Die Katze von Brigadier de Gier - Janwillem van de Wetering - E-Book

Die Katze von Brigadier de Gier E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

«An Wagen Vierzehn-Sechs.» «Vierzehn-Sechs.» «Brigadier», sagte der Polizist, «Blau, und tot auch, na klar.» «Was?» «Das hat der Verhaftete gesagt», erklärte der Mann. «Und was hat er sonst noch gesagt?» «Nichts weiter.» Janwillem van de Wetering schreibt nicht nur ungewöhnliche Kriminalromane, sondern auch ungewöhnliche Kurzgeschichten. Spiegelfacetten, die den ganz alltäglichen Alltag erkennen lassen, mit Menschen, die auf ebendieses alltägliche Leben ganz unalltäglich reagieren. Einfach, weil sie aus dem Schema springen, weil sie einen Gedanken konsequent zu Ende denken. Plötzlich haben sie – und wenn auch nur für einen Augenblick – ihr Leben in der Hand, geben ihrem Dasein eine andere Richtung, eine neue Qualität. Wenn Brigadier de Gier und Adjudant Grijpstra ihrem Beruf nachgehen, vergessen sie nie, dass sie es mit Menschen zu tun haben, oft sehr üblen Typen, aber manches Mal sind auch arme, vom Schicksal gebeutelte Männer und Frauen darunter, die das Mitgefühl der beiden Amsterdamer Polizisten spüren und bereitwillig ihre Geschichte erzählen. Oder sie erzählen einfach dem Leser ihre Geschichte, und der hört ebenso aufmerksam zu wie de Gier und Grijpstra.

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Janwillem van de Wetering

Die Katze von Brigadier de Gier

Kriminalstorys

Aus dem Niederländischen von Hubert Deymann und Erwin Peters

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Blau, und tot auch, na klarDie Katze von Brigadier de GierDie Aufgabe ohne VerpflichtungSechs hin – sechs herBrief vorhandenDie Morde im DollebegijnensteegTempelbesuch in JapanErlösende TräumeEine fürchterliche RachePiff-paff-puffDer Osterhase und die Leiche
[zur Inhaltsübersicht]

Blau, und tot auch, na klar

Der Abend war vorüber, und jetzt sollte es Nacht werden, aber so ganz dunkel war es noch nicht. Das hatte Brigadier de Gier festgestellt und dem Adjudanten Grijpstra mitgeteilt. Der Brigadier hatte den Adjudanten auf die sonderbare Farbe des Himmels hingewiesen, der sich metallblau über die Hauptstadt spannte; das Leuchten war überall und nicht nur in den hier und da schon sichtbaren Sternen wahrzunehmen.

«So», sagte Grijpstra.

«Blau», meinte De Gier nachdenklich, «und nicht nur einfach blau. Eine merkwürdige Farbmischung, oder?»

«Wozu sind wir eigentlich hier?», fragte Grijpstra.

De Gier strich über seinen vollen Schnurrbart und tastete dann an seiner markanten Nase – eine gerade Nase, aber äußerst empfindlich. Die Stimme klang geduldig. «Wir warten auf die Heroinhändler, Adjudant.»

«Und wann kommen die?»

«Das wissen wir nicht.»

«Und wie sehen sie aus?»

«Auch das wissen wir nicht.»

Adjudant und Brigadier, zwei erfahrene Männer des Amsterdamer Morddezernats, die – weil gerade kein Mord vorlag – beim Rauschgiftdezernat aushalfen, verfielen wieder in Schweigen. Sie schwiegen in einem blauen Volkswagen, der am Brouwersplein stand, gegenüber dem Concertgebouw, Richtung Museumplein. Sie trugen keine Uniform. Und jetzt warteten sie also.

«Worauf warten wir wieder?»

«Du fragst mir Löcher in den Bauch», sagte De Gier, «der Tipp stammt von der Observierung und ist deshalb geheim und nicht einmal sicher. Ein Polyp, ein hübscher Junge wie ich, einer, der sich unauffällig benehmen kann, und das auch in höheren Kreisen, hat in einem Bordell für den betuchten Unternehmer, den pfiffigen Steuerhinterzieher, den schmierbaren höheren Beamten und den gerissenen Importkaufmann gehört – wahrscheinlich im Klo oder beim Vögeln auf Staatskosten –, dass heute Heroin geliefert werden soll. Und zwar hier.»

«Und?», fragte Grijpstra.

«Tja», sagte De Gier bloß.

Grijpstra ließ Zigarrenasche auf seinen Streifenanzug fallen und fummelte an seinem grauen Stoppelhaar herum, das aufrecht stehenblieb. «Soll ich dir mal was sagen? Die haben uns auf den Arm genommen.»

«Wär nicht zum ersten Mal», meinte De Gier. «Aber der Himmel ist jedenfalls schön. Schau ihn dir an, ehe er schwarz wird, jetzt kannst du ihn noch genießen.»

Grijpstra fluchte, ganz langsam, denn er hatte Zeit.

«Blöd, dass die Kerle von der Observierung niemals eine Personenbeschreibung geben», begann De Gier wieder, «denn so weiß ich eigentlich nicht einmal, was wir hier machen sollen. Oder meinst du, da käme so ein feiner Pinkel, der einem anderen ein Päckchen in die Hand drückt?»

«Bah», meinte Grijpstra.

«Tolle Frau», platzte De Gier heraus.

«Wo?»

«Da. Die mit der Sommerjacke, mit dem blauen Schal und den blauen Schuhen. Sie flennt, schade, obwohl heulende Frauen zuweilen auch ihren Reiz haben.»

«Sie flennt aber nur ein ganz kleines bisschen», sagte Grijpstra, «und das ist ja nicht verboten. Uns geht’s jedenfalls nichts an.»

«Vielleicht eine Nutte.»

«Ach was», wehrte Grijpstra ab. «Und wenn schon, auch dieser Beruf ist erlaubt.»

