Ticket nach Tokio - Janwillem van de Wetering - E-Book

Ticket nach Tokio E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Der Versuch, die Yakusa, die japanische Mafia, auszutricksen, ist gefährlich, im Zweifel auch tödlich. Das erfahren de Gier und Grijpstra, als sie den blutbesudelten Wagen eines japanischen Geschäftsmannes in Amsterdam finden. Der Commissaris fährt nach Japan zum Boss der Yakusa. Doch dort ist das Leben eines ausländischen Polizisten keinen Yen wert. Ein mörderisches Duell beginnt ... «Wetering ist der Zen-Meister des Kriminalromans.» (die tageszeitung)

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Janwillem van de Wetering

Ticket nach Tokio

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzig
[zur Inhaltsübersicht]

Eins

«Und Sie meinen, es sei etwas passiert …», sagte Brigadier de Gier zögernd, wobei er das Wort «passiert» betonte.

«Ja», sagte die junge Frau.

Adjudant Grijpstra räusperte sich und schaute hinauf an die Decke des grau gestrichenen Zimmers, in dem ein Teil der Amsterdamer Kriminalpolizei untergebracht war, die «Mordbrigade», wie die Kommission bei den anderen Dezernaten hieß, mit denen das große, hässliche Gebäude des Polizeipräsidiums vollgestopft war. Die Decke war vor kurzem gerissen, und Grijpstra betrachtete interessiert den Riss. Er war anscheinend wieder ein wenig größer geworden. Er fragte sich, ob der Riss jemals ganz durchgehen würde, weil er dann vielleicht den Maschinenschreiberinnen oben unter die Röcke gucken könnte. Er brummte. Es würde immer noch ein Holzfußboden und dickes Linoleum dazwischen sein, um ihm den Blick zu versperren. Und Maschinenschreiberinnen tragen heutzutage lange Hosen, wie die junge Frau, die auf der anderen Seite von de Giers Schreibtisch in dem niedrigen Plastiksessel saß, der für Besucher reserviert war. Die Hose der jungen Frau war aus Samt und glänzte. Ihre Bluse glitzerte. Ihr langes schwarzes Haar schimmerte. Eine sehr gut aussehende junge Frau, dachte Grijpstra, vielleicht zu gut aussehend und ein wenig übertrieben angezogen. Vielleicht eine Nutte?

De Giers Gedanken waren in die gleiche Richtung gegangen.

«Was sind Sie von Beruf, Miss Andrews?», fragte er mit gleichgültiger Stimme und drückte seinen Kugelschreiber. Sein Notizbuch lag auf dem Schreibtisch.

«Ich bin Hostess in einem japanischen Restaurant», sagte Miss Andrews in einem langsamen, bedachtsamen Niederländisch mit nur einer Andeutung von einem Akzent und lächelte nervös. Zähne mit Jacketkronen, dachte de Gier. Schrägstehende Augen. Schwarzes Haar. Die Haut weiß mit einem Anflug von Elfenbein. Die Mutter muss Japanerin sein und der Vater Engländer oder Amerikaner. Vermutlich Amerikaner.

«Und Ihre Staatsangehörigkeit?»

«Amerikanisch. Ich habe eine Arbeitserlaubnis.» Sie öffnete ihre Handtasche, eine kleine elegante Handtasche aus schwarzem Tuch mit einem gestickten Drachen auf der einen Seite. Der Drache hatte seinen Körper gekrümmt und schien an seinem Schwanz zu schnuppern. Sie holte eine kleine Karte heraus und legte sie auf de Giers Schreibtisch. Er betrachtete sie und schob sie zurück.

«Joanne Andrews», sagte er laut. «Und Sie meinen, Ihrem Freund Mijnheer Kikuji Nagai sei etwas passiert. Nagai ist der Familienname, das stimmt doch, nicht wahr?»

«Ja.»

De Gier hob die rechte Schulter und ließ sie vorsichtig wieder sinken. Er hatte am Vorabend drei Stunden lang Judowürfe trainiert und sich dabei eine Muskelzerrung oder möglicherweise sogar einen Muskelriss zugezogen. Sein Fußgelenk schmerzte ebenfalls. Er war in schlechter Verfassung. Er wurde alt. Ihm fiel die Geburtstagsparty ein, die ihm seine Kollegen vor einer Woche gegeben hatten.

Vierzig Jahre alt. Er war an jenem Morgen nichts ahnend hereingekommen und hatte seinen Stuhl mit vierzig glänzend roten und knallgelben Luftballons bekränzt vorgefunden. An der gekalkten Wand hing ein Pappschild mit der Zahl 40 und einer krausen goldenen Girlande drum herum. Die Konstabel von der Mordkommission standen an der Wand aufgereiht und hatten plötzlich ein Lied angestimmt. Und man hatte ihm ein Paar Handschellen überreicht als Ersatz für das Paar, das er verloren hatte, als er jemanden über die Hausdächer verfolgte. Die Handschellen waren in Goldpapier eingepackt, das mit einer roten Schleife verziert war. Als die Konstabel sangen, hatte Grijpstra sein Schlagzeug gespielt, wobei er geschickt eine Melodie aus den vielen Vorrichtungen herausholte, die er in den letzten Jahren dem ursprünglichen Satz von Trommeln hinzugefügt hatte, der eines Tages wunderbarerweise in ihrem Zimmer aufgetaucht war; vermutlich vom Fundbüro vorübergehend dort gelagert. Der Trommelsatz durfte das Zimmer nicht mehr verlassen, denn Grijpstra hatte früher in der Schulkapelle Schlagzeug gespielt und war von den Instrumenten inspiriert worden. Sie hatten auch de Gier inspiriert, denn er spielte Flöte, eine kleine Flöte, die er in der Innentasche mit sich trug. Ein Instrument, das schrille Töne von sich gab und sich bemerkenswert gut den Improvisationen Grijpstras anpasste. Aber de Gier hatte an dem Morgen seines Geburtstags nicht Flöte gespielt. Er hatte mitten im Zimmer gestanden und sich verloren und lächerlich gefühlt, während die Konstabel sangen und Grijpstra auf seine Glocken und Becken und die kleinen hohlen Holzgegenstände einschlug, die so durchdringende, betäubende Töne von sich gaben.

Es war ein besonderes Lied gewesen, komponiert von Grijpstra. Und die Konstabel hatten es viele Male geübt, denn Grijpstra hielt etwas davon, alles so gut wie möglich zu machen. Mindestens drei der Konstabel waren geübte Sänger, und ihre Stimmen hatten de Gier das Rückgrat erbeben lassen. Die Melodie war barock und bot Möglichkeiten für Soli und Chor. Sie hatte etwa zehn Minuten gedauert, und in dieser Zeitspanne hatte de Gier sich gleichzeitig blöd und ergriffen gefühlt. Aber Grijpstra hatte seinen Freund und Kollegen nicht ganz fertigmachen wollen, und so hatte man dem Brigadier eine schwere Luftpistole gegeben und ihm gesagt, er solle auf die Ballons schießen, um seine Wut damit loszuwerden.

Und jetzt hatte sich die Szene wieder verändert. Es schien, als bekämen Grijpstra und er wieder etwas zu tun, nachdem sie wochenlang herumgesessen, Akten gelesen und Möglichkeiten überlegt hatten, wie sie andere dazu bringen könnten, ihnen den Kaffee zu bezahlen. Miss Andrews glaubte, ihrem Freund, dem Mann, der ihr die Ehe versprochen hatte, sei etwas zugestoßen. Er sei verschwunden, sagte sie. De Gier hob wieder die Schulter; der Schmerz war nicht mehr so schlimm. Vielleicht war der Muskel ja doch nicht gerissen. Er seufzte und musterte seine Besucherin. Das Mädchen starrte ihn an, aber es sah nicht den hübschen Brigadier in seinem maßgeschneiderten Jeansanzug und einem locker in das offene Hemd gesteckten Seidenschal, und sie bemerkte auch nicht das dichte braune Haar, tadellos geschnitten von dem dicken, alten homosexuellen Friseur in der nächsten Gracht, der seinen Kunden – vorwiegend Schauspieler und Künstler – Höchstpreise abforderte. Sie nahm nicht einmal Notiz von den starken, sonnengebräunten Händen, die mit dem Kugelschreiber und dem Notizbuch herumspielten. Joanne Andrews sah nur, was ihre Angst ihr vorgaukelte: den zusammengebrochenen, toten Körper ihres Freundes.

Grijpstra rührte sich auf seinem Stuhl. Er hatte den Blick vom Riss in der Decke abgewandt und änderte seine Sitzposition, wobei die Federn seines Drehstuhls quietschten. Sein schwerer Körper kam etwas nach vorn, mit der Hand fuhr er über die kurzen grauen Stoppeln auf dem großen Schädel.

