Der Waffenmeister - Reimon Nischt - E-Book

Der Waffenmeister E-Book

Reimon Nischt

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Beschreibung

Was haben ein Waffenmeister während der Wikingerzeit und ein Kühlschrank in der Zukunft gemeinsam? Sie geben beide vor, etwas zu sein, was sie nicht sind. Der Waffenmeister ist ein Androide einer fremden Zivilisation, der in Menschengestalt das Leben der Wikinger begleitet und mit seinen Eingriffen, es gerechter zu machen, zwischen die Fronten gerät. Der Kühlschrank kann sprechen und besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit Bücher so vorzulesen, daß die Zuhörer seinen Geschichten gebannt lauschen. Das erstaunt auch seinen Besitzer, der sich fragt, was es mit diesem Talent auf sich hat. Der Roman verwebt die beiden unterschiedlichen Geschichten auf spannende Weise.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Reimon Nischt

 

Der Waffenmeister

 

Utopischer Roman

 

 

 

 

Herausgegeben von:

 

www.bilderarche.de 

 

© 2021, 2024 Reimon Nischt, Moriertstr. 35 a, 23617 Stockelsdorf

1

 

Mit der aufgehenden Sonne kam die Insel in Sicht. Olav stand am Bug seines Schiffes und konnte den Blick nicht abwenden. Diese Insel war seine Heimat. Dort kannte er buchstäblich jeden Baum und Strauch und als Junge hätte er sich niemals träumen lassen, dass sie eines Tages für ihn zu eng werden könnte. Doch seit dem Erreichen des Mannesalters verspürte er ein nie zuvor gekanntes Fernweh. So war er vor mehr als einem Jahr mit einer Handvoll Männer aufgebrochen, unbekannte Meere zu befahren und fremde Länder zu entdecken. Nun ging ihre Reise zu Ende.

Sein Blick verschwamm durch die von Tränen benetzten Augen. Mit dem Handrücken wischte er sie trocken. Niemandem, der Olav mit seiner Axt eine Schneise durch gegnerische Mannen hatte schlagen sehen, wäre in den Sinn gekommen, ihn sentimental zu nennen. Doch der Anblick dieser Insel ließ alle Härte seines Wesens schwinden.

Inzwischen war die Insel so deutlich zu sehen, dass Olav Details ausmachen konnte. Er erkannte die Landzunge wieder, hinter der eine Bucht lag, die von einer aus Holz erbauten Burg beschützt wurde, die seinem Vater, dem Jarl der Insel, gehörte. Die Insel war, verglichen mit der Welt, die er gerade bereist hatte, winzig. Auch mit der Bezeichnung Jarl ging man etwas zu großspurig um. Jarl nannte sich hier jeder, dem gerade mal eine Bucht gehörte. Nach den Maßstäben der südlichen Länder wäre sein Vater nur ein kleiner Burgherr. Doch sein Reichtum verlieh ihm hier die Macht, die eines Fürsten würdig war. 

Der tiefe Ton eines Horns schallte von der Insel herüber. Die Wachtposten hatten das Schiff entdeckt und verkündeten ihre Ankunft. Als sie in die Bucht einfuhren, schien es Olav, dass alle Inselbewohner am Ufer versammelt waren, um die kleine Schar von Abenteurern willkommen zu heißen. Unter den Anwesenden erblickte er seinen Vater, der zusammen mit Vagar, dem Waffenmeister, und seinem Bruder Sigvald in vorderster Reihe stand.

Olav durchsuchte die Menge nach einem bestimmten Gesicht. Schließlich fand er Gunnel, die Tochter des Schmieds, in der hintersten Reihe stehen. Er suchte ihren Blick und nachdem sie sich für wenige Sekunden in die Augen gesehen hatten, nickte sie ihm zu und ging davon. Olav war über ihren Weggang erstaunt und konnte sich keinen Reim darauf machen. Sollte sie nach über einem Jahr immer noch schmollen, dass er sich für das Abenteuer der Ferne und gegen die Enge der Heimat entschieden hatte? Gunnel musste doch einsehen, dass er die Welt zu erkunden hatte, bevor er sich auf der Insel niederlassen konnte. Seine Entscheidung war nicht gegen sie gerichtet gewesen.

Seine Leute warfen Taue an Land und nachdem das Schiff festgemacht hatte, sprang Olav von Bord. Sein Vater kam auf ihn zu, reichte ihm die Hand und nahm ihn in die Arme. Anschließend drückte Sigvald ihn fest an seine Brust und schlug ihm so hart auf die Schultern, das Olav sich wünschte, eine von den eisernen Rüstungen zu tragen, wie es bei den Rittern im Süden Sitte war. Doch für einen Seefahrer waren solche Dinge nur unnützer Tand.

Nachdem der letzte Mann von Bord gegangen war, verkündete sein Vater mit dröhnender Stimme, dass ein Fest zu Ehren der Heimkehrer stattfinden solle, was alle Anwesenden jubeln ließ.

 

Olav lief barfuß durch das warme Gras. Eine Wohltat für seine Füße, die lange auf diese Liebkosung hatten warten müssen.

Von Sigvald hatte er erfahren, dass Gunnel inzwischen verheiratet war. Obwohl er gewusst hatte, dass sie eines Tages einen Mann ehelichen würde, der die Schmiede ihres Vaters übernehmen sollte, versetzte es ihm doch einen Stich. Schließlich waren er und Gunnel zusammen aufgewachsen. Olav erinnerte sich noch gut an den Tag, als er zu seinem Vater in einer offiziellen Angelegenheit, wie es geheißen hatte, bestellt worden war. Sein Vater war ohne Umschweife zum Thema gekommen.

„Nimm dir das Mädchen für eine Nacht. Mehr kann sie nicht erwarten, außer vielleicht einen Bastard als Erinnerung an dich. Ich weiß nicht, was du an dem dürren Huhn findest, aber es sind deine Rippen, die du dir stößt. Du wirst die Tochter eines Jarls heiraten, der keine männlichen Erben hat. Das ist deine Bestimmung. Ich denke, wir sind uns einig.“

Nach diesen Worten wäre Olav am liebsten vor Scham im Boden versunken. Wie konnte sein Vater nur so über Gunnel reden. In manch einsamer Nacht auf dem Schiff hatte Olav an Gunnel denken müssen und bereut, dass sie es nie miteinander getan hatten.

Dank dieser Fahrt war Olav zu einem stattlichen Vermögen gelangt. Sie hatten Schiffe gekapert, Lösegelder erpresst und, wenn es sich anbot,Handel getrieben. Er hatte die nötigen Mittel beisammen, die eine Brautwerbung erforderten. Doch so weit, dass er sich binden wollte, war er noch nicht.

Das Fest zu Ehren der Heimkehrer hatte bis in die Morgenstunden gedauert. Olav war zeitig gegangen und hatte die Arena den Trinkern und Essern überlassen. Während er übermütig wie ein kleiner Junge durch das Gras lief, schliefen die anderen noch ihren Rausch aus.

„Grüß dich, Olav.“

Eine helle Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen, eine Stimme, die er kannte.