«Hier nicht. Sie steht hier am Concertgebouw, und da gibt es ein Lokal. Auf Freier warten in unmittelbarer Nähe von Gaststätten ist verboten.»

«Lass die Frau in Ruhe», knurrte Grijpstra.

«Sieh mal da», begann De Gier wieder. «Ein Handkarren. Mit Lumpen. Und unbeleuchtet. Das ist verboten.»

«Er stellt den Karren gerade ab. Wenn er parkt, braucht er keine Lampe. Ich kenne ihn übrigens, das ist Blaue Pietje, der letzte Lumpenhändler unserer Stadt. Er säuft Spiritus.»

De Gier ordnete den Seidenschal unter seiner Nietenjacke. «Erzähl mir mal was über diesen Blaue Pietje, sonst geht die Zeit überhaupt nicht rum.»

«Ist schon ein paar Jahre her», begann Grijpstra. «Damals gab’s das Revier Leidseplein noch. Ich war zufällig da, und Blaue Pietje kam mit seiner Frau herein, einer dicken, genau wie meine Frau. Vielleicht war sie sogar noch dicker, wenn so was überhaupt möglich ist. Die Frau kam, um Anzeige zu erstatten, und Blaue Pietje war mitgegangen, vielleicht nur so, aber wohl auch, weil er etwas damit zu tun hatte.»

«Ja?», wunderte De Gier sich.

«Wenn du mich dauernd unterbrichst, dann hör ich auf.»

«Schon gut. Sieh mal, da geht ein Mann mit einem Päckchen. Ob da wohl Heroin drin ist? Quatsch, das ist ein Geschenk für seine Frau. Seine Alte hat sicher Geburtstag. Erzähl weiter.»

«Mien hieß sie, die Frau vom Blaue Pietje, und sie hatte sich den Tripper geholt.»

«Und das hat sie angezeigt?»

«Na ja, es gehörte zur Anzeige. Der Nachbar hatte sie angesteckt, und Blaue Pietje hatte ihn dann auch bekommen.»

«Soll ich den mal fragen, was er in dem Päckchen hat? Nun guck dir das doch an. Ein feiner Herr, und der belästigt unsere blaue Jungfer. Bloß weil die flennt. Und dabei hat seine eigene Alte Geburtstag. Mann, zieh Leine.»

«Hat er das Päckchen noch?», wollte Grijpstra wissen.

«Ja.»

«Hat er das Päckchen vielleicht mit einem anderen vertauscht, das die Frau bei sich hatte?»

«Nein, ich habe aufgepasst.»

«Ich kann von hier aus nicht viel erkennen», sagte Grijpstra. «Ja, also, die Mien erstattete Anzeige gegen den Nachbarn, weil der ihr den Tripper verpasst hatte. Das konnte sie sogar beweisen.»

«Also, wenn du mir jetzt Sauereien erzählen willst, ich hab keinen Bedarf.»

«Quatsch. Sie hatte Pillen mitgebracht, in einem Fläschchen. Das hat sie uns auf den Tisch gestellt. Als Beweis für ihre Krankheit, verstehst du?»

«Aber von der Anzeige begreife ich nichts.»

«Weil du zu jung bist», tadelte Grijpstra. «Du kennst die alten Gesetze nicht mehr. Grünschnäbel, wie du, beschäftigen sich mit allem immer nur oberflächlich, aber wenn du die Hintergründe nicht kennst, dann kommst du nie weiter.»

«Wann soll die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten denn verboten gewesen sein?»

«Im Krieg. Ein deutsches Gesetz, damit Heinz und Karl, die hier ihre Besatzungspflicht erfüllten, sicher waren, wieder mit einem zeugungsfähigen Schwänzchen in die Heimat zurückkehren zu können.»

«Und Blaue Pietje?»

«Dem war das eigentlich schnuppe. Er säuft seinen Sprit, und der desinfiziert. Eigentlich war er nur mitgegangen, um seiner Frau einen Gefallen zu tun, denn die hatte einen Rochus auf den Nachbarn.»

«Dass du dich daran noch erinnern kannst», staunte De Gier. «Du hast einfach ein fabelhaftes Gedächtnis.»

«Normalerweise hätte ich das wohl längst vergessen, aber am selben Abend hätte ich Blaue Pietje beinah noch über den Haufen gefahren, als er seinen unbeleuchteten Handkarren durch eine dunkle Gasse schob.»

«Und? Dann hast du ihm einen Strafzettel verpasst?»

«Ach wo», winkte Grijpstra ab. «Ich hab ihm bloß gut zugeredet. Ein Säufer mit Gonokokken kriegt von mir keinen Strafzettel. Außerdem bewies er mir sogar, dass er eine Beleuchtung bei sich hatte. Er zog eine Kerze aus der Tasche und zündete die vor meiner Nase an. Angeblich hatte er sie nur deshalb eben in die Tasche geschoben, weil der Wind sie ausgeblasen hatte.»

«Unsere Jungfer schluchzt immer noch», sagte De Gier, «und außerdem bleibt sie da stehen. Was mag das arme Kind doch bloß haben?»

«Die Vierzehn-Sechs», kam eine helle Stimme aus dem Lautsprecher unter dem Armaturenbrett des blauen Volkswagens.

Grijpstra zog das Mikrophon heraus. «Was gibt’s? Hier ist die Vierzehn-Sechs.»

«Sie machen’s schon wieder falsch», antwortete der Lautsprecher. «Auch die Polizei muss sich nach den Vorschriften richten. Melden Sie sich bitte zuerst mit Ihrer Nummer, und dann können Sie fragen, was ich Ihnen zu sagen habe.»

«Ja, Zicke», sagte Grijpstra.

«Zicke?», wiederholte der Lautsprecher.

De Gier nahm Grijpstra das Mikrophon aus der Hand. «Hier die Vierzehn-Sechs, Sientje. Brigadier de Gier. Was kann ich denn für dich tun?»

