Massaker in Maine - Janwillem van de Wetering - E-Book

Massaker in Maine E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Weltberühmt und unerreicht: Krimiautor van de Wetering Eigentlich will der Commissaris aus Amsterdam seiner Schwester in Maine nur bei der Haushaltsauflösung helfen. Ihr Mann ist die Klippen am Cape Orca hinuntergestürzt. Doch dann wird aus heiterem Himmel auf seinen Kollegen de Gier geschossen. Steckt hinter diesem Anschlag die Bande, die die Leute in Angst und Schrecken versetzt? Oder haben die Schüsse mit einer rätselhaften Todesserie zu tun, deren letztes Opfer der Schwager des Commissaris war? Früher gab es in der Cape-Orca-Bucht die berüchtigten Mörderwale. Jetzt scheinen die Menschen das Morden selbst zu übernehmen. «Van de Wetering ist der berühmteste lebende Krimiautor unserer Zeit.» (Süddeutsche Zeitung)

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Janwillem van de Wetering

Massaker in Maine

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzig
[zur Inhaltsübersicht]

Eins

Der Telefonanruf unterbrach ein zwangloses Gespräch, das zu nichts geführt hatte. Aber abgesehen davon konnten die drei Männer, die sich zur Zeremonie des Kaffeetrinkens um zehn Uhr im stattlichen Büro des Commissaris in der ersten Etage des Amsterdamer Polizeipräsidiums versammelt hatten, an diesem Morgen gemeinsam und nicht jeder für sich der trübsten Zeit des Jahres in den ersten Dezembertagen entgegensehen.

Das irritierende Klingeln des Telefons zerschnitt die umständliche Erklärung des Brigadiers, wie man eine Begonie dazu bringen kann, mitten im Winter zu blühen. Der Commissaris zeigte sich interessiert, und der Adjudant in den Tiefen seines bequemen, samtgepolsterten Sessels war höflich genug gewesen, nicht zu gähnen oder zu husten oder geräuschvoll an seinem feuchten Zigarrenstummel zu nuckeln, während der Brigadier sprach. Aber jetzt hatte sich das Telefon gemeldet, und die beiden Kriminalbeamten lauschten mit einem gewissen Interesse den Worten des Commissaris. Es könnte ja sein, dass es etwas zu tun gab, aber das war unwahrscheinlich. Seit Wochen hatte es nichts zu tun gegeben, abgesehen von Verkehrsunfällen und familiären Streitereien und dem üblichen Kleinkram. Vorfälle, die weit außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Mordkommission oder der Kriminalpolizei lagen, bei der sie schon länger dienten, als ihnen lieb war. Der heftige Dauerregen, der sich gelegentlich mit eisigen Hagelschauern ablöste, dämpfte die Stimmung in der Stadt. Die Menschen arbeiteten tagsüber und verbrachten ihre Abende zu Hause. Die öffentliche Ordnung konnte nicht ungestörter sein. Es gab nichts zu tun, bis auf Akten zu lesen und mit dem nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichneten, verbeulten grauen Volkswagen auf nassen Straßen zu fahren. Es gab nichts zu tun, man konnte nur die kalten, gelangweilten Gesichter der Fußgänger anstarren. Und die Fußgänger starrten dann zurück. Sie sahen nur einen Wagen, und zwar erst dann, wenn er ihnen in die Quere kam. Und selbst wenn er ihnen in die Quere kam, würden sie Einzelheiten von ihm oder seinen Insassen nicht erfassen. Die Gesichter hinter den ruhelosen und quietschenden Scheibenwischern des Volkswagens waren für sie nur graue Flecken. Aber die Gesichter gehörten Menschen: dem massigen, ruhigen Adjudant Grijpstra, der die Welt mit leichten Zweifeln unter der grauen Bürste seiner ungekämmten, metallisch glänzenden Haare akzeptierte, und dem drahtigen Brigadier de Gier, dessen sanfte, große braune Augen über den hohen Wangenknochen, überschattet von sorgfältig gekämmten, dichten Locken, alles beobachteten, was geschah und was nicht geschah. Seine Frisur war vielleicht ein bisschen zu kunstvoll. Ein Fußgänger, der gegen den Wagen läuft und den Fahrer verflucht und sich bückt, um das Objekt seiner Wut näher zu betrachten, könnte den Brigadier für eine Frau halten – selbstverständlich vorausgesetzt, dass dieser sich gerade die Nase putzt. Der breite, nach oben gebürstete Schnurrbart wies den Brigadier eindeutig als Mann aus. Und das war er auch, ein athletischer Abenteurer mit dem Ruf, ein Widersacher zu sein, nicht so sehr für die Welt des Verbrechens, sondern eher für die verschiedenen Autoritätssysteme, die sich störend in seinen individualistischen Tagesablauf einmischten. Aber der Brigadier war auch ein vernünftiger Mann, der es zuließ, dass seine nicht immer glückliche Neigung, eigene Wege zu gehen, durch das abgeklärte Verhalten des Adjudant und die klugen und sanften Ermahnungen des Commissaris in Schach gehalten wurde.

Der Blick des Brigadiers ruhte auf der mageren, blau geäderten Hand des Commissaris, die mit einem Bleistift auf der blanken Schreibtischplatte zu spielen begonnen hatte.

«Ja, Suzanne», sagte der Commissaris sanft. «Es tut mir sehr leid, die traurige Nachricht zu erfahren. Wann ist es passiert?»

Ein undeutliches Murmeln kam aus dem Telefon, Worte und Schluchzen. Dann ein fast feuchtes Flüstern, das auch ein Weinanfall sein konnte.

«Freitag? Aber das ist ja schon vier Tage her! Warum hast du mich nicht früher benachrichtigt? Vielleicht hätte ich zur Beisetzung kommen können. Du hattest immer schlechte Telefonverbindungen? Du Arme.»

Der Commissaris legte die Hand auf die Sprechmuschel und schaute den Adjudant an. «Meine Schwester, sie wohnt in Amerika. Ihr Mann ist gestorben.» Der Commissaris blätterte in seinem Notizbuch auf dem Schreibtisch. «Ja, Schwesterherz, ich habe deine Adresse. Selbstverständlich werde ich kommen. Bald. Ja. Vielleicht morgen oder übermorgen. Ich werde dich anrufen. Meinst du, dass du mich am Flughafen abholen kannst?»

Die murmelnde Stimme schwieg, schluchzte und sprach weiter.

«Aha. Macht nichts, Kleines. Ich kann mir ein Taxi suchen. Ja. Warme Kleidung? Ich werde nachsehen, was ich im Schrank habe. Dreißig Grad minus? Ja, ich werde daran denken. Rheuma? Nein, nein, Suzanne, ich bin ganz gesund. Ich werde kommen. Ich werde dir die Flugnummer telegrafieren, damit du weißt, wann du mich erwarten kannst.»

Er legte den Hörer auf.

«Dreißig minus», sagte der Brigadier. «Das ist sehr kalt, Mijnheer. Wo wohnt Ihre Schwester?»

«An der amerikanischen Ostküste, nahe bei Kanada, aber noch in den Vereinigten Staaten. Sie hat mich oft eingeladen, dort einen Urlaub zu verbringen, aber ich bin nie hingereist, leider. Sie wohnt jetzt etwa zehn Jahre dort, seit nämlich ihr Mann pensioniert worden ist. Er hat bei einer unserer Banken in New York gearbeitet und sich ein Ferienhaus an der Küste gekauft, ein ganz hübsches, glaube ich. Sie hat mir mal Fotos geschickt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass meiner Schwester das Haus oder die Gegend gefallen haben. Und ich glaube, sie war sehr unglücklich, als ihr Mann beschloss, dort das ganze Jahr über zu leben. Vielleicht bin ich deshalb nie hingereist; ihre Briefe klangen nicht besonders begeistert. Und dann selbstverständlich die Kälte. Und im Sommer haben wir hier immer viel zu tun.»