„Sei auch du gegrüßt, Gunnel.“

„Du bist während deiner Abwesenheit förmlich geworden.“

„Und du hast geheiratet.“

„Was hast du erwartet? Mein Vater suchte einen Nachfolger für die Schmiede. Das hast du schon immer gewusst.“

„Ja. Ich soll demnächst auch auf Brautschau gehen.“

„Mädchen und Zweitgeborene haben ähnliche Schicksale.“

„Mach dich nicht über mich lustig.“

„Verbiete mir doch nicht meine einzige Freude. Mein Mann ist lieb und gut, doch necken kann ich nur dich. Er hat keinen Sinn dafür.“

„Du hättest auf mich warten sollen.“

„Wie oft hast du dich deinem Vater widersetzt?“

„Er ist der Jarl, das ist etwas anderes.“

„Ist es nicht. Ich habe meinem Vater gehorcht und du gehorchst deinem. Du bist als Held zurückgekehrt. Beweise deinen Mut und brenne mit mir durch. Hole deine Mannschaft zusammen und lass uns heute Nacht davon segeln.“

Gunnel schaute Olav fest an. Er erwiderte nichts und wich ihrem Blick aus.

„Das habe ich mir gedacht. In unseren Träumen tragen uns Flügel durch die Lüfte, doch wenn wir erwachen, stellen wir ernüchtert fest, dass wir an die Erde gebunden sind.“

Verlegen lächelnd zog Olav eine kleine Schatulle aus seiner Brusttasche und reichte sie der jungen Frau. Gunnel entnahm der Schachtel eine aus Silber gefertigte Kette und besah sich die filigrane Arbeit. Olav erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, wie sehr ihr das Geschenk gefiel.

„Danke, dass du an mich gedacht hast. Doch ich bin jetzt verheiratet. Ein Geschenk von einem anderen Mann anzunehmen und dazu noch ein so schönes, wäre nicht schicklich. Ich werde dich immer in guter Erinnerung behalten.“

Gunnel gab ihm die Kette zurück. Sie deutete einen Knicks an, den die feinen Damen im Süden so gut beherrschten und lief, ohne sich umzudrehen, davon.

Olav sah ihr nach. Gunnel hatte recht, was die Kette betraf und in allem anderen auch. Ihre gemeinsame Zeit war endgültig vorbei. Das konnte er auch an Gunnels kleinem Bäuchlein sehen, welches von baldigem Nachwuchs kündete.

 

Olav begab sich zum Waffenmeister, der ihm bereits in jungen Jahren das Kämpfen mit den unterschiedlichsten Waffen beigebracht hatte. Der alte Vagar war immer noch ein stattlicher Mann, obwohl er schon mehr als 40 Sommer gesehen hatte.

„Sei gegrüßt Vagar, mein Freund und Lehrmeister. Auf dem Fest hat es keine Möglichkeit einer richtigen Begrüßung gegeben. Wie wäre es jetzt mit einer Lektion für den Heimkehrer?“

„Olav, der Eroberer, sieht nach den Alten und Gebrechlichen. Du hast in der großen, weiten Welt alle Gegner bezwungen und bist gekommen, mich ebenfalls zu bezwingen. Dein Lächeln verrät dich.“

„Keineswegs. Ich habe einiges dazugelernt. Wenn man dem Tod in die Augen sieht, kann man nicht rufen: Haltet ein, ich ergebe mich!“

„Das ist wohl wahr. Schwerter oder Äxte?“

„Schwert und Schild. Mit der Axt habe ich schon so viele Häupter gespalten, dass es eine Weile reichen sollte.“

„Hört, hört. Das klingt ja recht bescheiden.“

Olav legte ein Lederwams an und nahm ein schlichtes Schwert von der Wand, an der noch wenigstens zwanzig weitere in unterschiedlichen Größen und Formen hingen. Die Waffe lag gut in seiner Hand.

Die beiden Männer nahmen auf dem Übungsplatz Kampfaufstellung ein. Olav führte den ersten Angriff aus. Sein Schwert prallte auf Vagars Eichenschild, dass es Holzsplitter hagelte. Der Alte schlug schnell zurück. Olav hatte gerade genug Zeit, den Schild zur Abwehr hochzureißen.

Der Tanz der Schwerter begann. Die beiden Männer schlugen aufeinander ein, als gäbe es kein Morgen. Der dumpfe Klang von Eisen gegen Holz wurde vom Wind über die Bucht hinaus davon geweht. Olav wusste wieder, warum er Vagar niemals zuvor besiegt hatte und die Chance, dass es ihm jetzt gelang, immer unwahrscheinlicher wurde. Er schaffte es nicht, mit der nie erlahmenden Ausdauer seines Lehrmeisters mitzuhalten.

Wie zum Beweis wurde Olavs Schild von einem furchtbaren Schlag halbiert. Doch der junge Kämpfer reagierte reflexartig, sprang dem Waffenmeister entgegen, rollte vor ihm ab und ehe Vagar zum nächsten Hieb ausholen konnte, stieß ihm Olav die Schwertspitze gegen die Brust.

„Vorbei, alter Mann.“

Vagar senkte sein Schwert und strahlte über das ganze Gesicht.

„Du hast mich besiegt. In der Fremde bist du zu einem Kämpfer geworden. Doch mit dieser tollkühnen Rolle solltest du sparsam umgehen. Verwende sie nur, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, denn den Überraschungsmoment hast du nur einmal.“

Dann reichte er Olav die Hand und half ihm auf.

„Ich spüre jetzt schon alle meine Knochen im Leib und das ist kein gutes Gefühl. Noch drei Kämpfe gegen dich und ich werde ein alter Mann sein.“

„Ja, meine Hiebe haben es in sich, doch alt bist du erst, wenn dir die Zähne ausfallen.“

Beide lachten und umarmten einander.

 

Olav verabschiedete sich vom Waffenmeister und ging zum Flussufer hinunter. Nach diesem Kampf sehnte er sich nach einer Abkühlung. Er wusste, dass er nur wegen seines Tricks gewonnen hatte, doch ohne Schild hätte er gegen Vagar nicht bestehen können. Der Alte war immer noch ein Wunder an Kraft und Schnelligkeit.

An der Anlegestelle dümpelten drei Schiffe auf den Wellen. Ein paar Männer führten an Bord Reparaturarbeiten aus. Olav ging zu einer abgelegenen Stelle flussaufwärts, wo er schon als Junge gerne geschwommen war. Er zog seine vom Schweiß getränkten Sachen aus und hechtete ins Wasser. Die Kälte versetzte ihm einen Schock. Doch beim Schwimmen gewöhnte er sich an die Wassertemperatur. Obwohl die Strömung nicht stark war, schaffte er es nicht, gegen sie anzukämpfen. Erschöpft ging er unterhalb der Stelle, an der er ins Wasser gesprungen war, an Land.

„Nackt siehst du auch nicht anders aus als mein Mann.“

Gunnel stand neben seinen abgelegten Sachen.

„Du hingegen bist schöner als alle Frauen, die ich je gesehen habe.“

„Und wenn ich mich dir nicht zeige, wird es auch weiterhin so bleiben. Hast du denn viele Frauen gesehen?“

„Die eine oder andere schon.“

„Wenn das so ist, hat deine Bemerkung über meine Schönheit wenig zu bedeuten.“

„Egal was ich sage, bei dir ziehe ich immer den Kürzeren.“

„Stimmt. Die Widerworte hast du bei den Damen in der Fremde vermisst, sonst hättest du dir eine mitgebracht.“

„Die Frauen dort waren von feinerer Art und hätten den Anstand besessen, einen nackten Mann nicht immerzu anzustarren.“

„Dafür entschuldige ich mich. Ein kurzer Blick hätte es auch getan.“

Olav ging zu seinen Sachen und zog sie an.

