De Gier im Zwielicht - Janwillem van de Wetering - E-Book

De Gier im Zwielicht E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

De Gier will allein sein, Jazz hören und einen Joint rauchen. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt taucht seine Freundin auf und geht ihm auf die Nerven. Am nächsten Morgen erscheinen zwei abgerissene Typen und verlangen Geld dafür, eine weibliche Leiche verschwinden zu lassen. In de Giers Kopf ist nur Nebel. Hat er wirklich seine Freundin umgebracht? «Ein echter Wetering-Krimi: gescheit, spannend.» (Schweizer Woche). «Extravaganter Nervenkitzel.» (Süddeutsche Zeitung) «Einer der Meister des Kriminalromans.» (The Los Angeles Times)

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Janwillem van de Wetering

De Gier im Zwielicht

Roman

Aus dem Englischen von Jürgen Martin

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

MottoEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzig
[zur Inhaltsübersicht]

Was immer wir uns einfallen lassen, unsere Lösungen sind nicht von Dauer: Alle taugen sie nur für das eine Gefecht, nicht für den immerwährenden Krieg zwischen Gut und Böse.

(Isaac Bashevis Singer, Der Büßer)

… doch fällt es den Menschen nicht einfach zu … aber es bringt sie einander näher … (aus einem Interview mit Abram de Swaan, holländischer Autor und Soziologe)

[zur Inhaltsübersicht]

Eins

«De Gier hat sein Mädchen umgebracht», sagte Grijpstra, während er die Hand auf die Sprechmuschel legte. «Der Idiot hat sie irgendeinen Abhang hinuntergestoßen. War wohl besoffen oder bis über beide Ohren vollgekifft.» Es war ein sehr friedliches Bild, Grijpstra mit dem Rücken zum Fenster des schmalen, hohen Giebelhauses aus dem siebzehnten Jahrhundert – Nellies Haus – an der Rechteboomgracht in der Altstadt von Amsterdam. Hinter ihm wiegten sich Ulmenzweige hin und her, trostspendend ausgebreitete Arme eines heiligen Mannes in weiten Ärmeln aus dem dichten Gewebe zahlloser saftiger grüner Blätter. Eine Möwe strich dicht am Haus vorbei, füllte bei ihrem geräuschlosen Flug für einen Augenblick das ganze Fenster aus. Auf dem breiten Sims blühten Geranienstöcke.

«Aber doch nicht im Ernst, oder?», fragte Nellie. Sie saß vor dem Fernseher, wie fast jeden Abend. Und was sie am Abend sah, das gehörte nicht der Wirklichkeit an, was immer die Nachrichtensprecher an blutrünstigen Einzelheiten auch präsentierten. Grinsten Dämonen in Gestalt von Krankheit, Hunger, Verbrechen und Krieg noch so dreist vom Bildschirm – am Abend war alles Übel der Welt nichts weiter als Teil eines Traums.

«Aber doch nicht im Ernst, oder?», fragte Grijpstra quer über den Atlantik hinweg.

«Aber ja doch, im Ernst», sagte de Gier nervös. De Gier stand im Freien, auf der Straße und in Amerika. Schützend hielt er sich die Hand über die Augen vor dem wolkenlosen Himmel über der aufgewühlten See. Grelles Licht warf auch die unruhige Wasserfläche zurück, man durfte nicht vergessen, dass durch die unermüdliche Drehung der Erde der Tag hier an der amerikanischen Ostküste noch sechs Stunden jünger war als in Westeuropa auf dem entsprechenden Breitengrad. De Gier telefonierte vom Kai eines Fischernests, Jameson hieß es, in Maine. Das ziemlich ramponierte Münztelefon, Herzstück einer bizarren Wanddekoration aus gekritzelten und eingeritzten Telefonnummern, war an ein verwittertes Brett an der Außenwand von Jamesons einzigem Restaurant montiert. Das ziemlich heruntergekommene Holzhaus, das Beth’s Restaurant beherbergte, hatte sich trotz allem eine gewisse Eleganz bewahrt. Ringsherum zog sich eine Galerie, schlanke und mit Schnitzerei verzierte Pfosten stützten das von Moos und Flechten überwachsene Schindeldach. Silbergrau war nun die vorherrschende Farbe, nur vom Tragewerk blätterte hellblauer Lack. Die überladene Schnitzerei war verrottet, nicht anders als die Eckpfosten, denen ihr längst verflossener Schöpfer die Form griechischer Säulen gegeben hatte: Zeugen vergangener Größe aus der Zeit, als Jameson noch ein richtiger Hafen gewesen war und richtige Werften Klipper für den Handel mit China bauten. Damals war die Stadt Mittelpunkt eines weltweiten Handels mit Bauholz gewesen, und auf den Inseln draußen schnitt man Granitblöcke aus den Felsen, um daraus die großen Städte Amerikas zu bauen. Jetzt gab es nur noch den Hummerfang, als Zugabe die Krabben (die ohnehin in die Hummerfallen gingen) und so etwas wie einen Hauch von Tourismus, eher wohl zufällig in den meisten Fällen, denn Jameson liegt weitab der üblichen Routen. In ihren Campingbussen und Wohnwagen, die sie hinter Holzzäunen versteckt haben, trifft man einige ältere Herrschaften, Ruheständler, aber das sind Zugvögel, die sich davonmachen, bevor noch die Farben des Herbstes richtig verblasst sind. Dann sind da noch Sonderlinge, Leute «von draußen», wie es hier heißt, wie etwa Rinus de Gier, vormals Brigadier der Amsterdamer Kriminalpolizei, der seit seinem Ausscheiden aus dem Dienst zwei Jahre zuvor weder über einen festen Wohnsitz noch, dem Anschein nach, über ein geregeltes Einkommen verfügt.

