Outsider in Amsterdam - Janwillem van de Wetering - E-Book

Outsider in Amsterdam E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Piet Verboom hat sich den Strick genommen – so zumindest sieht es aus, als Adjudant Grijpstra und Brigadier de Gier am Tatort eintreffen. Bei näherem Hinsehen hatten jedoch viele Menschen eine Rechnung mit dem Toten zu begleichen. Die beiden Ermittler gehen vor wie immer: Sie warten in aller Ruhe ab und machen dann einen entscheidenden Fehler, der sie einen großen Schritt weiterbringt. Mit dem Romandebüt «Outsider in Amsterdam» begründete Janwillem van de Wetering seinen Weltruhm. «Van de Weterings Romane gehören zu den besten des Genres überhaupt.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Janwillem van de Wetering

Outsider in Amsterdam

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

VorwortEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehn
[zur Inhaltsübersicht]

Vorwort

Als ich noch klein war, fragten mich meine Eltern wohl mal, was ich einmal werden wollte. Ich gab immer die gleiche Antwort. Ich wollte Indianer werden und in meiner Freizeit Cowboy.

Als mich das Schicksal, das nach buddhistischem Glauben das Ergebnis früherer Taten ist, nach langer Reise durch viele Länder wieder nach Amsterdam gebracht hatte, erhielt ich einen Brief vom Verteidigungsministerium. In dem Brief waren eine Adresse, ein Name und ein Datum angegeben. Ich fand eine Dame in mittleren Jahren hinter einem Schreibtisch, die mir sagte, ich müsse Soldat werden. Ich wies sie darauf hin, dass ich über dreißig Jahre alt sei, aber das schien sie wenig zu kümmern.

Kurze Zeit darauf erhielt ich einen weiteren Brief vom Ministerium. Darin wurde mir mitgeteilt, dass ich mich als im «außerordentlichen Dienst» stehend betrachten müsse. Ich sah mir den Brief eine Weile an und legte ihn in eine Schublade. Was «Dienst» war, begriff ich nicht ganz, was «außerordentlich» war, verstand ich überhaupt nicht.

Aber die Instanzen gaben nicht nach. Die folgende Aufforderung kam von der Behörde für Bevölkerungsschutz, und als ich wiederum zu einer Dame sagte, dass ich dort nicht hineinwolle, was es auch sein möge, gab sie mir den Rat, Dienst bei der Polizei zu tun. «Ich habe schon eine Arbeit», sagte ich. «In Ihrer Freizeit», sagte die Dame.

Der Gedanke verblüffte mich. Ich hatte nicht gewusst, dass man in seiner Freizeit Polizist sein kann.

Aber man kann. Und seit mehreren Jahren bin ich Mitglied der Amsterdamer Sondertruppe der Polizei und diene der Königin in der Uniform eines Polizisten. Die Abenteuer, die ich in der Innenstadt von Amsterdam erlebte, haben mich inspiriert, diese Geschichte zu schreiben. Hier und da ist die Phantasie mit mir durchgegangen, und das Resultat ist, dass die Polizeiroutine, wie ich sie beschreibe, nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Und die Helden und ihre Gegenspieler habe ich erfunden. Sie leben in Wirklichkeit nicht, obwohl ich manchmal denke, dass sie mir an der nächsten Straßenecke entgegenkommen müssten.

[zur Inhaltsübersicht]

Eins

Der Volkswagen war auf dem breiten Fußweg der Haarlemmer Houttuinen in Höhe der Hausnummer 5 abgestellt, und zwar völlig vorschriftswidrig.

Der Brigadier hatte den Motor ausgeschaltet.

Der Adjudant zögerte.

Haarlemmer Houttuinen Nummer 5 war das Ziel dieser Dienstfahrt. In dem hohen, schmalen Haus, das er jetzt mit Abneigung betrachtete, befand sich eine Leiche, eine an einem Seil aufgehängte Leiche. Sie drehte sich wahrscheinlich langsam um die eigene Achse, denn Leichen an einem Seil hängen nie ganz bewegungslos.

Der Adjudant saß lustlos auf dem Beifahrersitz. Er hatte keine Lust, auszusteigen und durch den Regen zu laufen, und er hatte keine Lust, eine Leiche an einem Seil baumeln zu sehen.

«Heh», rief Brigadier de Gier, der neben Adjudant Grijpstra am Steuer saß. Der Brigadier hatte auch zu nichts Lust, aber das Gefühl, dass etwas geschehen müsse.

«Was?», fragte Grijpstra.

De Gier machte eine hilflose Geste. Grijpstra konnte sich die Bewegung des Arms mit der schlaffen Hand nach Belieben auslegen. Er rührte sich immer noch nicht, und Adjudant und Brigadier lauschten einträchtig auf die dicken Regentropfen, die vom schweren, saftigen Frühlingshimmel auf das Blechdach des Volkswagens trommelten.

«Ja», sagte der Adjudant und stieg aus. De Gier hatte den Wagen links auf dem Rand des Fußwegs geparkt, und Grijpstra war gezwungen, von seinem Platz aus auf die stark befahrene Einbahnstraße zu treten. Der breite amerikanische Wagen, der kreischend aus der Kurve geschossen kam, konnte nur eben noch der sich plötzlich öffnenden Tür ausweichen. Der Fahrer hupte.

De Gier lachte und stieg ebenfalls aus. Er schloss die Tür sorgfältig ab, während ihm der kalte Regen in den Nacken peitschte. In Amsterdam ist nichts sicher, auch ein Polizeifahrzeug nicht, und schon gar nicht, wenn es nicht als solches gekennzeichnet ist. Selbst ein Experte würde diesen VW nicht sofort als Transportmittel für Kriminalbeamte erkennen. Das Funkgerät war unter dem Armaturenbrett verborgen, und die Antenne oben auf dem Dach war wie bei einem gewöhnlichen Radio. Unter dem Rücksitz lag gut versteckt ein Karabiner mit sechs Patronenhaltern, alles ordentlich in eine Decke gewickelt. Und vorn im Kofferraum war alles zu finden, was Polizeibeamte zur gesetzmäßigen Ausübung ihres Dienstes für nötig erachten, darunter eine ziemlich vollständige Sammlung von Einbrecherwerkzeugen, ein starker Scheinwerfer, ein Abschleppseil mit Haken, Gasmasken und ein Tonbandgerät.