„Du hast mir noch nichts von deiner Reise erzählt. Ich habe nur die Prahlereien der anderen zu hören bekommen.“

„Ich wollte dich nicht anlügen. Diese Reise war nicht das Abenteuer, als das es meine Begleiter darstellen. Das Meer kann ein grausames Monster sein. Wir haben Stürme erlebt, bei denen sich die Hälfte der Mannschaft vor Angst eingeschissen hat. Überlebt man so einen Sturm, sieht man sich als Helden, der man nie gewesen ist.“

„Du klingst verbittert.“

„Nein, nur ernüchtert. Nach dem ersten gewaltigen Sturm wollten einige der Männer, die sich jetzt besonders hervortun, wieder zurücksegeln. Es hat nicht viel gefehlt und sie hätten mich über Bord geworfen, weil ich dagegen war. Ich habe mit schmeichlerischen Worten vom Reichtum geredet, der im Süden auf uns wartet und zu bedenken gegeben, was man zu Hause von uns denken wird, wenn wir ohne Reichtümer zurückkehrten.“

„Die Angst vor der Schande war größer als die vor dem Tod.“

„Ja und dann haben wir das ersehnte Land erreicht. Wir sind losgezogen, die versprochenen Reichtümer zu finden und als wir nur auf armselige Dörfer trafen, haben wir diese dem Boden gleich gemacht und alle Bewohner getötet. Willst du noch mehr Details erfahren?“

Gunnel schüttelte den Kopf.

„Ihr seid doch alle vermögend heimgekehrt.“

„Ja, wir haben mit unseren Fellen Handel getrieben und alle gut verkauft. Doch das Gold stammt aus den Klöstern, die wir geplündert haben. Wir sind keine Helden, sondern nur Diebe und Mörder, mich eingeschlossen.“

„Nun, das überrascht mich nicht. So läuft es doch immer ab und die Prahlereien sollen die wahren Geschehnisse vergessen lassen. Je öfter sie wiederholt werden, desto besser. Die Legende wird zur Wirklichkeit.“

„Jede Prahlerei meiner Männer erinnert mich an die begangenen Untaten und trotzdem nicke ich ihnen zu, wenn sie um meine Bestätigung ersuchen.“

Gunnel schwieg. Sie sah Olav in die Augen, gab ihm einen Kuss auf die Wange und eilte davon. Einen Moment stand Olav verdattert da. Der Kuss war nur flüchtig, doch hatte er ihn tief berührt. Unbewusst griff er zur Brusttasche, in der er die Schatulle mit der Kette aufbewahrte. Die Tasche war leer. Im ersten Moment erschrak Olav, weil er meinte, sie verloren zu haben, doch dann begriff er und schaute der sich entfernenden Frau lächelnd hinterher.

 

Der Kuss, so flüchtig er auch gewesen sein mochte, ging Olav nicht mehr aus dem Sinn. Er verstand nicht, warum, schließlich hatten sie sich nicht zum ersten Mal geküsst. Etwas war mit ihm geschehen. Vielleicht hatte ihn die Fremde nicht nur zu einem besseren Kämpfer gemacht, sondern auch sein Empfinden verändert.

Olav ging den Strand der Bucht entlang und grübelte weiter darüber nach. Vielleicht lag es am Wind, der nicht nur seine Haare zerzauste, sondern auch seine Gedanken durcheinander wirbelte. Er kam zum Schluss, dass sein Aufenthalt in der Fremde nichts damit zu tun hatte. Es war das Verbotene der Handlung, der Kuss von einer verheirateten Frau, das ihn erregte. Die Absicht des Kusses mochte noch so unschuldig gewesen sein, das spielte keine Rolle, denn nur sein Empfinden war bedeutsam. Er wollte diese Frau besitzen. Das war die schlichte Wahrheit und wäre er nicht fort gewesen, hätte er es vielleicht nie erkannt.

Unauffällig beobachtete er Gunnels Tagesablauf. Olavs Plan bestand darin, immer schon vor ihr dort zu sein und vorzugeben, ihre Begegnungen wären zufällig. Nachdem er Gunnel mehrere Tage hindurch nachspioniert und sich an den einfachsten Verrichtungen, die sie täglich ausführte, erfreut hatte, beschloss er, am nächsten Tag eine zufällige Begegnung herbeizuführen.

So begab er sich geraume Zeit vor Gunnels Eintreffen in sein Versteck. Als er sie dann näherkommen sah und ihr entgegengehen wollte, wurde er plötzlich von einer Mutlosigkeit befallen, die ihn handlungsunfähig machte. Er verpasste den geeigneten Moment und schalt sich einen Narren. Dann eben morgen, sagte er sich.

 

Am Tag darauf war Olav guter Dinge, weil er Gunnel treffen würde. Er hatte von ihr so lebhaft geträumt, dass ihm sein Zaudern töricht vorkam. Olav hing seinen Gedanken nach, als er von einem Boten seines Vaters angesprochen wurde.

„Olav, der Jarl wünscht dich im großen Saal zu sehen.“

„Richte ihm aus, dass ich ihn gleich aufsuchen werde.“

„Tut mir leid, Olav, ich soll dich sofort zu ihm geleiten.“

Olav leistete dem Mann Folge und begleitete ihn zu dem Saal, in dem sein Vater die Audienz abhielt. So offiziell war er noch nie dazu gebeten worden. Kaum hatte Olav den Raum betreten, hörte er, wie Ragnar, der neue Schmied, schwere Vorwürfe gegen ihn erhob.

„Dieser da“, und Ragnar zeigte auf Olav, „hat meiner Gunnel schöne Augen gemacht und sie für ihre Dienste mit dieser Kette bezahlt.“

Ragnar hielt eine Kette in die Höhe und Olav erkannte sie sofort.

„Das ist eine gemeine Lüge. Ich habe Gunnel die Kette als Geschenk von meiner Fahrt mitgebracht. Jeder weiß, dass wir befreundet sind.“

„Meine Frau hat es zuerst auch abgestritten, doch dann habe ich die Wahrheit aus ihr heraus geprügelt. Sie hat ihre Unzucht gestanden. Ich verlange Gerechtigkeit.“

„Das sind schwere Vorwürfe, mein Sohn. Was hast du dem zu entgegnen?“

„Das, was ich eben schon gesagt habe. Diese Kette ist ein Geschenk. Ich habe damit nichts erkauft!“

 

Als Sigvald von der Jagd zurückkehrte und erfuhr, dass sein Bruder eingekerkert war, ging er auf direktem Weg zu seinem Vater.

„Ich verstehe nicht, wie du anordnen konntest, Olav einzusperren, wo doch klar ist, wer hier lügt.“

„Nein, so einfach ist das nicht. Wäre es nicht seltsam, wenn nur die Armen und Schwachen dem Gesetz Folge leisten müssten, hingegen die Reichen und Mächtigen tun und lassen könnten, wie es ihnen beliebt? Vor dem Gesetz müssen alle gleich sein. Deshalb habe ich deinen Bruder in Gewahrsam nehmen lassen, genauso wie Gunnel. Der Ältestenrat leitet die Untersuchung und ihrem Urteil werden wir uns fügen.“

„Auch wenn sie ihn für schuldig befinden werden?“

„Gerade dann!“

 

Olav und Gunnel wurden drei Tage lang einzeln verhört. Da Gunnel das Vergehen zugab und Olav es bestritt, kam der Rat der Ältesten zu dem Urteil, Olav einen Zweikampf mit der Axt zu gewähren. Als Kämpfer für die Seite der Anklage bestimmten sie Vagar. Der Zweikampf sollte am Morgen des folgenden Tages ausgetragen werden.