«De Gier, der spielt Cowboy und Indianer, aber ganz für sich allein», sagen die Beamten der Amsterdamer Mordkommission, wenn in der Kantine das Gespräch einmal zufällig auf ihren alten Kollegen kommt. Ist es einer von der nachdenklichen Sorte, dann spricht er vielleicht von einer – natürlich – verspäteten Midlifecrisis. Denn ein Junggeselle wie de Gier, wird sich der scharfsichtige Menschenkenner an die Runde wenden, scheue doch die Verantwortung für Weib und Kind und brauche deshalb länger, um wirklich erwachsen zu werden. Kein Wunder, dass auch die Krise in der Mitte des Lebens bei so einem später stattfinde. De Gier war schon fast fünfzig gewesen, als er den Polizeiberuf an den Nagel hängte.

«Du kommst also?», fragte de Gier von der anderen Seite des Atlantiks. «Du wirst deinen alten Kumpel nicht im Stich lassen? Bitte, ja?»

«Hat Lorraine umgebracht», sagte Grijpstra, die Hand am Hörer. «Du erinnerst dich? Er hat diese Lorraine in seinem Brief an den Commissaris erwähnt. Katrien hat es dir vorgelesen. Lorraine, dieses Naturkind von der Insel nebenan?»

Nellie blendete den Ton des Fernsehers aus. Auf dem Bildschirm küsste sich ein Paar, und Nellie konnte es nicht leiden, beim Küssen zuhören zu müssen.

«Ich dachte, sie wären glücklich?» Wenn es nach Nellie ging, dann musste die Liebe ewig dauern, nicht nur in ihrem Fall, sondern auch bei allen Leuten, die sie kannte. Sie war jetzt mit Henk zusammen, früher Adjutant bei der Kriminalpolizei und Rinus de Giers unmittelbarer Vorgesetzter – mit ihrem Henkieluvvie, der sein eigenes Detektivbüro aufgemacht hatte, hier in Nellies Haus, das einmal ein Hotel gewesen war. Nun war es geschlossen, nachdem es ihr endlich gelungen war, ihren unentschlossenen Liebsten – Henkieluvvie konnte sehr dickköpfig sein – zum Auszug aus seiner Wohnung hoch über der Looiersgracht zu bewegen. Henk hatte es schwer gehabt in der Looiersgracht, mit seiner Frau; später, ohne sie, war er dort glücklich gewesen. Das machte ihn einer Veränderung abgeneigt. Aber Nellie schaffte es schließlich, als sie sagte, er brauche ihr keine Miete zu zahlen. Er könne, wenn er wolle, von den Einnahmen ihres Hotels leben. Aber dann begann die Detektei zu florieren, und Nellie machte das Hotel zu. Immer besser hatten sich die Dinge inzwischen entwickelt.

«Umgebracht? Rinus hat …?»

Im Fernsehen wurde jetzt ein Werbespot eingeblendet. Nellie ließ das schöne Schauspielervolk verschwinden, als es gerade mit einem Kleinwagen eine Nashornherde durch die Savanne scheuchte. Es war also ernst. Rinus würde mit dem Tod dieser Frau nicht scherzen. Das war Nellie klar; es war ihr auch klar, dass Rinus in großen Schwierigkeiten steckte und ihren Henkieluvvie um Hilfe bat.

«Hast du etwa vor zu verreisen?»

«Hab ich etwa vor zu verreisen?», sprach Grijpstra in den Hörer.

De Gier auf der anderen Seite des Ozeans betrachtete die Vierteldollarmünzen in seiner Hand, dreimal so groß wie holländische Viertelgulden. Er schob ein paar davon in den Telefonschlitz. Ihre Größe ließ ihn an die Größe seines Problems denken. «Henk? Es ist alles auf den Kopf gestellt, ich bin der Verdächtige! Ich weiß nicht einmal mehr, was passiert ist. Diese Frau von nebenan, von der Nachbarinsel, Lorraine … Hat sie mich geärgert? Habe ich sie gestoßen? Flash und Bad George sagen, ich hätte. Sie muss gestürzt sein, hier auf meiner Insel, ist auf die Felsen aufgeschlagen, schwer, sie hat geblutet. Es ist ein bisschen Blut an der Stelle. Ich war gerade mit einer Sache beschäftigt, ich hatte etwas geplant, eine Art Zeremonie. Ich weiß noch, dass sie hier auftauchte und dass mich das störte.»

«Du erinnerst dich nicht, ihr etwas getan zu haben?»

«Ich war betrunken», sagte de Gier, «wie ich schon sagte, und hatte etwas Stoff genommen. Ich wollte eine Mixtur ausprobieren. Ich wollte mir eine Platte anhören, eine CD, Jazz, Miles Davis, hatte sie eben mit der Post bekommen. Es war wirklich eine Zeremonie, verstehst du, alles war geplant.»

«Aha», sagte Grijpstra.

«Lorraine hat das alles durcheinandergebracht, Henk.»

«Und da hast du sie von der Klippe geschmissen und sie unten verbluten lassen? JEsus! RINUS!!»

«‹JEsus RINUS!› trifft es genau», sagte de Gier. «Dann kommst du also rüber, alter Kumpel? Niemand weiß es bisher, außer Flash und Bad George. Es ist gestern Abend passiert. Flash und Bad George haben Lorraines Leiche weggeschafft und mir eine Rechnung präsentiert. Wir haben ein Problem, wir werden damit fertig werden. Okay? Okay.»