«Nun, Miss», sagte Grijpstra freundlich, «vielleicht gibt es keinen Grund zur Sorge. Er ist erst seit zwei Tagen fort, nicht wahr? Und er ist Geschäftsmann, wie Sie sagen, Kunsthändler. Vielleicht hat er plötzlich einen Tipp bekommen und ist für ein paar Tage fortgefahren. Haben Sie nicht gesagt, dass er viel reist? Verkauft er nicht Kunstwerke aus dem Fernen Osten an europäische Händler? Vielleicht ist er in London oder Paris und hat keine Zeit, um anzurufen.»

«Nein», sagte sie und versuchte, ihre Stimme zu kontrollieren. «Er ist sehr zuverlässig. Und wir hatten uns für vorgestern verabredet. Er wollte mich vom Restaurant abholen und mit mir in einen Nachtclub gehen. An dem Abend sollte ein junger Jazzpianist im Club spielen, nur an dem einen Abend, und Kikuji wollte ihn wirklich spielen sehen. Er hatte ihn nur auf Schallplatte gehört, und der Künstler soll sehr gut sein, und Kikuji wollte ihn spielen sehen. Er hatte sich darauf gefreut. Aber er ist nicht gekommen. Ich bin allein zum Club gegangen, und er ist nicht dort gewesen. Ich habe mich in seinem Hotel erkundigt, das Gepäck war in seinem Zimmer. Er war nachmittags ausgegangen und hatte dem Angestellten am Empfang gesagt, er werde zum Abendessen zurück sein. Er hatte eine Verabredung mit einem Käufer; dieser kam auch, aber Kikuji war nicht da. Die Verabredung war wichtig; der Käufer war an einer sehr teuren alten Skulptur interessiert, die Kikuji in seinem Zimmer hatte. Die Skulptur war noch da.»

«Na ja», sagte Grijpstra.

«Sie müssen mir helfen», sagte Joanne Andrews. «Sie müssen mir wirklich helfen. Ich hab ein Foto, hier.»

Sie legte es auf Grijpstras Schreibtisch. De Gier stand auf und ging hinüber, um es sich anzusehen. Es war ein Farbfoto und zeigte einen ziemlich großen, mager aussehenden Japaner, der lässig in dem Korbstuhl eines Straßencafés saß. Ein schmales Gesicht unter einem Bürstenhaarschnitt, die Augen besorgt auf die Linse gerichtet. Er schaute über die Brille hinweg, die bis ans Ende der leicht gebogenen Nase gerutscht war. Ein Stapel Taschenbücher und eine Kamera in einer Ledertasche lagen neben dem Sessel. Das Telefon klingelte auf de Giers Schreibtisch. Er entschuldigte sich und nahm den Hörer ab.

«Ich hab das Foto vor zwei Wochen aufgenommen. Er war gerade aus Tokio gekommen und noch müde von der Reise.»

«Er kommt oft her, nicht wahr?», fragte Grijpstra.

«Oft, fast jeden Monat. Er wohnt immer im selben Hotel, und ich hole ihn mit seinem Wagen vom Flughafen ab. Ich hab den Wagen, wenn er nicht hier ist.»

«Ein Wagen», sagte Grijpstra hoffnungsvoll. «Wo ist der Wagen jetzt?»

«Ich weiß es nicht.»

«Was ist es für ein Wagen?»

«Ein weißer BMW, ein Jahr alt. Er gehört dem japanischen Unternehmen, für das er arbeitet. Ein sehr hübscher Wagen.»

«Wissen Sie die Zulassungsnummer?»

«Ja, sie ist leicht zu behalten, 66–33 MU.»

«Gut», sagte Grijpstra aufgekratzt. «Wir werden den Fall untersuchen. Keine Sorge, Miss. Ich glaube nicht, dass dies ein Fall ist, aber wir werden uns trotzdem darum kümmern. Wir haben Ihre Telefonnummer und Adresse und werden Sie benachrichtigen.»

«Bald?», fragte sie nervös.

«Bald», sagte Grijpstra und sah sie mit seinen hellblauen Augen freundlich an. «Heute Abend schon. Vielleicht wissen wir bis heute Abend noch nichts, aber wir werden jedenfalls anrufen. Und Sie können uns ebenfalls anrufen. Hier ist meine Karte. Meine Privatnummer steht auch drauf, falls ich nicht hier sein sollte.»

Er stand auf, gab ihr die Hand und öffnete ihr die Tür.

De Gier hatte sein Gespräch beendet, als Grijpstra wieder an seinen Schreibtisch kam. Er seufzte.

«Ja», sagte Grijpstra. «Der Kerl ist einem anderen Mädchen begegnet und amüsiert sich irgendwo wie noch nie in seinem ganzen Leben. Oder er ist auf einen Jungen gestoßen. Oder er hat sich betrunken und dann noch einen gekippt, als er morgens aufstand. Immer das Gleiche, es passiert immer wieder. Aber die Ehefrauen oder Freundinnen kapieren es nie.»

«Frauen machen sich eine Menge Sorgen», sagte de Gier, «jedenfalls die meisten Frauen.»

«Macht Esther sich keine Sorgen?», fragte Grijpstra.

«Nein», sagte de Gier bitter. «Sie macht nur Kaffee, wenn ich nach Hause komme, und tätschelt mir den Kopf. Das heißt, falls sie in meiner Wohnung ist. Manchmal ist sie nicht dort, und dann mache ich mir Sorgen und spreche mit dem Kater. Der blöde Olivier sorgt sich ebenfalls, wenn sie nicht da ist.»

«Sie hat ihr eigenes Haus», sagte Grijpstra, «und ihre eigene Katze. Sie ist beschäftigt. Weshalb heiratet ihr beide nicht?»

«Sie möchte nicht.»

«Sehr vernünftig», sagte Grijpstra, stand auf und streckte sich. «Ach, es ist ein schöner Tag.»

De Gier schaute zum offenen Fenster hinaus. «Ja, das soll wohl so sein. Wir haben Sommer, nicht wahr? Was werden wir in Bezug auf die Anzeige von Miss Andrews unternehmen?»

Grijpstra erhob sich langsam von seinem Drehstuhl und ging zu de Gier ans Fenster. Zur Abwechslung sah er mal ordentlich aus. Sein gewöhnlich zerknitterter Anzug, dunkelblau mit weißen Nadelstreifen, war chemisch gereinigt worden. Er sah sogar gesund aus, denn das Wochenende am Strand hatte sein Gesicht gebräunt. Er rieb sich munter die Hände. «Während du am Telefon gequatscht hast, habe ich eine nützliche Information erhalten», sagte Grijpstra.

«Gequatscht?», fragte de Gier.

«Gequatscht», sagte Grijpstra. «Gescherzt und geklatscht. Ich hab dich gehört. Und währenddessen erhielt ich die Information. Unser japanischer Freund hat einen Wagen, einen weißen BMW, Zulassungsnummer 66-33 MU.»

De Gier nahm schnell sein Notizbuch und notierte die Nummer.

Grijpstra nickte gutmütig. «Gut. Jetzt können wir also feststellen, ob der Computer etwas über den Wagen weiß. Vielleicht wurde er irgendwo gesehen, und wenn nicht, kann er jetzt gefunden werden. Wir können eine Suchmeldung herausgeben.»

De Gier murmelte.

«Du meinst, es lohnt sich nicht?»

«Doch», sagte de Gier.

«Ich auch. Die junge Dame war besorgt, wir sollten versuchen, ihr die innere Ruhe wiederzugeben.»

«Ja», sagte de Gier und wählte eine Nummer. Der Computer wusste nichts. Er wählte noch einmal, sprach mit der Funkzentrale und bat, die Suchmeldung landesweit herauszugeben.

«Und wir haben das Foto, das Miss Andrews hiergelassen hat», sagte Grijpstra und nahm den Schnappschuss in die Hand.

«Das taugt nicht viel», sagte de Gier. «Die Aufnahme ist zwar scharf genug, und wir können sie abziehen und verteilen lassen, aber die Konstabel sagen immer, dass alle Chinesen und Japaner gleich aussehen. Die würden ihn nicht entdecken.»

Grijpstra hatte sich einen Zigarillo angesteckt. Er lachte.

«Was ist?», fragte de Gier.

«Japaner», sagte Grijpstra. «Von denen müssen jetzt zehntausend in der Stadt sein. Reisegesellschaften, denke ich. Vorige Woche war ich zufällig am Flughafen und sah Hunderte und Aberhunderte von ihnen eintreffen. Mehrere Gruppen aus verschiedenen Maschinen und mit unterschiedlichen Reisezielen. Damit sie beieinanderblieben, hatten sie Führer, und diese hatten Fähnchen. Die eine Gruppe hatte ein rotes Fähnchen, die andere ein blaues. Sie folgten ihren Führern, und beide Reihen kreuzten einander. Ein sehr komischer Anblick. Sie sahen so ernst aus.»

