Eine Tote gibt Auskunft - Janwillem van de Wetering - E-Book

Eine Tote gibt Auskunft E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Adjudant Grijpstra und Brigadier de Gier werden zu einem Hausboot gerufen. Ein Nachbar ist in Sorge um die schöne Maria van Buren. Zu Recht. Jemand hat die junge Frau ermordet. Schon nach den ersten Ermittlungen stellt sich heraus, dass sie die Geliebte von drei Männern war. Und wenn einer der drei mit einem Wurfmesser umgehen konnte, dürfte der Fall geklärt sein: ein Fall von Eifersucht. Doch da keiner der Männer in der Lage oder bereit ist, Einzelheiten über das Leben der Toten zu liefern, fliegt der Commissaris, der Vorgesetzte von Grijpstra und de Gier, nach Curaçao. Denn von dort stammte Maria van Buren. Die schöne Maria von Buren ist bei einem Zauberer in die Lehre gegangen. Aber gegen den Dolch in ihrem Rücken hat auch keine Hexerei geholfen. Die Vernehmung ihrer drei Liebhaber bringt die Ermittler nicht weiter. Die Lösung des Falls wartet auf Curaçao, der Heimat der Toten, und hat mit gefährlichem Aberglauben zu tun. «Man verliebt sich einfach in den begnadeten Erfinder van de Wetering und in seine Figuren.» (Süddeutsche Zeitung) «Wetering ist mit Recht einer der meistgelesenen Thrillerautoren hierzulande.» (Generalanzeiger für Bonn)

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Seitenzahl: 269

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Janwillem van de Wetering

Eine Tote gibt Auskunft

Roman

Aus dem Niederländischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzig
[zur Inhaltsübersicht]

Eins

Adjudant Grijpstra hatte das Gefühl, dass dies nicht der beste Morgen des Jahres war. Er saß hinter seinem grauen Metallschreibtisch in dem großen Zimmer im Präsidium, dem Zimmer, das er mit Brigadier de Gier teilte. Er saß in sich zusammengesunken, den schweren Körper mit Mühe in den engen Stuhl gezwängt, und las die Fernschreiben vom Vortag, in Großbuchstaben auf billigem rosa Papier gedruckt, in einem abgewetzten Büroordner gesammelt. Er versuchte zu schlucken. Zwei Stücke Sandpapier rieben sich aneinander, direkt hinter seinem Gaumenzäpfchen.

«Hast du auch schon gemerkt, dass in Amsterdam nie etwas passiert?» Seine Stimme klang heiser, und er sprach sehr langsam. Eigentlich hatte er sich die Frage selbst gestellt. Er hatte auch ganz leise gesprochen, und de Gier hätte ihn eigentlich nicht hören sollen, denn die Fenster waren geöffnet. Und um diese Tageszeit dröhnte gewöhnlich der Verkehr durch die Marnixstraat, aber jetzt war es schon seit einigen Minuten still. Einige Häuserblöcke weiter oben waren zwei Autos zusammengestoßen, und die Marnixstraat war blockiert.

Du müsstest ins Bett, dachte de Gier, der ihn gehört hatte. «Hm?», fragte de Gier, denn er wollte seinen Vorgesetzten in seiner Einsamkeit nicht ungeschützt allein lassen.

«In Amsterdam», wiederholte Grijpstra, «passiert nie etwas.»

«Du bist krank», sagte de Gier, «du hast Grippe. Geh nach Hause und ins Bett. Nimm zwei Aspirin und trink einen Tee. Leckeren heißen Tee mit einem Schuss Cognac und einer Zitronenscheibe. Dann schlafe. Den ganzen Tag. Augen zu und an nichts denken. Und morgen wirst du wach und liest die Zeitung. Und übermorgen liest du ein Buch. Und überübermorgen liest du noch ein Buch. Am Tag darauf ist Samstag, und dann schlenderst du ein wenig durchs Haus, nicht zu viel. Und Sonntag machst du einen kleinen Spaziergang. Und Montag kommst du wieder her.»

«Ich bin nicht krank», sagte Grijpstra. Er zündete sich eine Zigarette an und begann zu husten. Er hörte nicht auf zu husten. Schließlich zwängte er sich aus seinem Stuhl heraus und stellte sich mit krummem Rücken hin, das Gesicht zur Wand. Er hustete immer noch.