«Erpressung?», fragte Grijpstra. Sehr nobel sah er aus in seinem maßgeschneiderten Anzug, blaugrau, mit Nadelstreifen, Weste. Eben war er zurückgekommen, hatte selbst eine Rechnung präsentiert. Auch da war es um Erpressung gegangen, aber er war der Gute gewesen, und die Bösen waren unschädlich gemacht. Auch seine Rechnung war recht stattlich gewesen, allerdings nicht so hoch wie die Summe, die erpresst werden sollte. Schließlich musste man einen Grund haben, sich einzumischen.

Einen solchen Grund sah er jetzt nicht. Wenn er nun ganz vorsichtig den Hörer auflegte, sich die Weste aufknöpfte, die Krawatte lockerte und mit hochgelegten Beinen gemütlich ein Glas trank? Wieder ein angenehmer Tag, zum Teufel mit dir, Rinus, zum Teufel mit diesem weinerlichen Stimmchen, das über den Ozean herüberdrang. Solange das Kaminfeuer heimelig brannte …

«Henk? Bist du noch da?», jammerte das Stimmchen.

«Absolut», sagte Grijpstra. «Erzähl mir von Flash und Bad George, die Zeugen waren, wie du Lorraine runtergestoßen hast.» «Das waren sie nicht», sagte de Gier.

«Woher wissen sie dann, dass du es getan hast?»

«Das Opfer hat es ihnen gesagt.»

«Dann beschreib mir mal deine Ankläger.»

«Flash, das ist Flash Fartworth, und Bad George hat keinen anderen Namen. Sie haben ein Boot, die Kathy III, ein Schrottkahn, mit dem sie von Jameson aus die Inseln anlaufen, Besorgungen machen und so. Ich habe ja bloß ein Dingi, ich rufe sie über Funk, wenn irgendetwas Größeres zu transportieren ist. Wenn ich sie nicht rufe, kommen sie trotzdem, sie sind hilfsbereit, wie gutmütige Zwerge. Gewöhnlich kommen sie einmal am Tag, gestern Abend hatten sie sich verspätet.»

«Dann ist es gestern Abend passiert?», fragte Grijpstra.

«Sicher, alter Junge.»

«Und Flash ist auch nicht besser als Bad George?»

«Sie sind nicht schlecht», sagte de Gier, «sie sind eher einfältig. Du müsstest sie sehen, Flash mit seinem völlig verfilzten Haarschopf, wie ein Vogelnest sieht es aus. Und Bad George hatte einen Unfall, und irgendein Pfuscher hat sein Gesicht zusammengenäht, dass es unbeweglich wie eine Maske ist. Sie leben auf ihrem Kahn, zusammen mit ihrem Hund, Kathy II. Sie waren heute Morgen wieder da, nachdem sie die Leiche weggeschafft hatten, um sich das Geld zu holen.»

«Sag bloß nicht, du hast bezahlt.»

«Ich sagte, dass ich gerade knapp bei Kasse wäre», sagte de Gier, «aber dass du kommen und mir aushelfen würdest.»

«Du hast mehrere Möglichkeiten», sagte Grijpstra.

«Bezahlen?», sagte de Gier. «Oder Flash und Bad George ebenfalls von der Klippe stoßen? Ins Gefängnis gehen? Das Gefängnis hier, Henk, damit ist nicht zu spaßen. Da sitzt man den ganzen Tag vor einem toten Fernseher, bis um halb sieben der Wärter kommt, um auf den Knopf zu drücken.»

«Du könntest abhauen», sagte Grijpstra, «verduften.» Er ließ die flache Hand durch die Luft streichen, bis sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war. «Einfach verduften, ganz einfach.»

«Nee», sagte de Gier, «das ist es nicht. Ich muss wissen, was passiert ist.»

«Hau ab», sagte Grijpstra.

«Es wird mir auf den Fersen bleiben», sagte de Gier. «Hör zu. Ich bin hier in Jameson, Woodcock County, Bundesstaat Maine, das wirst du nicht verfehlen. Flieg über Boston. Nimm die El Al, ich hab eben angerufen, sie haben einen Flug von Schiphol um zwei heute Nacht nach eurer Zeit. Von Boston gibt es eine Anschlussmaschine nach Portland, dort mietest du einen Wagen, es sind nur ein paar Stunden zu fahren.»

«Hol mich ab.»

«Geht nicht», sagte de Gier. «Es ist einfach zu viel los hier. Man beobachtet mich. Der Sheriff könnte mich zur Fahndung ausschreiben.»

«Ich schlafe ein beim Fahren», sagte Grijpstra.

«Immer noch das alte Problem?»

«Es wird schlimmer», sagte Grijpstra. «Aber ich weiß jetzt, woran es liegt. Es sind die Polypen in den Nebenhöhlen. Ich muss deshalb schnarchen, das weckt mich in der Nacht ständig wieder auf. Ich brauche ab und zu ein Nickerchen zum Ausgleich. Wenn wir länger unterwegs sind als eine halbe Stunde, dann muss Nellie den Bronco fahren.»

«Lass dich operieren.»

«Sicher», sagte Grijpstra. «Es gibt eine Warteliste, zwei Monate werden es schon sein. Du gibst mir dann Bescheid, wie es dir ergangen ist? Ich bin direkt froh, dass du das gesagt hast. Also dann, mach’s gut!»

«HENK!»

«Ja.»

«Nimm den Bus von Portland nach Jameson. Es gibt einen Greyhound, aber nicht die ganze Strecke. Später ist es dann eine private Buslinie, der Fahrer kann dir das erklären.»