«Wie ist ihr Mann gestorben, Mijnheer?»

«Durch einen Unfall. Er ist auf Eis ausgerutscht. Er hat versucht, einen Baum zu fällen, hat den Halt verloren und ist abgestürzt. Sie wohnen direkt an der Küste, und er ist auf die Felsen gefallen. Jetzt will sie wieder hier leben, aber der Nachlass muss aufgelöst werden. Sie ist nicht sehr praktisch, eher verträumt. Und schwermütig. Und sie hat keine Kinder. Sie muss sich jetzt sehr einsam fühlen.» Der Commissaris lächelte. «Ich kenne sie kaum, obwohl wir nur wenige Jahre auseinander sind. Sie war immer in ihrem Zimmer.» Er imitierte die Stimme eines kleinen Jungen. «Wo ist Suzanne, Mama?»

«In ihrem Zimmer, Jan.»

«Was tut sie da, Mama?»

«Sie weint, Jan.»

Er schob seine Kaffeetasse an den Rand der Schreibtischplatte. Der Brigadier sprang auf, lief in eine Zimmerecke und kam mit einer Silberkanne wieder. Der Adjudant brachte ein Tablett mit Milchkännchen und Zuckertopf. «Danke. Und jetzt weint sie wieder. Aber diesmal hat sie einen Grund. Es muss ein trauriges Erlebnis gewesen sein. In der Nähe stehen noch andere Häuser. Vielleicht war sie nicht allein, als sie die Leiche gefunden und sich bemüht hat, sie ins Haus zu bringen.» Er stand auf und rieb sich munter die Hände. «Nun, Herrschaften, wie es scheint, werde ich reisen. Ich gehe am besten zum Hoofdcommissaris und beantrage Sonderurlaub. Dann hole ich die arme traurige Frau her und bringe sie angemessen unter. Ich hoffe, mein Schwager hatte eine gute Pension und eine vernünftige Lebensversicherung. Heutzutage ist das Leben in Amsterdam teuer, und ich muss eine hübsche Wohnung für Suzanne suchen.»

«Mijnheer», sagte der Brigadier.

«Ja?»

«Meinen Sie, dass Sie reisen sollten? Ihre Gesundheit …»

«Ist schlecht», sagte der Commissaris. «Eine Tatsache, deren ich mir bewusst bin.»

Der Adjudant räusperte sich. «Dreißig Grad minus, Mijnheer, das ist kalt. Sie leiden an Rheuma. Wird sich die Krankheit nicht verschlimmern …»

«Wenn es kalt ist? Ja. Aber ich kann mich warm anziehen. Und das Haus wird zweifellos geheizt sein. Sie lebt in Amerika, Adjudant, nicht am Nordpol. Amerika ist ein reiches Land und voller Komfort. Ich bin sicher, dass ich dort ganz gut aufgehoben sein werde.»

«Ihr Bruder, Mijnheer …», sagte der Brigadier.

Der Commissaris setzte sich wieder und rieb sich mit beiden Händen das faltige Gesicht. Er schob die Brille hoch und betrachtete mit blassgrünen Augen den Brigadier. «Ja, mein Bruder, aber er wohnt jetzt in Österreich und führt in den Bergen ein sehr ruhiges Leben. Ich glaube nicht, dass er belästigt werden möchte.» Die Brille rutschte wieder auf die kleine gerade Nase, und der Commissaris stand auf. «Nein, schließlich hat sie mich angerufen, nicht wahr? Ich bin verpflichtet zu reisen. Eine Schwester ist eine sehr nahe Verwandte, und so viel Mühe wird es auch nicht machen. Ein Flugzeug überquert den Ozean innerhalb von Stunden. Ich werde wahrscheinlich hier frühstücken können und zum Abendessen schon in Amerika sein. Und was gibt es dort zu tun? Sie trösten, ihr das Gefühl geben, dass es noch Menschen gibt, die sich um sie kümmern, einige Papiere ordnen, ein paar Telefongespräche führen, einen oder zwei Briefe schreiben, ihr Haus verkaufen, beim Packen helfen und mit ihr in die Heimat zurückfliegen. Da ist doch nichts dabei.» Er war auf dem Wege zur Tür.

«Mijnheer?»

Der Commissaris blieb stehen und drehte sich um. «Brigadier?»

«Kann ich mitkommen, Mijnheer? Sie waren vorige Woche krank, Mijnheer. Ich bin sicher, Ihre Frau möchte nicht, dass Sie allein reisen. Ich habe noch Resturlaub und würde gern nach Amerika fliegen.»

Das hätte er besser nicht gesagt. Der Commissaris runzelte die Stirn. «Meine Frau? Ich werde dir mal was sagen, Brigadier, meine Frau wird sich aufregen, weißt du. Wenn es nach ihr ginge, würde ich überhaupt nicht mehr aus dem Bett oder der Badewanne herauskommen. Und weißt du, was das für mich bedeuten würde?» Der Commissaris zeigte mit dem Finger auf die modische Jeansjacke des Brigadiers. «Es würde mich umbringen. Untätigkeit ebenso wie Aktivität. Was ich auch tun mag, ich stehe vor einer Katastrophe.»

Adjudant Grijpstra hob seinen massigen Körper aus dem niedrigen Sessel und setzte gemächlich einen Fuß vor den anderen, bis er vor der zerbrechlichen Gestalt des Commissaris stand. «Aber vielleicht sollten Sie nicht allein reisen, Mijnheer.» Die tiefe Stimme des Adjudant war höflich, sanft, beruhigend. «Ich würde auch gern mitkommen, aber mein Englisch ist schlecht. Der Brigadier beherrscht die Sprache gut. Er könnte die Wege erledigen, während Sie die Angelegenheit ordnen.»

Der Commissaris ging rückwärts, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. «Ja?»

«Ja, Mijnheer.»

«Nein», sagte der Commissaris. «Nein, nein. Auf gar keinen Fall. Der Brigadier sollte seinen Urlaub irgendwo unter der Sonne verbringen. Diese Angelegenheit ist privat und obendrein unangenehm. Eine jammernde alte Frau und ein Schneesturm um das Haus. Und was ist mit dem Geld? Die Reise kostet ein paar tausend pro Person, eine Verschwendung von gutem Geld, wenn wir zu zweit sind. Nein, Adjudant. Das ist sehr lieb gemeint, was ich zu schätzen weiß.»

Die Tür wurde geschlossen. Der Brigadier hatte sich auf seinem Stuhl vor dem Schreibtisch des Commissaris nicht gerührt. Grijpstra seufzte und schaute zum Fenster hinaus. Eine Straßenbahn fuhr spritzend durch eine Pfütze auf der anderen Straßenseite. Zwei Radfahrer, eingehüllt in gelbe Plastikmäntel, bekamen den trüben Wasserschwall ab und wären fast umgefallen.

«Schau dir das an», sagte Grijpstra. «Ich würde lieber Schnee sehen. Schnee ist hübsch und weiß, aber ich habe seit Wochen nur graues Wasser und braunen Schlamm gesehen. Vielleicht solltest du dennoch reisen. Er kann dich davon nicht abhalten, weißt du. Es wäre eine private Reise. Mein junger Vetter hat seine Ferien in Amerika verbracht. Er sagte, er habe sich gut amüsiert und es sei auch gar nicht teuer gewesen, aber er hatte eine Art von Rabatt, einen Flugschein für Studenten. Du müsstest vermutlich den vollen Preis bezahlen. Hast du Geld?»