De Gier lächelte. Natürlich will er nicht nach Hause, dachte er. Er hat nur zwei winzige Etagen in einem ganz kleinen Haus an der Lijnbaansgracht. Und in den beiden winzigen Etagen stampft Mevrouw Grijpstra herum, und die drei kleinen Grijpstras und das Fernsehgerät machen noch zusätzlichen Krach.

Grijpstra hustete nicht mehr. In seinem betäubten Kopf formten sich langsam schwerfällige Gedanken, negative, ärgerliche, unangenehme. Ich will ihn gar nicht ansehen, dachte Grijpstra, er ist viel zu hübsch und viel zu gesund. Und mit diesem Maßanzug, einem Maßanzug aus Jeansstoff. Lackaffe. Und das hellblaue Oberhemd, das in der Farbe so gut dazu passt. Und das Tuch um seinen Hals. Und die Locken. Und die Nase. Dieser Filmstar! Bah.

Aber Grijpstra korrigierte sich. Er räumte ein, dass er eifersüchtig war. Er dachte daran, dass de Gier sein Freund war. Ein guter Freund. Ein treuer, zuverlässiger und bescheidener Kollege. Er zwang sich, daran zu denken, dass de Gier mindestens zweimal sein Leben riskiert hatte, um ihn zu retten. Er zwang sich, zu vergessen, dass er selbst mindestens dreimal sein Leben riskiert hatte, um de Gier zu schützen. Und dann grinste er, zwar etwas gequält, aber es war dennoch ein Grinsen.

Das Leben riskieren, dachte Grijpstra, manchmal sieht es ja so aus, aber so ist es ja nicht. Wir sind in Amsterdam, und hier drohen die Gauner wohl mal, aber sie bringen einen nicht um. Amsterdam ist eine freundliche Stadt. «In Amsterdam passiert nie etwas.»

Dies hatte er wieder laut gesagt, und de Gier beugte sich über den Ordner mit den rosa Fernschreiben.

«Was hast du nur?», fragte de Gier. «Sieh mal. Es passiert alles Mögliche.»

De Gier stand neben einem kompletten Schlagzeug aus drei Trommeln, das einst auf unerklärliche Weise in ihr Zimmer gekommen war. Grijpstra hatte das Schlagzeug angeschaut und sich geweigert, zu ermitteln, wer der Eigentümer sein könnte. Und seit jenem Tag hatte er auf dem Schlagzeug gespielt. Er hatte immer eines haben wollen seit der Zeit, als er in der Schulband Drummer gewesen war. Und nach einigem Üben hatte er seine alte Technik wiedergewonnen und zu improvisieren angefangen. Und de Gier begleitete ihn auf einer Querflöte, die aus dessen Schulzeit stammte, als er einen Kirchenchor darauf begleitet hatte.

De Gier nahm einen Trommelstock. «Es passiert alles Mögliche. Hier. Eine ganze Reihe von Verkehrsunfällen (bam auf der Trommel). Gestohlene Motorräder (bam), ein Auto in der Gracht (bam).»

Grijpstra hatte dreimal gestöhnt.

«Und hier! (Wirbel auf der Trommel) Sieh mal einer an. Bewaffneter Überfall. Drei Kerle, die eine alte Dame in einem Zigarrenladen überfallen haben. Und wenn sie es nicht übersteht, echter Totschlag. Warum haben wir diesen Fall nicht bekommen?»

«Weil wir nicht hier waren», sagte Grijpstra. «Wir waren um die Ecke gegangen, um Gebäck zu kaufen. Sietsema und Geurts waren hier und sind jetzt damit befasst.»

«Sietsema ist bei der motorisierten Polizei», sagte de Gier.

«Jetzt nicht mehr. Gegenwärtig ist er bei der Kripo, das weißt du doch am besten.»

«Ja», sagte de Gier, «ich vergesse es immer. Einmal zu viel von der Guzzi gefallen, und jetzt haben wir ihn. Vom Elitecorps der großen Motorräder zum Abfalleimer der Plattfüße.»