«Ich werde unterwegs verlorengehen», sagte Grijpstra. «Ich bin im Reisen nicht sehr geübt, Rinus. Du bist der geborene Globetrotter, nicht ich.»

«Frag den Commissaris», sagte de Gier. «Er und ich, wir waren doch einmal zusammen hier. Weißt du noch? Als wir seine Schwester nach Hause holten? Vor fünfzehn Jahren? … HALLO?»

«Ich bin jetzt allein auf mich gestellt», sagte Grijpstra.

«Tut mir leid.»

«Du solltest nicht einfach nette Frauen über Klippen schubsen», sagte Grijpstra.

«Squid Island», sagte de Gier, der sich jetzt beeilen musste, weil sein Münzvorrat zur Neige ging. «Mit dem Rücken zu Beth’s Restaurant ist das die zweite Insel, von der Halbinsel zu deiner Linken an gerechnet. Die Insel mit dem Haus auf einem hohen Sockel, viel Glas, ein doppeltes Dach, geschwungen und zu einer Spitze auslaufend, wie bei einer Pagode. Du kannst es nicht verfehlen. Von der Landzunge ist es in Ruderweite. Frag Beth, ihr gehört das Restaurant, wir sind befreundet, oder Aki, sie werden die Kathy III über CB-Funk rufen. Flash und Bad George werden dich abholen. Mach einen Bogen um den Sheriff, Hairy Harry.»

«Wie?»

«Ein Witz», sagte de Gier. «Hairy Harry hat noch nie Haare gehabt.» Durch das Fenster, nicht weit vom Telefon, konnte de Gier den Sheriff drinnen in der Gaststube sehen. Hairy Harry war ein pausbäckiger Riese mit einem völlig kahlen, spitzen Schädel, der ihn wie eine Figur aus einem primitiven Comic aussehen ließ. Hinter dem Wulst der dicken Wangen lauerten gelbgrüne Katzenaugen, immer wach, niemals freundlich. Der Sheriff war dabei, einen Hamburger mit allem Drum und Dran auf einmal in sich hineinzustopfen. Er trug ein kariertes Flanellhemd, ziemlich ausgewaschen, und Jeans, über deren halboffenem Reißverschluss sich der Bierbauch hervorwölbte. Seine wadenhohen schwarzen Gummistiefel waren mit gelben Flicken in allen Größen ausgebessert. An einem rissigen Gürtel hing ein schmuddeliges Holster, und darin steckte ein langläufiger Magnum-Revolver. Der Sheriff hob eine Hand, um de Gier zuzuwinken, dann senkte er sie wieder, um sich den nächsten Hamburger zu schnappen. Er senkte sie noch einmal, um einen Schuss Honig in den Kaffee zu geben. Den Honig quetschte man aus einer flexiblen, transparenten Plastikflasche in Form eines Bären. Hairy Harry genoss es, den Bären in seiner Hand zu zerquetschen. Die Füße des Bären, die aus der gewaltigen rosaroten Faust ragten, sahen geradezu winzig aus.

«Keine Leiche, kein Mord», sagte Grijpstra. «Hat irgendjemand gesehen, wie du deine Lady runtergestoßen hast?»

De Giers letzte Münzen schepperten im Telefonkasten. «Nein.»

«Auch nicht Flash und Bad George?»

«Sie kamen erst später.»

«Wo ist die Leiche jetzt?»

«Sie haben sie mitgenommen. Hör zu», sagte de Gier, «das ist wirklich ein verdammter Mist. Stell dir doch mal die Situation vor: Ich probier diese Mixtur aus Whisky, Gras und Miles Davis, um high zu werden. Endlich habe ich es geschafft, da kommt Lorraine. Sie möchte beachtet werden, möchte knutschen. Ich sage: ‹Vielleicht ein andermal.› Sie gibt nicht auf. Ich stoße sie beiseite, da muss sie vom Felsen gestürzt sein. Ich gehe ins Haus. Die Kathy III taucht auf, mit Kathy II auf der Brücke, die wie verrückt bellt. Ich sehe das Schiff und höre den Hund, aber ich reagiere nicht. Flash und Bad George gehen an Land und finden die blutende Lorraine. Lorraine sagt, ich wäre auf sie losgegangen, hätte sie gestoßen und so weiter und so fort. Flash kommt ins Haus, aber ich bin schon nicht mehr bei Verstand. Flash nimmt eine Decke aus dem Haus, zusammen mit Bad George wickelt er Lorraine in die Decke, sie tragen sie ins Boot. Sie wollen sie nach Jameson bringen, zum Arzt, aber auf halbem Weg stirbt sie. Die Kathy III kehrt um, und die beiden zeigen mir Lorraines Leiche. Was nun? Ich bin noch immer nicht ganz bei Verstand. Flash schlägt vor, dass sie die Leiche irgendwo verschwinden lassen könnten. Ich sage: ‹Einverstanden.›»

«Kathy II ist ein Hund?»

«Ein kleines Wollknäuel, eine Hündin. Sie mag mich, sie mochte auch Lorraine. Vielleicht hat sie so gebellt, weil Lorraine in Schwierigkeiten war. Flash sagte, sie hätten Squid Island gar nicht angesteuert, wenn Kathy II nicht so getobt hätte. Sobald sie näher kamen, sprang das Tier über Bord und lief zu Lorraine.»

«Und wer ist Kathy I?»

«Die Mutter von Flash Fartworth. Es war schwierig mit ihr, so prophezeite er, dass sie als Hund wieder geboren würde. Jetzt liebt er sie.»