«Nein», sagte de Gier und betrachtete seine neuen Wildlederstiefel. «Ich könnte aber einen Bankkredit bekommen.»

«Das wird vielleicht nicht reichen. Die werden dir auf dein Gehalt nicht viel geben. Ich habe auch kein Bargeld. Hmm.»

In dem «Hmm» lag eine gewisse Fröhlichkeit, de Gier hob den Blick. «Was heißt hier ‹Hmm›?»

«Eine Idee», sagte Grijpstra. «Eine gute Idee. Ich werde mit dem Hoofdcommissaris sprechen.»

«Mit dem hohen Tier?»

«Genau», sagte Grijpstra, als er aus dem Zimmer ging. «Die Spitze. Höher als bis zur Spitze kann man kaum gehen.»

 

De Gier ging ebenfalls und durchstreifte das Gebäude. Er machte halt in der Kantine, wo ihm ein Brigadier von der Garage zeigte, wie man gratis einen Becher Kaffee bekommt, wenn man an einem seit kurzem installierten Automaten bestimmte Knöpfe in einer bestimmten Reihenfolge drückt. Dann ging er zum Büro der Stenotypistinnen, wo seine Anwesenheit einiges Lächeln und mindestens einen sehnsuchtsvollen Seufzer hervorrief. Er traf nach einer Stunde wieder in seinem Büro ein und fand Grijpstra, der auf seinem Schreibtisch saß. Der Adjudant strahlte.

«Ja?», fragte de Gier misstrauisch.

«Mach dich auf den Weg.» Der Adjudant lächelte triumphierend.

«Auf welchen Weg?»

«Zum amerikanischen Konsulat. Die warten dort auf dich. Ich gebe dir einen Namen, frage nach ihm, dann wirst du gleich vorgelassen und kriegst deinen Stempel sofort in den Pass. Ohne Gebühren.»

«Ein Visum?»

«Ja. Der Hoofdcommissaris war sehr beeindruckt.»

Der Adjudant lächelte jetzt sowohl triumphierend als auch geheimnisvoll. De Gier setzte sich auf den Besucherstuhl, streckte die langen Beine aus und legte die Füße auf den Schreibtisch. «Erzähl», sagte er geduldig. «Ich werde nicht gehen, wenn du mir nichts erzählst.»

«Was gibt es da zu erzählen? Du reist nach Amerika. Ich habe die Adresse der Schwester des Commissaris in seinem Notizbuch gesehen. Der Ort heißt Jameson, Woodcock County, Bundesstaat Maine, USA. Wir sind mit der amerikanischen Polizei befreundet, seit die Rauschgifthändler hier auftauchten. Erst vorige Woche musste ich einen Lieutenant von der New Yorker Polizei hier herumführen, erinnerst du dich? Zwei Tage habe ich dafür gebraucht.»

«Ja. Du hast ihn in Restaurants geführt.»

«Dahin wollte er auch. Ich tue, was man mir sagt. Aber es funktioniert in beiden Richtungen. Wir können nach drüben – irgendwo in Den Haag gibt es einen Fonds mit amerikanischem und niederländischem Geld. Wenn die von drüben kommen, zahlt der Fonds ihre Ausgaben, und wenn wir nach drüben gehen, kommt der Fonds für unsere Ausgaben auf, nur reisen wir nicht nach drüben.»

«Das Geld ist für Verbrechensermittlung bestimmt, Grijpstra, nicht für private Abenteuer. Für die Ermittlung von Verbrechen und das Ergreifen von Verbrechern. Ich habe darüber etwas im Polizeiorgan gelesen.»

Grijpstra wedelte mit einer Zeitschrift. «Du hast den Text nicht richtig gelesen. Es steht auch darin, dass der Fonds zum beiderseitigen Nutzen der jeweiligen Polizeiorganisationen gegründet wurde. Wir können die Methoden gegenseitig studieren. Der Lieutenant der Polizei, mit dem ich zum Abendessen gehen musste, wollte wissen, wie wir es schaffen, Verdächtige zu ergreifen, ohne ihnen Schaden zuzufügen. Wie es scheint, bluten die meisten Verbrecher, die in seine Revierwache eingeliefert werden. Und er kann Blut nicht ertragen. Er hat sich in einer unserer Wachen in der Innenstadt aufgehalten und festgestellt, dass unsere Verdächtigen einfach so hereinkamen. Die meisten trugen nicht einmal Handschellen. Dort drüben muss man die Leute hineintragen.»

«Hast du ihm gesagt, dass wir versuchen, höflich zu sein?»

«Ja. Aber er sorgt sich um die Sicherheit der Polizeibeamten. Ich habe ihm von dem Konstabel erzählt, der voriges Jahr von einem bewaffneten Räuber erschossen wurde, weil er ihn zufällig bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle angehalten hatte. Der Lieutenant sagte, das hätte in Amerika nicht passieren können. Dort sind sie sehr vorsichtig, sogar bei Routinekontrollen. Sie nähern sich dem Fahrer von hinten und haben ihre Pistole bereit. Das ist eine gute Methode, habe ich mir überlegt. Wenn du an einen Fahrer von hinten herantrittst, kann er nicht so leicht eine Schusswaffe ziehen und auf dich richten. Vielleicht können wir da etwas lernen.»

«Warte mal», sagte de Gier und nahm die Beine vom Schreibtisch. «Du meinst, der Fonds …»

«Ja. Geh zum Konsulat. Sobald du deinen Pass gestempelt hast, kannst du abreisen. Du kannst heute Abend reisen. Der Commissaris fliegt ebenfalls heute Abend, aber du kannst eine andere Maschine nehmen. Ich habe seine Flugnummer.»

«Er weiß von nichts?»

«Nein. Ich habe dem Hoofdcommissaris gesagt, der Commissaris wolle nicht, dass du mitkommst, aber auch der Chef ist der Meinung, der Commissaris solle nicht allein reisen. Erstaunlich, das ganze Ding war innerhalb einer halben Stunde gedreht. Er hat in Den Haag angerufen, um dir beim Fondsverwalter grünes Licht zu verschaffen. Das hat nur eine Minute gedauert. Du kannst dir in der Kasse hier Geld holen, bis zu dreitausend, den Rest und einen Haufen Quittungen musst du bei der Rückkehr wieder abliefern. Der Fonds ist ein Zapfhahn. Wenn du weißt, wie du ihn aufdrehen musst, wird er dich mit Geld überfluten. Und dann hat er in New York angerufen. Er nannte den Mann ‹General› – vielleicht war er Polizeigeneral. Dieser General sagte, er werde zurückrufen. Er tat es innerhalb von zwanzig Minuten. Du bist eingeladen, unter dem Sheriff von Woodcock County, Maine, Dienst zu machen. Der General hat mit dem Sheriff gesprochen. Der Sheriff wird dich vom Flugzeug abholen, wenn du ihm mitteilst, wann es eintrifft.»

«Scheiße», sagte de Gier.

«Wie bitte?»

«Scheiße. Du nimmst mich auf den Arm, nicht wahr, Adjudant? Welche Aufgabe weist mir der Chef für drüben zu? Wilddiebe fassen? In Amsterdam haben wir keine Wilderer – das Kaninchen, das im Park hinter meiner Wohnung lebte, ist in der vorigen Woche überfahren worden, und Reiher will keiner schießen, die schmecken nach Fisch.»

Grijpstra rutschte vom Schreibtisch, zog de Gier an den Aufschlägen der maßgeschneiderten Jacke hoch und schob ihn zur Tür.

«Ab mit dir, Kleiner. Niemand kümmert sich darum, was du drüben tust, wenn du nur den Commissaris lebend zurückbringst. Der Fonds ist zum Verschwenden da, verschwende ihn auf angenehme Art. Ab mit dir.»