De Gier legte die Trommelstöcke weg und schaute zum Fenster hinaus. Der Verkehr war wieder in Bewegung gekommen und brummte und kreischte durch die enge Marnixstraat, freigebig Auspuffgase qualmend, welche die Büros beschmutzten, in denen sich die Polizei darauf einzurichten begann, wieder einen ganzen Tag lang tatkräftig die Ordnung aufrechtzuerhalten. De Gier hatte selbst einmal den Plan gehabt, sich bei der Motorradpolizei zu bewerben, sich jedoch überreden lassen, zur Kripo zu gehen. «Du hast Verstand, de Gier», hatte der leitende Beamte gesagt, «den musst du benutzen, de Gier.» Er hatte sich oft gefragt, ob er die richtige Wahl getroffen hatte. Er hätte jetzt Brigadier bei der Verkehrsstaffel sein können, mit demselben Gehalt, den gleichen Privilegien. Er hätte jetzt auf einer großen, glänzenden Guzzi sitzen können. Die von der Motorradstaffel hatten keine Plattfüße. De Gier hatte auch keine, aber er würde sie bekommen. Kripobeamte laufen zu viel. Sie warten auch viel, an Straßenecken und vor Schaufenstern und in Hauseingängen. Und sie steigen Treppen empor, meistens die falschen Treppen. Motorradpolizisten steigen nie Treppen empor.

«Vielleicht bauen Sietsema und Geurts Mist, dann gibt der Hoofdinspecteur den Fall an uns zurück.»

«Das tut er nicht», sagte Grijpstra und nieste.

«Soll ich dir eine gute Tasse Kaffee holen?»

«Ja», sagte Grijpstra.

De Gier ging zur Tür, öffnete sie und erstarrte.

«Meine Herren», sagte der Commissaris.

Der Commissaris lächelte. Die Zeit, da nicht im Offiziersrang stehende Beamte schon beim Anblick eines Commissaris aufsprangen und Haltung annahmen, war vorbei. Wahrscheinlich war die Zeit schon angebrochen, da man ihn bald nicht einmal mehr mit «Mijnheer» anredete. Aber einige Männer erinnerten sich noch der alten Zeit und ließen erkennen, dass sie ein gutes Gedächtnis hatten.

«Mijnheer», sagte einer dieser Männer. «Ich wollte soeben Kaffee holen. Soll ich Ihnen eine Tasse mitbringen?»

«Bitte», sagte der Commissaris.

«Eine Zigarre, Mijnheer?», fragte Grijpstra und nahm die Blechdose aus seiner Schublade, in der er die kleinen Zigarren aufbewahrte, die der Commissaris gern hatte.

«Bitte», sagte der Commissaris.

«Nehmen Sie Platz, Mijnheer», sagte Grijpstra und zeigte auf den einzigen bequemen Stuhl im Zimmer.

Der Commissaris setzte sich und rieb sein linkes Bein. Die Schmerzen in den Beinen hatten ihn in der Nacht nur wenig schlafen lassen. Grijpstra sah die Handbewegung und fragte sich, wie lange der alte Mann noch in den Korridoren des Präsidiums herumspuken würde. Der Commissaris hatte noch fünf Dienstjahre vor sich, aber sein Rheuma schien immer schlimmer zu werden. Grijpstra hatte den Commissaris einige Male an einer Wand lehnen sehen, gelähmt vor Schmerzen, das Gesicht zu einer weißen Maske verzerrt.

De Gier kam zurück mit einem Plastiktablett und drei Pappbechern. Der Commissaris nahm einen vorsichtigen Schluck und sah die beiden Beamten an.

«Erinnert ihr euch an das Wohnboot auf dem Schinkel?», erkundigte er sich.

«Das Boot, das wir im Auftrag des Hoofdinspecteurs im Auge behalten sollen?», fragte Grijpstra.

«Das Boot», sagte der Commissaris. «Der Hoofdinspecteur ist jetzt in Urlaub, und ich weiß nicht, wie viel er euch erzählt hat. Was wisst ihr?»

«Nicht viel, Mijnheer», sagte Grijpstra. «Der Hoofdinspecteur erklärt nie sehr viel; wir wissen nur, dass wir das Boot im Auge behalten sollen.»

«Habt ihr?»

Grijpstra sah de Gier an.