«Ach, du bist’s, mein Lieber», erwiderte der Lautsprecher. «Fahr doch mal zur Hauptwache an der Elandsgracht. Da haben die Kollegen Ärger mit einem Mann.»

«Bin schon unterwegs», sagte De Gier.

Und schon brauste der Volkswagen davon.

«Und das Heroin?», fragte Grijpstra.

«Das wird wohl warten, bis wir zurückkommen», erwiderte De Gier lakonisch. «Sientje sitzt selbst in der Hauptwache, und wer weiß, vielleicht wird der Kerl sogar bei ihr handgreiflich. Also, ab geht die Post.»

Grijpstra klammerte sich am Armaturenbrett fest. «Hör mal, das ist ein Zivilauto. Keiner sieht, dass … Herrgott noch mal!»

«Soll der Kerl mit seinem Rad doch auf dem Bürgersteig fahren!»

«Ho!»

«Nix ho. Wenn die Kollegen Hilfe brauchen, dann vergesse ich auch die Verkehrsregeln.»

«Mann, pass auf, die Ampel!»

«Meinetwegen.»

«Achtung, Straßenbahn!»

«Polizei hat Vorfahrt», brummte De Gier. «Auf den Schienen komme ich auch schneller voran. So, da wären wir.»

 

«Was für Probleme habt ihr denn?», fragte Grijpstra.

«Tja», erklärte der Polizist, «wir sitzen hier an der Eingangstür, und der Mann ist betrunken. Wenn wir ihn festnehmen, dann passt niemand mehr auf den Eingang auf.»

«Aber ihr seid doch zu zweit», sagte De Gier. «Wenn du ihn festnimmst, dann bewacht dein Kollege den Eingang so lange.»

«Aber der lässt sich nicht festnehmen», flüsterte der Polizist.

«Gewaltanwendung», gab De Gier ebenso leise zurück, «ist unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, das hast du bei der Ausbildung wohl zu hören bekommen?»

«Der ist mir viel zu groß», meinte der Polizist.

Der Mann war tatsächlich ein Goliath, zwei Meter lang und mit ausladenden Schultern. Er war gut gekleidet und schwankte wie eine Fichte im Sturm, während er sich mit einer Hand am Türpfosten festhielt.

«Bist du auch von der Polizei?», fragte er lächelnd.

«Brigadier de Gier, wenn’s Ihnen recht ist.»

«Du bist mir schon recht», antwortete der Mann, «denn wenn du mir nicht recht wärst, dann würd ich dich zerquetschen. Ich habe heute Abend jemanden umgebracht, und jetzt will ich verhaftet werden. Ich gehöre ins Kittchen.»

Grijpstra ging hinein. Der Polizist schaute von seinem Schreibtisch auf.

«Also, was ist nun los?»

«Dieser Herr hat überhaupt niemanden umgebracht, Adjudant. Er ist bloß betrunken. Angeblich hat er mit dem Auto einen tödlichen Unfall verursacht, auf dem Brouwersplein, aber das ist natürlich Quatsch.»

«Wann?»

«Wir sind schon seit einer Stunde mit ihm zugange, und wir kommen einfach nicht weiter. Ich kann auch nicht weg von hier, um nachzusehen, denn dann wäre die Hauptwache ja nicht mehr bewacht.»

Der Adjudant atmete tief durch. «Lieber Kollege», sagte er, «auf der Schule haben wir doch mal zählen gelernt. Und wenn ich nicht alles wieder verlernt habe, dann seid ihr doch zu zweit.» Er deutete auf den Polizisten. «Eins», und er zeigte auf dessen Kollegen, der mit dem Mann und De Gier sprach, «zwei.»

«Ich weiß ja nicht, wie ihr das bei der Kripo macht, Adjudant», sagte der Polizist, «aber wir Uniformierten arbeiten immer zu zweit. Mein Kamerad und ich, wir haben zusammen Dienst, und so lange müssen wir zusammenbleiben.»

«Genug jetzt», sagte Grijpstra gelangweilt. «Ich werde den Mann verhaften und zum Zellenblock bringen. Mijnheer!»

«Ja?», antwortete der Angesprochene.

«Sie sind verhaftet. Wegen Hausfriedensbruchs. Wollen Sie mir zu Ihrer Zelle folgen?»

Der Mann verschluckte sich.

«Mitkommen!», befahl Grijpstra.

Der Mann ballte seine rechte Hand zur Faust. Dann betrachtete er prüfend die Faust.

«Los, ein bisschen dalli!»

Die Faust donnerte gegen Grijpstras Kinn, und der knallte lang hin. De Gier sprang hinzu. Er schlug den Arm des Mannes nach oben und zog ihn gleich darauf auf dessen Rücken. Dann ergriff er den anderen Arm, und in Sekundenschnelle klickten die Handschellen an beiden Handgelenken.

«Übernimm ihn», rief De Gier einem der Polizisten zu. Dann kniete er sich neben Grijpstra. «Geht’s wieder?»

Grijpstra schloss die Augen.

«Krankenwagen», rief De Gier dem Polizisten in der Loge zu, und der nahm den Hörer auf.

Plötzlich holte der Mann zu einem Fußtritt aus, aber De Gier sah den Tritt kommen. Mit einer raschen Bewegung wich er aus und fasste den Fuß des Mannes, um ihn nach vorn zu ziehen. Mit einem dumpfen Knall schlug der Mann zu Boden.

«Bringt ihr ihn in die Zelle?», fragte De Gier. «Oder muss ich das machen? Ich möchte lieber so lange beim Adjudanten bleiben.» Die beiden Polizisten schleppten den Verhafteten weg. Draußen heulte eine Sirene. De Gier öffnete die Tür.

«Guten Abend», grüßten die Sanitäter. «Ihr habt doch wohl hoffentlich keinen zusammengeschlagen?»

«Kollege von mir», erklärte De Gier. «Fasst ihn ein bisschen behutsam an. Schließlich ist er mein Freund.»