«Danke», sagte de Gier an der Türschwelle.

«Es war mir ein Vergnügen. Sorge dafür, dass der Commissaris nichts merkt, bis es zu spät ist.»

«Was soll ich ihm sagen, wenn er es feststellt?»

«Gib mir die Schuld», sagte der Adjudant. De Gier war im Korridor. Die Tür schloss sich langsam.

De Gier grinste.

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Zwei

Die Räder des Flugzeugs würden vermutlich die Spitzen der hohen Kiefern am Rande der kleinen Landebahn berühren, und der Commissaris musste sich zwingen, die Augen offen zu halten. Seine Vorstellungen von Amerika hatten sich geändert, seit die Stewardess mit ihm durch die große Halle des Bostoner Flughafens gegangen war und auf eine zweimotorige Maschine gezeigt hatte. Das Flugzeug sah alt aus und hatte bauchige Konturen aus der Zeit von vor etwa dreißig Jahren. Ein junger Mann in einem dick gepolsterten Blouson und einer ölbefleckten Mütze mit Ohrenschützern schob auf einer Karre einen Koffer durch den Schnee.

«Ist das meine Maschine?»

«Ja, Sir», sagte die Stewardess freundlich. «Prestige Airlines, ein kleines Privatunternehmen. Es fliegt die meisten der kleinen Flugplätze in Maine an. Es besteht schon seit Jahren. Ich bin sicher, die Leute sind sehr zuverlässig.»

Der junge Mann war mit seiner Schiebkarre stecken geblieben und schob mit aller Kraft. Er rief etwas, aber seine Worte drangen nicht durch die Fensterwände des Flughafengebäudes. Die Stewardess kicherte. «Das ist Ihr Pilot, Sir. Er wird gleich zurück sein; er kümmert sich auch um die Abfertigung hier.»

«Gütiger Gott», murmelte der Commissaris. Die Stewardess musterte das müde, verzerrte Gesicht des kleinen alten Mannes, der sich auf seinen Bambusstock stützte. «Alles in Ordnung, Sir?»

«Ja, Miss, ich bin nur müde. Ich konnte nicht schlafen, weil während der Atlantiküberquerung ein Film gezeigt wurde.»

«Wohin wollten Sie noch mal, Sir?»

«Nach Jameson, Maine.»

«Jameson», sagte sie. «Eine hübsche Stadt. Ich habe dort mal einen Urlaub verbracht. Sie liegt an der Küste und ist im Sommer ein beliebter Ausflugsort, aber niemand dürfte zu dieser Jahreszeit dorthin wollen. Nur Schnee und Eis, stelle ich mir vor.»

Der Pilot kam zurück und nahm dem Commissaris Flugschein und Koffer ab. «Jameson?», fragte er. «Das sind etwa drei, vielleicht dreieinhalb Stunden, schwer zu sagen bei diesem Wetter, und vielleicht haben sie die Landebahn nicht geräumt. Das letzte Mal hatten sie es nicht, sodass ich für eine Weile kreisen musste, während sie mit dem alten Schneepflug herumschoben. Ich nehme an, sie dachten, ich würde nicht kommen, und ihr Funkgerät war wieder mal kaputt.»

Der Commissaris drückte seinen Stock in den Auslegeteppich in der Halle, die Spitze versank im dichten gelben Flor.

Ein anderer junger Mann in Overall, Gummistiefeln und Schirmmütze war gekommen. «Ist die alte Kiste bereit, Bob?»

«Klar», sagte der erste Pilot. «So bereit wie immer. Es war schwierig, sie zu starten, und wir sollten uns wirklich mal neue Trossen besorgen. Noch so ein Sturm – und sie weht einfach weg. Die linke Trosse ist böse zerscheuert, hast du das gesehen?»

«Wirklich?», fragte der Commissaris.

Der mit Bob angesprochene Mann lachte. «Nur die Verankerungstrosse, Sir. Der Zustand der Maschine ist einwandfrei genug, aus alten Heeresbeständen, und wir haben sie gepflegt. Wir werden in einer Minute bereit sein. Möchten Sie noch zum Waschraum, bevor wir starten? An Bord ist keine Toilette.»

Aber der Flug war gar nicht so schlecht gewesen. Die beiden anderen Passagiere, untersetzte Männer in mittleren Jahren mit leuchtend roten Hüten und Schrotflinten im Lederfutteral, hatten eine Flasche mit starkem, unausgereift schmeckendem Whiskey herumgehen lassen, und gegen die würzigen Zigarillos des Commissaris hatte niemand etwas einzuwenden. Die Maschine flog tief; und der Commissaris war beeindruckt von der Landschaft und dem Anblick des Meeres, denn sie folgten einem zerklüfteten Küstenstrich mit vielen verstreuten Inseln in der kalten wilden See. Die Piloten hatten nach unten gezeigt und Namen gerufen und ihm eine Karte gegeben, auf die er schaute, während die Jäger ihm den Kurs zeigten, der bei einem kleinen Punkt und den Kursivbuchstaben Jameson endete.

«Da», riefen die Piloten. Die Maschine ging in den Landeanflug. Der Commissaris hatte einige Sekunden gebraucht, ehe er die Landepiste entdeckte, ein braunes Kreuz im alles durchdringenden Weiß.

«Holt Sie jemand ab?», fragten die Jäger, als sie ihre Segeltuchsäcke mit Tritten zur kleinen Tür hinausbeförderten. «Wir haben einen Lastwagen hier und können Sie mitnehmen.»

Aber der Commissaris dankte ihnen und lehnte ab. Er winkte der eingemummten Gestalt zu, die bei einem hölzernen Schuppen stand – einer alten Frau, gebeugt, beladen mit einem Pelzmantel unter einer Wollmütze und eingehüllt in einen Schal. Das konnte nur Suzanne sein, stellte er fest, als die Gestalt auf ihn zuschlurfte und mit hoher Stimme Willkommensworte stammelte.

«O Jan, hattest du einen schlechten Flug?»

Er musste in die andere Richtung schauen, weil ihm der eisige Wind ins Gesicht schnitt. «Ja», hörte er sich sagen, «oder nein, es war ein guter Flug. Ich habe die Küste gesehen, sehr schön. Wie geht es dir, Liebe?»

Sie weinte. Der Pilot reichte ihm den Koffer herunter, und seine Finger schmerzten im dünnen Lederhandschuh, als er den Griff anfasste.

«Lassen Sie mich den nehmen.» Er schaute dankbar auf. Er war seinen Koffer los. Ein breitschultriger Mann mit langem Mantel und Kapuze trug ihn davon. Er nahm den Arm seiner Schwester und wurde zu einem langen, schimmernden Wagen geführt.

«Du konntest also doch noch kommen?», fragte er munter. «Das ist gut. Ist das Opdijks Wagen?»

«Nein, das ist einer von Janets Wagen. Sie ist meine Nachbarin. Ich kann nicht fahren, Jan.»

«Und der Mann, ist er ebenfalls dein Nachbar?»

«Das ist Reggie, er arbeitet bei Janet. Er ist sehr nett, sie sind alle sehr nett. O Jan, bringst du mich wirklich von hier fort? Nach Holland? Gehen wir nach Holland, Jan?»

Der Weg war vereist, er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

«Gewiss.»

«Ich kann es nicht glauben, Jan. Opdijk sagte immer, wir würden hier ewig bleiben. Es ist so kalt, Jan, und die Sommer … die vielen Insekten. Wir leben hinter Doppelfenstern im Winter und hinter Fliegendraht im Sommer. Es ist hier draußen so grausam, Jan.»