Aber das war alles nicht zu sehen, und auch an den beiden Kriminalbeamten war nicht viel zu sehen. Grijpstra ist ein dicker Mann und de Gier ein dünner, aber von denen gibt es ja wohl mehrere in der Hauptstadt. Grijpstra trug einen schlecht sitzenden Anzug aus teurem, gestreiftem englischem Stoff, ein weißes Oberhemd und eine blaue einfarbige Krawatte, de Gier einen Maßanzug aus Jeansmaterial, ein blaues Oberhemd und einen bunten Schal, den er ordentlich um den Hals geschlungen hatte. Grijpstra hat kurzes Bürstenhaar und de Gier einen Fassonschnitt, über die Ohren gekämmt und im Nacken gekräuselt, gepflegt, viele Male gebürstet und gekämmt, und wenn sein Hinterteil etwas dicker gewesen wäre, hätte man ihn – von hinten gesehen – für eine Frau halten können.

Ein gewöhnlicher Wagen parkte auf dem Fußweg, und zwei gewöhnliche Männer rannten durch den Regen zum Haus Nummer 5 und standen keuchend nebeneinander im überdachten Hauseingang.

Sie standen jetzt im Trocknen und verfielen wieder ins Nichtstun.

«Bah», sagte Grijpstra und las das Schild an der Tür.

HINDISTISCHE GESELLSCHAFT stand auf dem Schild. Tür und Schild sahen ordentlich aus. Die Worte waren mit etwas verschnörkelten Buchstaben geschrieben, so als hätte der Schriftkünstler versucht, eine geheimnisvolle Atmosphäre zu schaffen. Die Buchstaben sahen aus, als seien sie flüchtig aufgepinselt worden; das Resultat war entfernt chinesisch, aber sehr weit entfernt.

De Gier holte einen Kamm heraus und ordnete seine Nackenkräusel, während er sich umschaute.

Das Portal war sehr alt und sehr imponierend. Es war im 17. Jahrhundert für einen Kaufmann entworfen worden, der sich auf teures Holz spezialisiert hatte, importiert aus Afrika und dem Fernen Osten. Er hatte es in den drei unteren Stockwerken gelagert, während er selbst die oberen drei bewohnte, von wo aus er den Hafen und die großen Bestände von gewöhnlichem Holz sehen konnte, das auf einem rund einen Quadratkilometer großen Gelände gestapelt war. Aber das war lange her, und jetzt war der Steinfußboden im Portal geborsten und ein wenig abgesackt. Aber das gutgebaute Haus hatte viel von seiner ursprünglichen Schönheit bewahrt, und der gegenwärtige Besitzer hatte es in vernünftigem Zustand erhalten.

Rechts im Portal war ein kleines Fenster ausgespart, und de Gier sah eine Auslage von Stöpselflaschen, gefüllt mit Gesundheitsgetreide und verschiedenen Sorten von braunem und grünem Tee, garniert mit einem Zeug, das getrocknetem Seetang glich. Ein Schild im Schaufenster erzählte dem Besucher mit den gleichen, fernöstlich anmutenden Buchstaben, dass die Gesellschaft verschiedenen Aktivitäten nachging.

Grijpstra stand jetzt neben de Gier und las laut:

«Laden geöffnet von 9 bis 16 Uhr.

Restaurant geöffnet von 18 bis 21 Uhr.

Bar geöffnet von 19 bis 24 Uhr.»

Grijpstra sah de Gier an, aber der sagte nichts. Gemeinsam betrachteten sie die Schächtelchen mit Weihrauch und die kleine vergoldete Buddhastatue; er saß auf seinem Piedestal und starrte unentwegt vor sich hin. Er hatte einen spitz auslaufenden Kopf.

«Ein Spitzkopf», sagte Grijpstra. «Kriegt man den vom Meditieren?»

«Das ist kein Spitzkopf», sagte de Gier in dem belehrenden Ton, den er monatlich einmal abends annahm, wenn er die jungen Beamten der Bereitschaftsabteilung in die Anfänge der Verbrechensermittlung einführte. «Das ist ein Himmelskopf. Die Spitze zeigt nach oben, wo der Himmel ist. Je mehr man meditiert, desto dünner wird die Atmosphäre, in der man sich befindet.»

«Aha», sagte Grijpstra, «ein Himmelskopf.»

 

«Klingle mal», sagte Grijpstra. «Du hast einen so hübschen Zeigefinger.»

De Gier knickte in der Hüfte ein und klingelte. Er hatte wirklich einen hübschen Zeigefinger, lang und dünn mit einem schönen, mit der Feile bearbeiteten Nagel.

Grijpstra hatte die Hände tief in die Tasche geschoben, als wollte er jedem Vergleich ausweichen.

Die Tür wurde sofort geöffnet; man hatte sie erwartet.

«Vermutlich Selbstmord», war über Polizeifunk vor einigen Minuten gemeldet worden. «Ein Mann hat sich erhängt. Anscheinend ist er schon tot.» Das war die Meldung gewesen, gefolgt von der Adresse.

Grijpstra hatte die Adresse wiederholt und gesagt, sie würden hinfahren. Und jetzt waren sie eingetroffen. Aber sie wussten nur, was ihnen über Funk gesagt worden war.

Und jetzt würde es große Aufregung geben. Durcheinanderredende Menschen. Weiße Gesichter. Ängstliche Blicke. Vielleicht Geschrei und Getöse. Gewalt ruft bei den Menschen Reaktionen hervor.

Aber das Gesicht, das sie aus dem soeben geöffneten Eingang mit der monumentalen, dicken grünen Holztür anschaute, war nicht weiß, sondern schwarz, und es war nicht aufgeregt, sondern ruhig.

Die Kriminalbeamten musterten den Mann im Türeingang.

Ein Neger, dachte Grijpstra, ein kleiner hindistischer Neger. Was soll das?