«Wir sind immer vorsichtig. Komm, Kumpel, fass an.» Grijpstra öffnete die Augen.

«Machen Sie sich nicht so schwer», sagte der Sanitäter. «Sie sind nämlich ganz schön schwer.»

«Ich bin nicht schwer», protestierte Grijpstra, «und ich mach mich auch nicht schwer. Ich war nur einen Augenblick weggetreten, aber jetzt bin ich wieder voll da. Wo ist der Kerl, De Gier?»

«Der ist schon in der Zelle, und du gehst jetzt schön mit zum Onkel Doktor.»

«Nein.»

«Los, nehmt ihn einfach mit.»

Die Sanitäter setzten die Bahre ab. «Nicht wenn der Patient sich weigert.»

De Gier hielt dem Sanitäter, der das gerade gesagt hatte, die geballte Faust unter die Nase.

«Los, ihr nehmt ihn mit.» Dann hielt er Grijpstra die Faust unter die Nase. «Und du gehst mit ihnen. Du bist mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen, und ich will wissen, ob du davon nicht eine Gehirnerschütterung abbekommen hast. Wenn’s nicht so ist, dann darfst du zurückkommen.»

«Wer von euch beiden ist denn der Ranghöchste?», fragte der Sanitäter.

«Er», antwortete De Gier, «aber ich bin der Stärkere. Ich hab den schwarzen Judogürtel.»

«Komm, Kumpel, wir ziehen Leine», sagte der Sanitäter.

«Dann gehe ich auch», sagte De Gier zu den beiden Polizisten, die wieder zurückkamen. «Angenehmen Dienst weiterhin.»

 

Das blaue Auto stand wieder auf dem Brouwersplein, gegenüber dem Concertgebouw, Richtung Museumplein. De Gier saß hinter dem Lenkrad. Er nahm das Mikrophon in die Hand. «Die Vierzehn-Sechs.»

«Ja, mein Lieber?», meldete die Zentrale sich.

«Ich bin wieder auf Posten», sagte De Gier, «und ich habe eine Bitte.»

«Und die wäre?»

«Kannst du mal eben einen von den beiden Männern vom Wachtresen ans Mikrophon holen und mit mir reden lassen?»

«Brigadier?», meldete der Polizist sich kurz darauf.

«Hör mal», begann De Gier, «das ging vorhin alles ein wenig bunt her. Was war denn nun genau los mit diesem Mann?»

«Der Verhaftete ist betrunken», lautete die nichtssagende Antwort.

«Das weiß ich selbst. Aber was sonst?»

«Er behauptete, dass er auf dem Brouwersplein jemanden zusammengefahren hätte.»

«Einzelheiten.»

Der Polizist grinste. «Der wäre blau gewesen.»

«Wer? Den er zusammengefahren hat?»

«Ja, Brigadier, das Unfallopfer soll blau gewesen sein. So hat’s der Mann gesagt.»

«Ende.» De Gier hängte das Mikrophon wieder unter das Armaturenbrett.

Da, dachte De Gier, da steht die blaue Jungfer noch immer, und sie schluchzt die ganze Zeit ins Taschentuch. Ich werd sie mir doch mal aus der Nähe ansehen müssen.

Er stieg aus und ging auf die Frau zu.

«Guten Abend.»

«Verschwinden Sie», ließ die Frau ihn abblitzen.

«Ich wollte Sie nur etwas fragen, Mevrouw. Ich bin von der …»

Ein Streifenwagen hielt neben De Gier. Zwei Beamte stiegen aus. Sie hatten die Mützen im Auto liegen lassen und hielten die Hände in den Uniformtaschen. «Was gibt’s denn hier?»

«Dieser Mann belästigt mich», sagte die Frau.

Die Polizisten wandten sich De Gier zu. «Wir beobachten Sie schon eine Weile. Zuerst, wie Sie in Ihrem Auto saßen, und jetzt belästigen Sie diese Dame. Also los, Mann, verschwinden Sie, und seien Sie froh, dass wir Sie so davonkommen lassen.»

De Gier zeigte seine Polizeimarke.

Die Polizisten schoben ihn sanft weiter, bis sie sich ein Stück von der Frau entfernt hatten. «Hören Sie, Kollege», sagte der Ältere der beiden, «auch wir Polizeibeamten dürfen flennende Weiber nicht belästigen. Klar, die Versuchung ist groß, denn wenn sie einmal heulen, dann sind sie weich, und dann hat man sie gleich so weit, wie man sie gerne hätte, aber wir Staatsdiener müssen nun einmal besonders vorsichtig sein. Stimmt doch, Kollege?»

De Gier hielt dem Polizisten seine Armbanduhr unter die Nase. «Schau mal, Kollege, wie der Sekundenzeiger läuft.»

«Wieso?», fragte der andere verwirrt.

«Noch fünf Sekunden, und dann seid ihr beiden verschwunden. Ich muss mit dieser Frau reden, und euch beide kann ich dabei am allerwenigsten gebrauchen. Okay?»

«Ich glaub, du hast den Brigadier nicht erkannt, Kamerad», sagte der Jüngere der beiden, «aber Rinus de Gier ist Meister im Judo. Einen schönen Abend noch, Brigadier.»

De Gier ging zurück zu der Frau. Er zeigte auch ihr seine Polizeimarke. «Mevrouw», sagte er, «Sie weinen. Sind Sie zufällig von einem Auto angefahren worden?»

Die Frau schluchzte wortlos weiter.

«Na, jetzt sagen Sie’s schon. Das Heulen steht Ihnen gar nicht gut, und außerdem kriegen Sie davon geschwollene Augen. Also, Sie wurden von einem Auto angefahren, und davon haben Sie einen Schock bekommen. Stimmt’s?»

«Nein», sagte die junge Frau, «und ich habe auch keine geschwollenen Augen.»

«Möchten Sie eine Zigarette?»

«Ich rauche nicht auf der Straße.»