De Gier setzte sich aufrecht hin. «Wir gehen dort zweimal in der Woche vorbei, Mijnheer, und haben dem Hoofdinspecteur Bericht erstattet. Aber da gibt es nur wenig zu erzählen. Es ist ein teures Boot, zweigeschossig und tadellos in Schuss. Eine Dame wohnt darin, 34 Jahre alt. Sie heißt Maria van Buren, geboren auf Curaçao. Sie ist geschieden, führt aber weiter den Namen ihres ehemaligen Mannes. Ihr Exmann ist Direktor einer Textilfabrik in Friesland.»

«Erzähle etwas über die Frau», sagte der Commissaris.

«Sie ist sehr schön», sagte de Gier, «nicht ganz weiß. Sie fährt einen weißen Mercedes-Sportwagen, keinen neuen, aber er ist gut erhalten. Sie erhält regelmäßig Besuch von mindestens drei Männern, die die ganze Nacht bleiben – oder einen Teil der Nacht. Ich habe mir ihre Autonummern aufgeschrieben.»

«Weißt du, wer sie sind?»

De Gier nickte. «Einer ist ein belgischer Diplomat, der in Den Haag arbeitet. Er fährt einen schwarzen Citroën DS. Er ist 45 Jahre alt und sieht aus wie ein Tennis-Profi. Der Zweite ist Colonel der amerikanischen Armee, ebenfalls 45 Jahre alt, in Deutschland stationiert. Der Dritte ist Niederländer, ein großer Kerl, der allmählich kahl wird, 58 Jahre alt. Ich habe nicht allzu viel über ihn erfahren, aber er ist ein bedeutender Mann, Aufsichtsratsmitglied von allerlei Handelsunternehmen. Er hat eine hübsche Wohnung in Amsterdam, aber er wohnt eigentlich auf Schiermonnikoog, das heißt, seine Frau wohnt dort. Seine Kinder sind bereits ausgezogen. Er heißt IJsbrand Drachtsma.»

«Hast du aus deinen Beobachtungen irgendwelche Schlüsse gezogen?»

De Giers Gesichtsausdruck verriet nichts. «Nein, Mijnheer.»

Der Commissaris sah Grijpstra an. «Vielleicht eine Frau, die nicht gern allein ist?»

Grijpstra nickte. «Vielleicht, aber vielleicht verdient sie sich damit auch ein wenig Taschengeld. Der Niederländer ist ein braver Bürger, aber er verdient ein Vermögen. IJsbrand Drachtsma ist reich und mächtig. Ein Industriemagnat, alle Gesellschaften, an denen er beteiligt ist, machen Riesenumsätze. Er macht in Chemikalien, Textilien und Baumaterialien. Und außerdem ist er ein Held. Im Krieg ist er nach England entwischt, während die Deutschen alle Strände bewachten. Man hat mir erzählt, er sei zusammen mit drei anderen in einem Ruderboot geflüchtet. In einem ganz kleinen Boot. Sie hatten zwar einen Motor, aber der war schon kaputt, ehe sie hundert Meter vom Strand entfernt waren. In England ist er zur Armee gegangen und dann kämpfend zurückgekommen, durch Frankreich und Belgien.»

«Weißt du auch etwas über die beiden anderen?»

«Nein, Mijnheer», sagte Grijpstra, «aber ich denke, der Hoofdinspecteur hat eine Akte über sie angelegt. Er schien sehr interessiert, als wir ihm die Namen nannten.»

«Und die Frau?»

«Nein, Mijnheer», sagte Grijpstra. «Wir haben sie auf dem Einwohnermeldeamt überprüft, aber weiter sind wir nicht gegangen. Wir hatten begriffen, dass wir diskret zu Werke gehen mussten. Aber wir könnten ein wenig herumschnüffeln, wenn Sie wollen. Dort liegen noch andere Wohnboote.»

«Ist mit der Dame etwas Besonderes, Mijnheer?», fragte de Gier, der seine Neugier nicht länger bezähmen konnte.