De Gier hatte noch keine Schlussfolgerung gezogen. Auch er hatte schwarz mit «Neger» assoziiert, aber er zweifelte schon wieder. Der Mann war kein Neger. Wer ist sonst noch schwarz?, überlegte de Gier, aber sein logischer Gedankenfluss wurde durch den wartenden Gesichtsausdruck des dunklen Mannes unterbrochen.

«Polizei», sagte Grijpstra und holte seine Brieftasche heraus, eine große lederne Brieftasche mit mehreren Fächern auf der einen Seite, einem Notizblock in der Mitte und einem ausfaltbaren Plastikfach auf der anderen Seite. Er schüttelte sie und ließ den Mann seinen Ausweis sehen.

Der kleine Mann trat einen Schritt vor und betrachtete aufmerksam das Dokument, das vor seiner Nase baumelte.

«Das ist eine Kreditkarte der Algemeene Bank der Nederlanden», sagte der kleine Mann.

De Gier lachte leise, und Grijpstra sah seinen Kollegen still, traurig und vorwurfsvoll an.

«Verzeihung», sagte de Gier.

Grijpstra steckte seine eckigen, dicken Finger in die Brieftasche und fand den Polizeiausweis mit den blauen und roten Streifen und dem Passfoto.

Der kleine dunkle Mann betrachtete die Karte.

«H. F. Grijpstra», las er klar und deutlich, «Adjudant. Städtische Polizei Amsterdam.»

Er machte eine Pause.

«Ich habe ihn gesehen. Kommen Sie herein.»

Sonderbar, sonderbar, dachte de Gier. Der Mann hat sich die Karte wirklich angesehen. Das kommt sonst nie vor. Grijpstra zeigte immer seine Kreditkarte, und bis jetzt hatte noch nie jemand etwas gemerkt. Aber dieser kleine Mann sah, was man ihm vor die Nase hielt.

«Wer sind Sie?», sagte Grijpstra.

«Jan Karel van Meteren», sagte das Männchen.

Sie befanden sich jetzt in einem Korridor mit drei Türen aus schwerer Eiche. Eine stand offen, und de Gier sah mehrere langhaarige junge Männer und einen älteren Mann mit kahlem Kopf an einer Bar. Alle tranken Bier. Er warf einen flüchtigen Blick auf einen anderen jungen Mann hinter der Bar, der ein weißes T-Shirt trug und um den Hals eine Kette aus bunten Steinen hängen hatte. Van Meteren war vorausgegangen, und sie folgten ihm gehorsam. Am Ende des Korridors war eine Treppe, eine hölzerne Wendeltreppe, die erst vor kurzem gebohnert worden war. Neben der Treppe sah Grijpstra eine Nische mit einer stehenden, vermutlich indischen Statue, die segnend die rechte Hand erhoben hatte. Die Skulptur war mannshoch und aus Bronze.

Sie gingen die Treppe hinauf und kamen in einen großen offenen Raum mit hoher Decke, die mit einer weiß gestrichenen Stuckgirlande geschmückt war, deren Blüten in Gold hervorgehoben wurden. Dies schien hier das Restaurant zu sein, das die ganze Fläche einnahm. De Gier zählte zehn Tische, sechs für vier Personen und vier für sechs Personen. Fast alle Stühle waren besetzt.

Grijpstra war stehen geblieben, während ihr Führer geduldig wartete. Er bewunderte eine zierliche Statue auf einem weißen Steinsockel, die ziemlich hoch an der Wand befestigt war. Die Statue stellte eine Frau in Tanzhaltung dar. Der edle Kopf auf dem schlanken Hals schien auf den ersten Blick schlecht zu den wollüstigen Brüsten und der frivolen Haltung des angehobenen Fußes zu passen, und Grijpstra war erstaunt, dass diese nackte, sexuell erregende Gestalt göttlich sein sollte, absolut göttlich, ruhig und mächtig und frei. Vor allem frei. Der Gedanke ging ihm schnell durch den Kopf und verschwand wieder, als er weiterging.

De Gier, der ebenfalls gezwungen war, stehen zu bleiben, hatte die Statue nur flüchtig angesehen. Er schaute nach den essenden Gästen und ließ seinen Blick schnell herumwandern, wobei er keinem direkt ins Gesicht sah. Ein direkter Blick ist immer aggressiv und fordert Aufmerksamkeit heraus. Er wollte jedoch nicht auffallen und tat es auch nicht. Die Gäste sahen in den beiden Kriminalbeamten nur andere Gäste, die soeben gekommen waren, um einen Happen zu essen. Ein Mann nahm einladend seine Aktentasche und seinen Hut von einem Stuhl. De Gier schüttelte freundlich ablehnend den Kopf. Ihm fiel auf, dass schweigend gegessen wurde. Vielleicht lauschte man der Musik, die aus mehreren Stereolautsprechern kam. Ihm gefiel die Musik, und er erinnerte sich, dass er dergleichen schon einmal im Tropenmuseum gehört hatte. Die schweren rhythmischen Akkorde schrieb er einer Bassgitarre und das trockene, harte Ticken einem Satz von Trommeln zu. Die schwingenden hohen Töne kamen wohl aus einer Flöte, wahrscheinlich einer Bambusflöte.

Sie hatten sich wieder in Bewegung gesetzt, und van Meteren ging ihnen weiterhin voraus. Sie durchquerten das ganze Restaurant und kamen in eine lange, schmale Küche mit einem Fenster, durch das man einen Blick auf den Garten mit blühenden Rhododendren werfen konnte. Zwei Mädchen in strammen Blue Jeans mit Hosenträgern rührten fleißig in Töpfen. In der Küche hing ein scharfer, nicht unangenehmer Geruch von einer Mischung fernöstlicher Kräuter. Ein Mädchen wollte etwas sagen, überlegte es sich aber, als es sah, dass die Beamten in Begleitung von van Meteren waren.

Noch eine Treppe hinauf und noch ein Korridor. Weiße Wände und eine Tür mit einem Schild und der Aufschrift Tempel.Ein langer, niedriger, enger Korridor. Sie gingen an drei Türen vorbei; van Meteren öffnete die vierte und letzte.