«Wir können uns ja so lange in mein Auto setzen.»

Die Frau zog an ihrer Zigarette.

«Nun?», drängte De Gier.

«Ich werd’s Ihnen erzählen», begann die Frau. «Ich habe ein Verhältnis mit Mijnheer Doeskate, und er hat mir die Ehe versprochen.»

«Ist das wahr!» De Gier heuchelte Interesse.

«Schon ein Jahr dauert dieses Verhältnis, und er wollte sich scheiden lassen.»

«Tatsächlich?»

Die Frau putzte sich die Nase. «Aber das zog sich in die Länge, und deswegen bin ich heute Abend zu ihm gegangen.»

«So?»

«Und Mevrouw Doeskate öffnete mir die Tür. Sie fragte, was ich wollte. Und ich hab gesagt: ‹Ich bin die Freundin von Ihrem Mann›, und dann hat sie mich reingelassen. Dann hat sie ihren Mann gerufen, und ich hab ihn glatt heraus gefragt: ‹Also, wie sieht’s jetzt aus? Lässt du dich scheiden, oder bleibst du hier?› Aber der drehte sich bloß um, lief in die Küche, holte sich eine Flasche Genever und trank sie hintereinander aus. So, aus der Flasche.»

«Ist nicht möglich», staunte De Gier amüsiert.

«Und als die Flasche leer war, da ließ er sie fallen und rannte hinaus. Seine Frau machte mir Vorwürfe: ‹Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben.› Ich bin ihm nachgelaufen, aber als ich auf die Straße kam, fuhr er gerade fort.»

«Soso», meinte De Gier.

«Er konnte in seinem Zustand kaum fahren, aber er fuhr doch bis hierhin, und ich fuhr in meinem Wagen hinterher. Ich sah, wie er parkte. Sehen Sie, da steht sein Wagen.»

«Dieser Mercedes?»

«Ja, der Fiat, der dahinter steht, ist meiner.»

«Ich verstehe», sagte De Gier nachdenklich.

Die Frau begann wieder zu schluchzen. «Wenn er den Wagen da nicht geparkt hätte, hätte ich ihn gar nicht gesehen, ich wusste nämlich gar nicht, wohin er gefahren war. Ich bin eigentlich nur instinktiv in die Richtung gefahren, die er meist fuhr. Ja, und da hat er den Wagen also hier in die Parklücke gesetzt, ganz umständlich, weil er so viel getrunken hatte.»

«Ist Ihr Freund zufällig ein sehr großer Mann?»

«Zwei Meter zwei, und so breite Schultern.»

«Aua.»

«So breit», sagte die junge Frau, «ach Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht ins Gesicht schlagen, aber so breit ist er ungefähr.»

De Gier rieb sich das Auge.

«Und dann sah ich», fuhr die Frau fort, «wie er zur Hauptwache der Polizei lief, aber ich wagte nicht mehr, ihn anzureden, weil er so betrunken war. Er brauchte eine ganze Weile, ehe er den Türgriff zu fassen kriegte, aber dann ging er hinein. Und ich warte jetzt hier bei seinem Auto, bis er zurückkommt.»

«Da werden Sie wohl noch eine Weile warten müssen, denn er hat einen Kollegen von mir zusammengeschlagen. Hat er Sie nicht angefahren?»

«Nein», antwortete die Frau verständnislos.

«Na, dann gehen Sie jetzt wohl besser nach Hause.»

Die Frau stieg aus, und De Gier nahm das Mikrophon in die Hand. «Hauptwache? Die Vierzehn-Sechs.»

«Ja, mein Lieber?»

«Kann ich noch mal mit dem Kollegen reden?»

«Brigadier», meldete sich der Polizist.

«Geh doch noch mal zu dem Mann in die Zelle und frag ihn nach dem Unfall. Und dann erzählst du mir ganz genau, was er dir sagt.»

Eigentlich sollte ich ja hier Heroinhändler aufspüren, dachte De Gier, aber jetzt will ich doch erst mal wissen, was das mit diesem Unfall auf sich hat. Die Sache mit dem Heroin kann ich sowieso vergessen, denn gleich ist das Konzert aus, und wenn dann in der Menschenmenge, die aus dem Concertgebouw herauskommt, ein Päckchen den Besitzer wechselt, dann kriege ich das sowieso nicht mit. Außerdem arbeite ich für das Morddezernat und nicht für die Kollegen vom Rauschgift.

«An Wagen Vierzehn-Sechs.»

«Vierzehn-Sechs.»

«Brigadier», sagte der Polizist, «blau, und tot auch, na klar.»

«Was?»

«Das hat der Verhaftete gesagt», erklärte der Mann.

«Und was hat er sonst noch gesagt?»

«Nichts weiter.»

De Gier hängte das Mikrophon wieder ein. Also, wenn es ja etwas gibt, was mich ankotzt, dachte der Brigadier, dann ist das eine ganz einfache Situation, die ich nicht kapiere. Blau! Was war blau? Diese Jungfer war blau, aber die war’s nicht.

De Giers Auto stand vor dem Lumpenkarren. Er schaute in den Rückspiegel. Die Lumpen bewegten sich. De Gier stieg aus.

«Pennst du etwa hier?», fragte De Gier.

«Na ja, so ’n bisschen. Der Karren ist so schwer, und Mien guckt heut Abend wieder Fernsehen. Ich find Fernsehen doof. Ich ruh mich lieber aus. Willste ’n Schluck?»

«Spiritus?»

«Alter Genever», protestierte Blaue Pietje. «Bei dem vielen Zaster, den ich von der Sozialhilfe kriege, brauch ich keinen Spiritus mehr zu saufen. Das mit den Lumpen, das ist mein Hobby, und wenn ich ein bisschen Beschäftigung hab, dann brauch ich auch nicht den ganzen Tag zu saufen. Trotzdem eigentlich schade, weißte, denn der Spiritus hatte so einen kräftigen Geschmack.»