Olav wurde das Urteil mitgeteilt. Sie hielten ihn tatsächlich für schuldig und verurteilten ihn zum Tode, denn nichts anderes bedeutete ein Zweikampf mit der Axt gegen Vagar. Der Waffenmeister war in dieser Disziplin noch immer unbesiegt. Kein Wunder, dass Olav in der Nacht vor dem Kampf keinen Schlaf fand. Unruhig wälzte er sich auf dem Stroh in seiner Zelle von einer Seite auf die andere. Irgendwann hörte er jemanden seinen Namen rufen. Olav stand auf und ging zum vergitterten Fenster.

„Wer ist da?“

„Ich bin es, Sigvald. Ich werfe dir eine Feile durch das Gitter. Du musst fliehen. Gegen Vagar hast du keine Chance.“

„Vermutlich. Doch ich werde ihm einen guten Kampf liefern.“

„… und sterben. Fliehe und du wirst leben! Ich verschwinde jetzt besser.“

Etwas Schweres schlug mit dumpfen Klang in seiner Zelle auf. Olav suchte danach. Doch als er die Feile gefunden hatte und gegen das Gitter drückte, um mit der Arbeit zu beginnen, hielt ihn der Gedanke an Gunnel zurück. Sie hatte aus Angst um ihr Kind gelogen. Da war er sich sicher. Ihr Mann Ragnar würde sie verstoßen, doch ihr und dem Kind würde nichts geschehen. Gunnel war nur ein Opfer. Jemand wollte ihn durch diese infame Verleumdung für immer aus dem Weg schaffen. Für wen stellte er eine Bedrohung dar?

Am nächsten Morgen wurde Olav vom Quietschen der Tür geweckt.

„Willst du deinen Zweikampf verschlafen?“, fragte der Wärter und stellte ihm eine mit Hafergrütze gefüllte Schüssel auf den Boden der Zelle.

„Ja, wenn das eine Möglichkeit ist, den Kampf zu gewinnen.“

Olav betrachtete das karge Mahl, doch das war alles, was er vor dem Kampf brauchte.

„In unseren Träumen sind wir alle unbesiegbar. Gut, dass du nicht geflohen bist.“

Erstaunt sah Olav den Wärter an.

„Woraus schließt du, dass ich fliehen wollte?“

Der Wärter zeigte auf die achtlos liegen gelassene Feile.

„Ja, die Feile, die muss von meinem Vorgänger stammen. Ich bin unschuldig und werde den Kampf für mich entscheiden.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist das die Art, wie Männer es halten. Hättest du die Feile benutzt, wärst du bereits tot. Vergangene Nacht sind Männer um die Arrestzellen geschlichen. Die haben dir aufgelauert. Wer immer dir die Feile zugesteckt hat, wollte deinen Tod.“

„Du irrst dich, Freund. Die Männer sollten mir den Weg in die Freiheit weisen.“

„Wenn du das sagst.“

 

Nach dem Frühstück erschienen zwei Bewaffnete, die Olav zum Kampfplatz brachten, an dem bereits viele Schaulustige versammelt waren. Jeder von ihnen wusste, dass Vagar der unbesiegte Meister im Kampf mit der Axt war.

Die Arena war durch einen mit Steinen gesäumten Kreis von 30 Fuß Durchmesser gekennzeichnet. Um das Kampfgeschehen besser verfolgen zu können, hatte man für den Jarl und den Ältestenrat eine Tribüne errichtet, die über die Köpfe der Menge hinausragte. Olav betrat das Zelt, das ihm die Wachen zuwiesen, legte die Montur für den Kampf an und prüfte die Auswahl der Äxte und Schilder. Vagar würde mit einer wuchtigen Waffe in den Ring ziehen und auf seine Schlagkraft vertrauen. Olav wählte daher einen soliden Schild und eine leichtere Axt.

Drei kräftige Trommelschläge verkündeten den Beginn des Zweikampfes. Olav verließ das Zelt und sah sich um. Sein Vater saß auf der Tribüne und neben ihm standen die Männer des Ältestenrates. Olav betrat den Ring aus Steinen, in dem Vagar bereits auf ihn wartete. Der Vorsitzende des Ältestenrates verkündete das Urteil und teilte allen die Regeln des Kampfes mit. Sollte Olav den Kreis während des Kampfes verlassen, würde er von Bogenschützen gefiedert werden. Für Vagar hingegen wäre es nur eine Niederlage.

Die Männer traten in die Mitte des Kreises und verneigten sich vor dem Jarl.

„Vagar, pass auf meinen Vater auf. Mein Bruder führt Böses im Schilde.“

„Das werde ich. Versprochen.“

Der Jarl gab das Zeichen. Die Kämpfer schlugen ihre in der Morgensonne funkelnden Äxte gegeneinander. Nach anfänglichem Abtasten holte Vagar zu einem Schlag aus, den Olav mit letzter Kraft abwehren konnte, wobei er in die Knie gehen musste. Bevor Vagar nachsetzte, warf sich Olav aus der Reichweite der Axt und sprang behände auf die Beine. Ein Raunen ging durch die Menge. Sie hatte Blut geleckt.

Die Streiter näherten sich wieder mit gebotener Vorsicht. Plötzlich ging Olav zum Angriff über und ließ eine Serie von Schlägen auf Vagars Schild niedersausen, der eine dumpfe, bedrohliche Melodie von sich gab. Diese Attacke drängte Vagar an den Rand des Kreises. Doch dort hielt er Olav stand und ging seinerseits in den Angriff über. Allmählich wurden Olav die Arme schwer. Immer öfter geriet er in Bedrängnis, derer er sich nur durch schnelle Ausweichmanöver erwehren konnte. Der Waffenmeister schien hingegen keine Müdigkeit zu kennen. Bei seiner nächsten Attacke raunte er Olav Rolle zu und schleuderte ihn bis an den Rand der Arena. Vagar zögerte einen Augenblick, bevor er zum letzten Schlag ausholte. Olav sprang unter dem Hieb hindurch, rollte seitlich ab und schubste den aus dem Gleichgewicht geratenen Waffenmeister aus dem Kreis. Der Kampf war zu Ende.

Olav fiel erschöpft auf die Knie und nahm seinen Helm ab. Nasse Haarsträhnen bedeckten seine Stirn. Er hob den Kopf und suchte den Blick seines Vaters. Der Pfeil traf seinen ungeschützten Nacken und streckte ihn nieder. Den Aufschrei der Menge hörte er nicht mehr.

2

 

Pni hatte die Aufzeichnung des Kampfes ein weiteres Mal betrachtet und wandte sich an Vagar: „Jedenfalls kann keiner behaupten, du hattest den Kampf absichtlich verloren.“

„Behaupten kann man viel, es zu beweisen ist die Kunst. Wer sagt, ich hätte den Kampf absichtlich verloren, wird von mir gefordert. Ich hatte große Hoffnungen in den Jungen gesetzt und jetzt ist er tot.“

Vagar klang untröstlich.

