela den Nachtisch aus der Küche geholt, sich über Günter gebeugt und bevor sie ihre Augen schloss, um ihn zu küssen, war ihm dieses Funkeln aufgefallen, das ihm verraten hatte, was gleich passieren würde. Bereits während des Kusses war ihre Hand am Reißverschluss seiner Hose zu Gange.
„Ich kann nicht“, hatte Günter mühsam hervorgebracht.
„Hm, ich denke, das fühlt sich vielversprechend an.“
„Du verstehst mich nicht.“
„Oh, doch. Nur heißer werde ich nicht.“
Zum Beweis hatte sie seine Hand genommen und sie zwischen ihre Beine geführt. Er war kurz davor gewesen seinen Plan aufzugeben, doch dann hatte er die Worte herausgepresst: „Ich kann nicht, weil ich eine andere habe.“
Günter hätte nie gedacht, das diese wenigen Worte so eine Reaktion auslösen konnten. Das Strahlen verschwand aus Manuelas Augen und ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. Er hatte einen Volltreffer gelandet. Manuela war wie betäubt von ihm zurückgewichen, als ob die Wirkung des Gesagten ihr jegliche Kraft geraubt hätte.
„Was? Sag das nochmal.“
Günter tat ihr den Gefallen.
„Wie lange geht das schon?“
„Lange genug, um zu wissen, dass sie die richtige ist.“
Darauf war ein längeres Schweigen gefolgt. Günter hatte sie vernichtet. Im gleichen Moment war er von seiner Kaltschnäuzigkeit entsetzt. Doch bevor er hatte einlenken können und Abbitte leisten, hörte er Manuelas Stimme, die jetzt noch leiser war, als zuvor.
„Du bist nur gekommen, um mich zu demütigen. Du bist das Niederträchtigste, was mir je begegnet ist. Hau ab, Günter und lass dich nie wieder blicken.“
Sie hatte recht gehabt. Doch da er tatsächlich mit einer anderen Frau zusammen war, hatte er die Gelegenheit genutzt, ein schnelles Ende herbeizuführen. Kein großes Jammern, keine Diskussionen, keine Tränen. Nicht schlecht für seinen ersten Versuch, Geradlinigkeit mit Rücksichtslosigkeit zu verbinden. Natürlich machte er sich im Nachhinein Vorwürfe, doch das war seiner Unerfahrenheit geschuldet. Auch die Beziehung vor dem Sex zu beenden, war ein Anfängerfehler gewesen. Wachse, Günter, sagte er zu sich, als er nach Hause kam und sein Konterfei im Flurspiegel betrachtete.
Günter hatte gedacht, dass diese Methode immer funktionieren würde. Bis er Martha traf und den tief empfundenen Wunsch verspürte, mit ihr sein Leben zu verbringen. Er hatte nicht bemerkt, dass Martha in der Beziehung diejenige war, die einen stringenten Plan verfolgte. Erst nach der Geburt seiner Tochter kam ihm zu Bewusstsein, wie bereitwillig er sich in dem von ihr ausgeworfenem Netz verfangen hatte. Anfangs waren die Maschen so groß gewesen, dass er sie nicht bemerkt hatte. Doch in einem schleichenden Prozess wurden sie von Martha immer weiter zusammengezogen. Sie hatte sich dadurch mehr Freiräume erkämpft und seine beschnitten.
Jetzt fiel es ihm wieder ein. Sie hatte ihn mit ihrem glockenreinen Lachen bezaubert. Plötzlich wurde er zum eloquentesten und witzigsten Mann der Welt. Jede seiner Bemerkungen erhielt ihre lächelnde Bestätigung. Dass er das vergessen konnte, belegte nur, wie groß die Distanz zwischen ihm und Martha geworden war. Je enger die Maschen des Netzes wurden, desto mehr setzte sie auf die Wirkung ihres Lachens.
Eines Tages war Günter in einer Realität aufgewacht, in der es nichts mehr zu lachen gab. Wenn seine Frau jetzt lachte, geschah es, um ihn zu verletzen. Ihr Gelächter hatte den glockenreinen Klang verloren und wirkte im besten Falle spöttisch, meist jedoch verächtlich. Kein Wunder also, dass er das glockenreine Lachen vergessen hatte.