«Jedenfalls bist du noch immer blau», meinte De Gier lakonisch.

«Ja, Blau ist doch die schönste Farbe. Willste wirklich keinen Schluck?»

De Gier schob die hingehaltene Flasche zur Seite. «Jetzt erzähl mir mal, Pietje, hat dich heut Abend vielleicht einer angefahren?»

«Nööö.»

«Bestimmt nicht?»

«Nein», brummte Pietje wütend. «Meinst du vielleicht, dass ich dich ankohle? Hab ich doch gar nicht nötig, bei der Sozialhilfe.»

«Jetzt beruhig dich mal, Pietje», sagte De Gier. «Ich will dir ja alles glauben. Aber hier wurde heute Abend ein Blauer angefahren, und du bist blau.»

«Wenn mich einer angefahren hätte», sagte Pietje, «dann würde ich das auch sagen. Auch wenn ich bloß Lumpenhändler bin, aber ich lass mich doch nicht überfahren. Nicht mal von ’nem Mercedes.»

«Aha», De Gier horchte auf, «es war also ein Mercedes, wie?»

«Ja, aber der hat mich doch nicht überfahren», antwortete Pietje. «Der ist gegen den Signalmast da auf der Verkehrsinsel gefahren. Und das ist mir schnuppe. Die Dinger stehen doch bloß im Weg. Ich fahre auch oft genug gegen so ein Mistding, auch wenn ich keinen Mercedes habe.»

De Gier saß wieder in seinem Wagen. Die Sache wollte ihm nicht einleuchten: Wie kann der Mast denn noch da stehen, wenn er umgefahren wurde?

Also stieg er aus, um sich den Mast einmal aus der Nähe anzusehen. Im Mast brannte ein blaues Licht.

Wenn der Mast umgefahren und anschließend wieder aufgestellt worden wäre, dann würde das Licht doch gewiss nicht mehr brennen, dachte De Gier.

Im Mast war eine Delle. In der Höhe einer Stoßstange. De Gier ging zum Mercedes. Dessen Stoßstange hatte auch eine Delle.

Er setzte sich wieder hinter das Lenkrad und seufzte zufrieden. Also, wenn es ja etwas gibt, was mir gefällt, dachte der Brigadier, dann ist das eine klare Situation. Der Verhaftete ist also gegen den Mast gefahren, weil er betrunken war. Er war so betrunken, dass er eine ganze Weile brauchte, ehe er den Türgriff zu fassen kriegte. Wahrscheinlich konnte er nicht einmal den Unterschied zwischen horizontal und vertikal feststellen. Und den Unterschied zwischen einem Mast und einem Menschen konnte er ebenso wenig feststellen. Er war einfach überzeugt, dass er einen Menschen angefahren hatte, und dafür wollte er büßen, zumal er von einem Schuldgefühl gequält wurde, denn er hatte die Dame in Blau hinters Licht geführt und zugleich seine Ehefrau betrogen. Dann ging er zur Polizei, aber die Beamten wollten ihn nicht festnehmen. Grijpstra wollte das dann machen, aber plötzlich fürchtete der Mann, dass man ihn vielleicht nur wegen Trunkenheit am Steuer und fahrlässiger Tötung verurteilen könnte. Deshalb schlug er Grijpstra nieder. Betrunkene sind nun einmal unberechenbar. So war das alles.

Er nahm das Mikrophon. «Die Vierzehn-Sechs.»

«Ja, mein Lieber?»

«Hallo, Sientje», grüßte De Gier, «du solltest nicht immer ‹mein Lieber› zu mir sagen. Was sollen die Kollegen denn von uns denken?»

«Nichts, mein Lieber.»

«Schon was von Grijpstra gehört?»

«Blutunterlaufenes Kinn, sonst nichts. Er ist schon unterwegs zu dir.»

Grijpstra klopfte an die Windschutzscheibe. De Gier öffnete ihm die Tür.

«War nichts», meinte Grijpstra verärgert. «Ich hab mich ganz schön blamiert, und alles nur wegen dir. Werd ich dir so schnell nicht vergessen.»

«Tut mir leid», brummte De Gier. «Soll nicht wieder vorkommen. Solltest du mal wieder bewusstlos werden, dann werde ich dir noch einen kräftigen Tritt gegen den Kopf verpassen.»

«Danke schön im Voraus», sagte Grijpstra. «Wie ist die Sache mit dem Heroin?»

«Was für Heroin?»

«Das Heroin, das auf dem Brouwersplein geliefert werden soll. Die große Sendung.»

«Ach so, das Heroin!»

«Genau, das Heroin», bestätigte Grijpstra.

De Gier fluchte.

«Warum fluchst du denn jetzt?»

«Weil ich das nicht verstehe.»

«Wieso, was verstehst du nicht?»

De Gier deutete mit dem Daumen. «Schau mal da. Ein Auto von den Stadtwerken steht da neben der Verkehrsinsel, und jetzt schließt der Fahrer in seiner blauen Uniform die Klappe im Mast auf. Da, wo das blaue Licht brennt.»

«Das sehe ich», meinte Grijpstra schulterzuckend, «aber das ist doch kein Grund zum Fluchen. Das ist eine ganz normale Kontrolle.»

«Tatsächlich? Nachts um zwölf? Was kontrolliert der denn da?»

«Na, einfach so, ob das blaue Licht brennt. Wenn dieses Lämpchen nicht brennen würde, dann könnte jemand den Mast übersehen und dagegen fahren. Der Mann von den Stadtwerken tut nur seine Pflicht.»

«Die blaue Lampe brennt», sagte De Gier mit leichtem Kopfschütteln. «Das sehe ich, und du kannst es auch sehen. Demzufolge kann der Mann von den Stadtwerken das auch sehen. Aber trotzdem schließt er mit seinem Spezialschlüssel die Klappe auf.»