Von der Musik aus dem Restaurant, ein Stockwerk tiefer, war hier nichts zu hören. Grijpstra ging in das Zimmer und seufzte. Er sah die Leiche, und sie bewegte sich, genau wie er es erwartet hatte. Erhängte drehen sich immer ein wenig, wegen der Zugluft. De Gier stand schweigend neben seinem Vorgesetzten und schaute ebenfalls. Er sah die kleinen nackten Füße, mit den zum Boden gerichteten Zehen. Dann schaute er nach oben und sah die ausgestreckte Zunge und die weit offenen, hervortretenden blauen Augen. Eine kleine Leiche, ein Mann von höchstens ein Meter sechzig, ein schlanker Mann, ordentlich gekleidet in einer beigefarbenen Hose aus gutem Stoff mit scharfer Bügelfalte und einem gestreiften, frischgewaschenen Oberhemd. Ein Mann von etwa vierzig Jahren. Langes, schimmerndes dunkelrotes Haar und ein voller, herabhängender Schnurrbart. De Gier ging einen Schritt näher heran und betrachtete die Armbanduhr. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Die Uhr war bestimmt 1000 Gulden wert, wenn nicht noch mehr. Er hatte selten ein so breites und dickes goldenes Uhrarmband gesehen.

Die Kriminalbeamten hatten beide die Hände auf dem Rücken. Sie würden vorläufig nichts anfassen, sondern nur schauen.

Grijpstra sah sich um. Ein großes Zimmer mit ebenfalls hoher Decke, aber diesmal ohne Stuckverzierung. Er ließ seine Augen über die dicken Balken aus Fichtenholz wandern. An den Wänden Bücherschränke, gut gefüllt, nur hier und da war etwas Platz gelassen für eine Vase oder eine Schüssel. Er sah ein Telefon neben einem Fernsehgerät und einer kompletten Enzyklopädie. Ein Tisch mit niedrigen Stühlen. Bestickte Kissen. Auf dem Tisch eine Schreibmaschine mit einem eingespannten Bogen. Er beugte sich vor. Meine Herren, in Beantwortung Ihres Briefes vom 10. dieses Monats muss ich Ihnen mitteilen … Weiter nichts. Der Briefkopf bestand aus den Worten HINDISTISCHE GESELLSCHAFT, dazu Adresse und Telefonnummer; das Briefpapier sah teuer aus.

Ein umgefallener Schemel neben den Füßen der Leiche, wahrscheinlich umgestoßen. Ein Plattenspieler mit einem Stapel Platten. Ein niedriges Bett, mit einem gebatikten Tuch bedeckt. Die gewebten Vorhänge waren geschlossen, ließen aber noch genug Licht herein, um alle Einzelheiten im Zimmer erkennen zu können.

«Was ist das?», fragte Grijpstra und zeigte auf einen anderen niedrigen Tisch, rot lackiert, auf dem die hölzerne Statue eines dicken, kahlköpfigen Mannes mit untergeschlagenen Beinen thronte, der sie mit seinen Glasaugen anstarrte.

«Eine Art von Altar», antwortete de Gier nach einigem Nachdenken. «Die mit Sand gefüllte Kupferschale muss zum Verbrennen von Weihrauch dienen, und die braunen Flecken im Sand sind verbrannte Weihrauchstäbchen.»

Grijpstra zog eine Augenbraue hoch. «Du weißt eine ganze Menge.»

«Ich besuche Museen», sagte de Gier.

Grijpstra schnupperte. «Weihrauch?», fragte er.

De Gier nickte. Von der schweren, schwülen Luft bekam er Kopfschmerzen.

«Haben Sie die Leiche entdeckt?», fragte er den kleinen dunklen Mann.

«Ja, Mijnheer», sagte van Meteren. «Ich musste Piet etwas fragen, und als er nicht ‹herein› oder ‹ja› rief, nachdem ich geklopft hatte, bin ich wieder gegangen. Die Mädchen in der Küche sagten, sie hätten ihn nach oben gehen sehen. Es gibt nur die eine Treppe nach oben, und ich musste ihn unbedingt sprechen. Ich habe im Zimmer seiner Mutter, das an diesem Korridor liegt, und im Tempel nachgesehen, aber dort war er auch nicht. Ich dachte, er wäre vielleicht eingeschlafen, und habe noch einmal geklopft und dann die Tür geöffnet. Und da hing er. Ich habe sofort die Polizei angerufen und unten auf Sie gewartet. Die anderen wissen noch nichts.»

«Warum haben Sie ihn nicht abgeschnitten?», fragte de Gier.

«Er war schon tot», sagte van Meteren.

«Woher wussten Sie das?»

Van Meteren gab keine Antwort.

«Sind Sie Arzt?», fragte Grijpstra.

«Nein», sagte van Meteren. «Aber ich habe schon viele Tote gesehen. Piet ist tot. Tot ist tot. Ich konnte es spüren. Von seinem Körper ging kein Gefühl mehr aus.»

«Haben Sie ihn berührt?»

Van Meteren zuckte die Achseln. «Ich brauche einen Körper nicht zu berühren, um zu wissen, dass er tot ist.»

«Warum haben Sie ihn also nicht losgeschnitten?», fragte de Gier noch einmal.

«Allein hätte ich es nicht geschafft», sagte van Meteren. «Jemand hätte mir helfen müssen, die Leiche festzuhalten. Außerdem wollte ich, dass Sie ihn so vorfinden. Vielleicht sehen Sie etwas, das Ihnen hilft.»