«Ja», sagte de Gier. «Ich hab sie in der Stadt gesehen. Sie marschieren umher wie mit einem Uhrwerk aufgezogene Menschen und alle mit gekreuzten Lederriemchen, Kamera links, Belichtungsmesser rechts. Graue Hosen, blaue Blazer. Aber die Frauen sind anscheinend sehr hübsch, vor allem wenn sie einen Kimono tragen. Sie schlurfen. Sehr zierliche Frauen.»

«Hmm», sagte Grijpstra. «Ich werde Abzüge von dieser Aufnahme machen lassen, wenn wir Nachricht über den Wagen bekommen. Bis jetzt kommt mir noch nichts verdächtig vor. Dir?»

«Nein. Mijnheer Nagai macht einen drauf. Oder er hat einen draufgemacht und fühlt sich jetzt schuldig. Ich denke, er sitzt jetzt mit dem Kopf in den Händen auf einer Bettkante und verflucht sich selbst.»

«Und fragt sich, ob er das ausgegebene Geld über sein Spesenkonto abrechnen kann», sagte Grijpstra und schaute in seine Kaffeetasse. «Dieser Kaffee ist kalt. Holst du frischen?»

«Nein», sagte de Gier. «Warum?»

«Nur so eine Idee. Warum gehen wir nicht raus? In der Nähe ist ein neues Café, wo sie türkischen Mokka und Fleischbrötchen haben.»

«Nein», sagte de Gier. «Ich bin mit dem Bezahlen dran. Ich bin immer dran mit dem Bezahlen, und ich bin pleite!»

«Geh und hol Geld», sagte Grijpstra. «Wir treffen uns in zehn Minuten am Haupteingang. Ich muss gehen und meine Pistole reinigen. Der Ausbilder sagte, sie sei voller Dreck, als er sie gestern Abend beim Übungsschießen inspizierte.»

«Gut», sagte de Gier und zog die kleine Automatik aus der Achselhöhle. «Reinige meine auch, ja? Und frag den Brigadier, ob er die Schraube an der Griffschale ersetzen kann, sie wird alt. Die ganze Pistole wird alt. Sie wird vermutlich explodieren, wenn ich das nächste Mal versuche, sie abzufeuern.»

«Und ich werde neben dir stehen und alles ins Gesicht kriegen», sagte Grijpstra schwermütig. «Warum sollte ich überhaupt deine Pistole reinigen? Ich hasse Pistolenreinigen. Ich krieg sie nicht wieder zusammen und muss fragen, und dann kichern alle über mich.»

«Weil du mich magst und du gern etwas für andere tust.»

«Stimmt», sagte Grijpstra. «Wir treffen uns in zehn Minuten. Vielleicht in fünfzehn. Lauf nicht weg. Und lass die Finger von der Sekretärin des Hoofdcommissaris.»

«Du hörst dich wieder an wie die Zehn Gebote», sagte de Gier, als er gemächlich aus dem Zimmer ging.

Beide dachten an Joanne Andrews, Grijpstra, als er zusah, wie der Brigadier in der Waffenkammer seine Pistole reinigte, und de Gier, als er am Schwarzen Brett beim Haupteingang die Ankündigung über einen Judokampf las. Das Mädchen hatte verloren und bemitleidenswert ausgesehen, trotz des blendenden Glanzes seiner teuren Kleidung und seiner natürlichen Schönheit.

«Eine andere Frau kann es nicht sein», dachte de Gier. «Der Mann muss irgendwo saufen.»

Über die Lautsprecheranlage des Polizeipräsidiums ertönte eine Stimme: «Brigadier de Gier, bitte Nummer 853 anrufen.»

De Gier ging an das nächstgelegene Telefon in der Halle.

«Wir haben den Wagen gefunden, nach dem du dich erkundigt hast, Brigadier, oder vielmehr die Kollegen in Utrecht haben ihn gefunden. Die haben ihn heute früh um vier entdeckt, aber der Computer hat uns erst soeben unterrichtet. Er war im Bordellviertel von Utrecht abgestellt und behinderte den Straßenverkehr; sie haben ihn abgeschleppt. Er war verschlossen, und sie haben ihn nicht geöffnet. Die können Wagen jetzt auf irgendeine neue Art und Weise abschleppen; die haben da so eine Vorrichtung, heben sie damit vorne an, glaube ich, mit einem Greifer.»

«Ja», sagte de Gier geduldig, «und was ist dann geschehen? Die Utrechter Polizei hat es dem Zentralcomputer gemeldet, nicht wahr? Also muss etwas Besonderes mit dem Wagen sein.»

«Ja, Brigadier. Blut auf dem Vordersitz und eine Beule im Dach. Sie wurde erst vor einer Stunde entdeckt, wie die schriftliche Mitteilung des Computers besagt. Sie nehmen an, dass das Dach von einer Kugel getroffen wurde, abgefeuert im Wagen. Im Dach ist kein Loch, nur eine Beule, also muss die Kugel noch im Innenraum sein. Sie wollten Experten holen und den Wagen aufbrechen lassen, aber ich habe eben das Präsidium in Utrecht angerufen und gesagt, sie sollen auf euch warten. Der Wagen ist in Amsterdam zugelassen, also ist es vielleicht euer Fall.»

«Hast du die Adresse der Polizeigarage, wo der Wagen jetzt steht?», fragte de Gier, nahm sein Notizbuch heraus und drückte es gegen die Wand. Er notierte die Adresse. «Sag ihnen, dass wir in eineinhalb Stunden dort sein werden.»

«Gut.»

«Und ruf Adjudant Grijpstra an, ja? Er müsste in der Waffenkammer sein. Sag ihm, er und ich fahren nach Utrecht, und wir treffen uns in der Eingangshalle.»

De Gier legte den Hörer auf, überlegte kurz und wählte.

«Ja?», fragte der Commissaris mit seiner ruhigen Stimme.

«Guten Morgen, Mijnheer. De Gier.»

«Ja, Brigadier?»

De Gier berichtete.

«Wir nehmen meinen Wagen», sagte der Commissaris. «Er steht direkt vor dem Haupteingang. Ich werde unten sein, sobald ich mit dem Hoofdcommissaris in Utrecht gesprochen habe. Er könnte den Fall haben wollen, weil der Wagen in seiner Stadt gefunden wurde, aber wir werden ihn beanspruchen, da die Sache in Amsterdam angefangen hat.»

«Das Verbrechen könnte auf der Autobahn zwischen Amsterdam und Utrecht verübt worden sein, Mijnheer. In diesem Fall wäre es eine Angelegenheit der Reichspolizei.»

«Egal, was es sein könnte, Brigadier, das ist unser Fall. Ich bin gleich unten. Hol Grijpstra.»

«Ja, Mijnheer», sagte de Gier und legte auf.

[zur Inhaltsübersicht]

Zwei

Der schwarze Citroën des Commissaris fuhr auf den Hof des Amsterdamer Polizeipräsidiums, gefolgt von einem grauen VW mit dem Fotografen und einem Fingerabdruckexperten. De Gier schlief auf dem Vordersitz, er ließ den Kopf hängen und hatte den Mund leicht geöffnet. Grijpstra schüttelte die Schulter des Brigadiers. «Wir sind zu Hause.»

«Hä?», fragte de Gier.

«Zu Hause. Steig aus. Wir haben zu arbeiten.»

«Ja, ja, ja», sagte de Gier und drehte sich um. «Verzeihung, Mijnheer, ich muss eingenickt sein.»

«Ha», sagte Grijpstra. «Du bist eingeschlafen, als wir in Utrecht auf die Autobahn kamen, und du hast seit einer Stunde geschnarcht. Eingenickt!»

«Schon gut», sagte der Commissaris. «Im Schlaf ist man in einem idealen Zustand, und es gab sowieso nichts zu tun. Ich glaube, wir wissen alles, was es in diesem Stadium zu wissen gibt. Und wir haben Blutproben und die Kugel. Vielleicht sollte der Wagen noch einmal untersucht werden, wenn er hier eintrifft, Adjudant. Der Fingerabdruckexperte möchte vielleicht einen zweiten Blick darauf werfen. Die meisten Flächen waren abgewischt, aber man kann nie wissen.»

Ein Abschleppwagen mit dem am Haken hängenden weißen BMW manövrierte sich auf den Hof.

«Schnelle Arbeit», sagte Grijpstra. «Ich kümmere mich darum, Mijnheer. Der Lastwagen muss gerast sein.»

«Ein Abschleppwagen der Polizei darf rasen», sagte der Commissaris. «De Gier, lass Abzüge von der Aufnahme des mutmaßlichen Opfers, Mijnheer Nagai, machen und veranlasse einige Kripobeamte, sie in Amsterdam und Utrecht herumzuzeigen, wenn möglich noch heute Abend. Es wäre gut, wenn wir feststellen könnten, wie sein oder seine Begleiter ausgesehen haben. Vielleicht haben sie noch etwas getrunken, bevor sie die Fahrt angetreten haben. In letzter Zeit ist nicht viel passiert, sodass du genug Männer auftreiben solltest, vielleicht ein Dutzend. Der Fall sieht übel genug aus. Übergib Cardozo die Leitung.»