«Was weiß ich», sagte Grijpstra wegwerfend. «Vielleicht muss er fühlen, ob die Sicherungen noch in Ordnung sind. Vielleicht muss er die Kabel abstauben. Wir können doch nicht wissen, was er da machen muss?»

«Wenn der etwas abstaubt», antwortete De Gier, «dann sind es höchstens die Zellophanbeutel, die er jetzt aus dem Mast herausnimmt. Du rechts, ich links, und entsichere deine Pistole.»

Der Mann von den Stadtwerken hielt auch eine Waffe in der Hand. Er schoss. Ehe der Schuss sich löste, lag De Gier schon auf dem Boden und stieß seine beiden Füße kräftig gegen das Bein des Mannes. Grijpstra fing den Mann auf, und gleich darauf hatte De Gier ihm Handschellen angelegt.

«Hat er dich getroffen?», fragte De Gier.

«Nein», sagte Grijpstra, «er mich nicht, aber ich ihn wohl. Ich glaube, dass die Handschellen überflüssig sind.»

 

«Kommt rein», sagte der Commissaris. «Der Hoofdcommissaris erwartet euch. Gute Arbeit. Nur schade, dass der Mann die Verhaftung nicht überlebt hat.»

«Adjudant», sagte der Hoofdcommissaris, «Brigadier. Herzlichen Glückwunsch, auch im Namen des Chefs vom Rauschgiftdezernat. Der Mann ist inzwischen identifiziert, und in seiner Wohnung wurden Beweismittel gefunden, die zu weiteren Verhaftungen führen werden. Aus dem Bericht konnte ich ersehen, dass der Mann auf euch geschossen hat, sodass ihr in Notwehr zurückschießen musstet.»

«Ja», bestätigte Grijpstra.

«Bloß eines ist mir nicht klar», fuhr der Hoofdcommissaris fort, «wieso wird die Farbe Blau in eurem Bericht so oft genannt?»

«Blau», sagte Grijpstra, «und tot auch, na klar.»

«Pardon?»

«Ich will’s Ihnen erklären, Mijnheer», sagte De Gier. «Also das war so. Der Abend war vorüber, und jetzt sollte es Nacht werden, aber so ganz dunkel war es noch nicht. Die sonderbare Farbe des Himmels, der sich metallblau über die Hauptstadt spannte; das Leuchten war überall und nicht nur in den hier und da schon sichtbaren Sternen wahrzunehmen, und das fiel mir auf.»

«Tatsächlich?»

Der Commissaris geleitete De Gier zur Tür. Dann schob er den Brigadier sanft hinaus und winkte Grijpstra einladend zu, ihm zu folgen.

«Wie soll ich denn das verstehen?», forschte der Hoofdcommissaris.

«Es ist wohl schon ein bisschen lange her, seitdem Sie noch Außendienst gemacht haben», meinte der Commissaris. «Wenn es Tote gegeben hat, dann drehen unsere Leute zuweilen ein bisschen durch.»

«Ja», bestätigte der Hoofdcommissaris, «das stimmt. Das hatte ich völlig vergessen.»

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Die Katze von Brigadier de Gier

«Ein Schuss in der Nacht», sagte Brigadier de Gier, während er seine Jacke überstreifte, «das ist immer eine merkwürdige Sache.» Er stand vor dem Spiegel neben der Tür und ordnete seinen Seidenschal. Adjudant Grijpstra schob den Brigadier zur Seite. Dann hob er den linken Arm und versuchte, die Falte unter seiner Achsel glattzustreichen. De Gier hob seinen Arm ebenfalls. «Meine Jacke ist noch mehr verbeult. Die Pistole ist viel zu groß.»

Im Aufzug lächelte Grijpstra. Es war ein ruhiger Abend gewesen. In der Kantine hatten sie Kaffee getrunken und mit den Kollegen geschwätzt. Neben ihm stand De Gier, der noch immer über seine große Pistole meckerte. Grijpstra stimmte ihm zu, aber er erklärte auch, wieso das nun einmal so war. «Die modernste Pistole für den Polizeieinsatz ist die Walther P5, aber obwohl sie leicht ist und gut und genau schießt, sogar auf zweihundert Meter Entfernung noch», so sagte Grijpstra, «ist die Waffe für uns Kriminalbeamte ungeeignet, denn sie ist zu lang.»

«Und zu breit», ergänzte De Gier. «Wenn man in Uniform Dienst schiebt, dann ist das egal; da ist es sogar gut, wenn man die Waffe erkennt, aber bei uns muss die Pistole nun einmal verborgen bleiben.»

Die Aufzugstür öffnete sich und gab den Blick auf einen blitzblanken Gang frei, in dem stramme Polizisten in tadelloser Uniform auf und ab marschierten. Die hellblauen Uniformmäntel bildeten einen Kontrast zu den hellgrauen Mauern des Ganges. Eine Politesse ging vorbei; mit ihren langen Beinen hatte sie einen wippenden Gang, der ihren vollen, straffen Busen im Rhythmus schweben ließ. Unter dem runden Hütchen quoll langes blondes Haar hervor. Grijpstra betrachtete sie interessiert. In seiner Freizeit war er passionierter Maler, und zu Hause hatte er gerade ein Gemälde entworfen, über dessen Farben er sich noch nicht ganz im Klaren war. Die Politesse hatte lilafarbene Lippen. Grijpstra beschloss, diesen Farbton für eine Blume im Vordergrund seines Gemäldes zu verwenden.

Die Politesse nickte Grijpstra zu und begrüßte dann De Gier: «’n Tag, Rinus.»

«Hallo, Sjaan», antwortete der Brigadier.

«Sjaan?», fragte Grijpstra auf dem Parkplatz. «Wieso heißt sie nicht Jeanne? Oder Janet? Wohin gehen wir überhaupt?»

De Gier setzte sich ins Auto und zog den Verriegelungsknopf der Hintertür hoch. Dann wartete er, bis Grijpstra sich durch die Türöffnung gezwängt hatte.