«Er behandelt das Tier gut?»

«Kathy II ist sein Ein und Alles.»

«Dann ist Flash gar kein so übler Kerl?»

«Nein», sagte de Gier. «Aber er denkt, dass ich im Geld schwimme, und er hat so ein kleines Notizbuch in der Brusttasche seines Overalls und einen Bleistiftstummel, und er liebt es, Rechnungen zu schreiben. Er hat mich ganz schön ausgenommen für die Besorgungen, die ich ihn machen ließ. Aber er ist arm, und die Kathy III ist nicht gerade billig im Unterhalt. Es wäre ganz schön hart, wenn man hier ohne die Dienste der hilfreichen Zwerge auskommen müsste. Außerdem habe ich das Geld, nicht?»

«Was hat Flash verlangt, um die Leiche verschwinden zu lassen?»

«Zehntausend Dollar.»

«Das ist alles?»

«Okay», sagte de Gier, «aber bald wird dann die nächste Rechnung kommen, so ist das immer, Henk.»

Eine Tonbandstimme meldete sich und wollte noch mehr Vierteldollars haben.

«Ich hab keine Münzen mehr. Du kommst also, Henk? Okay? Okay.»

Grijpstras «Okay» ging in einem Klicken unter, dann summte es nur noch in der Leitung. Dass sie die Sache nicht ausgiebiger bereden konnten, spielte keine Rolle, denn er und de Gier waren Freunde. Zwanzig Jahre eines gemeinsamen Wegs, erklärte Grijpstra Nellie, das verband, schon der Dauer wegen. De Gier würde sich auf ihn verlassen. Außerdem gab es zwischen ihm und de Gier eine geistige Verwandtschaft, ein gemeinsames Ziel. Grijpstra sagte Nellie, dass so etwas schwer zu erklären sei.

Nellie half ihm beim Packen. Sie meinte, dass er sich die Erklärung sparen könne, dass sie Pfadfindergetue und Wichsträume kleiner Jungen nicht interessierten. Er brauche doch nur einen Grund, um sich für eine Weile davonmachen zu können, ja, es sei nichts als pure Abenteuerlust. Sie fand seine Pistole, eine Walther P5, die neue Polizeiwaffe ohne Sicherung; unmöglich, dass im Umkreis von zweihundert Metern etwas heil blieb, wenn man abdrückte. Aber Grijpstra legte sie wieder an ihren Platz zwischen den langen Unterhosen. Er brauchte weder das eine noch das andere. «Damit kommt man nicht durch die Kontrollen am Flughafen, Liebes.»

«Aber könnte es nicht gefährlich werden da drüben, Henkieluvvie?»

Nellies ausladender Busen, über den sich ein rosafarbener Pullover spannte, schwappte gegen Grijpstras mächtigen Brustkorb. Es war lange her, dass Nellie sich einmal bei der Wahl zur Miss Holland versucht hatte, aber die Ausmaße ihrer weiblichen Attribute hatten die Jury schlicht überwältigt. Nellie fiel durch, doch gab es trotz allem einen glücklichen Gewinner: den lieben Gerard, Student an der Universität und ihr Zuhälter. Nellie liebte Gerard damals nicht mehr, doch kam sie nicht von ihm los. Katrien, der Frau des Commissaris, hatte sie erst kürzlich bei einer gemeinsamen Teestunde gesagt, dass Gerard und de Gier sich ähnlich seien – äußerlich und auch in ihrem Wesen, dass man sie für Zwillinge halten könnte, so unwahrscheinlich das auch klang. Man brauchte sich diese beiden identischen oder immerhin sehr ähnlichen Männer nur einmal vorzustellen, von denen der eine inzwischen tot war, der andere in den Tag hineinlebte: Beide waren sie groß, muskulös, neigten zum Philosophieren, beide trugen Kavallerie-Schnauzbärte, beiden hassten sie Fernsehen, sogar wenn es Fußball zu sehen gab. Gerard las moderne französische Autoren, und er las sie laut, Nellie zuliebe, deren Eltern kein einziges Buch besaßen. Diese «Vorlesungen» deprimierten Nellie, französische Literaten waren einfach zu klug, und beides zusammen drohte sie schließlich um ihren Schlaf zu bringen. Auch de Gier mochte diese Art Literatur, er las sie seinen Katzen vor.

«Es gibt keine absoluten Werte, Oliver.»

«Man weiß nichts wirklich, Täbris.»

De Gier war ein phantastischer Judoka. Gerard liebte das Fechten. Beide tranken sie, doch ist Disziplin nicht so sehr Sache der Zuhälter, also trank Gerard mehr. Es hatte eine Schlägerei in einer Kneipe gegeben, und Gerard – betrunken – wurde von einem Kollegen erstochen. Nellie dankte dem Himmel, als man ihn zu Grabe trug. Aber da sie nicht nur eine gottesfürchtige, sondern auch eine praktische Witwe war, machte sie ein Hotel auf, sogar mit Champagner-Zimmerservice, um die Hypothek schneller abzahlen zu können.

«Wie haben Sie denn Adjudant Grijpstra kennengelernt, meine Liebe?», hatte Katrien gefragt.

Adjudant Grijpstra von der Kriminalpolizei hatte die Untersuchung um den gewaltsamen Tod Gerards geleitet.

«Und Sie hatten nichts damit zu tun?», hatte Katrien gefragt. Katrien war die Frau des Commissaris. Sie und Nellie saßen beim Tee in Nellies Haus.