«Ja», sagte der Commissaris. «Wie ihr wisst, haben wir in den Niederlanden einen Geheimdienst.» Er lächelte, die beiden Beamten fingen an zu grinsen. Der Geheimdienst war ihnen bekannt, denn er hatte sein Büro in der Etage über ihnen. Zwei Zimmer, voll gestopft mit Männern in mittleren Jahren und älteren Sekretärinnen. Die Männer in mittleren Jahren wussten viel über Fußball, die älteren Sekretärinnen tippten viel. Gedichte, laut Grijpstra. Miese Gedichte, laut de Gier. Grijpstra meinte schon seit Jahren, dass die Niederlande keine Geheimnisse kennen und der Geheimdienst nur gebildet worden sei, um einen im Etat ausgewiesenen Posten auszufüllen. De Gier stimmte dem nicht zu. Er behauptete, der Geheimdienst sei eine große und mächtige Organisation, verzweigt über das ganze Land und verbunden mit dem Staatsrat, den Ministern und Bürgermeistern, dem Generalanwalt des Hohen Rats und allen Hoofdcommissarissen. Und, sagte de Gier, mit der Krone, dem allerheiligsten Zierrat des Geheimnisses der Demokratie. Und vielleicht, so hatte de Gier einmal geflüstert, war der Geheimdienst mit Gott verbunden, dem niederländischen Gott, einem alten Mann, der in einem staubigen Zimmer haust, einer sehr mächtigen Erscheinung, die in Pantoffeln schlurft und weitgehende Interessen hat, Interesse an Themen wie Deiche und Butterkühlhäuser und Ajax Amsterdam und zerstampfte Aniskörner in gelben Blechdosen und «so brennt eine gute Zigarre» und die Schrägstreifen auf den Ärmeln eines Landgendarmen und das Bijlmermeer.

«Der Geheimdienst, sagten Sie», erinnerte Grijpstra und versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen.

«Ja», sagte der Commissaris, «sie sind an Mevrouw van Buren interessiert und haben uns gebeten, sie zu beobachten. Aus irgendeinem Grund haben sie keine eigenen Fahndungsbeamten. Die Steuerbehörde hat Fahnder und der Zoll und die Armee, aber der Geheimdienst hat keine. Sie benutzen lieber uns. Wann bist du das letzte Mal beim Wohnboot gewesen, um nachzusehen?»

«Heute ist Dienstag», sagte de Gier, «am vergangenen Donnerstag bin ich noch dort gewesen. Wissen Sie, warum der Geheimdienst an der Dame interessiert ist, Mijnheer?»

«Nein», sagte der Commissaris, «aber das werden wir noch herausfinden. Da stimmt anscheinend einiges nicht. Der Mann, der auf dem Boot neben ihrem wohnt, hat heute Morgen angerufen. Er sagte, er habe sie seit Tagen nicht gesehen, und fragte, ob wir nicht mal nachsehen würden. Ihre Katze streift überall herum und versucht, auf sein Boot zu gelangen. Er will die Katze nicht und hat bei Mevrouw van Buren geklingelt, aber sie öffnet nicht. Ihr Wagen parkt wie üblich vor dem Boot.»

«Wann ist der Anruf gekommen?», fragte Grijpstra.

«Soeben erst. Vor einer Viertelstunde. Geht gleich hin. Ich werde euch einen Durchsuchungsbefehl mitgeben, dann könnt ihr, falls nötig, durch ein Fenster einsteigen.»

«Kommen Sie nicht mit, Mijnheer?», fragte Grijpstra.

«Nein. Ich treffe mich gleich mit dem Hoofdcommissaris. Aber wenn dort etwas nicht stimmt, könnt ihr mich anrufen oder über Funk erreichen.» Der Commissaris rieb sich das Bein, stand mühsam auf und ging hinaus. Er gab sich Mühe, nicht zu hinken.

 

Innerhalb weniger Minuten standen sie unten in der Marnixstraat vor einer roten Ampel. Alle Ampeln, denen sie auf ihrem Wege begegneten, standen auf Rot, dennoch waren sie innerhalb von zwanzig Minuten am Schinkel.

Ein Mann mit kurzem schwarzem Bart erwartete sie an der Laufplanke zum Wohnboot.

«Polizei», sagte Grijpstra, als er ausstieg, «sind Sie der Mann, der angerufen hat?»

«Ja», sagte der Mann, «ich bin Bart de Jong, ihr könnt mich Bart nennen, das tun alle. Ich wohne auf dem Boot dort.»