«Sie heißt Sjaan.» Er wiederholte den Namen noch einmal, als ließe er ihn auf der Zunge zergehen. «Einwandfreier niederländischer Name. Na ja, sie ist ja auch ein ebenso einwandfreies Mädchen. Wir fahren nach Buitenveldert.»

Der Wagen stand an der ersten Ampel. Grijpstra fummelte an der Zellophanverpackung einer Zigarre herum. Fragend schaute er den Brigadier an.

De Gier gab Gas und machte es genauso wie die Radfahrer, die auch bei Rotlicht über die Kreuzung fuhren. «Ein Schuss in der Nacht in Buitenveldert, am Ouborg, einer Villa, schicke Gegend.»

«Und Sjaan?»

De Gier musste sich konzentrieren, denn er fuhr über den Rand des Bürgersteigs, um einen Verkehrsstau zu umgehen. Außerdem fuhr er viel zu schnell. Auf dem Museumplein hatten sie mehr Platz. «Sjaan?»

«Du sagst, sie sei ein einwandfreies Mädchen», bohrte Grijpstra geduldig. «Woher willst du das wissen? Ausprobiert?»

«Noch nicht.» Die Ampel am Concertgebouw war wieder rot, aber De Gier fuhr hinter der Straßenbahn her. «Ich nehme einfach mal zu ihren Gunsten an, dass sie so ist, aber vielleicht will sie’s nicht einmal beweisen.» Selbstbewusst blickte er Grijpstra an. «Ein Schuss in der Nacht.» Er beugte sich ein wenig nach vorn, sodass er durch die Äste der Bäume in der Beethovenstraat nach oben blicken konnte. «Es ist eine herrliche Nacht, aber ein Schuss hat ihr die Ruhe genommen. Das sagte die Frau am Telefon. Sie wohnt nebenan, auch in einer vornehmen Villa. Nach dem Schuss fuhr ein Auto fort, teures Auto, silberne Farbe. Nummer weiß sie nicht. Und geschrien wurde auch.

«Soso», nickte Grijpstra. «Schau mal da.»

De Gier blickte in den Rückspiegel. Ein Streifenwagen war aus dem Parkplatz neben der Polizeiwache an der Van Leyenburglaan herausgeschossen und folgte ihnen mit Blaulicht und jaulender Sirene.

«Kümmer dich nicht drum», sagte Grijpstra und zog an seiner Zigarre. Er blickte auf das Tachometer. Hundert. Die Reifen quietschten, und Grijpstra nickte.

«Du nickst», wunderte sich De Gier. «Früher hast du immer gemeckert, wenn ich zu schnell fuhr. Du hast dich geändert.»

«Menschen ändern sich nun mal», brüllte Grijpstra. Er musste schreien, weil der Streifenwagen jetzt neben ihnen fuhr.

«Ach», meinte De Gier bloß und bremste.

«Warum bist du denn nicht schneller gefahren?», fragte Grijpstra. Der Streifenwagen hielt vor ihnen, und die Polizisten sprangen heraus.

«Weil sie ein neues Auto haben, während wir in einem alten Schlitten fahren», antwortete De Gier. «Alte Autos sind nun mal ein bisschen asthmatisch, und außerdem haben sie mich geschnitten.»

«Mann», rief einer der Polizisten, «Sie sind doch hier nicht auf der Rennbahn! Außerdem haben Sie nicht angehalten, als wir Sie dazu aufforderten. Sind Sie blind oder betrunken?»

De Gier zeigte seinen Polizeiausweis, während Grijpstra das Mikrophon als Beweisstück hob.

«Ach so, Kripo?», fragte der linke Polizist.

«Sollen wir mitfahren?», wollte der rechte Polizist wissen.

«Etwas Interessantes?», forschte der linke Polizist.

«Meinetwegen könnt ihr mitfahren», sagte De Gier, «wenn ihr bloß nicht wieder so viel Radau macht. Es muss hier ganz in der Nähe sein. Ouborg. Wo ist das eigentlich genau?»

Der Streifenwagen fuhr vor ihnen her. Die angegebene Anschrift war in einer kleinen Allee mit Bungalows zu beiden Seiten, und im Hintergrund durchschnitt eine malerische Mühle mit ihren Flügeln den nächtlichen Himmel. Auf der Straße stand eine Frau, die aufgeregt mit den Armen herumschwenkte.

«Warum hat’s denn so lange gedauert?», fragte sie vorwurfsvoll.

Kurz darauf schlug De Gier mit seiner Pistole gegen eine Scheibe.

«Aber einbrechen dürft ihr nicht», warnte einer der Polizisten.

«Immer mit der Ruhe», beschwichtigte Grijpstra.

«Leck mich doch», fluchte De Gier. «Ich hab durchs Hinterfenster gesehen. Da liegt eine Frau auf dem Bett. Sie ist nackt und blutet.»

Der Polizist brachte einen großen Stein. «Die Pistolen sind zu leicht, das ist nämlich Sicherheitsglas. Darf ich mal?» Die Scheibe zerbrach in zahllose Splitter.

«Sjaan», hauchte Grijpstra zwei Minuten später.

«Wie, bitte?», fragte De Gier.

«Sie sieht dieser Sjaan so ähnlich», erklärte Grijpstra, «das meinte ich bloß. Sie ist tot. Setz dich lieber hin, De Gier, der Anblick wirft dich sonst um. Selbstmord, siehst du? Sie hat die Pistole noch in der Hand. Genau durch die Schläfe. Aber warum hat sie sich dann nackt ausgezogen?»

«Soll ich anrufen?», fragte einer der Polizisten. «Ich kenne die Nummer auswendig.»

«Was ein Luxus», meinte der Streifenfahrer. «Alles Leder und Samt. Guck mal, ein Gemälde von Karel Appel. Und hier, die gesammelten Werke von Simon Vestdijk, mein Bruder hat sie auch. Fünfzig Bände, fünfzig Gulden pro Stück, welch ein Betrag für Bücher!»