De Gier sah sich die Leiche noch einmal an. Er hatte das Gefühl, dass er den Mann schon mal gesehen hatte, und er suchte in seinem Gedächtnis. De Gier hatte ein gutes Gedächtnis, und er kannte sich in seinen Akten aus. Nach einer Weile wusste er, ihm war der Mann nicht bekannt, aber das Gesicht mit glattrasiertem Kinn und Wangen und dem schweren Schnurrbart erinnerte ihn an ein Gemälde, das er in Den Haag gesehen hatte. Es war das Porträt eines Kriegers, eines Statthalters zu Pferde, auf dem Weg in die Schlacht. Der Herrscherblick war ihm damals aufgefallen. Dieser tote Mann musste auch ein Herrscher gewesen sein, vielleicht heute Mittag noch. Ein Boss oder ein kleiner Boss. Ein disziplinierter Boss, dachte de Gier. Er sieht ordentlich aus; dieses Zimmer ist aufgeräumt und sauber; das ganze Haus ist sauber. Die Mädchen in der Küche machen einen netten Eindruck. Auch van Meteren, der irgendwie ein Untergebener des toten Mannes gewesen sein muss, ist kein unordentlicher Mensch. Warum fällt mir das auf?, fragte sich de Gier. Die Antwort kam sofort. Er hatte beim Lesen der Worte HINDISTISCHE GESELLSCHAFT an der Haustür ein Drecksnest erwartet. Und warum?, fragte er sich. Hindistisch ist etwas Östliches, aus dem Osten kommt die neue Wahrheit, die neue Atmosphäre. Aber die Anhänger des neuen Gedankens, der jetzt von verschiedenen Seiten in die Gesellschaft gebracht wird, bringen Unordnung. Diese schmutzigen, verdächtigen Gestalten, die er wegen kleiner Vergehen regelmäßig verhören musste. Er erinnerte sich an den Inhalt ihrer Taschen, der beim Durchsuchen zum Vorschein gekommen war, an die Bilder indischer Heiliger, die gefalteten und verschmutzten Fotos alter nackter Männer mit dickem, verfilztem Haar, die Yogis sein sollten oder Gurus, an die Meister des Alten, jetzt wiederum Meister des Neuen. Er hatte das Wort «hindistisch» zuerst mit «hinduistisch», dann mit «Weisheit des Ostens» und danach mit «Schmiererei» verbunden, doch alles, was er bis jetzt in diesem Haus gesehen hatte, sprach von Ordnung und Sauberkeit.

De Giers Gedanken hatten nur wenige Sekunden beansprucht, und inzwischen hatte Grijpstra wieder geseufzt. Der Mann, der vor ihm hing, war zweifellos tot, aber nur ein Arzt kann den Tod feststellen. Er würde ihn losschneiden müssen.

Er warf einen Blick über die Schulter und nickte de Gier zu.

«Ruf mal eben an.»

Aber er hätte nichts zu sagen brauchen. De Gier stand am Telefon und hatte die erste 2 bereits gewählt. Ein paar Worte genügten. Im Präsidium brauchten sie nur noch auf Knöpfe zu drücken, um direkte Verbindung zum Polizeiarzt, zur Fotoabteilung und zu den Fingerabdruckexperten herzustellen. Innerhalb weniger Minuten würden alle auf dem Weg sein.

Während de Gier telefonierte, hatte Grijpstra den Schemel aufgestellt und war daraufgestiegen. Er durchschnitt das Seil mit seinem Stilett, das er vorschriftswidrig immer als Waffe bei sich trug. Das Seil war nicht dick und die Klinge sehr scharf. De Gier wollte die Leiche auffangen, aber van Meteren war schneller. Er legte die Leiche vorsichtig auf das Bett. Niemand dachte, dass Piet wieder zu atmen beginnen würde.

Er tat es auch nicht.

Grijpstra beugte sich herunter und sah auf das tote Gesicht. «Schau mal.»

De Gier sah hin. «Ach, ach», sagte er.

Van Meteren sah ebenfalls hin.

«Ein blauer Fleck an der Schläfe», sagte van Meteren, «und eine kleine Beule.»

«Das haben Sie aber sehr schnell gesehen», sagte de Gier.

«Ein Schlag», sagte van Meteren, der immer noch vornübergebeugt hinschaute. «Mit einem Stock oder vielleicht auch mit der Faust. Oder vielleicht auch nicht. Der Arzt wird es wohl wissen.»

«Haben Sie hier im Haus etwas zu sagen?», fragte de Gier.

Van Meteren hatte sich wieder aufrecht hingestellt und hielt die Hände auf dem Rücken. Er dachte nach. Er runzelte die niedrige Stirn über der breiten, platten Nase. Und jetzt wusste de Gier, dass dieser Mann ein Papua sein musste. Er sah das Foto aus seinem Geographiebuch wieder vor sich, ein Papua, der am Strand sitzt und seine Speerspitze schleift. Aber dieser kleine Mann war kein reinrassiger Papua, die Nase war nicht platt genug, und da war irgendwas mit seiner Gesichtsform. Vielleicht zu drei Vierteln Papua, dachte de Gier, oder zu sieben Achteln. Daher auch der holländische Name. Das reine Niederländisch, das van Meteren sprach, hatte einen leichten Akzent, aber nicht den der Surinamer oder den der Indonesier, die er häufig in seiner Umgebung sprechen hörte. Diese Stimme kam tiefer aus der Kehle, sie war irgendwie schwerer.

«Nein», sagte van Meteren jetzt, «ich habe hier nichts zu sagen. Piet war der Chef. Ich wohne hier nur. Ich habe keine Funktion in dieser Gesellschaft. Ich denke, dass die Mädchen hier jetzt übernehmen werden sowie Johan und Eduard. Aber Johan ist in der Bar und weiß von nichts, und Eduard hat heute frei.»

«Dann gehe ich wohl besser nach unten», sagte de Gier. «Vorläufig darf niemand das Haus verlassen. Die Wagen vom Präsidium können jeden Augenblick hier sein. Die werden Kriminalbeamte schicken und vermutlich auch uniformierte Polizisten, die die Tür bewachen. Es wird der übliche Klamauk werden.»