«Ich hatte nichts damit zu tun.» Nellie lächelte. «Ich hatte nichts dagegen, aber es passierte ganz ohne mein Zutun.»

«Der Himmel hat es gefügt», sagte Katrien, die nicht glauben wollte, dass es so etwas gab, aber schließlich hatte sie diese Teeparty organisiert. Und dann gab es noch den Standesunterschied – Katrien gehörte zur feinen Gesellschaft, Nellie, die ehemalige Hure, zur unteren Mittelklasse: Katrien wollte nicht unhöflich sein.

Da Gerard tot war, konzentrierte man sich auf die Lebenden.

«Rinus ist auch nicht viel besser», sagte Nellie, «und er wäre wohl genauso schlimm geworden, wenn der Commissaris nicht auf ihn aufgepasst hätte.»

Katrien war sich da nicht so sicher. Und auch Gerard hätte ja seinen Commissaris finden können, wenn es auch anders gekommen war.

«Weil Gerard unbelehrbar war?», fragte Nellie. «Aber keineswegs. Er wollte immer dazulernen, aber auf seine Weise. Er war nicht so ein …»

«… bewundernswert», sagte Katrien. «Sicher. Aber mein Mann, Jan, hat nie versucht, de Gier zu beeinflussen.»

«Und wenn schon», sagte Nellie. «Nehmen wir nur einmal Grijpstra, meinen Henkieluvvie! Ständig ist die Rede von Ihrem Jan. ‹Der Commissaris hat dies gesagt, der Commissaris hat jenes gesagt.›»

«Ich weiß», sagte Katrien.

«Ein Mann muss wissen, was er will.»

«Männer wissen nie, was sie wollen», sagte Katrien.

Sie lachten.

Nellie wollte noch etwas Nettes sagen. «Und de Gier hat nie Frauen für sich arbeiten lassen.»

Katrien goss Tee nach. Sie sagte, dass sie es heute bedauerte, nie ihren Beruf ausgeübt zu haben, nun, da sie zu alt und der Commissaris pensioniert war. Sie hätte als Rechtsanwältin praktizieren können, aber stattdessen hatte sie Kinder aufgezogen.

«Das ist doch schön», sagte Nellie.

«Sie mögen Kinder?», fragte Katrien.

«Ich hatte immer nur die Kunden», sagte Nellie, «und jetzt Henkieluvvie, aber manchmal hätte ich schon gern ein richtiges Baby gehabt.»

«Wirklich komisch», sagte Katrien, «ich habe Babys auch immer sehr gemocht, aber heute sehen sie für mich alle aus wie dicke, fette Würmer.»

Sie lachten.

«Wie viele Würmer hatten Sie denn?», fragte Nellie.

«Zu viele», sagte Katrien. «Und hören Sie, wohin es geführt hat: dreihundertzweiundfünfzig Niederländer pro Quadratkilometer, und drei davon sind von mir – das sind drei zu viel.»

«Wie viele Niederländer pro Quadratkilometer sollte es Ihrer Meinung nach denn geben?», fragte Nellie.

«Vielleicht keinen?», hatte Katrien gesagt.

«Es beruht auf Gegenseitigkeit», erklärte Grijpstra Nellie. Er redete darüber, was für eine wundervolle Sache eine Männerfreundschaft sein konnte, und über absolutes Vertrauen, über Treue, über die verschworene Ritterschar. Er musste nur mit den Fingern schnipsen, das war alles – schon würde de Gier auf der Bildfläche erscheinen, mit einer feuerspeienden Uzi würde er aus dem Schrank gehüpft kommen. Sobald man ihn brauchte.

«Hilf ihm aber nicht umsonst», sagte Nellie, «dieser Typ hat die Taschen voll.» Sie boxte Grijpstra gegen die Brust. «Wie kommt es, dass er so viel Geld hat?»

«Eine Erbschaft vielleicht?», sagte Grijpstra. «Seine Mutter?»

«Bitte», sagte Nellie.

Grijpstra überragte Nellie wie ein Turm. «Zuerst starb seine Mutter, dann seine Schwester, der Krebs hat sie aufgefressen, also hat er das Haus der Mutter samt ihrer Ersparnisse und die Sammlung antiker Stickereien der Schwester bekommen, die er versteigern ließ. Dann belauschte er einige Anlagespezialisten im Fahrstuhl und landete einen Coup an der Börse. Hat eben Glück, der Rinus?»

«Sicher», sagte Nellie. Es hatte keinen Sinn, ihm in den Ohren zu liegen. Wie oft musste ein armer Schlucker seine Barschaft multiplizieren, um den Fahrpreis bis ans östliche Ende der Welt, nach Neuguinea, bezahlen zu können – wo immer dieses Neuguinea auch war –, um dort für fast zwei Jahre zu bleiben, dann einmal hier-, einmal dorthin zu fliegen, für ein Wochenende in Amsterdam aufzutauchen, nach Amerika hinüberzuhüpfen, Fotos zu schicken: de Gier im Sportwagen (Wo konnte man Sportwagen mieten?), de Gier auf dem Motorrad (Wo mietete man Motorräder?), de Gier im nagelneuen Safarianzug, immer irgendeine Schönheit an der Seite (auch Schönheiten sind recht kostspielig). Und wer hat je von einem Spieler gehört, der seinen Gewinn nicht wieder verspielte?

«De Gier hat in Neuguinea viel Geld gemacht», sagte Grijpstra. «Er hat für Metery, den Polizeichef in Port Moresby, gearbeitet. Diese diffizile Japaner-Sache, dieser Mord. Erinnerst du dich an die Telefaxbriefe?»