Grijpstra gab dem Mann die Hand und stellte sich vor. De Gier war auch gekommen. Bart sah merkwürdig aus, aber nicht merkwürdiger als andere seltsam wirkende Personen, die in Amsterdam zu jeder Tageszeit zu sehen sind. Ein untersetzter Mann, vielleicht vierzig Jahre alt. Er sah aus, als ob ihm der Bart bis zu den Augen wuchs. De Gier fielen die Augen auf. Sie ließen ihn an Korinthen denken oder an schwarze Glasperlen. Im linken Ohr hatte er einen Ring. Er trug einen schwarzen Cordanzug und schwarze, blank geputzte, halbhohe Lederstiefel, in deren Schäften die engen Hosenbeine steckten. De Jongs dichtes, kurz geschnittenes Haar sah aus, als sei es frisch gewaschen und gebürstet.

«Wie ist das nun mit der Katze von Mevrouw van Buren?», fragte Grijpstra.

Bart bot Zigaretten an; de Gier fiel auf, dass die Hand, die das brennende Streichholz hielt, leicht zitterte.

«O ja, die Katze. Sie fällt mir jetzt schon seit Tagen zur Last. Das tut sie übrigens öfter, an die Tür kratzen und maunzen und so, daran bin ich gewöhnt. Ich lass sie auch schon mal rein. Es ist eine schöne Katze, eine persische. Da ist sie.»

Eine große Katze kam auf langen Beinen anspaziert und schlug den Weg zu dem kleinen Wohnboot ein, auf das Bart gezeigt hatte. De Gier ging auf das Tier zu, ging in die Hocke und sprach es an. Die Katze rieb ihren schweren Kopf an de Giers Hosenbein und sah ihn aus großen gelben Augen an, durch die ein dicker schwarzer Strich lief. Die Augen schlossen sich halb vor Zufriedenheit.

«Ein hübsches Tier», sagte de Gier, «die schönsten Katzen sind die Siamesen natürlich, aber dies ist ein prächtiges Exemplar, die viele Wolle steht ihm gut.»

«Ja», sagte Bart, «aber genau das kann ich an ihr nicht leiden. Sie darf mich gern mal besuchen, und eine kleine Schüssel Milch und ein Stückchen Fleisch oder Fisch ist auch noch übrig, aber wenn sie weg ist, dann ist mein Boot voller Haare. Und verwöhnt ist sie auch. Sie kommt nicht nur, um ein bisschen zu essen. Sie verlangt alle Aufmerksamkeit und quengelt so lange, bis man sie gebürstet hat. Ich glaube, das ganze Zeug ist ihr unangenehm, das in ihrem Fell hängen bleibt, wenn sie das Unkraut und die Büsche durchstöbert; vielleicht juckt sie das. Vor einigen Tagen hat sie sich wirklich schlimm bei mir aufgeführt; ich hatte sie gebürstet, aber sie quengelte weiter, und da habe ich sie gepackt und vor die Tür gesetzt. Aber sie war gleich wieder da und hat mit der Pfote ans Fenster geklopft. Daraufhin bin ich zu Mevrouw van Buren gegangen und habe geklingelt, aber sie hat nicht geöffnet. Vorgestern und heute Morgen habe ich wieder geklingelt, aber sie öffnet noch immer nicht. Sie muss zu Hause sein; ihr Auto steht übrigens auch vor der Tür. Ich glaube, ihr ist etwas passiert.»

«Dann wollen wir auch mal gehen und klingeln», sagte de Gier.

Sie klingelten, klopften und riefen. Keine Antwort.

«Seht ihr?», sagte Bart.

«Dann werden wir eben etwas kaputtmachen», sagte Grijpstra.

«Ist das erlaubt?», fragte Bart. «Das ist doch Hausfriedensbruch. Ich habe daran gedacht, ein Fenster einzuschlagen, aber ich glaube nicht, dass das erlaubt ist.»

«Die Polizei darf alles», sagte de Gier.

«Nichts da», sagte Bart, «auch die Polizei nicht. Das stand vor kurzem in der Zeitung.»

«Wir sind Sonderpolizei», sagte de Gier, «und außerdem haben wir einen Durchsuchungsbefehl.»

Sie betrachteten das Fenster neben der Tür.

«Das kannst du tun», sagte Grijpstra, «du hast lange Beine. Du musst dich über das Geländer der Brücke beugen.»

De Gier nickte, holte seine Pistole heraus und schlug mit dem Kolben hart gegen das Fenster.

«Pass jetzt auf», sagte Grijpstra, «als du das letzte Mal durch ein zerbrochenes Fenster geklettert bist, hast du dir den ganzen Anzug mit Blut verschmiert.»