De Gier lief die Treppe hinunter. Klamauk war das richtige Wort. Tag für Tag hatten sie nichts anderes zu tun, als herumzufahren und sich ein wenig umzusehen – und jetzt plötzlich zwei Leichen an einem Abend. Sie hatten die erste Leiche am frühen Abend gefunden, oder sie hatten vielmehr gesehen, wie aus einem Menschen eine Leiche wurde. Die Frau lebte noch, als sie sie fanden, nackt und blutend in dem schäbigen Bordell an der Gracht. Mit einem Messerstich im Bauch. Sie starb in den Armen des Arztes, der nach dem Anruf de Giers gleich gekommen war. Sie hatte den Täter noch deutlich beschreiben können, während sie die Hände auf den Bauch presste, um das Blut zu stillen. Eine alternde Hure, ein liebenswürdiger Mensch sozusagen. De Gier hatte den jungen Mann unter einem Baum gefunden, direkt gegenüber dem Bordell. Der Junge saß mit dem Rücken an einer dicken Ulme und starrte ins Wasser, das Messer hielt er noch in der Hand. Er gestand sofort. Ein netter Junge, aber mit Messern und älteren Frauen nicht zu trauen, die ihn an seine Mutter erinnern. Sie hatten ihn mitgenommen und eingesperrt und ein kurzes Protokoll aufgenommen. Arbeit für den städtischen Psychiater. Vielleicht würde man den Jungen nicht einmal vor Gericht stellen, sondern «auf Anordnung der Regierung» direkt in eine Anstalt stecken. Und das konnte viele Jahre dauern, auf Anordnung einer unbegreifbaren Macht, die ihn Pillen schlucken und Filzpuppen machen oder mit bunter Kreide kritzeln ließ. Und vielleicht würde man ihn nach ein paar Jahren wieder auf die Straße lassen, damit er sich in einem Haushaltswarengeschäft ein Messer kaufen und mit dem Geld von der Sozialfürsorge eine billige Hure finden konnte. Und vielleicht auch nicht.

Die ganze Sache mit der toten Hure hatte sie nur anderthalb Stunden gekostet, die Polizeiwache war um die Ecke, die Zelle leer, die Schreibmaschine bereit und der Verdächtige geständig. Und jetzt wieder dies.

De Gier ging ins Restaurant. Er fand den Verstärker des Plattenspielers und drehte den Lautstärkeknopf in die falsche Richtung. Die Lautsprecher kreischten auf. Er drehte den Knopf wieder zurück und schaute in ein Meer erschrocken fragender Gesichter. Eines von ihnen wurde böse. Ein großer, schwerer Mann mit einem Bart, der ihm bis an die Augen wuchs, stand auf und ging auf de Gier zu.

«Was soll das? Würden Sie die Musik wohl wieder anstellen? Was soll das hier?»

De Gier legte dem Mann eine Hand auf die Schulter und sah ihn freundlich und gelassen an.

«Nun mal ruhig. Ich bin von der Polizei. Ich muss Sie bitten zu bleiben. Sie und die anderen auch.»

Er hob die Stimme.

«Hier ist etwas Unangenehmes geschehen. Meine Kollegen sind schon unterwegs. Es ist nur eine Formalität, aber ich muss Sie ersuchen, sitzen zu bleiben, und zwar, bis Sie von uns hören, dass Sie gehen können. Wir werden Sie nicht lange aufhalten. Falls jemand etwas darüber weiß, was dort oben geschehen ist, kann er sich melden.»

Es begann ein allgemeines Gemurmel. Niemand meldete sich. Die beiden Mädchen waren aus der Küche gekommen und standen direkt vor de Gier.

«Was ist passiert?», fragte die Ältere, ein hübsches Mädchen von Anfang zwanzig mit Zöpfen und großen grünen Augen.

«Das werden Sie noch erfahren», sagte de Gier.

«Ist etwas mit dem Geld, das in Piets Zimmer war?»

«Ist Geld gestohlen worden?», fragte de Gier.

«Das weiß ich nicht», sagte das Mädchen, «aber Piet hat uns heute Nachmittag gefragt, ob wir in seinem Zimmer gewesen seien. Johan hatte das Geld aus dem Laden um vier Uhr nach oben gebracht, und es mussten rund dreihundert Gulden auf dem Tisch liegen, aber Piet behauptete, es sei weniger. Ich denke, dass Johan nicht richtig gezählt hat. Geht es darum?»

«Nein», sagte de Gier leise. «Piet ist tot. Er hing tot am Balken.»

«Oh», sagte das Mädchen und hielt sich die Hand vor den Mund. Das andere Mädchen, eine kleine Dicke mit Brille, fing an zu weinen.

«Nur ruhig bleiben», sagte de Gier. «Daran ist nichts mehr zu ändern. Sie beide sind nicht in seinem Zimmer gewesen?»

Die Mädchen schüttelten den Kopf.

«Nein», sagte das dicke Mädchen.

«Nein», sagte das hübsche Mädchen, «nicht nach fünf Uhr. Ich habe das Geld auf dem Tisch gesehen, weil ich noch eben mit Piet nach oben gegangen bin. Wir haben gemeinsam das Geld gezählt, und dann bin ich wieder in die Küche gegangen. Er hält nichts davon, wenn wir in seinem Zimmer herumstehen, und er müsse Briefe schreiben, sagte er.»

«Er ist der Chef hier, nicht wahr?», fragte de Gier.

«Ja», sagte das dicke Mädchen, «er ist der Direktor der Gesellschaft. Eigentlich gehört uns allen die Gesellschaft, aber er hat alles bestimmt. Und jetzt ist er tot?»

De Gier gab ihr sein Taschentuch, und sie rieb sich die Augen.

Er sah missmutig die schwarzen Streifen von der Wimperntusche, die bei der Wäsche nicht ganz herausgehen würden; das Taschentuch konnte er wegwerfen.

Ihre Tränen beeindruckten ihn nicht. Ihm schien es, als finde das Mädchen das Ereignis spannend. Der Tod ist immer ein großes Erlebnis.

 

Es klingelte. Als de Gier die Tür öffnete, standen außer seinem noch vier weitere Wagen auf dem Fußweg. Die Kollegen waren ohne Sirene und Blaulicht gekommen. Dies waren die Fachleute, die nie in wilder Eile waren.