Nelly lächelte milde. Sie war eine Hure gewesen, und Huren sind schlau. Seit wann wurden Polizeibeamte, die in Dritte-Welt-Länder ausgeliehen werden, gut bezahlt?

«Du bist eifersüchtig», lachte Grijpstra und hätte fast einen Kinnhaken bekommen. Er konnte Nellies Linke gerade noch abwehren. «Pah!», giftete Nellie. Grijpstra tat es leid, er verfiel in die gewohnte Rolle des väterlichen Beschützers. Er rieb seine Wange an ihrem Kopf. Und Nellie war die zur Vergebung bereite Tochter. Dieses Spiel spielten sie sehr gut. «Henkieluvvie.»

«Liebes», sagte Grijpstra, der sich nun erinnerte, wie ähnlich Gerard und de Gier sich waren. Immer wieder vergaß er, dass Nellie de Gier nicht ausstehen konnte. «Tut mir leid, Liebes.»

Der El-Al-Angestellte am Telefon hatte ihm gesagt, er solle sich möglichst früh am Abfertigungsschalter einfinden. Nellie saß hinter dem Lenkrad von Grijpstras wuchtigem Bronco, als sie zum Amsterdamer Flughafen fuhren. Sie liebte es, die Kraft des starken Motors zu spüren und hoch über der Straße zu thronen. Und sie hasste es, zu tanken, wenn sie dann an der Tanksäule stand und zusehen musste, wie der Betrag zur astronomischen Summe anwuchs. «Dieses Auto macht uns arm.»

Grijpstras Argument war immer, dass so ein stattliches Auto immer noch billiger kam als ein Rollstuhl, dass man die gefährlichen Straßen und Gassen Amsterdams immer noch am besten in einem Panzerwagen bewältigte. Außerdem brauchte er das dicke Auto, um die Kundschaft zu beeindrucken, so, wie er auch Nellies Giebelhaus aufmöbelte, um die richtigen Leute anzuziehen.

«Was du an Geld ausgegeben hast!»

So viel war es wohl gar nicht, und entscheidend war doch, was man dafür bekommen hatte: sorgfältig ausgebesserte und frisch gestrichene Fensterbänke, Ziegelmauern ohne Lücken und mit frischer Lasur, neue kupferne Dachrinnen und Rohre, die das Regenwasser in die richtigen Bahnen leiteten; dann der Engel mit seiner Trompete oben am Giebel, der durch den Sandstrahler seine alte Pracht zurückerhalten hatte, die neuen eichenen Treppen, die Fußböden aus Hartholz, die weiß getünchten Wände, die Balken und Pfosten abgeschliffen und ebenfalls neu gestrichen, alles von den besten Handwerkern der Stadt.

«Und nichts umsonst.»

«Leben wir jetzt nicht in einem Palast?»

«Wir müssen eine Menge Schulden haben.»

«Und habe ich nicht das Kellergeschoss ganz allein hergerichtet?»

«Aber warum nur, Henkieluvvie? Ich dachte schon, du würdest einen Herzanfall kriegen, dieses Zementgießen, alles hast du allein in den Keller getragen. Warum hast du mich nicht helfen lassen?»

Es hatte ihm Spaß gemacht, den Keller ganz allein zu renovieren.

«Und nur, um diese alten Akten zu lagern. Diese schmutzigen alten Kartons.»

«Jeder Detektiv braucht ein Archiv.»

«Bist du sicher, dass unser Geld auch reicht, Henkieluvvie?»

Sicher. Er hatte Ersparnisse. Er verdiente inzwischen ganz ordentlich. Sicher, es gab keinen Grund zur Besorgnis. Er versuchte, in Kopfstimme die Melodie zu singen: Be happy, don’t worry.

Sie machte sich keine Sorgen, aber ging sein Geschäft wirklich so gut? Die Rechnungen, die er seinen Kunden schrieb, waren ganz ordentlich.

«Und deine Frau, die Kinder?»

Grijpstras Frau war Haushälterin im Landhaus ihrer reichen Schwester, irgendwo draußen. Die – missratenen – Kinder lebten von der Wohlfahrt. Wenn er ihnen Geld gab, dann würden sie auch das verpulvern.

«Und Rickie auf der Marineakademie?»

Nichts als Einsen. Ein Stipendium also. Für Rick war gesorgt.

Nellie seufzte. Das Ticket der El Al, das er, ohne lange zu überlegen, gekauft hatte, ging auf Kreditkarte und musste am Ende des Monats bezahlt werden; auch das war nicht billig. «Du wirst das Geld von Rinus zurückverlangen?»

Sicher.

«Du wirst mich jeden Tag anrufen?»

Kannst du wetten.

«Das wird aber teuer.»

Nicht zum Nachttarif.

«Am frühen Morgen?»

Sicher.

«Aber du schläfst doch immer am frühen Morgen.»

Ach, liebe Nellie, nun mach’s mal gut.

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Zwei

Es war der übliche Erster-Klasse-Flug mit allen Schikanen, aber es war harte Arbeit, erst einmal an Bord zu kommen. Mitternacht war vorüber, und die Abflughalle von Schiphol war leer bis auf die eindrucksvoll uniformierten Beamten der Militärpolizei und israelische Geheimdienstleute in Jeans und lässigen Jacken. Die junge Angestellte hinter dem Schalter fragte Grijpstra, warum er denn unbedingt El Al fliegen wolle. Sie sah ihn aufmerksam an.

Grijpstra sagte den Satz: «Ich bin kein Jude.»