Lars spürte den Blick und wusste, dass Daniela ihn ansah. Die quietschende Tür hatte seine Ankunft verraten und er war Danielas Blick begegnet, als sie sich nach dem Geräusch umgedreht hatte. Lars war nur ihretwegen gekommen.
Vor mehr als zehn Jahren hatte Daniela eine Rehpaarung beobachtet und ihm davon erzählt. Sie hatte nicht mit Details gespart und auch den Penis des Rehbocks beschrieben, der nach ihrer Schilderung wie ein Bleistift ausgesehen hatte. Lars, dem gleich sein bestes Stück in den Sinn gekommen war, hatte den Rehbock bedauert. Er wusste bis heute nicht, ob Daniela ihm ein Märchen aufgetischt oder die Wahrheit erzählt hatte. Letztendlich spielte es für ihn keine Rolle, denn so oder so war es für ihn einer Aufforderung gleichgekommen, aktiv zu werden. Obwohl er ein wenig durch ihre Art der Mitteilung, die eher an die Darlegung eines mathematischen Problems erinnerte, verunsichert gewesen war. Doch ihr nüchterner Stil, der im Gegensatz zum sexuellen Inhalt stand, hatte ihn auf die Idee gebracht, dass es sich um einen versteckten Hinweis ihrerseits handelte.
Wahrscheinlich hatte sich Daniela an ihn gewandt, weil er, was das Spiel zwischen Mann und Frau betraf, keinen Zweifel an seiner Erfahrung zuließ. Nur war Lars, was die praktischen Dinge betraf, ahnungslos gewesen. Er kannte das Küssen nur aus Filmen, doch kurz entschlossen hatte er sich über Daniela gebeugt und sie geküsst. Lars sah sich nun mal als Macher, der erst handelte und später darüber nachdachte.
Da diese Überrumpelungsaktion bei Daniela erfolgreich gewesen war, wurde dieses Vorgehen bei weiteren Eroberungen zu seiner Masche. Daniela war seine erste Freundin gewesen, wenn auch nur für kurze Zeit. Als Lars sie gedrängt hatte, mehr zu machen, mehr als nur zu fummeln, war sie dazu nicht bereit gewesen. Blöde Kuh hatte er zu ihr gesagt und noch weit Schlimmeres.
Heute war die Situation eine andere und Daniela wieder solo, wenn er dem Buschfunk glauben durfte. Er musste die Gelegenheit beim Schopfe packen und den Tröster zu spielen, wäre er sich nicht zu schade. Bei dem Gedanken, Daniela die Wäsche herunterzureißen, bildeten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge vor der Weihnachtsbescherung. Nur würde er bei ihr seine bewährte Strategie ändern müssen und abwarten, ob sie den ersten Schritt machte. Sollte dieser ausbleiben, würde er nach alter Tradition verfahren. Daniela war schließlich keine 13 mehr.
Lars hatte nicht mitgezählt, wie oft der Redner die große Liebe des alten Mannes zu seiner Frau hervorgehoben hatte. Er wusste nur, dass etwas allzu oft Wiederholtes meistens gelogen war.
Seine Birte würde sich mächtig ins Zeug legen müssen, damit er sie in 50 Jahren überhaupt noch anschaute. Bei dem Gedanken schauderte ihn und er verzog angewidert den Mund.
Eine ehemalige Freundin, er suchte nach dem Namen und gab auf, als er ihm nicht einfiel, hatte ihm Harold and Maude gezeigt. Sie war eine echte Filmkennerin und hatte ihm von dem Film vorgeschwärmt. Über die skurrilen Momente hatte er lachen können, doch als suggeriert wurde, Harold mit seinen 18 Lenzen und Maude mit ihren fast 80 hätten zusammen Sex, war ihm schlecht geworden.
Sarah, endlich fiel ihm ihr Name ein, hatte diesen Film ausgesucht, weil er für sie eine Metapher darstellte, dass in der Liebe alles möglich war. Lars interessierte sich nicht für Metaphern und ob Liebe existierte, wusste er nicht. Ganz sicher war jedoch, dass Sex existierte und er darin Erfüllung fand.