„Aber nicht durch deine Schuld“, gab Telor zurück, „für einen Androiden bist du einfach zu gefühlvoll.“

„Du hingegen hast stumpfes Blei an der Stelle, die bei euch Crystalloi gewöhnlich leuchtend pulsiert.“

„Deine in Poesie gehüllte Herabsetzung trifft mich nicht. Wir sind Wissenschaftler und verfolgen nüchtern unsere Ziele. Gefühle führen immer zu Konflikten.“

Telor redete von Gefühlen wie ein Blinder über Farben. Als Crystallos war ihm die Welt höher entwickelten organischen Lebens fremd und die Art, in der sie ihr Zusammenleben regelten. Die Vorstellung einer sozialen Hierarchie behagte keinem Crystallos. Alle Crystalloi gingen Verbindungen mit Gleichgesinnten ein, um bestimmte Ziele zu erreichen, wobei die Farbe des Konglomerates, verbunden mit intensivem Leuchten, entscheidend war. Ein stählernes Blau zeigte eine gute Zusammenarbeit an, während blasse Gelbtöne von Disharmonien zeugten. War der Zweck erfüllt, spaltete sich der Superkristall wieder in Individuen auf. Gefühle spielten in der Kristallwelt keine Rolle.

Vagar hatte sich auch erst in die Welt der Inselbewohner hineintasten müssen. Doch da er als Einzelwesen konzipiert worden war, ausgestattet mit einer anpassungsfähigen KI, kam er bald in dieser neuartigen Welt zurecht.

„Und du, Pni, warum hast du den Bogenschützen nicht eliminiert?“

„Du kennst die Antwort, Vagar, wir sind hier nur Beobachter. Das ist der erste Planet mit höher entwickeltem biologischem Leben, den wir im Umkreis von 500 Lichtjahren gefunden haben. Dir allein ist es in gewissen Grenzen erlaubt, dich einzumischen, weil es in deiner Position unumgänglich ist.“

„Ja, sicher. Immer wieder höre ich von euch die alte Leier. Ich weiß nicht einmal, was wirklich passiert ist.“

„Sigvald hat seinen Bruder beobachtet und dabei zufällig gesehen, wie Gunnel die Silberkette an sich genommen hat. Danach hat er sie bei ihrem Ehemann denunziert. Dieser Dummkopf glaubte all die Lügen, die Sigvald sorgfältig vorbereitet hatte.“

„Ich verstehe Sigvalds Motivation nicht. Er ist doch der rechtmäßige Erbe.“

„Ja. Doch er will sichergehen, dass ihm der Machtanspruch auch übertragen wird. Es ist schon vorgekommen, dass der Zweitgeborene zum Nachfolger ernannt wurde. Nach Olavs Heimkehr hatten sich Sigvalds Aussichten verschlechtert, da sein Bruder vermögend geworden war.“

„Warum habt ihr mir diese Zusammenhänge vorenthalten?“

„Wir wollten verhindern, dass du deine Kompetenzen überschreitest. Manchmal denke ich, dass die Idee, Androiden aus organischen Materialien zu fertigen, doch keine so gute war. Wir müssen eine gewisse emotionale Distanz zu den Menschen wahren, sonst ist eine objektive Forschung nicht möglich.“

„Danke für euer Vertrauen in mein Urteilsvermögen. In dem entstandenen Tumult ist der Bogenschütze entkommen. Könnt ihr mir wenigstens seinen Namen nennen oder verstößt das auch gegen eure Prinzipien?“

„Der Name tut nichts zur Sache.“

„Dachte ich mir. Was wird aus Gunnel?“

„Frauen sind in dieser Welt nur eine schöne Beigabe, um die du dich nicht kümmern musst. Warum müssen wir immer wieder solcher Art Diskussionen führen? Genug damit, du strapazierst unsere Geduld.“

Telor hatte die an Pni gerichtete Frage beantwortet. Vagar schüttelte resigniert den Kopf. Er brachte seinen Schöpfern wenig Liebe entgegen. Ging es um ihre eigenen Belange, hatten die Crystalloi Geduld für tausend Jahre. Nur war Vagar ein Androide und dies ließen sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren. Die Wilden da draußen in ihrer archaischen Welt konnte er besser verstehen. Er wusste auch, warum: Weil er unter ihnen lebte und sie nicht als Laborratten in einem Feldversuch betrachtete.

 

Vagar verließ die Zusammenkunft und kehrte durch einen unterirdischen Gang in sein Haus zurück. In zwei Stunden würde die Sonne aufgehen. Mit dem Tagesanbruch wären alle Einwohner der Insel auf dem höchsten Berg versammelt, um zu sehen, wie Olav auf einem in Flammen stehenden Boot seine letzte Reise antrat.

Doch jetzt musste Vagar um eine Unterredung mit dem Jarl bitten. Vor den Privatgemächern des Jarls wurde ihm der Weg von der Wache versperrt. Er äußerte sein Anliegen und wurde nach Rücksprache eingelassen. Der Tod seines jüngsten Sohnes hatte den Jarl sichtlich getroffen. Auf einen Wink trat Vagar näher und verbeugte sich.

„Da hast du meinen jüngsten Sohn verschont, alter Freund, und doch ist er jetzt tot. Sag nichts, ich weiß, welch großartiger Kämpfer du bist.“

„Ich hätte alles dafür gegeben, ihn zu retten.“

„Ja. Was gibt es so Wichtiges zu dieser frühen Stunde?“

„Vor dem Kampf hat mich Olav gebeten, auf dich aufzupassen und mir noch anvertraut, dass Sigvald Böses im Schilde führt. Das waren seine Worte.“

„Hat er sich näher erklärt?“

„Nein. Doch ich habe mich umgehört. Ein Wärter hat mir erzählt, dass er in Olavs Zelle eine Feile gefunden hat und am Abend vor dem Kampf Männer um die Arrestzellen schleichen sah. Für den Wärter stand fest, dass derjenige, der Olav die Feile zukommen ließ, seinen Tod durch die Männer bei einem Ausbruchsversuch sicherstellen wollte. Olav, vom Wärter darauf angesprochen, entgegnete nur, dass die Männer ihn begleiten sollten. Doch der Wärter hatte Olav angesehen, dass er von den Männern nichts gewusst hatte.“

„Du meinst, Sigvald hatte die Finger im Spiel?“

„Das wäre eine Möglichkeit.“

„Mit welcher Absicht?“

„Ich müsste raten, doch mir scheint, dass Sigvald die Zeitspanne bis zu seiner Ernennung zum Jarl verkürzen möchte.“

„Vatermord ist eine schwere Anschuldigung.“

„Olav ist tot und ich habe dir seine letzten Worte übermittelt. Sollte es sich anders verhalten, hast du nichts zu befürchten, doch wenn es zutrifft, brauchst du besseren Schutz.“

„Gut. Ich werde darüber nachdenken. Geh jetzt bitte, ich möchte noch eine Stunde ruhen.“

„Eine Kleinigkeit noch. Ich möchte Gunnel unter meine Fittiche nehmen. Das bin ich Olav schuldig.“

„Dieses Mädchen ist an allem schuld.“

„Nein. Sie ist nur das Opfer in einer bösen Intrige.“

„Du sollst deinen Willen haben, doch geh jetzt bitte.“

Vagar verbeugte sich und ließ den Jarl mit seinem Kummer allein.

 

Der nächste, den Vagar zu dieser frühen Stunde aufsuchte, war Ragnar, der Schmied. Er hämmerte mit seiner Faust gegen die Tür und nannte seinen Namen. In Windeseile öffnete ihm Ragnar und bat ihn hinein.