Er schüttelte ein paar Hände und sprach kurz mit dem Fingerabdruckexperten, den er gut kannte. Er zeigte allen den Weg. Den Arzt und die Experten brachte er in das Zimmer des Toten, die Kriminalbeamten ins Restaurant und in die Bar, wo sie sofort mit den Verhören begannen. In diesem Stadium brauchten sie nur Namen und Adressen. De Gier sagte ihnen, sie sollten sich mit den beiden Mädchen und dem Barmann Johan etwas mehr befassen und van Meteren nicht beachten, den er für sich reserviert habe.

«Ach, ja», sagte er zu dem älteren Beamten, «wenn du eine ältere Dame siehst, lass sie ebenfalls zufrieden. Sie ist die Mutter des Toten. Wir werden uns später um sie kümmern.»

«Wer ist ‹wir›?», fragte der Beamte.

«Grijpstra und ich», sagte de Gier.

Der Kriminalbeamte sah beeindruckt aus, und de Gier lächelte ihn an.

«Du bist ein Komiker», sagte er.

De Gier hörte die Türklingel und ging wieder, um zu öffnen. Er sah den Hoofdinspecteur und begrüßte ihn etwas aufmerksamer als die anderen.

«Selbstmord?», fragte der Hoofdinspecteur.

«Könnte sein», sagte de Gier, «aber er hat auch einen Schlag an den Kopf gekriegt.»

«Hm», sagte der Hoofdinspecteur und ging nach oben.

Der Hoofdinspecteur ging auch als Erster. Er hatte sich ein wenig umgesehen und gebrummt.

Nach einer Stunde war die Ruhe wieder eingekehrt.

Grijpstra und de Gier saßen an einem Tisch im Restaurant, rauchten und sahen einander an.

«Zwei an einem Tag», sagte Grijpstra.

«Das ist zu viel», sagte de Gier, «aber was ist es jetzt? Mord oder kein Mord?»

Grijpstra blies den Rauch durch die weit geöffneten Nasenlöcher; de Gier sah, wie die feinen Härchen darin zitterten.

«Beides ist möglich», sagte Grijpstra, «aber es wird wohl Mord gewesen sein. Ein Schlag gegen die Schläfe, einfach mit der Faust, denn ich habe keine Waffe oder mögliche Waffe gesehen, und der blaue Fleck und die Beule sind nicht sehr ernst. Bam! Piet liegt auf dem Boden, bewusstlos oder auch nur ein wenig beduselt. Das Seil liegt bereit. Das Seil um den Hals. Piet angehoben und auf den Schemel gestellt, das andere Seilende an den Haken, der bereits im Balken ist, ein Tritt gegen den Schemel, und hopp! Zur Tür hinaus. Die Arbeit einer Minute, einer halben Minute.»

«Für einen oder zwei Mann?»

Grijpstra schüttelte gereizt den schweren Kopf.

«Warum nun wieder zwei Männer oder zwei Frauen oder eine Frau und ein Mann oder ein Mann und eine Frau? Warum so kompliziert? Ein Mörder, keine zwei oder drei. Es gibt fast keine Mörder in Amsterdam, warum sollte jetzt plötzlich eine ganze Gruppe auftauchen?»

«Aber es ist doch eine ziemliche Arbeit», sagte de Gier vorsichtig. «Er hat sich mit Piet abgerackert und ihn auf den Schemel gebracht. Das ist vielleicht doch wohl ein wenig mühsam, wenn man allein ist?»

Grijpstra stand auf.

«Komm mit. Wir werden uns abrackern.»

Sie waren für eine Weile beschäftigt. De Gier legte sich auf den Boden und entspannte sich. Grijpstra hob ihn mit Leichtigkeit hoch und stellte ihn auf den Schemel, wobei er ihn mit dem einen Arm umfasste und mit der freien Hand ein imaginäres Seil um seinen Hals legte.

Sie probierten es einige Male.

«Siehst du?», sagte Grijpstra. «Es ist ganz einfach. Du wiegst auch nicht viel, noch keine fünfundsiebzig Kilo, würde ich sagen, aber dieser Piet wiegt noch weniger. Vielleicht zwischen fünfzig und sechzig, das genaue Gewicht werden wir noch erfahren. Ein kleines, schwaches Kerlchen. Fast jeder, der kein Zwerg ist, hätte das schaffen können.»

«Ja, ja», sagte de Gier.

Aber etwas später, als sie wieder unten im Restaurant saßen und rauchten und gähnten, dachte de Gier wieder anders.

«So war es nicht», sagte de Gier. «Pass auf.»

«Ich passe auf», sagte Grijpstra und wedelte den Rauch seiner Zigarette zur Seite.

«Dieser Piet ist schwermütig. Er will den Tod. Das Leben ist nicht gut, meint er. Er sitzt in einem alten Haus in der Haarlemmer Houttuinen als Direktor einer Gesellschaft für dummes Zeug, die nicht floriert und nur Schulden macht. Und er überlegt, dass er über vierzig ist und bald ein alter, hoffnungsloser Mann sein wird. Obendrein ist er ein ganz kleines Kerlchen, und die haben es immer schwer. Hier sitzt er, mutterseelenallein, umringt und bestürmt von seinen eigenen Ideen, an die er nicht mehr glaubt, vor denen er sich fürchtet, und er will fort. Er will durch die weiße Pforte, und er hat den silbernen Schlüssel.»

«Was?», fragte Grijpstra.

«Sinnbilder», sagte de Gier. «Sinnbilder des Ostens. Habe ich irgendwo gelesen. Der Tod ist die weiße Pforte, und jeder hat den silbernen Schlüssel.»

«Pardon», sagte Grijpstra, «ich bin ungebildet. Aber jetzt verstehe ich. Piet will fort. Durch die Pforte. Durch den Tunnel. Durch den dunklen Tunnel, der zum Unbegreifbaren führt. Aber was passiert? In deiner Geschichte sitzt er immer noch da und überlegt.»