«Grijpstra?»

«Mijnheer.»

«Schnapp dir die junge Dame, die euch heute Morgen aufgesucht hat, diese Miss Andrews. Wir müssen sie sofort sprechen. Schick einen Wagen zu ihr oder, falls nötig, fahr selbst hin. Bring sie in mein Büro, und de Gier kann ebenfalls kommen, wenn er fertig ist. Und du kannst dich mit der Reichspolizei in Verbindung setzen. Wie es scheint, haben wir einen Mord ohne Leiche. Man muss die Leiche irgendwo an der Autobahn rausgeworfen haben. Sie sollen beide Seiten der Autobahn absuchen. Sie sollen Abzüge des Fotos bekommen, die sie jedoch vermutlich nicht brauchen. Der Wagen fällt auf. Jemand muss gesehen haben, wo der Wagen stand, als die Leiche abgeladen oder vergraben wurde. Und sei sehr höflich; die Reichspolizei nimmt nicht gern Befehle entgegen. Bitte sie und gib dich bescheiden, und wenn sie anfangen, Schwierigkeiten zu machen, zu behaupten, dass dies ihr Fall sei, kannst du sie mit mir verbinden. Ich werde in meinem Büro sein.»

«Ja, Mijnheer», sagte Grijpstra und grinste. De Gier grinste ebenfalls.

«Wir wären euch äußerst dankbar, wenn ihr vielleicht …», sagte de Gier. «Selbstverständlich nur, wenn es euch nicht zu viel Mühe macht …»

Grijpstra fügte hinzu: «Aber wir haben da so ein Problem, wisst ihr, und es könnte mit einem schweren Verbrechen zusammenhängen, und ihr Jungs seid dafür bekannt, dass ihr sogar die schwächste Spur verfolgen könnt, und da ist dieser strahlende, funkelnagelneue weiße BMW, der gestern irgendwo in der Nähe der Autobahn Amsterdam–Utrecht herumgekreuzt sein muss, und wir dachten, dass ihr vielleicht in der Lage seid …»

Der Commissaris lächelte. «Ja, so müsst ihr es machen. Viel Glück.» Er drehte sich um und ging zum Paternoster, der sich in ihrer Nähe mahlend bewegte. Er griff nach der Haltestange des kleinen Kastens, der sich gerade mit ihnen auf gleicher Höhe befand. Die beiden Kriminalbeamten standen bereit, um ihm zu helfen, aber er schaffte es allein. Sie sahen dem zerbrechlichen alten Mann nach, der kurz vor der Pensionierung stand und ständig Schmerzen hatte; das Rheuma lähmte oft seine Beine, sodass er hinken und sich an Wänden und Möbeln festhalten musste.

Als der Kasten verschwunden war, seufzte Grijpstra. «Na, dann mal los. Hier ist das Foto. Ein toter Japaner. Wir brauchen ihn nur noch zu finden.»

«Er könnte verwundet sein», sagte de Gier.

«Er ist tot. Der Fingerabdruckexperte hat einen Knochensplitter. Er sagt, dass er vom Kopf ist. Die Kugel muss Nagais Schädel in kleine Teile zerlegt haben. Warum sollte nach deiner Meinung jemand einen Mann umbringen wollen, der fernöstliche Kunst verkauft?»

«Vielleicht hat er noch etwas anderes verkauft», meinte de Gier, «oder der Mord ist mit Raub verbunden. Miss Andrews sagte, er habe oft kostspielige Objekte zu verkaufen gehabt. Oder vielleicht hat die Konkurrenz ihn erwischt. Oder wir sind wieder einmal auf eine Liebesgeschichte gestoßen. Aber das Opfer ist Japaner, wir sind unerwartet in den Fernen Osten geraten. Vielleicht haben wir zur Abwechslung mal etwas Subtiles.» Er stieß Grijpstra in den Magen. «Einen Fall mit delikater Würze.»

Grijpstra runzelte die Stirn. «Guck nicht so begierig. Wenn er subtil ist, werden wir ihn nie lösen. Wir brauchten eine Woche, um herauszubekommen, wer im vergangenen Monat den Müllmann ermordet hat, und es stellte sich heraus, dass es einfacher Totschlag war, verübt mit Hilfe eines Schmiedehammers.»

De Gier machte ein blödes Gesicht.

«Und du bliebst bei deiner Behauptung, dass seine arme Frau es gewesen ist», sagte Grijpstra.

«Du hast das Gleiche gesagt, das habe ich selber gehört.»

«Ja, vielleicht hab ich es gesagt, aber nur einmal. Und die Frau sah aus wie ein Flusspferd.»

«Wenn sie die Kraft hatte, es zu tun, dann muss sie es getan haben. Das hast du gesagt. Das ist mir vielleicht eine Beweisführung. Nur gut, dass du es zu mir gesagt hast und nicht zum Commissaris.»

Grijpstra seufzte. «Aber wir haben den Mann gefunden, und zwar, obwohl uns niemand eine anonyme Notiz geschickt hat.»

«Und ohne Hilfe der Journalisten, waren wir da nicht tüchtig?»

«Ja, sehr. Na, dann wollen wir mal. Wir treffen uns im Büro des Commissaris, sobald ich diese junge Dame erwischt habe. Ich hoffe, ich kann sie telefonisch erreichen. Sie könnte mehr wissen, als sie heute Morgen gesagt hat.» Grijpstra klopfte auf seine Tasche, machte ein überraschtes Gesicht und fischte eine Pistole heraus. «Was zum Teufel? Ich hab meine Zigarren gesucht.»

«Das ist meine Pistole, Adjudant», sagte de Gier vergnügt. «Du hast vergessen, sie zurückzugeben, und mich unbewaffnet herumlaufen lassen. Und der Lauf ist voller Tabakkrümel.» Er nahm sie Grijpstra aus der Hand, blies den Tabak ab, polierte sie mit seinem Taschentuch und prüfte den Mechanismus. «Und sie ist entsichert. Aber es ist keine Patrone in der Kammer, das muss ich dir lassen.» Er ließ sie in sein Schulterhalfter gleiten.

«Sie hat eine neue Schraube», sagte Grijpstra, «und sie haben die linke Griffschale ausgewechselt. Sie wollten nicht, aber ich hab darauf bestanden. Du solltest dankbar sein.»

«Ich bin dankbar. Das arme Ding wird alt. Ich wollte, die würden uns anständige Waffen geben. Diese ist von 1929, wie mir der Brigadier in der Waffenkammer vor einigen Tagen sagte. Es ist eine Antiquität. Die Verbrecher haben heutzutage vollautomatische Feuerwaffen. Ich habe einen Bericht gelesen, dass unsere Kollegen in Rotterdam einen Rauschgifthändler geschnappt haben, der in seinem Wagen eine Maschinenpistole hatte, so groß wie unsere FN oder vielleicht noch etwas größer. Vierzehn Patronen im Magazin, die alle innerhalb von vier Sekunden abgefeuert werden können. Du ziehst nur den Abzug durch und hältst fest.»

«Bah», sagte Grijpstra. «Wer will schon vierzehn Kugeln innerhalb von vier Sekunden abfeuern? Ich möchte nicht einmal eine pro Jahr abfeuern. Warum bist du plötzlich so mordgierig? Wirst du wieder mal unruhig?» Er machte ein finsteres Gesicht. «Wir sind nicht zur Polizei gegangen, um Helden zu werden, weißt du. Wir sollen die Ordnung aufrechterhalten. Wie kannst du die Ordnung bewahren, wenn du vierzehn Kugeln innerhalb von vier Sekunden abfeuerst? Das blöde Ding wird in deiner Hand herumspringen, und du wirst der alten Oma, die gerade auf der anderen Straßenseite einkauft, den Kopf wegpusten, und eine andere Kugel wird ein Baby aus dem Kinderwagen schmeißen.» Grijpstras Gesicht hatte sich gerötet, und er fuchtelte mit den Armen. «Warum gehst du nicht nach Afrika? Gestern Abend stand ein Bericht in der Zeitung über Söldner, die mit ihren Panzern mitten durch ein Dorf fuhren, die Hütten zerstörten und verbrannten und jeden umbrachten, der sich zeigte.»

De Gier lächelte und gab Grijpstra einen Klaps auf die Wange. «Ich habe nur gesagt, ich wünsche mir eine vernünftige Waffe», sagte er besänftigend, «und nicht etwas, das vor fünfzig Jahren aus Gusseisen hergestellt wurde und wahrscheinlich in meiner Hand zerplatzen wird.»

Grijpstra schüttelte den Kopf, als er beobachtete, wie der große Brigadier den langen, leeren Korridor hinunterschritt. «Unser Abenteurer», sagte er laut. «Unser Ritter auf seiner ewigen Suche. Unter dem Banner der Schönheitsgöttin das Böse bekämpfen und das Gute verteidigen.»