„Ich bringe dir schlechte Nachrichten. Da Olav seinen Zweikampf gewonnen hat, gilt er im Sinne der Anklage als unschuldig. Gunnel hat ihr Geständnis widerrufen und dich der Lüge bezichtigt.“

Vagar beobachtete Ragnar genau, doch der Schmied blieb gelassen.

„Zuerst erklärt meine Frau, dass sie keine Unzucht getrieben hat, dann behauptet sie plötzlich das Gegenteil. Die Erklärung liegt auf der Hand: Meine Frau lügt, nicht ich.“

„Deine Frau sagt die Wahrheit. Der Lügner bist du und vielleicht stehen wir uns schon übermorgen in der Arena gegenüber. Es wird mir Vergnügen bereiten, dir die Wahrheit mit der Axt einzuverleiben.“

„Du bist nicht bei Sinnen, Vagar. Verlasse mein Haus oder ich zeige dich an.“

„Ja, darin hast du Übung. Doch bedenke deine Situation: Da Olav unschuldig ist, musst du gelogen haben, als du ihn vor dem Jarl angeklagt hast, deine Ehre beschmutzt zu haben. Er hat deiner Frau eine Kette geschenkt, doch das ist kein Verbrechen. Ich werde dafür sorgen, dass niemand auf dem Berg steht, wenn du demnächst zu deiner letzten Fahrt aufbrichst und deinem Körper die reinigenden Flammen verweigern.“

Trotz der Dunkelheit, die in dem Raum herrschte, sah Vagar etwas auf sich zukommen und duckte sich blitzschnell ab. Ein langes Holzscheit, von Ragnar geschwungen, zischte über seinen Kopf hinweg. Da der Hieb ins Leere lief, rang der Schmied um sein Gleichgewicht. Vagar nutzte die Chance und verpasste dem Mann beim Aufstehen einen Schlag in den Solarplexus, der den Kampf sofort beendete. Er schulterte den Schmied, der ihn sowohl an Körpergröße als auch an Gewicht übertraf und sah sich im Raum um. Aufräumen war seine Bestimmung.

Vagar schlug den Weg zu den Arrestzellen ein und meldete sich beim Wärter.

„Du bist zu dieser frühen Stunde schon recht umtriebig.“

„Der junge Mann auf meiner Schulter sucht nach einer Bleibe. Kannst du ihm behilflich sein?“

„Folge mir, ich habe genau das Richtige für ihn.“

Vagar lud den Schmied an dem zugewiesenen Ort ab und teilte dem Wärter seinen zweiten Wunsch mit, worauf er zu Gunnels Zelle geführt wurde. Die Tür knarzte beim Öffnen und im Schein der Fackel sah Vagar in das verängstigte Gesicht der jungen Frau. Mit einer Sanftheit in der Stimme, die nicht zu seinem kämpferischen Wesen passen wollte, richtete er das Wort an sie.

„Komm mit, Gunnel, deine Gefangenschaft ist vorbei. Ich bürge für dich.“

Vagar beugte sich zu der jungen Frau hinunter, hob sie auf und trug sie wie ein kleines Kind auf seinen Armen nach Hause. Sie hatte einige Blessuren davongetragen, doch eine kurze medizinische Analyse bestätigte ihm, dass mit ihr alles in Ordnung war. Er stellte Brot und Käse auf den Tisch, doch sie schüttelte nur den Kopf. Vagar reichte ihr einen Becher Milch und setzte sich zu ihr.

„Trink, das wird dir guttun.“

„Danke“, sagte Gunnel mit kaum hörbarer Stimme und leerte den Becher auf einen Zug.

„Die Sonne erhebt sich über den Horizont und es ist an der Zeit, Olav die letzte Ehre zu erweisen. Derweil kannst du dich hier umsehen. Es ist dein neues Zuhause.“

„Ich möchte dich begleiten, hast du etwas dagegen?“

„Ganz und gar nicht, das würde mich freuen.“

Vagar erhob sich und bemerkte Gunnels Zögern.

„Nein, das geht nicht. Meine Anwesenheit bei der Zeremonie wird bestimmt für Unfrieden sorgen.“

„Keine bange. Wer es wagt, dich schief anzusehen, bekommt von mir eine Lektion verpasst, die er sein Lebtag nicht vergessen wird.“

„Ich möchte aber keinen Ärger machen und die Abschiedszeremonie stören.“

„Du hast recht. Doch ich kenne dort oben ein Versteck, aus dem wir alles ungestört verfolgen können.“

„Wirklich?“

Vagar nickte und sah in den Augen der Frau, dass sie zu neuem Leben erwachte. Er führte seine Begleiterin einen steilen Pfad entlang, der nur wenig ausgetreten war. Unbehelligt erreichten die beiden ihr Ziel. Vagar hatte eine große Menschenmenge erwartet und wurde nicht enttäuscht. Sie erschienen zum rechten Zeitpunkt. Der Jarl erhob sich von seinem Platz und sprach zu der Menge, doch bevor die Worte das Versteck erreichten, hatte der Wind sie verweht.

„Schade, dass wir nichts von der Rede hören können“, sagte Vagar.

„Das macht nichts. Was der Jarl zu sagen hat, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich in meinem Herzen fühle.“

Vagar schwieg und ließ ihre Worte nachklingen. Er hatte aus dem Versteck heraus eine gute Sicht auf das Meer und verfolgte die Fahrt des brennenden Bootes, das sich im Morgendunst aufzulösen schien. Er schaltete auf Infrarotwahrnehmung und das Wärmebild zerstörte den magischen Moment. Vagar wechselte wieder in den Modus für sichtbares Licht und sah, dass sich bereits einige der Anwesenden zum Gehen gewandt hatten. Nach und nach leerte sich der Platz, bis nur noch der Jarl im Kreise der Ältesten zurückblieb. Vagar hatte den Eindruck, als wolle der Mann solange an dieser Stelle mit dem Blick in die Ferne verweilen, bis sein Sohn eines Tages wieder zurückkäme.

Ein Pfeil, der im Nacken des Jarls sein Ziel fand, zerstörte das Erhabene der Situation. Bevor der Getroffene auf den Boden schlug, hatte Vagar sein komplettes sensorisches Programm aktiviert und die Flugbahn des Pfeiles bis zu seiner Abschussstelle zurückverfolgt.

„Bleib hier, ich komme zurück“, rief Vagar Gunnel zu und rannte mit der Axt in der Hand in die Richtung, in der er den Schützen vermutete. Er verwandelte sich in eine tödliche Maschine, die die begrenzten Möglichkeiten des menschlichen Körpers weit hinter sich ließ und die Gefahren des unebenen Geländes mit der Eleganz einer Gazelle und der Geschwindigkeit eines Falken meisterte. Er erreichte den flüchtenden Attentäter in wenigen Sekunden und schlug ihn mit der Breitseite der Axt nieder. Anschließend schleuderte er die Waffe in den Morgenhimmel und rief aus vollem Hals: „Scheiß auf deine Spielregeln, Telor!“

Er wandte sich zum Meer, folgte der Spur des winzigen Bootes durch den für menschliche Augen undurchdringlichen Dunst und registrierte gleichzeitig den Flug seiner Axt, die bereits ihren Zenit überschritten hatte und zu Boden fiel. Vagar trat einen Schritt zur Seite, streckte seinen Wurfarm in die Höhe und griff im richtigen Moment zu, ohne auch nur für einen Augenblick hinzusehen. Er lud sich den Attentäter auf und warf ihn kurze Zeit später samt Bogen und Pfeilen vor die um den ermordeten Jarl versammelten Mitglieder des Ältestenrates.