«Grausam?» Das Wort schien ihm fehl am Platze zu sein. Er war bis jetzt sehr gut behandelt worden. Von der Besatzung der Linienmaschine, vom Flughafenpersonal, von den beiden Piloten und den Jägern. Er wäre beinahe wieder ausgerutscht und blieb stehen. Das weiße Schweigen tröstete seinen müden Geist. Riesige Kiefern türmten sich über ihm; zwei schwarze Vögel flatterten von einem Ast, breiteten die Flügel aus und segelten davon. Krähen, nein, das konnten keine sein. Zu groß. Kolkraben! «Kolkraben!» Er hatte das Wort laut gerufen. Eine Spezies, die in Holland längst ausgestorben war, aber in Geschichten und Legenden weiterlebte. Und hier flogen sie herum. Erstaunlich. Einer der Vögel beantwortete anscheinend seinen Ruf und krächzte. Er dachte an die Krähen im vernachlässigten Garten hinter seinem Haus in Amsterdam. Sie kakelten immer. Dieses Krächzen war ganz anders, ein mächtiges und majestätisches Rufen, ein Versprechen. «Das sind Kolkraben, Suzanne.»

Seine Schwester drehte sich um und blinzelte. «Was hast du gesagt, Jan?»

«Kolkraben, die Vögel!»

«So?»

«Weißt du das nicht? Wie lange lebst du schon hier?»

Sie schob an seinem Arm und geleitete ihn zum sicheren Wagen. Der Mann namens Reggie kam zurück.

«Ich bin nicht viel spazieren gegangen, Jan. Opdijk ist gern rausgegangen.»

Reggie hatte einen Fäustling ausgezogen und bot ihm die Hand. Der Commissaris schüttelte sie, eine harte Hand mit tiefem Schmutz in den Falten und starken, eckigen Fingernägeln. Die Kapuze war dem Mann vom Kopf gerutscht. Das Gesicht passte nicht zu den Händen. Das Gesicht ist empfindsam, dachte der Commissaris, aber zurückhaltend. Ein Mensch, der oft verletzt worden, aber standhaft ist. Ein einsamer Mensch, der eine Möglichkeit gefunden hat, mit seiner Einsamkeit zu leben. Der Commissaris wurde an de Gier erinnert. Auch de Gier war ein harter und gleichzeitig empfindsamer Mensch. Aber diesem Mann fehlten die leuchtenden Augen, die de Giers Gesicht lebendig machten. Der Commissaris war sich seiner Gedanken bewusst, als er Reggie die Hand gab und dessen vollen Namen hörte. «Reggie Tammart, zu Ihren Diensten.» Eine altmodische Begrüßung, ein großmütiger Gruß. Ja, Großmut. Er erinnerte sich an amerikanische Großmut, denn er hatte einige Offiziere der Befreiungstruppen kennengelernt, die am Ende des Krieges in Holland einmarschiert waren. Die Offiziere hatten ihm erzählt, dass sie aus dem Süden seien – vielleicht war Reggie Tammart ein Südstaatler.

«Sind Sie aus dem Süden, Sir?»

«Aus New Orleans, Louisiana, Sir. Freut mich, Sie kennenzulernen.»

Der Commissaris versuchte, den Ortsnamen auf einer Karte einzuordnen. Eine Stadt an der Küste, ein Hafen. Und im Süden, er hatte recht gehabt. Zufrieden mit sich ging er weiter. Eine neue Umgebung, aber er hatte bestimmte Kenntnisse, auf die er sich beziehen konnte – die neuen Tatsachen fügten sich vielleicht in das Schema ein.

«Sie haben ein schönes Land hier, Mr. Tammart.»

«Ja, Sir. Sie können mich Reggie nennen, wenn Sie wollen. Wirklich ein schönes Land, Sir, aber wenn der Schnee den Boden bedeckt, gibt es nicht viel zu tun, außer jagen und klaftern.»

«Ist das Ihre Beschäftigung?»

«Ich bin Gärtner bei Janet Wash, Sir, unter anderem. Ich jage nur Waldmurmeltiere, weil sie die Gärten ruinieren, aber jetzt schlafen sie in ihren Erdhöhlen.»

«Sie ‹klaftern› also?» Der Commissaris konnte sich darunter nichts vorstellen, aber er dachte bei sich, der Mann werde es ihm sagen. Man hatte ihm beigebracht, sein Unwissen nicht zu zeigen, sondern durch klug gestellte Fragen zusätzliche Informationen von anderen zu bekommen.

«Ja, Janet verbrennt Holz in den Öfen, sie hält nichts von Öl. Die Öfen im Haus verbrauchen täglich einen viertel Klafter, und dann stehen in der Garage und den Hütten noch Kanonenöfen. Ich habe schon zwanzig Klafter Holz gesägt, aber wir werden noch viel mehr brauchen, wenn der Winter so anhält.»

«Machen Sie das alles allein?»

«Nein, Sir, ich habe Hilfe.»

Reggie sprach langsam und schleppend und überlegte seine Worte. Seine Freundlichkeit war eher eine Art Höflichkeit und nicht so offen und herzlich wie die Einstellung der Piloten und Jäger. Kein einfacher Gegner, dachte der Commissaris, als er sich auf den Rücksitz des Wagens schob. Aber selbstverständlich war der Mann kein Gegner. Ihm fiel der Zweck seiner Reise nach Amerika ein. Er brauchte nur den Besitz seines Schwagers zu verkaufen. Das Gesicht von Suzannes totem Mann erstand in seiner Erinnerung. Er hatte Jan nicht gut gekannt, aber sie waren sich einige Male begegnet, wenn Opdijk auf Urlaub oder geschäftlich in Amsterdam war. Ein ungeschliffener Mensch mit rotem Gesicht, ganz und gar nicht der glatte Bankier, der er sein sollte. Ein Mann, der viel trank und schmutzige, aber komische Witze erzählte. Der Commissaris hatte sich, wie er glaubte, nie bemüht festzustellen, welche Stellung Opdijk in der Bank einnahm. Ah, jetzt fiel es ihm ein, Opdijk war Rechnungsführer mit Universitätsdiplom gewesen. Ein Experte für Finanzierungsstrategie. Höchstwahrscheinlich war es eine Aufgabe im inneren Führungskreis, das Prüfen von Computertabellen in einem Zimmer im obersten Stockwerk irgendeines New Yorker Wolkenkratzers. Für die traurige Suzanne ein ungeeigneter Ehepartner. Er erinnerte sich auch, was Suzanne während ihrer kurzen Aufenthalte in Amsterdam getan hatte. Sie hatte in kleinen Läden antikes Porzellan gekauft, nach endlosen Überlegungen jeweils ein Stück. Opdijk hatte sie offenbar knapp gehalten. Na, jedenfalls war der Mann jetzt tot. Er fragte sich, ob es Suzanne sehr viel ausmachte. Sie schien darauf versessen zu sein, wieder nach Holland zu kommen. Vielleicht war Opdijks Tod für sie eine Erlösung.

Er hatte das undeutliche Etwas auf dem Rücksitz in der Ecke für einen Haufen Decken gehalten, sodass ihn die leise Stimme hinter ihm überraschte.

«Es freut mich zu sehen, dass Sie noch heil sind. In dem kleinen Flugzeug werden einem die Knochen ganz schön durcheinandergerüttelt, nicht wahr?» Eine behutsame, angenehm modulierte Stimme, kühl und fest wie die Hand, die sich ihm entgegenstreckte und die er für einen Augenblick hielt, während er sich auf seinem Sitz niederließ und einen Platz für seinen Stock fand.

«Ganz und gar nicht, Madam. Mir gefiel das Flugzeug, und die Piloten verstanden ihre Arbeit.»

«Gut. Und Sie hatten einen klaren Himmel.»