Er hustete und schaute sich um, aber er war allein. Schönheitsgöttin, dachte er. De Giers Freundin war nicht so schön, aber gewiss eine bemerkenswerte Frau. Geschmeidig, mit einem reizenden Kopf auf einem schlanken Hals und sehr ruhig. Er dachte an seine eigene Frau und schüttelte wieder den Kopf. Ein Fleischpudding, süchtig nach Fernsehen und Sahnetorten und rasend, wenn sie die Energie dazu aufbringen konnte, was nicht mehr so oft vorkam. Gewöhnlich starrte sie ihn jetzt an, ein unangenehmes Starren aus kleinen, blutunterlaufenen Augen, versunken in dem wabbeligen, glänzenden Walspeck ihres Gesichts. Er atmete tief und drängte den Gedanken beiseite. Er konnte an seine Frau denken, wenn er bei ihr war, was jetzt nicht mehr so häufig vorkam.

Er wollte über den Japaner nachdenken. Er erinnerte sich an das Foto und sah den schlanken Mann wieder auf seinem Korbstuhl, wie er in das Auge der Kamera spähte. Ein Mann, der Kunstgegenstände verkaufte. Ein Mann mit einem empfindsamen Gesicht, einem wehrlosen Gesicht. Ein Mann, der Interesse am Lesen hatte, mit einem Stapel Taschenbücher neben sich. Er hatte soeben das Flugzeug aus Tokio verlassen und während des Fluges gelesen, aber er trug seine Bücher noch bei sich, obwohl er in Begleitung von Joanne Andrews war, seiner Freundin, die er seit einiger Zeit nicht gesehen hatte. Ein attraktives Mädchen, das ihn liebte und seinen Wagen fuhr, wenn er nicht in Amsterdam war. Einen neuen BMW, einen eleganten, schnittigen Wagen, jetzt auf dem Hof der Polizei mit Blut auf dem Vordersitz und einem Knochensplitter vom Schädel des Opfers im Polster. Er musste vom Rücksitz aus erschossen worden sein, vielleicht während der Wagen zwischen Amsterdam und Utrecht über die Autobahn raste. Die Autobahn ist verkehrsreich, dachte Grijpstra. Tausend Wagen pro Minute, die auf vier Fahrspuren dahineilen. Müsste nicht jemand gesehen haben, wie der Mann vornüber zusammensackte, sich an den Kopf fasste, Blut heraussickerte?

Ein Japaner, dachte er wieder. Was wusste er über Japaner? Sein Gedächtnis reagierte mit einer Reihe von Vorstellungen. Er sah einen Kamikaze-Piloten, wie er sich auf einen amerikanischen Flugzeugträger stürzte und seine mit Sprengstoff beladene kleine Maschine direkt auf die Brücke des Riesenschiffs zusteuerte. Es gab keine Möglichkeit, den Zusammenprall zu überleben. Ein junger Mann mit einem um die Stirn gewundenen weißen Baumwollstreifen, die Zähne entblößt in einer Grimasse von Furcht und Freude. Kamikaze, er kannte sogar den Ursprung des Wortes; er hatte es irgendwo in einem Zeitschriftenartikel gelesen. Ein heiliger Sturm, der die koreanische Flotte vernichtete, als sie die Absicht hatte, in Japan zu landen und das Land zu erobern. Das war lange her. Was verband er noch mit Japanern? Ja, Grausamkeit. Grijpstras Vetter hatte in einem japanischen Kriegsgefangenenlager überlebt. Er war als wandelndes, zahnloses Skelett herausgekommen, erstaunt, dass er noch lebte. Nur ein kleiner Teil der Lagerinsassen hatte die Brutalitäten der Wächter überlebt. Grijpstras Vetter, jetzt ein Mann von Ende sechzig, Angestellter im Rathaus, fiel fast in Ohnmacht, wenn er auf den Straßen von Amsterdam japanische Touristen sah.

Was noch? Japanische Tempelmusik. Er hatte zu Hause eine Schallplatte mit einer Pagode auf der Hülle, wobei der mehrstöckige Tempel vor einem Hintergrund kunstvoll gestutzter Kiefern stand. Er legte die Platte oft auf, denn sie hatte ungewöhnliche Perkussionen, unheimlich gebrochene Laute, hervorgerufen von Holztrommeln, betont durch jähe Schreie aus priesterlichen Kehlen. Er hatte versucht, diese Laute auf seinem eigenen Schlagzeug zu imitieren, wobei de Gier ihm geholfen hatte. De Gier hatte sich die Schallplatte ausgeliehen und Grijpstras Faszination geteilt. Zusammen hatten sie die Rufe und Schreie geübt. Und de Gier hatte sogar ein Instrument – eine hölzerne Gurke auf einem Dreibein – gefunden, dessen Töne mit denen der Tempeltrommeln zu vergleichen waren. Ungewöhnliche Musik einer fernen Religion. Buddhismus. Der Commissaris hatte ihm einmal erzählt, dass der Buddhismus auf zwei Pfeilern ruhe, auf Mitleid und Gleichmut. Er schüttelte den Kopf. Ein Pilot, der sich selbst umbringt, während er Hunderte anderer tötet; ein Wächter, der Gefangene zu Tode prügelt; eine Tempeltrommel, die die Stille zerreißt. Wusste er sonst noch etwas über Japan? Er dachte an die Szene am Flughafen und an die beiden Reihen geduldiger menschlicher Insekten, die ihren bunte Fähnchen schwingenden Führern folgten. Und jetzt war eins dieser menschlichen Insekten tot, es hatte ein großes Loch im Kopf, und die Leiche war irgendwo im holländischen Sumpf versteckt.

Er machte sich auf zu seinem Büro. Er wollte die Reichspolizei anrufen.

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Drei

«Tut mir leid, Miss», sagte der Commissaris. «Wir haben zwar keinen schlüssigen Beweis, dass Mijnheer Nagai tot ist, Blut und Schädelsplitter können von jemand anders stammen, aber es sieht schlecht aus. Tut mir leid.»

Joanne Andrews sah ihn an. Sie hatte den Mund leicht geöffnet und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sie saß auf der Sesselkante, den Körper zum Schreibtisch des Commissaris vorgebeugt. De Gier stand am Fenster und betrachtete den Verkehr auf der Straße; Grijpstra hockte in einiger Entfernung von dem Mädchen in sich zusammengesunken in einem Sessel. Er beobachtete traurig das Mädchen, wobei er sich die Knie hielt.

«Ja», sagte Joanne Andrews, «es ist schon so, wie ich es mir gedacht habe. Sie haben ihn umgebracht. Ich habe mir gedacht, dass sie ihn umbringen werden, aber er hat gelacht und gesagt, sie seien seine Freunde, er kenne sie gut. Und selbst wenn sie ihn umbringen wollten, würden sie es nicht hier tun. Sie würden es in Japan tun. Er war sich so sicher, dass er auch mich überzeugte. Aber sie haben ihn trotzdem ermordet.»

«Wer?», fragte der Commissaris.

Sie erschauerte und sah ihn an. Der Commissaris stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch; er hatte ihr sein kleines, runzeliges Gesicht zugewandt und betrachtete sie verständnisvoll, so als teile er ihr Leid.

«Wer, Miss?»

«Sie werden auch mich ermorden», sagte das Mädchen. «Sie sehen zwar ganz nett aus, aber sie sind grausam. Zwei dicke kleine Männer. Sie sind fast so breit wie hoch und ähneln einander, nur ist der eine kahl und hat einen feisten Nacken. Sie haben keinen normalen Gang, sondern einen wiegenden und gleitenden, und sie lächeln und verbeugen sich immerzu. Aber es sind Mörder. Man hat sie gründlich dafür ausgebildet. Ich habe diese Typen gleich erkannt, als sie ins Restaurant kamen und ihr Essen bestellten. Solche wie die habe ich oft in Kobe in dem Nachtclub gesehen, in dem ich gearbeitet habe, nicht dieselben Männer, aber Typen wie sie. Der Nachtclub gehörte den Yakusa, und auch die Männer waren Yakusa. Zwar nicht der Kopf der Yakusa, sondern deren Hände. Werkzeuge.»

«Yakusa?», fragte der Commissaris.

«Ja», sagte sie und nickte ernst. «Ich sollte mich eigentlich vor denen fürchten; alle Japaner haben Angst vor ihnen, aber ich bin nur zur Hälfte Japanerin. Mein Vater ist Amerikaner. Er war Offizier und lernte meine Mutter während der Besatzungszeit kennen. Ich bin in San Francisco aufgewachsen, dann haben sich beide scheiden lassen, und meine Mutter ist wieder nach Kobe gegangen. Dann kamen keine Unterhaltszahlungen mehr, meine Mutter musste arbeiten, und ich arbeitete ebenfalls. Da ich fließend Englisch spreche, war ich sehr gefragt, und der Chef des Nachtclubs mochte mich. Er war nur eine kleine Figur in der Organisation, aber auch er war gefährlich. Er begann als Killer, ehe man ihm die Leitung des Nachtclubs übergab. Ich habe mich mal vor denen gefürchtet, aber jetzt nicht mehr. Ich habe die beiden untersetzten Männer fotografiert.»