Er dachte an Grijpstra senior, damals während des Kriegs, wie er bestürzt nach Hause kam: Deutsche Soldaten hatte er gesehen, wie sie auf dem Dam mitten in Amsterdam die jüdischen Mitbürger zusammentrieben. Auch der Vater musste seinen Ausweis vorzeigen. Da hatte er es gesagt. «Ich bin kein Jude.»

War es ein Fehler?

«Sie haben es gesagt», sagte das El-Al-Mädchen, «ich hatte Sie nicht gefragt.»

«Ich habe Ihre Gedanken gelesen», meinte Grijpstra. «Ich bin Privatdetektiv, Juffrouw, ich tue das bisweilen. Ich habe einen Freund in Amerika, der in Schwierigkeiten steckt. Ich will mich um ihn kümmern.»

Das Mädchen warf einen Blick auf den Computerbildschirm. «Darum haben Sie so kurzfristig gebucht?»

«Ja, Juffrouw.»

«Und was hat Ihr Freund für Probleme?»

«Psychologische Probleme.» Grijpstra grinste. «Die Großmutter meines Freundes ist Jüdin.»

Sie lächelte zurück. «Was haben Sie nur immer mit den Juden?»

«Es ist, weil Sie so besorgt sind», sagte Grijpstra. «Sie möchten nicht, dass Ihr Flugzeug in die Luft gesprengt wird, Sie möchten wissen, ob ich okay bin.»

«Und sind Sie okay?», fragte das Mädchen.

«O ja», sagte Grijpstra.

«Also, was hat Ihr Freund für Probleme?»

Grijpstra seufzte. «Geld, vielleicht?»

«Er hat kein Geld?»

«Er hat ganze Berge davon», sagte Grijpstra. «Er hat ausgesorgt. Das ist ganz schön hart, wenn man sich nicht mehr sorgen muss.» «Ist Ihr Freund religiös?»

«Nein», sagte Grijpstra.

«Manchmal hilft das.»

«Sind Sie religiös?», fragte Grijpstra.

«Nein», sagte das Mädchen, «aber mein Mann. Er sagt, er müsste sich dem Rätsel stellen, von Angesicht zu Angesicht. Tun Sie das auch?»

«Es macht mich wahnsinnig», sagte Grijpstra.

«Haben Sie auch einen Berg von Geld?»

«Einen ganz kleinen», sagte Grijpstra.

«Also haben Sie auch ausgesorgt?»

«So etwa», sagte Grijpstra, «aber das macht mich nicht wahnsinnig. Schönheit macht mich wahnsinnig. Ich versuche sie festzuhalten, indem ich Enten male, die mit den Füßen nach oben in den Grachten schwimmen. Oder ich versuche die Schönheit beim Schlagzeugspielen einzufangen.»

«Und haben Sie es geschafft?»

«Nein», sagte Grijpstra. Er sagte auch, dass er keine Waffen und keinen Sprengstoff bei sich hätte, dass er auch kein Paket von irgendeinem Fremden angenommen hätte. Sie kontrollierte sein Gepäck nicht.

«Sie glauben mir?», fragte Grijpstra.

«Ein wenig», sagte das Mädchen. Sie lächelte. Sie sah wie eine Ägypterin aus. Grijpstra glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, als Skulptur inmitten von Hieroglyphen in einem Museum. Langes schwarzes Haar hatte sie, olivfarbene Haut, sehr große Augen und weiche, volle Lippen. Er fragte sie. Sie sagte, dass ihre Familie aus Ägypten stammte.

Die Boeing rollte zur Startbahn, begleitet von zwei gepanzerten Wagen, auf denen Maschinengewehrtürmchen montiert waren. In der Kabine fing gerade der Film an, Robert Redford in Kuba. Grijpstra sah ihn sich an, während er aus dem Kopfhörer Musik aus dem anderen Kanal hörte: Bill Evans am Klavier, Eddy Gomez am Bass. Die rechte Hand des Klavierspielers setzte sich durch, fast wie ein Hornsolo, und der Bass – Grijpstra kam es vor, als wäre sein Steg etwas nach oben verrückt, sodass sich diese celloartigen Töne ergaben – antwortete auf die Fragen des Klaviers, so ein bisschen, um dann mit eigenen Fragen zu parieren, sodass die Harmonik immer reicher und komplizierter wurde. Robert Redfords tropische Landschaft war sowohl romantisch als auch schrecklich, je nachdem, ob die Kamera auf das schöne Publikum an den strahlend sauberen Stränden oder auf die propellergetriebenen Kampfflugzeuge gerichtet war, die das schöne Publikum an den schönen Stränden unter Beschuss nahmen. Grijpstra mochte die Häuser im kubanischen Stil und auch die glutäugige Schauspielerin, die nun in ein Duett mit Robert Redford einstimmte: Verkörpert wurde sie durch Mr. Gomez’ Bass, während Redfords wohlproportioniertes Profil sich in den einfühlsamen Klängen des Jazz-Pianos widerspiegelte. Die schöne Schauspielerin hatte allen Grund, auf ihr Land stolz zu sein, und gastfreundlich, wie sie war, hielt sie mit nichts zurück. Grijpstra schlief und sah Lorraine vor sich, die an de Giers Seite durch die magische Welt der Küste von Maine wandelte. Mit einem erstickten Schrei wachte er auf, als man die Unglückliche über eine Klippe stieß.

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Drei

Der Commissaris, ein altes, zerknittertes, dünnes Männchen, dachte über das Leben nach, das er nun führte – otium cum dignitate, so nannte man das –, während er seine Knie betrachtete, die aus dem Schaumbad ragten wie Inseln aus einem Meer. In Ehren entlassen