«Ja, und eine wunderschöne Sicht. Es war sehr nett von Ihnen, meine Schwester zum Flugplatz zu fahren und mich hier abzuholen, aber Sie hätten sich die Mühe nicht machen müssen. In der Maschine waren Herren, die mir angeboten haben, mich in die Stadt mitzunehmen.»

Die schlanke Hand berührte Reggies Schulter. «Freunde von uns, mein Lieber?»

Reggie hatte den Gang eingelegt. Der Commissaris sah, wie die Kiefern vorbeiglitten, als der Wagen in eine holprige Landstraße einbog. Suzanne saß neben dem Fahrer, sie drehte sich um und betrachtete den Commissaris. Er lächelte ermutigend.

«Keine Freunde, Janet, Bekannte. Die beiden Geschäftsleute aus Boston, die den Lagerplatz an Bartlett’s Bay gekauft haben. Sie sind wieder wegen der Hirsche gekommen.»

Die vornehme Stimme nahm einen eisigen Ton an. «Wegen der Hirsche, natürlich, wir haben ja wieder Jagdzeit. Jedes Jahr vergesse ich es, und in jedem Jahr sind sie wieder da mit ihren schrecklichen roten Hüten und orangefarbenen Jacken und groben Gesichtern und schmutzigen Händen und Bierkartons und ihrer großen Kanone, mit der sie auf die armen Tiere ballern. Wie viele haben sie voriges Jahr erwischt, Reggie?»

«Ich glaube, es waren Tausende, Janet.»

Janet seufzte. «Tausende herrlicher Geschöpfe, es ist unglaublich, und dennoch sterben sie nicht aus. Früher wurden sie von den Raubtieren geschnappt, nehme ich an, von den Bären, Luchsen und Berglöwen. Aber von denen gibt es nicht mehr sehr viele, sodass wir schrecklichen Menschen das übernehmen müssen. Na ja. Oje, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Janet Wash, die Nachbarin Ihrer Schwester. Wir waren alle sehr traurig, als wir die furchtbare Nachricht von Pete Opdijks Unfall hörten. Jeder Nachbar hätte Suzanne zum Flugplatz gefahren, um Sie abzuholen, aber da ich am nächsten wohne, habe ich die ehrenvolle Aufgabe übernommen. Wir sind so froh, dass Sie die Zeit hatten, nach hier zu kommen.»

Der Commissaris überlegte, ob er sich einen Zigarillo anstecken konnte. Der Aschenbecher in der Armlehne war leer und sauber, also besser nicht. Er nahm die Einzelheiten des Wagens wahr. Er war alt, aber in einem ausgezeichneten Zustand. Er hatte die Marke erkannt, als er eingestiegen war. Ein Cadillac, das gleiche Modell, das vor vielen Jahren die Bürgermeister von Amsterdam gefahren hatten, bevor sie auf Mittelklassewagen umgestiegen waren, um Sparsamkeit zu dokumentieren. Ein ausgezeichneter Wagen, gut gebaut und mit großen Scheinwerfern an den schnittig geschwungenen Kotflügeln. Er klopfte leicht auf das Leder der Armlehne.

«Ich hätte schon eher mal kommen sollen.» Über die Rückenlehne des Vordersitzes kam Suzannes Hand gekrochen, die er liebevoll festhielt. «Suzanne hat mich oft genug eingeladen, aber damals schien Amerika so weit zu sein.»

«Es ist weit», sagte Janet, «und hier draußen sind wir wirklich sehr weit entfernt. Die kanadische Grenze ist in der Nähe. Wir gehören schon fast nicht mehr zu Amerika. Werden Sie eine Weile bleiben?»

«So lange wie nötig. In Amsterdam wartet Arbeit auf mich. Ich würde gern eine Weile bleiben, aber …»

«Das dürfte nicht lange dauern. Opdijk war immer peinlich genau mit seinen Angelegenheiten, und wir alle werden ihnen gern helfen. Mein Haus ist in der Nähe, und Sie können Opdijks Wagen benutzen, da bin ich sicher, wenn Sie nichts dagegen haben, auf glatten Straßen zu fahren, und dann ist ja immer noch das Telefon da.»

Er drückte die Hand seiner Schwester. «Du wirst bald wieder in der alten Heimat sein. Ich frage mich, ob dein Haus leicht zu verkaufen sein wird. Weißt du, ob es mit Hypotheken belastet ist, Liebes?»

Suzannes feuchte Augen blinzelten über der kleinen Nase, die genau der des Commissaris glich. «Ich, ich weiß es wirklich nicht, Jan, über solche Dinge hat er nie mit mir gesprochen, aber ich weiß, wo er seine Papiere aufbewahrte. Da sind einige Schachteln und Aktenordner – vielleicht kannst du es feststellen.»

«Ja», sagte der Commissaris. Der Wagen war oben auf einem Hügel angelangt und stehen geblieben, um ein entgegenkommendes Auto vorbeizulassen. Unterhalb des Hügels erstreckte sich der Wald bis ans Meer. Der Commissaris kannte einige der Bäume. Nackte weiße Birkenstämme scharten sich um hohe Ahornbäume, die in riesigem Freudentaumel erstarrt zu sein schienen, und überall standen die seltsamen Kiefern – die er auch schon am Flugplatz gesehen hatte – und streckten ihre Äste mit den zarten langen Nadeln wie die Ärmel einer orientalischen Tänzerin mitten in einer überschwänglichen Bewegung aus. Der andere Wagen hatte neben ihnen gehalten. Reggie drückte auf einen Knopf, sodass sich das Fenster auf Suzannes Seite senkte. Das Fenster auf der Fahrerseite des anderen Wagens öffnete sich ebenfalls.

«Wie geht’s?»

«Gut», rief Reggie. «Und was machen Sie, Sheriff?»

Der Commissaris starrte den langen Straßenkreuzer an, der fleckenlos glänzte und an einer Stange auf dem Dach eine Reihe von Blaulichtern befestigt hatte. Ein sehr hübsch und sehr gefährlich aussehender Wagen, der ihn an einen Hecht in einem holländischen Wassergraben erinnerte, an einen schweren Fisch, der aber sehr schnell angriff und seine Beute verschlang. Der junge Mann am Steuer trug eine Uniform wie die eines Pfadfinders; er war schlank und klein, aber seine Autorität wirkte natürlich. Dem Commissaris fielen der gestutzte Schnurrbart, die klaren, kantigen Gesichtszüge und ruhigen, klaren Augen auf.

«Ich bin auf dem Wege zum Flugplatz», sagte der Sheriff.

«Die Maschine ist gekommen und schon wieder weg.»

«Ich will nicht zur regulären Maschine. Die hohen Tiere in New York schicken mir einen holländischen Polizeibeamten; die Polizei des Bundesstaats fliegt ihn her. Da sind sie schon.» Er zeigte nach oben. Der Commissaris öffnete sein Fenster und schaute hinauf. Ein blaues Flugzeug kreiste in einer Höhe von etwa dreihundert Metern.

«Ein Lear-Jet», sagte Reggie. «Erstaunlich, die Polizei muss heutzutage Geld wie Heu haben.»

Janet sprach mit leiser Stimme ins Ohr des Commissaris. «Hat der Sheriff gesagt, ein holländischer Polizeibeamter?»

«Ja.»

«Sind Sie nicht holländischer Polizeibeamter? Ich glaube, Suzanne hat es mir gestern gesagt.»

«Ich bin einer», sagte der Commissaris.

«Aber Sie sind doch bereits eingetroffen.»

«Stimmt.»