Sie schaute in ihre Handtasche und legte ein Foto auf den Schreibtisch. De Gier und Grijpstra stellten sich hinter den Sessel des Commissaris. Grijpstra putzte seine Brille, bevor er sie aufsetzte. Die drei Polizisten ließen sich Zeit beim Betrachten der Aufnahme. Sie sahen zwei Männer auf der Straße gehen. Grijpstra erkannte die Straße; sie lag in der Nähe der großen Reichsbibliothek. Er sah die Bäume im Garten der Bibliothek. Das Foto war etwas verschwommen.

«Ich habe sie vom Fenster des Restaurants aus aufgenommen», erklärte das Mädchen. «Sie haben nichts gemerkt. Sie waren zum Mittagessen gekommen und hatten zu viel Bier getrunken.»

Es war ein Farbfoto, und die Männer hatten ein rotes Gesicht. Sie lächelten glücklich. Beide waren ziemlich dick und trugen einen dunklen Anzug, die zweireihige Jacke spannte sich über dem Bauch. Der eine hatte kurzgeschnittenes Haar, der andere war kahlköpfig. Ladenbesitzer, dachte Grijpstra. Untere Beamte, dachte de Gier. Sie sehen aus, als seien sie gesichert und unkündbar. Es könnten Polizisten sein, dachte der Commissaris, aber bestimmt nicht bei der Kripo, denn sie haben keinen Verstand. Schlägertypen. Gangster, ja, warum auch nicht?

«Sind die Yakusa Gangster, Miss?», fragte der Commissaris.

«Keine Gangster im üblichen Sinn», sagte das Mädchen. «Einmal bin ich wieder in Amerika gewesen, um Urlaub zu machen, und habe dort einige Gangster kennengelernt, aber die amerikanischen sind anders als die japanischen.»

«In welcher Hinsicht unterscheiden sie sich?»

«In Amerika konkurrieren die Gangster miteinander. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Das würden sie in Japan nicht tun. Und in Amerika sind die Gangster auf Verbrechen spezialisiert; die Yakusa stecken überall drin. Auch in der Kunst; sie finanzieren Kunstausstellungen, sie bauen Sporthallen, sie unterstützen sogar die Regierung und die Polizei. Man kann ein religiöser Mensch und Yakusa sein. Falls Japan einen Himmel hat, werden Yakusa darin sein. Der Pförtner wird ein Yakusa sein.» Sie versuchte zu lächeln.

Der Commissaris hob den Blick vom Foto. «Wie alt sind Sie, Miss?»

«Ich bin 1946 geboren.»

«Ein Gangster bewacht das Himmelstor», sagte der Commissaris. De Gier lachte, der Commissaris drehte den Kopf. «Glaubst du, dass ein Gangster das Himmelstor bewacht, de Gier?»

«Ja, Mijnheer», sagte de Gier und richtete sich auf. Er hielt eine imaginäre Maschinenpistole, seine starke, gebogene Nase war direkt geradeaus gerichtet. «Einer auf jeder Seite des großen Tores. Gangster sind entschlossene Männer, zuverlässig, gehorsam. Sie sind nützlich.»

«Nun», sagte der Commissaris, «ich weiß nicht. Du hast mehr über sie gelesen als ich, nehme ich an. In Wirklichkeit haben wir keine Gangster in den Niederlanden. Das ist ein interessanter Gedanke.»

Grijpstra war unruhig geworden. Er räusperte sich und ging um den Schreibtisch herum.

«Ja, Grijpstra?»

Grijpstra sah erleichtert aus. «Mit diesem Foto sollte die Aufgabe einfach sein, Mijnheer.»

«Falls sie noch im Land sind», sagte der Commissaris und drückte auf einen Klingelknopf. Ein Konstabel kam herein und bekam die Aufnahme ausgehändigt sowie den Befehl, sie zur Vervielfältigung ins Zimmer des Fotografen zu bringen.

«Ja», sagte der Commissaris. «Wir werden bald wissen, in welchem Hotel sie gewohnt haben und unter welchen Namen. Sie könnten falsche Pässe benutzt haben. Wenn wir sie hier nicht erwischen, kann die japanische Polizei sie schnappen. Wir müssen über das Außenministerium mit ihrem Botschafter in Den Haag Verbindung aufnehmen. Alles Routine. Sagen Sie, Miss, warum haben diese Männer sich Mijnheer Nagai angeschlossen?»

Das Mädchen versuchte, eine Zigarette anzustecken, aber seine Hand zitterte. De Gier zündete ein Streichholz aus der Schachtel an, die auf dem Schreibtisch des Commissaris lag.

«Ich kann Ihnen einige Informationen geben», sagte das Mädchen, «aber ich möchte weiterleben. Ich muss meine Mutter unterstützen, und der Sohn meiner Schwester ist auf dem College; ich schicke ihm jeden Monat Geld. Wenn ich hierbleibe, werde ich nicht mehr lange leben. Ich hätte die Aufnahme nicht machen sollen, den Yakusa wird das nicht gefallen. Und gewöhnlich werden sie unangenehm, wenn ihnen etwas missfällt. Ich muss vorsichtig sein.»

«Sie haben einen amerikanischen Pass?»

Das Mädchen nickte.

«Was möchten Sie tun?»

«Ich ginge gern nach Amerika, aber vorher möchte ich mich für einige Wochen irgendwo verstecken, während ich mir überlege, was ich tun will. Falls ich nach Amerika gehe, darf niemand erfahren, wo ich bin. Ich muss mir den richtigen Ort überlegen. Vielleicht müsste ich meinen Namen ändern.»

«Sie brauchen einen Deckmantel», sagte der Commissaris. «Ich bin sicher, das lässt sich arrangieren. Wir sind mit der amerikanischen Botschaft befreundet, die irgendwo ein Zimmer mit einem Mann von der CIA hat. Ich kenne den Mann. Er kann Angelegenheiten sehr schnell erledigen. Wir sind nicht so schnell, aber Sie sind Amerikanerin; es wird ihm ein Leichtes sein, Ihnen zu helfen.»

«Kann ich irgendwo für einige Wochen untertauchen?»

«Ich habe eine Nichte auf dem Lande», sagte der Commissaris. «Sie hat im Fernen Osten gelebt und ist einsam. Sie könnten sie an glücklichere Zeiten erinnern. Soll ich sie anrufen?»

Der Commissaris telefonierte; das Gespräch dauerte nicht lange.

«Sie sind willkommen», sagte er, «schon heute, wenn Sie wollen. De Gier kann Sie zu einem Bahnhof fahren und dafür sorgen, dass ihnen niemand folgt. Wir werden alles gründlich machen.»

Er schaute das Mädchen an. «Vielleicht etwas Kaffee?»

«Gern.»

De Gier schenkte Kaffee ein; die drei Männer und das Mädchen bedienten sich mit Zucker und Sahne.

«Ja», sagte Miss Andrews. «Ich werde Ihnen berichten. Ich glaube, ich kann Ihnen vertrauen.» Sie schaute den Commissaris über ihre Tasse hinweg an. Er senkte den Kopf und zeigte, zögernd lächelnd, seine langen gelblichen Zähne. Der Commissaris sah ordentlich aus. Sein schütteres Haar war peinlich genau in exakt gleiche Hälften gekämmt, der Knoten seiner schmalen Krawatte tadellos. Eine dünne Goldkette zierte seine Weste.

«Die CIA?», fragte das Mädchen. «Einen neuen Pass mit einem neuen Namen für mich und einen Flugschein nach New York über Paris oder Rom?»

«Ja», sagte der Commissaris. «Die CIA schuldet uns ein paar Gefälligkeiten. Für die ist das nur eine Kleinigkeit.»

«Ich gehöre selbst zu den Yakusa», sagte das Mädchen, «und zwar seit dem Augenblick, als ich meine Arbeit in dem Nachtclub in Kobe aufnahm. Der Club hatte viele ausländische Gäste. Amerikanische Offiziere und Geschäftsleute aus Westeuropa sowie Chinesen aus Hongkong und Taiwan. Die Yakusa wollten wissen, was sich so tat. Sie stellten die Kontakte durch uns her, durch die Bardamen und Hostessen. Wenn wir etwas entdeckten, was lohnenswert war, sagten wir es dem Barmann, der es an den Manager weitergab. Dann kam jemand herunter von den Hügeln, wo der Daimyo seinen Hofstaat hat.»

«Daimyo?»