Nachdem Lars gesagt hatte, er könne ihrer Sichtweise nichts abgewinnen und Sarah seine Version der intimen Momente mit einer alten Frau geschildert hatte, war er kurzerhand hinausgeworfen worden. Allein die Möglichkeit, neben einer alten Frau im Bett aufzuwachen, hatte für Lars etwas Beängstigendes.
Diese Erinnerungen brachte Lars auch Sarahs vergessen geglaubtes Gesicht zurück: kleine Nase, braune Augen und ein ernster Mund, der manchmal zu einem wundervollen Lächeln aufblühte. Dieser Mund hatte Wörter ausgestoßen, die nicht zum alltäglichen Sprachgebrauch gehörten und sie treffsicher platziert, sodass Lars nichts darauf hatte erwidern können. Wie ein geprügelter Hund war er sich vorgekommen. Danach hatte er um alle Frauen, die Sarah ähnlich sahen, einen Bogen gemacht.
Mit dem dicker werdenden Bauch war Birte resoluter geworden. Schaffte er es nicht, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, würde er in seiner Ehe nur die zweite Geige spielen. Lars winkte ab. Über ungelegte Eier musste er nicht ins Grübeln geraten. Niemand kannte seine Zukunft und das machte das Leben ja so spannend.
Er sah sich beiläufig in der Halle um und suchte nach bekannten Gesichtern, natürlich nur weiblichen. Einige Frauen kannte er flüchtig. Paul Hartmann zog eher die älteren Semester an und den Gedanken, auf einer Beerdigung mit einer Unbekannten anzubandeln, fand Lars schräg. Er wusste, dass das alles nur dummes Zeug war, um die Langeweile zu vertreiben. Er interessierte sich nur für Daniela und schmunzelte über seine Unbeholfenheit von damals. Gleichzeitig nannte er sich einen Dummkopf, weil er die Gelegenheit vergeigt hatte, nicht nur mit dem Finger in ihrem Höschen zu landen.
Bei Birte lief es deutlich routinierter ab. Zuerst hatte sie das Tempo gedrosselt, sodass er schon gedacht hatte, seine Zeit zu verschwenden. Doch dann, ohne dass er sich bewusst war, etwas besonderes getan zu haben, stand sie in Flammen. Sie zog ihn in einen sexuellen Rausch, der ihm die Sinne nahm. Glücklich, diese Frau gefunden zu haben, heiratete er sie. Hätte er die Notbremse gezogen und sich eine neue Freundin gesucht, hätte er immer an diesen sexuellen Taumel zurückdenken können und ihn nicht als Falle gesehen, die er war.
Jetzt, mit ihrem dicken Bauch, winkte Birte meistens ab, wenn er sie mit seinem Schwerenöterblick ansah, der früher so häufig zu einem amourösen Nachspiel geführt hatte.
Andererseits war der letzte Besuch bei seinen Schwiegereltern ein Hoffnungsschimmer gewesen. Birte hatte sich bei ihren Eltern noch vor dem Mittagessen ein Bad einlaufen lassen und nachdem sie in die Wanne gestiegen war, lugte ihr mächtiger Bauch wie eine Insel aus dem Wasser hervor. Diese Insel, ganz allein im großen Meer, sah einsam aus und verlangte Gesellschaft. Kaum gedacht, zog Lars sich aus und da nichts darauf hindeutete, dass seine Frau etwas dagegen einzuwenden hatte, stieg er zu ihr in die Wanne. Bald bildeten sie ein rhythmisch arbeitendes Tier, das Wasser in Schüben über den Wannenrand schwappen und mit Wucht auf die Fliesen klatschen ließ. Das Geräusch wurde in der Küche von Birtes Eltern vernommen, die kurz darauf, vor der Badetür stehend, fragten, ob etwas passiert wäre. Birte hatte sie mit den Worten beruhigt, dass es nichts gäbe mit dem sie nicht umzugehen wüsste.
Beim Mittagessen meinte Lars, eine gewisse Verlegenheit bei Birtes Eltern zu erkennen. Er hatte die beiden nicht besonders ins Herz geschlossen und kannte sie nur oberflächlich, doch eine Unterhaltung bei Tisch gehörte bei der Familie zum guten Ton und sie hatten es kaum gewagt, ein Gespräch zu beginnen.