Das war für einen Zufall zu viel. Der Commissaris fragte sich, wie viel Personen in den verschiedenen Diensten der niederländischen Polizei stehen mochten. Fünfzigtausend? Mehr? Aber was sollte einer von denen in Woodcock County, Maine, USA, wollen? Er lächelte. Ihm fiel ein, dass er Grijpstra in dem Korridor gesehen hatte, wo der Hoofdcommissaris sein Büro hatte. Welchen Gefallen mochte Grijpstra sich wohl vom Hoofdcommissaris erbeten haben? Wenn Grijpstra sich an die Spitze wenden wollte, würde er normalerweise den Dienstweg über den Chef seiner eigenen Abteilung einhalten. Dieser Chef war er, der Commissaris. Warum hatte Grijpstra ihn also übergangen?

Er schaute sich um. Das Flugzeug landete anmutig. Eine elegante Maschine.

«Wenn Sie wollen, können wir umkehren», sagte Janet Wash. «Wer der Mann auch sein mag, Sie werden ihn sicherlich kennen, meinen Sie nicht? Wäre es nicht nett, wenn sich zwei holländische Polizeibeamte mitten im Nichts begegnen?»

«Ja», sagte der Commissaris, «aber ich werde Sie nicht aufhalten. Zweifellos werde ich meinen Kollegen später noch treffen.»

Sie flogen also Brigadier de Gier hierher. Er überlegte weiter. Der Hoofdcommissaris kannte eine Anzahl hoher Amsterdamer Polizeioffiziere. Amsterdam war eine interessante Stadt geworden, seit sie als Umschlaghafen für Rauschgift diente. Der Hoofdcommissaris kannte auch den Chef des amerikanischen CIA in Amsterdam. Ein einziger Anruf vom Schreibtisch des Hoofdcommissaris aus würde für eine vorübergehende Versetzung des Brigadiers sorgen. Er runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte da nicht. Er würde eine offizielle Anerkennung seiner Invalidität nicht hinnehmen, selbst wenn er ein Invalide war, selbst wenn ihn sein Rheuma lähmte. Er brauchte keine Leibwache oder ein Kindermädchen. Er reiste auf eigene Kosten in seiner Freizeit. Er spürte, dass er beinahe einschlief, und kämpfte gegen die Müdigkeit.

«Wir schicken Sie bald zu Bett», sagte Janet mit tiefer Stimme, «mit einer guten, starken Tasse Tee. Sie müssen erschöpft sein, Sie Ärmster.»

«Ich bin ein wenig müde», sagte er und schlief ein. Sein letzter Gedanke war, dass er eine Möglichkeit finden werde, mit dem Brigadier auszukommen. Es hatte keinen Zweck, de Gier zu enttäuschen, aber er würde ihn auch bestimmt nicht ermutigen.

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Drei

Die Triebwerke der blauen Maschine brüllten, während die Räder auf der nachlässig vom Schnee geräumten und schlecht planierten Landebahn kreischend stehen blieben. Die Hände des Piloten in der tadellosen Uniform fuhren über die Kontrollhebel, nach einem letzten Aufheulen schwiegen die beiden Turbinen.

«Jameson», sagte der Pilot mürrisch und zeigte auf ein verwittertes Schild, das an einem langen rostigen Nagel baumelte. «Einer dieser Orte am Arsch der Welt. Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollten, Sergeant?»

«Jameson, Maine», sagte de Gier. «Ja, das hat man mir gesagt.»

«Und da sind Sie nun auch.»

Der Straßenkreuzer des Sheriffs zeigte seinen Bug zwischen einem Wellblechhangar und einem Schuppen, in dem sich die Maschinerie und das Büro des Flugplatzes befand. Ein alter Mann in einem unförmigen Mantel, eine alte lederne Pilotenkappe mit Ohrenklappen auf dem Kopf, überlegte zögernd, ob er zum Flugzeug gehen oder den hohen Rang des Sheriffs anerkennen solle, indem er die Tür des Streifenwagens öffnete.

Er entschloss sich schließlich, an Ort und Stelle zu bleiben und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Der Wagen schob sich vor, sprang dann plötzlich davon und kam bei der kleinen Aluminiumleiter, die der Pilot aus dem Flugzeug schob, abrupt zum Halten. Der Pilot sprang herunter und gab dem Sheriff die Hand.

«Hier ist er, heil und gesund.»

Der Sheriff zeigte seine gleichmäßigen weißen Zähne. «Bleibt ihr Burschen über Nacht hier?»

«Können Sie uns unterbringen?»

«Ich habe nur das Gefängnis.»

Der Pilot lachte. «Nein, danke, Gefängnisse haben wir selbst, und morgen wird es Sturm geben. Wir fliegen zurück, solange wir noch können.»

De Gier winkte dem Kopiloten zu und bemühte sich, mit der freien Hand den kurzen modischen Mantel vorn geschlossen zu halten. Sein Koffer lehnte an seinem Bein.

«Sind Sie sicher, dass Sie bleiben wollen?», fragte der Pilot und ging zurück zum Flugzeug.

«Klar.»

«Okay, das ist Ihr Bier. Geben Sie uns Nachricht, wenn Sie die Nase voll haben, dann kommen wir und retten Sie – falls das Wetter es zulässt.»

«Steigen Sie in den Wagen», sagte der Sheriff und schnappte sich de Giers Koffer. «Hier ist es zu kalt – im Wind ist mehr Eis als Luft. Wollen Sie etwa diesen Mantel hier tragen?»

De Gier tat einen Schritt, glitt aus und wurde durch den drahtigen Arm des Sheriffs wieder aufrecht auf die Beine gestellt.

«Was haben Sie unter den Schuhen?»

«Leder.»

Der Sheriff grinste und schob seinen Gast um den Wagen herum und hielt ihn fest, während er die Tür öffnete. Als der Wagen anfuhr, sah de Gier, dass der Schnurrbart des Sheriffs weiß geworden war und sich an den Enden der Haare Eis gebildet hatte. Er befühlte seinen eigenen. Die Eiszäpfchen klingelten. Er versuchte, sie abzuziehen. Der Sheriff schüttelte den Kopf. «Lassen Sie das lieber. Die gehen von selbst ab. Eis schmilzt. Wie rede ich Sie an? Mit Sergeant? Der General sagte, das sei Ihr Dienstgrad. Wie kommt es, dass mir ein General einen Sergeant schickt?»

«Ja, ich bin Sergeant. Sergeant Rinus de Gier.»

Er musste es noch einmal sagen, da der Sheriff Mühe mit dem scharfen G des Familiennamens hatte. «Das hört sich an, als hätte man eine Fliege im Hals stecken, die man rausbefördern will. Gibt es in Ihrer Sprache noch mehr solcher Laute?»

«Einige.»

Der Ton des Sheriffs war kühl, aber de Gier merkte es kaum. Er war in Gedanken noch in der Luft. Die kleine Düsenmaschine war geflogen wie eine Libelle, eine Wasserjungfer. Und der Pilot hatte ihm den Gefallen getan, tiefer zu gehen, als de Gier auf eine der Hunderte von Inseln zeigte. Er hatte die Ansammlung überwachsener Felsen, gesprenkelt mit ein paar weißen Holzhäusern, umkreist und war so tief geflogen, dass sie die weißen Kämme der Wellen sehen konnten, die schäumend über die gezackte Küste rollten. Der Übergang von der gleichmäßigen Routine in Amsterdams hässlichem Polizeipräsidium und dem ewigen grauen Regen des schlammigen Winters in Holland, die seinen Verstand aufgeweicht und schwerfällig gemacht hatten, zur plötzlichen Explosion klarer Farben an der amerikanischen Küste war zu schnell gewesen, und er fühlte sich in gehobener Stimmung, aber zugleich wie betäubt. Gestern noch lediglich die Aussicht, in einem Aktenordner lange Berichte über Ereignisse durchzublättern, die es kaum wert sind, notiert zu werden, und am nächsten Tag dies hier. Er murmelte undeutliche Worte, die sich auf das gleichmäßige Schnurren des Achtzylindermotors legten.