«Das Wort bedeutet Adliger. Japan wurde mal von Daimyos beherrscht, aber damals hatten sie Titel wie Graf oder Herzog. Die Titel gibt es nicht mehr, aber die Daimyos regieren weiter. Sie beherrschen die Großunternehmen und die Yakusa. Und sie sind mächtiger als die Herrscher von damals, denn der Titel geht nicht vom Vater auf den Sohn über. Die neuen Daimyos müssen sich jetzt erst bewähren.»

«Gut», sagte der Commissaris. «Erzählen Sie weiter, Miss.»

«Mein Freund Kikuji Nagai gehörte ebenfalls zu den Yakusa. Er stieß dazu, weil er das College besuchen wollte. Er bestand die Aufnahmeprüfung ohne fremde Hilfe, was sehr ungewöhnlich ist, denn Aufnahmeprüfungen in Japan sind wie Feuerproben; als müsste man barfuß über glühende Steine gehen. Man muss bei Tag und Nacht lernen. Man muss die Antwort auf Tausende und Abertausende Fragen wissen, die keine Beziehung zueinander haben. Es ist die wahre Hölle. Wir haben eine Bezeichnung dafür: Shiken Jigoku, Prüfungshölle. Kikuji bestand, aber er durfte dennoch nicht auf die Universität. Nur wenige Studenten werden zugelassen, wichtige Studenten, Söhne wichtiger Männer. Kikujis Vater war nicht wichtig.»

«Ich dachte, Japan sei eine Demokratie», sagte der Commissaris.

«Man nennt es Demokratie», sagte das Mädchen, «aber kein Japaner kennt die Bedeutung des Wortes. Die haben Regeln, die Jahrtausende alt sind. Die Bezeichnungen für die Regeln haben sich geändert, aber nicht die Regeln. Jetzt werden die Regeln als demokratisch bezeichnet.»

«Und?», fragte der Commissaris.

«Also ging Kikuji zu den Yakusa. Das ist ungewöhnlich, denn man nähert sich den Yakusa nie direkt. Aber Kikuji wurde nach dem Krieg geboren. Er glaubte nicht wirklich an die alten Regeln und erarbeitete sich oft seine eigenen Antworten. Er ging zu den Hügeln hinter Kobe, fand die Burg des Daimyo und sagte zu den Wachen, er wolle den Daimyo selbst sprechen und den Grund nicht sagen. Sie befahlen ihm zu gehen, und er setzte sich auf die Erde. Sie drohten, sie würden ihn verprügeln, und er verbeugte sich. Er beunruhigte sie. Sie sprachen mit ihrem Vorgesetzten, und der sprach mit seinem Vorgesetzten, und schließlich erwähnte jemand die Angelegenheit gegenüber dem Daimyo. Kikuji hatte zehn Stunden lang auf der Erde gesessen. Er hatte sich die Hose nass gemacht und war so steif, dass sie ihn hineintrugen und sagten, er solle ein Bad nehmen; dann gaben sie ihm Kleidung.»

Der Commissaris hatte aufmerksam zugehört. Auch de Gier und Grijpstra, die das Mädchen gespannt beobachteten. Sie sprach leise, ohne den Ton der Stimme zu verändern. De Gier erinnerte es an eine auf Tonband gesprochene Mitteilung.

«Der Daimyo stellte ihn ein. Die Yakusa versprach, seine Studiengebühren zu bezahlen. Kikuji wurde am nächsten Tag immatrikuliert, als er sich erneut bewarb. Der Rektor der Universität empfing ihn in seinem eigenen Büro und begleitete ihn bis zur Tür, wobei er sich verbeugte und durch die Zähne zischte. Wenn ein Japaner nicht weiß, was er tun soll, dann zischt er meistens oder sagt ‹saaaaah›.»

«Was hat Mijnheer Nagai studiert, Miss?», fragte der Commissaris.

«Kunst. Kunstgeschichte. Er hatte einen sehr guten akademischen Grad. Er hat sich auf Tempelkunst spezialisiert. Auf buddhistische, aber auch auf Kunst, die vom Taoismus und Hinduismus beeinflusst ist. Er hat sogar die Schöpfungen der Ainu studiert. Die Ainu sind ein Volk, das einst ganz Japan bewohnt hat, jetzt leben sie nur noch im Norden. Sie sind weiß, haben Bärte und sehen aus wie alte Russen. Ihre Kunst hat etwas mit dem Symbol des Bären zu tun. Kikuji hatte Bären gern. Er ging häufig in Zoos und sprach mit den Bären, die dann auch mit ihm sprachen. Aber nur große Braunbären, wie die von Hokkaido, der Insel im Norden Japans. Auch der Daimyo mag Bären. Er hat einige auf dem Burggelände; er spielt mit ihnen.»

«Und was hat Mijnheer Nagai gemacht, nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte?»

«Er ist gereist. Nach Taiwan und Korea und Thailand. Er hat Skulpturen und Gemälde aufgekauft. Er hat sie von Priestern gekauft, denen die Tempel anvertraut waren, hauptsächlich buddhistische Tempel. Die Priester hatten kein Recht, zu verkaufen; sie sollten sich um ihre Tempel kümmern und diese instand halten. Aber die Priester haben kein staatliches Einkommen mehr und brauchen Geld, also verkauften sie an Kikuji.»

«Und er zahlte mit Geld der Yakusa?»

Das Mädchen nickte.

«Und wohin gingen die Skulpturen und Gemälde?»

«Nach hier», sagte das Mädchen. «Er brachte sie nach Amsterdam und verkaufte sie an Händler oder ließ sie versteigern. Wenn er etwas ganz Besonderes hatte, ging er nach London, aber er kehrte immer nach Amsterdam zurück. Die Yakusa mögen Amsterdam. Die Stadt ist ruhig und schön, sie fühlen sich hier zu Hause. Sie haben hier ein Restaurant eröffnet, außerdem haben sie Büros für ihre legalen Geschäfte. Darüber hinaus besitzen sie jetzt Hotels. Mein Restaurant gehört den Yakusa.»

«Der Gewinn bei diesen gestohlenen Kunstgegenständen muss hoch sein», sagte de Gier.

«Sehr hoch. Häufig hundertmal so hoch wie der Einkaufspreis.»

«Was tun die Yakusa hier sonst noch, Miss?»

«Sie verkaufen Transistorradios und kaufen Produktionsgeheimnisse. Und unser Restaurant ist berühmt wegen der Tempura und des Sushi.»

«Ja», sagte de Gier, «ich habe in Ihrem Restaurant gegessen. Tempura sind Hummerkrabben, die in Teig getaucht und in Öl ausgebacken werden, und Sushi ist marinierter Reis, belegt mit Fisch, Früchten und Gemüse. Ein wunderbares Essen, aber ich bin nur einmal dort gewesen. Die Preise sind zu hoch. Und Sie habe ich nicht gesehen.»

«Sie müssen an einem Freitag gekommen sein, dann habe ich meinen freien Abend», sagte das Mädchen und lächelte. «Ich freue mich, dass Ihnen das Essen geschmeckt hat. Die Preise sind hoch, aber zu uns kommen Japaner mit Spesenkonten, und da spielen die Preise keine Rolle.»

«Hummerkrabben in Teig getaucht und in Öl ausgebacken», sagte Grijpstra und sah interessiert aus.

Das Mädchen lächelte wieder und nahm einen Kugelschreiber und ein Stück Papier zur Hand. Sie zeichnete einige Schriftzeichen und gab Grijpstra den Zettel. «Geben Sie das dem Mädchen an der Tür», sagte sie. «Sie werden gut bedient werden und nichts bezahlen. Sie sollten japanisches Essen probieren; es ist ein delikates Vergnügen. Aber Sie müssen innerlich zur Ruhe gekommen sein. Wenn die Speisen schnell und ohne Konzentration gegessen werden, füllen sie nur den Magen; sie haben dann keinen Geschmack.»

«Danke», sagte Grijpstra und steckte den Zettel in seine Brieftasche. «Verkaufen die Yakusa auch Rauschgift hier, Miss?»

«Ja», sagte das Mädchen, «aber nur gelegentlich. Heroin vom chinesischen Festland, das, wie ich glaube, in Hongkong in großen Mengen aufgekauft wird. Das Heroin bleibt nicht hier, sondern geht an die amerikanischen Streitkräfte in Deutschland. Die Geschäfte sind sorgfältig geplant, aber ich weiß nicht, wie sie abgewickelt werden. Der Transport muss über See erfolgen, denn ich habe im Restaurant Offiziere der Handelsmarine gesehen, japanische und niederländische. Ich habe sie mir genau angesehen und kann sie beschreiben.»

«Das ist gut», sagte der Commissaris. «Ich werde nachher einen Beamten vom Rauschgiftdezernat rufen lassen, der Ihnen einige Fragen stellen wird. Es wird nicht lange dauern. Ist Ihnen das recht?»

«Ja», sagte das Mädchen.

«Was sonst noch, Miss?», fragte Grijpstra. «Mädchenhandel?»