De Gier stand auf und schlenderte zwischen den Tischen im Restaurant hin und her. «Er fasst einen Beschluss. Aber es ist nicht so einfach, einen so schwerwiegenden Beschluss zu fassen. Normalerweise fasst ein Mensch überhaupt keine Beschlüsse, er tut kaum etwas, das Leben schleift ihn mit, die Umstände haben ihn am Kragen. Aber unser Piet fasst einen Beschluss. Aber das tut er nicht einfach so. Er trinkt dabei ein Schnäpschen. Er wird ein wenig betrunken. Er trinkt weiter. Er wird stinkbetrunken. Er will die Schlinge an den Balken hängen. Er steigt dazu auf den Schemel, aber er ist so besoffen, dass er fällt und sich den Kopf stößt. Vielleicht auch kurz das Bewusstsein verliert. Aber er kommt wieder zu sich und hängt sich auf.»

Grijpstra schwieg. De Gier wanderte immer noch auf und ab.

«Er roch nicht sehr nach Alkohol», sagte Grijpstra. «Höchstens nach einem Bier oder einem Sherry, schnell in der Bar weggekippt. In seinem Zimmer habe ich keine Getränke gefunden, nicht einmal ein Glas. Und es lagen keine Scherben auf der Straße, also hat er die Flasche auch nicht zum Fenster hinausgeworfen. Er schien mir dafür auch viel zu ordentlich zu sein. Übrigens sah er mir auch viel zu ordentlich aus, um so etwas Unordentliches zu tun, wie Selbstmord zu verüben. Oder verüben ordentliche Menschen mit Bügelfalten in der Hose und gekämmtem Schnurrbart ebenfalls Selbstmord?»

De Gier betrachtete die Statue der tanzenden indischen Göttin. «Ja», sagte er. «Selbstmörder verlieren ihre Haltung. Sie rasieren sich unregelmäßig und essen, wann es ihnen gerade passt. Daran erinnere ich mich noch von den Psychologievorlesungen. Aber es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sich ein ordentlicher, sauberer Mann an einem guten Stück Seil und einem soliden Haken aufhängt, der fest in den Balken geschraubt ist.»

Grijpstra schüttelte den Kopf.

«Na schön. Wie du meinst. Und wenn er nicht betrunken war, wie wir glauben, kann er vielleicht Rauschgift genommen haben. Heroin vielleicht, aber er hatte keine Einstiche an Armen oder Beinen. Er kann Kokain geschnupft oder eine Opiumpille geschluckt haben. Das werden wir ja hören. Er hatte nicht geraucht, dort war kein Aschenbecher und keine Asche im Papierkorb. Ich habe die Mädchen gefragt; sie sagten, er hat überhaupt nicht geraucht. Seltsam, ich hatte den Eindruck, dass sie lügen. Warum sollte man wegen des Rauchens lügen?»

«Haschisch», sagte de Gier. «Er hat vermutlich Hasch geraucht, und sie auch, und sie wollten nicht, dass wir es erfahren.»

«Von Hasch fällt man nicht um und holt sich eine Beule», sagte Grijpstra.

De Gier zuckte die Achseln. «Warten wir bis morgen. Wir müssen nicht heute Abend schon alles lösen. Wir müssen noch mit van Meteren sprechen, er wartet oben in seinem Zimmer auf uns. Die Mädchen habe ich ins Bett geschickt, die kommen morgen an die Reihe.»

«Ja», sagte Grijpstra, «dann müssen wir noch mal nach dem Geld fragen, obwohl ich nicht glaube, dass einer heutzutage jemanden wegen ein paar hundert Gulden aufhängt.»

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Zwei

«Möchten Sie eine Tasse Tee?», fragte van Meteren.

«Kaffee», sagten de Gier und Grijpstra gleichzeitig. Sie saßen ihm auf einem niedrigen Bett gegenüber, den Kopf an die Wand gelehnt. Es war Mitternacht, und vor allem de Gier fühlte sich erschöpft. Er hatte allmählich die Nase voll von diesem alten Kaufmannshaus mit seinen langen, engen Korridoren und Treppen und der imitierten Atmosphäre des Ostens, aber er musste zugeben, dass van Meterens Zimmer eine gewisse Ruhe ausstrahlte. Es war groß mit weißen Wänden und einem schönen, wenn auch etwas verschlissenen persischen Teppich auf dem Fußboden. Auf einem Regal entlang der ganzen Wandbreite hatte van Meteren eine Sammlung von Gegenständen ausgestellt, seltsam geformte Steine, allerlei Muscheln, getrocknete Blumen in Töpfen und Flaschen und den Schädel eines großen Tiers, wahrscheinlich eines Wildschweins. Van Meteren saß auf einem dicken Kissen auf dem Boden, die Beine untergeschlagen, entspannt und geduldig. Eine Stehlampe vor ihm warf den Schatten seines von Kraushaar umrahmten Kopfes auf die weiße Wand.

Van Meteren verzog den Mund.

«Hier im Zimmer habe ich keinen Kaffee. Es ist jetzt zu spät, um noch welchen aus der Bar zu holen; nur dort wird Kaffee ausgeschenkt. Eigentlich ist Kaffee gegen die Regeln dieses Hauses. Piet sagte immer, Kaffee regt auf.»

Van Meteren goss den Tee aus einer mit chinesischen Schriftzeichen verzierten Thermosflasche in kleine henkellose Tassen. Die beiden Kriminalbeamten nahmen ihre Tasse in die Hand, schlürften den kochend heißen Tee und verzogen das Gesicht. Van Meteren lachte. «Sie werden sich wahrscheinlich noch daran gewöhnen. Tee zu trinken, das ist eine Kunst, und Tee ist ein heiliges Getränk. Er aktiviert und entspannt zugleich. Sie trinken jetzt grünen Tee, er ist zwar etwas bitter, aber die edelste Sorte, die hier zu haben ist. Sie werden davon wach und nehmen Abstand.»

«Abstand wovon?», fragte Grijpstra.

Van Meteren wedelte mit seiner kleinen schwarzen Hand.

«Von allem. Von sich selbst. Von Ihren Sorgen, von dem, was man mit sich herumschleppt.»

«Das ist gut», sagte Grijpstra. «Hörst du das?»

«Ja», sagte de Gier, «ich höre es. Und ich habe mich schon an den Tee gewöhnt. Ich möchte wohl noch eine Tasse.»

Van Meteren schenkte nach.