„Das ist der Mann, der unseren Jarl gemeuchelt hat. Kennt ihn jemand von euch?“

Einer nach dem anderen verneinte die Frage.

„Das Wohlergehen unseres Stammes liegt jetzt in den Händen des Ältestenrates. Was werdet ihr wegen dieses feigen Mordes unternehmen?“, fragte Vagar.

„Wir werden eine Versammlung einberufen und Sigvald zum neuen Jarl ernennen. Er wird das Urteil über den Täter sprechen.“

„Der hier mag der Pfeilschütze gewesen sein, aber bestimmt nicht der Drahtzieher. Wenn ihr Sigvald zum Jarl ernennt, besteht die Gefahr, dass auch er ermordet wird. Wir müssen den Mann ausfindig machen, der die Morde in Auftrag gegeben hat, sonst schwebt auch der kommende Jarl in Lebensgefahr.“

Vagar verbeugte sich und ließ die Ältesten mit ihren Problemen alleine. Sollten sie tatsächlich vorhaben, Sigvald zum Jarl zu ernennen, würde er jedes Mitglied des Ältestenrates zu einem Gespräch bitten. Doch Vagar hegte die Hoffnung, dass der Rat besonnen genug war, seinem Vorschlag zu folgen.

 

Vagar schlich sich zum Versteck zurück und fand es verlassen vor. Nach der Vorstellung, die er geboten hatte, musste sich Gunnel vor ihm gefürchtet und einen anderen Ort aufgesucht haben. Vagar tastete seine nähere Umgebung akustisch ab und gewahrte hinter einem mehrere Meter entfernten Felsvorsprung ein schlagendes Herz. Durch Stimulierung der Gehirnwellen brachte er die sich dort aufhaltende Person zum Einschlafen. Erst danach ging Vagar hinüber, sah, dass es sich wie erwartet um Gunnel handelte und hob sie vorsichtig auf. Er trug sie den Berg hinunter und legte sie auf das Bett in seiner Blockhütte. Während sie schlief, richtete er für sie ein Zimmer her. Als Waffenmeister bewohnte er eine geräumige Hütte, die genug Platz für zwei bot. Nachdem er die Arbeit erledigt hatte, setzte er sich zu Gunnel ans Bett. Nach einer Weile schlug sie die Augen auf und er sah, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand.

„Keine Angst, du bist in meiner Hütte.“

Der beruhigende Tonfall seiner Stimme konnte ihre Furcht nicht gänzlich vertreiben. Gunnel setzte sich auf und sah ihn mit unverhohlener Neugierde an.

„Wer bist du, Vagar?

Ihr die Wahrheit zu sagen, kam nicht infrage. Er lächelte, während er antwortete.

„Bis ich zu dieser kleinen Insel kam, war ich ein umherziehender Magier. Hier hat es mir so gut gefallen, dass ich sesshaft geworden bin. Viel mehr gibt es nicht zu sagen.“

„Das zu glauben fällt mir schwer. Ich habe Leute von Magiern berichten hören und alle waren sich darin einig, dass Magier keine gewöhnlichen Menschen sind. Doch du bist wie wir. Ich kenne dich schon von Kindesbeinen an. Olav hat mir erzählt, wie du ihm das Kämpfen beigebracht hast. Für ihn warst du der Held seiner Kindheit. Doch Magie ist etwas anderes.“

„Magie ist vielfältig. Auch wenn ich mich so kleide wie ihr und mich auch so verhalte, bin ich keiner von euch. Auf dem Berg habe ich die Zeit verlangsamt, um den Attentäter zu fassen. Du hast doch mit eigenen Augen gesehen, wie schnell ich plötzlich laufen konnte. Dabei habe ich mich nicht schneller als jetzt bewegt, nur für dich und den Attentäter blieb die Zeit beinahe stehen.“

„Oh. Davon habe ich noch nie gehört.“

„Gewöhnlich breiten alle Magier den Mantel des Schweigens über ihre Fähigkeiten aus. Ich habe bisher nur mit einem Menschen darüber gesprochen. Nachdem ich einige Jahre hier gelebt habe und wegen meines geschickten Umgangs mit Waffen jeglicher Art zum Waffenmeister ernannt wurde, erklärte ich mich dem alten Jarl.“

„Der Jarl wusste Bescheid?“

„Sicher. Wegen meines Könnens musste ich für ihn im Laufe der Jahre etliche Geheimaufträge erledigen.“

„Das kann ich mir gut vorstellen und jetzt bin die einzige, die weiß, dass du ein Magier bist?“

„Ja, der Jarl ist tot und du musst mir versprechen, unser Geheimnis zu bewahren.“

„Ich verspreche es.“

Damit schien das Thema für Gunnel erledigt zu sein, denn sie stellte keine weiteren Fragen. Vagar war erstaunt, mit welcher Gelassenheit die Frau die Neuigkeiten aufgenommen hatte. Er zeigte Gunnel das auf die Schnelle eingerichtete Zimmer und freute sich über ihren Gesichtsausdruck.

„Ein eigenes Zimmer hatte ich noch nie.“

Nachdem Gunnel die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging Vagar nach draußen. Er sah zum Nachthimmel hinauf und erfreute sich zum wiederholten Male an dem leuchtenden Sternenband, das den Himmel umspannte.

Der Jarl war tot. Vagar hatte ihn nicht zu retten vermocht, wie es ihm schon einmal gelungen war. Trotz der funkelnden Sterne war der Wald ins Dunkel getaucht und bildete eine Projektionsfläche für Vagars Erinnerungen.

 

Telor und Pni hatten sich die kleine Gemeinschaft ausgesucht, die abgelegen vom großen Weltgeschehen auf einer Insel im Norden des Planeten beheimatet war, um ihre Studien über vernunftbegabte biologische Wesen zu beginnen. Vagar, der in Menschengestalt den Kontakt zu den Inselbewohnern herstellen sollte, gefiel deren Abgeschiedenheit gut. Obwohl ihn die beiden Wissenschaftler von dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen hatten, begrüßte er ihre Entscheidung.

Vagar konnte Pni und Telor davon überzeugen, ihn auf gut Glück loszuschicken, den Kontakt zu den Einheimischen herzustellen, da ihm beide diesbezüglich keine überzeugenden Vorschläge unterbreitet hatten. Es geschah selten, dass er sich mit seiner Auffassung durchsetzen konnte.

Vagar landete mit einem kleinen Boot an und bewegte sich leise durch den Inselwald. Noch bevor er die Siedlung erreicht hatte, bemerkte er eine Gruppe Einheimischer, die versuchte, ihn einzukreisen. Er änderte daraufhin seine Richtung, ohne dass es ihm gelang, aus der Umzingelung auszubrechen. Vagar tat überrascht, als ein Mann aus dem dichten Wald hervortrat und einen Speer auf ihn richtete.

„Hier ist dein Weg zu Ende.“

„Gut, dann kehre ich um“, antwortete Vagar friedfertig. Er wandte sich um und sah erneut eine Speerspitze auf seine Brust zielen. Jetzt traten auch die anderen aus ihrer Deckung hervor. Er wurde von acht Männern umzingelt, die alle mit einem Speer bewaffnet waren.