Das Mädchen lächelte traurig. «Nein, es gibt genug Frauen in Japan. Trotz der Geburtenkontrolle haben die Bauern zu viele Töchter. Sie werden an Bars und Bordelle vermittelt. Es gibt eine gewisse Nachfrage nach weißen und schwarzen Frauen, aber die Yakusa finden sie auf Hawaii und in Amerika und bezahlen sie gut. Dem Daimyo gefällt der Sklavenhandel nicht; er ist zu auffällig, weil die Ware redet.»

«Kunst», sagte der Commissaris. «Hat Ihr Freund eine Menge japanischer Tempelkunst verkauft?»

«Nicht zu viel. Die meisten der hier verkauften Kunstgegenstände kamen aus Thailand und Birma, aber einige Schriftrollen und Skulpturen kamen aus japanischen Tempeln, und das waren vielleicht die wertvollsten. Der Buddhismus ist in Japan zurückgegangen, obwohl er noch Millionen Anhänger hat, aber sie sind nur noch dem Namen nach Buddhisten. Die Tempel gibt es selbstverständlich noch, aber sie werden nicht immer von Priestern geleitet. Und einige Priester haben wenig oder gar keine Ausbildung und sind gelangweilt und uninteressiert. Sie verkaufen die ihnen anvertrauten Wertgegenstände, vor allem jetzt, da so große Nachfrage danach herrscht. Kikuji hat mir einige Töpfe gezeigt, hergestellt von Meistern, Schälchen für die Teezeremonie, handgeformt vor Hunderten von Jahren. Sie kamen aus einem Tempel, und er hatte sehr wenig dafür gezahlt. Sie brachten hier auf einer Auktion pro Stück Tausende von Dollars.»

«Warum ist er also ermordet worden?», fragte der Commissaris. «Falls er überhaupt umgebracht worden ist. Wir sind uns nicht sicher, wir müssen zuerst die Leiche finden. Es könnte die Leiche eines anderen sein. Vielleicht ist es die Leiche von einem der dicken kleinen Männer auf Ihrem Foto. Vielleicht ist Mijnheer Nagai sicher in einem Hotel in Utrecht und setzt sich bald mit Ihnen in Verbindung.»

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Haar flog. Es hatte einen einfachen geraden Schnitt, der ihre hohen Wangenknochen und die breite Stirn hervorhob. «Nein, er ist tot. Er wollte sich von den Yakusa absetzen und hier in Amsterdam einen Kunsthandel einrichten. Er wollte seine eigenen Waren importieren und sie legal kaufen. Er wollte sich auf Holzdrucke spezialisieren, auf antike und reproduzierte, aber die Reproduktionen werden nach der alten Methode hergestellt. Sie sind wunderschön, ich habe sie in Japan gesehen. Sie werden von Kunsthandwerkern hergestellt, denen die alten Methoden noch vertraut sind. Sie bringen hier das Drei- oder Vierfache des Einkaufspreises. Wir hätten bequem davon leben können. Ich wollte das Geschäft führen, sodass er für Einkauf und Studien Zeit gehabt hätte. Er beherrschte Englisch gut und wollte Artikel für Kunstzeitschriften schreiben. Aber die Yakusa wollten ihn nicht gehenlassen. Er hat darum gebeten, aber sie haben abgelehnt. Er dachte, er sei in Amsterdam sicher, und er sagte, er werde nicht zurückgehen. Wir haben eine Wohnung gesucht. Sie haben ihn bedroht. Sie haben auch mich bedroht, über meinen Chef im Restaurant. Sie haben nur Andeutungen gemacht, aber die sind wirksam im Japanischen.»

«Ja, ja», sagte der Commissaris. Er griff nach dem Telefon und sprach mit dem Rauschgiftdezernat. Ein Konstabel in Zivil kam, um das Mädchen in einen anderen Teil des Gebäudes zu bringen.

«Rufen Sie mich unter dieser Nummer an, wenn Sie damit fertig sind», sagte de Gier, schrieb sie auf eine Seite seines Notizbuches und riss das Blatt heraus. «Ich erkundige mich nach der Abfahrtszeit des Zuges und bringe Sie zum Bahnhof.»

Der Commissaris stand auf und schaute auf seine Uhr. «Ja», sagte er zu de Gier. «Cardozo kann im Zug mitfahren und sich ins nächste Abteil setzen. Meine Nichte wird sie an der Endstation abholen und nach Hause fahren. Was ist mit Ihrem Gepäck, Miss?»

«Ich lasse alles hier», sagte das Mädchen. «Ich habe mein Geld in bar bei mir. Es ist eine große Summe. Ich habe ein gutes Gehalt gehabt und gespart. Ich kann mir neue Kleidung kaufen. Werden Sie mir Bescheid geben, wenn mein neuer Pass fertig ist? Ich habe einige Passfotos bei mir.»

«Ja», sagte der Commissaris und legte die Fotos in seine Schublade. «Es dürfte nicht lange dauern, Sie lassen Ihren Pass am besten hier. Ich werde ihn der amerikanischen Botschaft geben.»

«Sie machen sich viel Mühe, Mijnheer», sagte Grijpstra, als das Mädchen gegangen war und der Commissaris seine Nichte angerufen hatte, nachdem er die Abfahrts- und Ankunftszeiten des Zuges mit de Gier geprüft hatte. «Und die Kleine könnte uns die Hucke volllügen.»

Der Commissaris grinste. «Meinst du, Adjudant?»

«Nein», sagte Grijpstra, «ich denke, dass ich ihr glaube, und schließlich war ja auch Blut im Wagen und ein Schädelsplitter. Jemand ist tot.»

«Vielleicht hat sie ihn selbst umgebracht», sagte de Gier, «und sie erzählt uns nur eine lange Geschichte, um uns auf eine falsche Spur zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mörder zu uns gekommen ist.»

«Glaubst du das, de Gier?», fragte der Commissaris.

«Nein, Mijnheer, das glaube ich nicht. Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt, so wie sie sie sieht. Aber es ist bekannt, dass ich mich auch früher schon geirrt habe.»

«Ja», sagte der Commissaris, «aber zunächst einmal wird sie bei meiner Nichte bleiben, die eine intelligente Frau ist. Sie hat viele Jahre in Hongkong gelebt mit ihrem Mann, der Chef einer Handelsfirma war. Und während des Krieges haben die Japaner sie in einem kleinen Lager für Frauen und Kinder interniert. Meine Nichte war die Leiterin, und die Wachen haben nur mit ihr verhandelt. Sie hat sogar gelernt, etwas Japanisch zu sprechen. Miss Andrews wird in ihrem Versteck unter enger Beobachtung stehen, und die örtliche Polizei kann ein Auge auf das Haus haben. Ich werde nachher dort anrufen.»

«Aha», sagte Grijpstra, «das ist etwas anderes. Und sie hat ihren Pass abgegeben, sodass sie nicht davonlaufen kann. Meinen Sie, dass die Amerikaner helfen werden?»

«Bestimmt. Und wenn dieser Tipp, wonach das Rauschgift nach Deutschland geht, ihnen weiterhilft, werden sie dankbar sein. Die wissen, dass Rauschgift über Amsterdam in die Truppenunterkünfte bei Köln und Bonn gelangt, und die von der CIA sollen den Handel unterbinden. Sie arbeiten mit uns zusammen.»

«Wenn Cardozo mit dem Mädchen fährt, dann übernehme ich heute Abend wohl besser die Aufsicht über die Kriminalbeamten», sagte de Gier. «Ich werde ihnen Abzüge von dem zweiten Foto geben. Wir können die Spur dieser beiden Spaßvögel verfolgen, aber sie werden nicht mehr hier sein. Sie werden in einer Maschine der Japan Air Lines auf dem Rückflug nach Tokio sein. Wir müssen uns beeilen, Mijnheer. Soll ich die Militärpolizei am Flughafen alarmieren?»

«Ja», sagte der Commissaris, «aber die Verdächtigen werden vermutlich über Brüssel oder Paris fliegen, und es ist zu spät, um die belgische und französische Polizei zu alarmieren, obwohl wir es vielleicht über Fernschreiber versuchen könnten. Übernimm du das, de Gier. Ich werde mich mit dem Außenministerium in Verbindung setzen, vielleicht sind die dort interessiert. Außerdem kann ich mit dem japanischen Konsul hier in Amsterdam sprechen. Grijpstra, du bringst das Mädchen zum Zug und kannst heute Abend ebenfalls herumschnüffeln. Sieh nach, ob bei uns gegen den Manager des Restaurants etwas vorliegt. Geh hin und verhöre ihn trotzdem. Wir werden sie ein wenig aufscheuchen.»

«Mijnheer», sagten beide und gingen. Der Commissaris griff wieder zum Telefon.

«Eine Japan betreffende Angelegenheit?», fragte ein Angestellter im Außenministerium. «Unser Botschafter in Japan ist für einige Tage hier. Möchten Sie ihn vielleicht sprechen, Mijnheer? Er ist irgendwo im Haus; ich kann ihn für Sie suchen lassen.»