«Ich lerne täglich etwas dazu», sagte de Gier und schlug die Glasscherben aus dem Fensterrahmen. Er steckte den Arm hinein und drehte am Fenstergriff und öffnete. Grijpstra stützte ihn, als er hineinkletterte. Kurz darauf ging die Tür auf.

«Muss ich mit hinein?», fragte Bart.

«Warte hier einen Augenblick, wir sind gleich zurück. He, pass auf!»

Die Katze, die mit den drei Männern über den Laufsteg gegangen war und anscheinend ebenfalls hineinwollte, stieß ein tiefes, heiseres Knurren aus, das in einen hohen Angstschrei überging. Ihr Schwanz war steil aufgereckt und so dick wie ein Ofenrohr. Nach dem Schrei drehte das Tier sich um und lief weg; es blieb in sicherer Entfernung sitzen.

Bart schüttelte den Kopf. «Das ist nicht gut. Ihr geht wohl besser hinein. Da stimmt etwas nicht, ganz und gar nicht.»

«Ja», sagte Grijpstra und zwang seinen Körper, sich in Bewegung zu setzen. Er klopfte de Gier auf die Schulter. De Gier beobachtete immer noch die Katze.

Im unteren Deck des Boots war nichts zu finden. Die Möbel waren etwas staubig. Die Dame hatte anscheinend einen sonderbaren Geschmack, sonderbar, aber teuer. Perserteppiche und ein großer, gemauerter Kamin. De Gier blieb vor einer großen Holzplastik stehen, die drei Frauen darstellte, wobei die zweite auf den Schultern der ersten und die dritte auf den Schultern der zweiten stand. Ihre Brüste mit den übertrieben großen und spitzen Warzen standen weit vor. Die Zungen, die sie aus weit geöffneten Mündern herausstreckten, waren grellrot bemalt, und die weißen, schimmernden Zähne bestanden aus kleinen Muscheln. Vielleicht eine afrikanische Fruchtbarkeitsstatue, dachte de Gier, aber ihm kam es so vor, als stelle sie mehr als Fruchtbarkeit dar. Sie strahlte Kraft aus, eine zielbewusste Kraft.

Im Zimmer standen noch mehr Plastiken. Auf einem Regal sah er ein Dutzend kleine Männer, zwischen zehn und dreißig Zentimeter hoch. Afrikanische Krieger, bewaffnet mit Speeren und anderen Gegenständen. Die Männer hatten einen aufmerksamen Gesichtsausdruck, als wüssten sie, dass ihre Beute in der Nähe ist. Die Männchen sahen grausam und bösartig aus.

Menschenjäger, dachte de Gier, und sie haben den Kerl gefunden, den sie suchen.

Er schaute noch einmal hin. Verdammt, dachte er, sie wollen mich. Aber warum nicht? Ich kenne die Männer nicht einmal.

«Es ist schön hier», sagte Grijpstra im anderen Zimmer.

«Findest du?», fragte de Gier höflich.

«Ja», sagte Grijpstra, der sich umsah, «viel Platz. Und hübsche, bequeme Sessel. Ein gutes Zimmer, um sich gemütlich hinzusetzen, eine Zeitung zu lesen und eine Zigarre anzustecken. Sehr angenehm. Schau dir das Bild mal an.»

De Gier schaute. Es war ein friedliches, verträumtes Bild. Ein Bajazzo ging mit seiner Freundin, einem Mädchen in Schäferinnentracht, durch eine mondhelle Landschaft. Sie sind in einem bleichen Garten, in dem Sträucher und Bäume schwarz sind. Im Hintergrund reckt eine Reihe Pappeln die toten Arme in die Luft, und der Himmel ist metallblau. Einige seltsam gestaltete weiße Wolken treiben am Himmel dahin.

«Findest du das Bild schön?»

«Ja», sagte Grijpstra, «viel besser als all das rosa Fleisch, das man gegenwärtig sieht. Es ist sehr sexy, obwohl die beiden angekleidet sind. Sie halten sich nicht einmal an den Händen. Reizende Menschen.»

«Sicherlich haben sie eben miteinander geschlafen, in dem Gartenhäuschen dort hinten bei den Pappeln», sagte de Gier.