«Wie bitte?» Aber der Sheriff vergaß seine Frage in dem Augenblick, als er sie stellte. Sie waren von der zum Flugplatz führenden Straße abgebogen und befanden sich auf einer schmalen Landstraße, die einigermaßen von Schnee geräumt worden war. Ein Wagen, der die gelbe Doppellinie auf der Straßenmitte überfuhr, kam auf sie zugebraust.

«Aufgepasst!» Aber de Gier hatte den Wagen gesehen, die Beine auf den Boden gestemmt und sich am Armaturenbrett festgehalten. Ein Zusammenstoß war möglich, aber der andere Wagen wich aus. «Das war knapp», sagte der Sheriff, bremste und wendete.

«Macht Ihnen das was aus?»

«Nein», sagte de Gier.

«Gut.»

Der Sheriff hatte nach dem Mikrophon gegriffen, das an der Lenksäule befestigt war. «Route One, Richtung Süden, verfolgen Person in schwarzem Oldsmobile, überhöhte Geschwindigkeit, möglicherweise berauscht, hat soeben Billys Farm passiert.»

Aus dem Funkgerät kam sofort eine Antwort. «Brauchst du Hilfe, Jim?»

«Noch nicht, zehn vier.»

«Eine kleine Verfolgungsjagd, Sergeant. Ich blase sie ab, wenn Sie müde sind. Haben Sie Schlaf gehabt in letzter Zeit?»

«Genug», sagte de Gier. Die Sirene des Streifenwagens kläffte unmittelbar über seinem Kopf in kurzen drängenden Stößen, bedrohlich wie das Heulen eines Wolfsrudels.

«Motherfucker», sagte der Sheriff.

«Wie bitte?»

«Ein Motherfucker, er muss über achtzig gefahren sein. Wir haben hier eine Geschwindigkeitsbegrenzung von fünfzig Meilen.»

De Gier dachte über das Wort nach, während er sah, wie die Tachonadel die Hundert erreichte. Die niedrigen Bäume neben der Fernstraße waren ein endloser graugrüner Randsaum, durchsetzt mit Weiß, wo der Schnee an den Nadelbäumen klebte. Das Schnurren des Achtzylinders ging in ein beherrschtes Donnern über. Die dunklen Augen im schmalen Gesicht des Sheriffs verrieten keine Erregung. Auf der Fernstraße herrschte kein Verkehr, das einzige andere fahrende Objekt war der Oldsmobile. Das zerbeulte Heckteil des schwarzen Wagens wurde größer. De Gier konnte das Nummernschild des Wagens erkennen, aber die Zahlen waren undeutlich, zum Teil von Dreck und Rost verdeckt.

Der Streifenwagen erhöhte die Geschwindigkeit, die Kotflügel des flüchtenden Wagens kamen näher. Das Mikrophon glitt wieder in die Hand des Sheriffs.

«Bist du da?»

«Ja, Jim.»

«Hast du die gestrige Anzeige wegen des verschwundenen Olds?»

«Hier auf dem Schreibtisch, Jim.»

«Nummer?»

«Vier-fünf-zwo, sieben-vier-sechs.»

«Das könnte er sein, das Nummernschild beginnt mit vier-fünf. Ein neunundsechziger schwarzer Olds, stimmt’s?»

«Stimmt, Jim. Willst du wirklich keine Hilfe? Bobs Wagen ist ebenfalls auf der Route One. Ich kann ihn rufen.»

«Gut, ruf ihn. Zehn vier.»

Der Motor des Streifenwagens ließ die Türen vibrieren, als beide Wagen Seite an Seite dahinrasten. Der Sheriff trat das Gaspedal durch und steuerte allmählich zur Seite, Bremsen quietschten. De Gier schaute sich um. Der Oldsmobile geriet ins Schleudern und war anscheinend dabei, sich zu überschlagen, aber er traf auf eine Schneewehe und grub sich darin ein, die Hinterräder drehten sich wie rasend.

«Okay», sagte der Sheriff und öffnete seine Tür. De Gier stieg ebenfalls aus. «Vorsicht, Sergeant. Sie stehen nicht sehr fest auf den Beinen.»

Als de Gier beim Oldsmobile war, stand der Fahrer vor dem Sheriff und ließ dessen aufrechte, auf dem glänzenden Asphalt wie angenagelte Gestalt zum Zwerg werden. Sehr hübsch, dachte de Gier, ein Verdächtiger von dreihundertfünfzig Pfund. Wie so viele große und starke Männer war er anscheinend freundlich, beinahe fröhlich.

«Sie lochen mich nicht ein, Sheriff.» Die Stimme kam dröhnend aus einem rosa Schlitz in dem dichten Bart, der bis zu den tiefliegenden Augen des Mannes reichte. De Gier blieb stehen, die Beine leicht gespreizt, die Arme baumelnd. Der Riese wandte sich ihm zu.

«Wer sind Sie?»

«Ein Mitfahrer», sagte der Sheriff.

«Wozu ist er denn hier?»

«Er ist ein neugieriger Mitfahrer. Ich werde Sie mitnehmen, Leroux. Wegen Geschwindigkeitsüberschreitung.»

«Neugier hat die Katze umgebracht.» Eine starke Whiskeyfahne traf de Giers Nasenlöcher. Und die des Sheriffs.

«Sie haben getrunken, Leroux. Das ist ein weiterer Anklagepunkt. Und ich habe einen dritten. Sie haben den Wagen gestohlen.»

Der rosa Schlitz im Bart kräuselte sich verächtlich. «Nein, Sheriff. Der Wagen gehört meinem Kumpel. Sie kennen ihn – Charlie, der junge Charlie Bouchier. Charlie hat sich meine Motorsäge geliehen, aber sie nicht zurückgegeben. Er hat ein paar Teile zurückgegeben, aber nicht die Motorsäge. Er schuldet mir ein paar Hunderter, um sie reparieren zu lassen, aber Charlie hat kein Geld.»

Der Sheriff ging zum Oldsmobile und schaute hinein. Er kehrte zurück. «Im Wagen steckt kein Schlüssel. Wie haben Sie ihn gestartet, Leroux?»

«Ich kann ohne Schlüssel einen Wagen starten.»

«Also haben Sie ihn gestohlen. Charlie hat ihnen den Schlüssel nicht gegeben, stimmt’s?»

«Sie werden mich nicht festnehmen, Sheriff.» Leroux hatte die Stimme nicht erhoben, aber er schloss halb die Augen und schwang die rechte Faust einige Zentimeter nach vorn und ließ sie dann wieder fallen.

«Doch, Leroux. Steigen Sie in den Streifenwagen ein.»

«Nur wenn Sie Ihr Schießeisen ziehen.»

De Gier schaute die Waffe an. Sie steckte obszön in einem schmalen Halfter am Gürtel des Sheriffs, nur gesichert durch einen dünnen Lederriemen, der sich öffnen würde, wenn er ihn mit dem Finger berührte. Eine üble Waffe, ein riesiger Revolver, dessen Holzgriff im Schein der tiefstehenden Sonne schimmerte.

«Ich werde keine Waffe gegen Sie ziehen, Leroux.»

Leroux’ heiseres Lachen rasselte am Sheriff vorbei. «Wollen Sie sich mit mir schlagen, Sheriff?»

«Steigen Sie ein.»

Leroux hob langsam die Hand und streckte den Zeigefinger aus der Faust. Der Finger berührte die Nase des Sheriffs und drückte zu. Die Nase wurde platt. Der Sheriff hatte sich nicht gerührt.