„Du folgst uns oder du stirbst.“

Der Mann, der sich als erster gezeigt hatte, gebrauchte nur wenige Worte, um sich verständlich zu machen und schien der Anführer der Gruppe zu sein. Vagar hätte eine friedliche Begegnung vorgezogen, doch immerhin hatte er den Kontakt hergestellt. Bevor die Männer mit ihm Richtung Dorf aufbrachen, wurde er nach Waffen durchsucht. Obwohl er sein Messer gut versteckt hatte, fanden sie es. Das war sein Glück. Hätte er keine Waffe bei sich getragen, wäre er vermutlich auf der Stelle getötet worden. Das entnahm Vagar dem Geraune der Männer. Wer hier ohne Waffe aufgefunden wurde, machte sich eines schweren Verbrechens verdächtig.

Rechts und links von vier Männern flankiert, ging Vagar dem Dorf entgegen. Er wurde dem Jarl vorgeführt. Hinter einem dunklen Vollbart erkannte Vagar ein junges Gesicht, aus dem ihn wache Augen betrachteten. Der Jarl war wie seine Männer gekleidet, doch unterschied er sich von ihnen durch den Respekt, der ihm bekundet wurde.

„Den haben wir beim Spionieren erwischt“, rief der Anführer. Vagar, der nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, widersprach entschieden. Seine Verteidigungsrede wurde durch einen Schwerthieb vor die Brust beendet. Obwohl er nur mit der Breitseite ausgeführt wurde, deutete er auf raue Sitten hin.

„Du redest nur, wenn du gefragt wirst.“

Vagar verzog keine Mine und nickte.

„Er trug außer diesem Messer keine anderen Waffen bei sich“, sagte der Anführer und hielt das Messer hoch, „Ich habe mich gefragt, warum ein Mann nur ein kleines Messer bei sich trägt und bin zu dem Schluss gekommen, dass er bei seinem Vorhaben flink sein wollte. So flink wie ein Spion.“

Zustimmendes Gemurmel folgte den Worten. Der Jarl hob die Hand und forderte Vagar auf, seinen Standpunkt darzulegen.

„Mein Name ist Vagar. Ich bin vom Festland herüber gekommen und habe mich hier umgesehen. Meine Waffen liegen versteckt in meinem Boot. Ich ahnte nicht, dass die Insel bewohnt ist und bin mir keiner Schuld bewusst.“

„Das ist wenig glaubhaft“, sagte der Jarl.

„Das mag sein, aber es ist die Wahrheit.“

„Nun gut, da wir keine Beweise für deine Schuld vorlegen können und wir deine Unschuldsbeteuerungen nicht glauben, steht Wort gegen Wort. So soll getreu dem Brauch ein Zweikampf die Wahrheit ans Licht bringen. Morgen bei Tagesanbruch wirst du gegen unseren besten Kämpfer antreten“, sagte der Jarl und gab seinen Männern die Weisung, den Eindringling solange einzusperren.

Vagar blickte erstaunt in die Runde. Von seinen Erschaffern war er ermüdende Diskussionen gewohnt, weshalb er mit einer zähen Verhandlung gerechnet hatte. Doch seine Anhörung verlief erfreulich schnell und Vagar begab sich ohne Widerspruch ins Gefängnis.

Er war neugierig, wie der kommende Zweikampf ausgetragen werden würde. Er kannte all die Kampfszenen, die unbemerkt von Aufklärungsdrohnen aufgenommen worden waren, hatte sie studiert und die Handhabung der hier üblichen Waffen erlernt. Er fühlte eine gespannte Erwartung, wie er sie bisher noch nie erlebt hatte und sehnte den nächsten Tag herbei. Morgen musste er sich in seinem ersten richtigen Kampf bewähren. Von dem Ausgang hing ihre weitere Forschung ab. Er stellte sich schlafend, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und spielte die Auseinandersetzung mit seinem Widersacher hundertfach in Gedanken durch.

Gegen Morgengrauen kündeten seine Sensoren das Nahen von Fremden an. Vagar war noch nicht mit allen Gepflogenheiten der neuen Welt vertraut, doch wusste er, dass Besuche nicht zu nachtschlafender Zeit stattfanden und die Gäste sich nicht durch den Wald anschlichen. Der Charakter des Besuches offenbarte sich kurz darauf, als Vagar die ersten Schreie vernahm und gleich danach den spröden Klang des Horns. An die Zellenwand gelehnt, verfolgte er den Angriff auf das Dorf.

Plötzlich erkannte Vagar seine Chance. Der Überfall gab ihm die Möglichkeit, den Inselbewohnern zu zeigen, dass er nicht ihr Feind war. Vagar warf sich mehrmals gegen die Tür, die schließlich krachend nachgab. Er sah sich um, griff sich ein altes Ruder, das an einer Hauswand lehnte und stürmte dem Kampfgeschehen entgegen, wo es am wildesten tobte.

Das Ruder zersplitterte beim ersten Schlag und Vagar hielt nur noch ein kurzes Stück in der Hand, mit dem er einen Hieb abwehrte, bevor er sich Streitaxt und Schild des gerade erschlagenen Gegners aneignete.

Äxte zischten durch die Luft, Metall klirrte auf Metall, doch Vagar wich jedem einzelnen Schlag aus. In einem Ballett, bei dem der Tod Regie führte, hatte er als Einziger den Part der Unsterblichkeit inne.

Im dichten Getümmel konnte Vagar seine Axt nicht effektiv einsetzen. Daher fasste er sie mit beiden Händen und drehte sich mit hoher Geschwindigkeit um die eigene Achse. Nach mehreren Drehungen stand er, blutende und schreiende Männer zu seinen Füßen aufgeschichtet, aufrecht in einsamer Runde. Diese Aktion, in der er seine übermenschlichen Fähigkeiten eingesetzt hatte, wurde von einigen Angreifern ungläubig bestaunt. Noch ehe sie sich darüber klar werden konnten, was sie gerade beobachtet hatten, lagen sie neben ihren Gefährten tot am Boden. Nach dieser Gewalttat kämpfte Vagar wieder wie ein gewöhnlicher Mensch und nutzte die Bewegungsfreiheit, um mit der Axt erbarmungslos auf den Gegner einzuschlagen und sich mit dem Schild gegen dessen Hiebe zu verteidigen.

Vagar suchte in dem Getümmel nach dem Jarl. Er entdeckte ihn und seine Mannen von Feinden umzingelt in einer aussichtslosen Lage. Obwohl alle tapfer kämpften, waren sie der Übermacht der Angreifer nicht gewachsen. Mit Hieben, die Bäume fällen konnten, trieb Vagar einen Keil in die Reihen der Gegner und bahnte sich eine Schneise zum Jarl.

Mit einem Axthieb schlug er die Hand des Angreifers ab, die den Todesstoß gegen den Jarl führte. Das Schwert flog mit der den Griff umklammernden Hand wie ein silbern funkelnder Rotor der aufgehenden Sonne entgegen. Es schlug in einen Fichtenstamm und durch den plötzlichen Ruck befreit, flog die Hand ins Leere greifend weiter.

„Geht hinter mir in Deckung.“

Vagar überbrüllte das Kampfgetöse. Er stand dem Feind direkt gegenüber, der in diesem Moment erkannte, dass ihm der schnelle Sieg genommen wurde. Vagar griff an und die Gegner wichen vor ihm zurück, als wollten sie ihn vom Jarl weglocken. Vagar blieb besonnen und sorgte mit seinen Attacken dafür, dass die erschöpften Männer um den Jarl wieder zu Atem kamen.

Freund und Feind erkannten in der zunehmenden Helligkeit, wie es um den Kampf stand.

---ENDE DER LESEPROBE---