Grijpstra schaute auf das Gartenhäuschen. «Ja», sagte er langsam, «daher kommt die sexuelle Atmosphäre. Aber die Spannung ist raus, die hängt noch in der Laube.»

«Ja», sagte de Gier, «was schätzt du – wie viel ist diese Schute wert, komplett mit allem, was darinnen ist?»

Grijpstra betrachtete immer noch das Bild. «Dieser Druck ist zehn Gulden wert, es ist eine Reproduktion. Aber der Rahmen hat ein paar hundert Gulden gekostet. Der Druck ist das bis jetzt einzige Objekt, das nichts wert ist. Das Original ist übrigens von Rousseau, dem Zöllner. Eine Art von Mensch wie ich. Beamter mit niedrigem Gehalt. Ich wollte, ich könnte malen.»

«Ich wusste nicht, dass du an Kunst interessiert bist», sagte de Gier. «Das Malen kannst du immer noch lernen; du solltest einen Abendkursus an der Volkshochschule belegen.»

«Das weiß ich. Vielleicht, wenn ich in Pension gehe. Ich weiß nichts über Kunst, aber von diesem Rousseau habe ich schon gehört. Ich habe sogar eine Ausstellung seiner Bilder gesehen. Ein primitiver Maler, sagten sie. Du wolltest wissen, wie viel diese Schute wert ist?»

«Ja», sagte de Gier.

«Viel Geld. Allein die Ledersessel sind schon einige tausend Gulden pro Stück wert. Und die Perserteppiche kommen auch nicht aus der Fabrik. Und die Schute ist die schönste, die ich je in Amsterdam gesehen habe. Das Holz ist sehr solide, und sie hat auch noch zwei Decks, zwanzig Meter lang und sechs breit. Zweihunderttausend, würde ich sagen, oder mehr. Es ist ein schwimmender Palast.»

Sie waren jetzt in der Küche. De Gier war erneut beeindruckt. Er dachte an seine eigene Küche – ein großer Schrank mit Minikühlschrank und zwei Kochplatten auf einem ganz kleinen Tisch. Wenn er kochte, musste er die Arme eng an den Körper legen, sonst fegte er die Pfannen vom Regal.

«Eine schöne Küche, nicht wahr?», fragte er Grijpstra, «und dabei leben wir in einem sozialistischen System. Nivellierung der Einkommen und so. Ich möchte nur wissen, wie sie an dieses Zeug gekommen ist.»

«Das werden wir herausbekommen», sagte de Gier, «jedenfalls wenn ihr etwas zugestoßen ist. Wenn sie noch irgendwo herumläuft, brauchen wir nichts herauszufinden.»

«Es könnte natürlich sein, dass sie das Geld geerbt hat», sagte Grijpstra in versöhnlichem Ton.

Sie stiegen die Treppe hinauf. Oben war nur ein großes Zimmer, das die ganze Länge und Breite des Schiffs einnahm. Die Treppe endete in einer Öffnung im Fußboden, die an drei Seiten von einem auf geschnitzten Pfeilern gestützten Geländer umgeben war und mit einer Luke verschlossen wurde.

Die Beamten gingen umher, die Hände auf dem Rücken, eine Gewohnheit, die sich sofort zeigte, wenn sie ein verdächtiges Haus betraten. Auf dem Rücken verschränkte Hände können keine Spuren verwischen und auch keine neuen machen.

 

Grijpstra seufzte, als er die Frau auf dem Fußboden liegen sah. Sie war vornüber auf den Langflorteppich gefallen. Sie sahen ihre langen Beine, den kurzen Rock, die weiße Bluse und das dichte schwarze Haar, das zum Teil auf dem Teppich und zum Teil auf der Bluse ausgebreitet war.

Die Bluse hatte einen großen roten Fleck, und mitten darin steckte der kupferne Griff eines Messers. Drei große blaue Schmeißfliegen summten unruhig im Zimmer herum, da sie bei ihrer Tätigkeit gestört worden waren.

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Zwei

Sie betrachteten die tote Frau und waren beeindruckt. De Gier wurde außerdem ein wenig übel. In der Luft hing ein schwerer Geruch, der ihm den Magen umdrehte. Er lief rasch zum Fenster. Es war geschlossen, und er musste die Hand durch die Pflanzen stecken, um den Riegel zu erreichen. Das Fenster öffnete sich sofort. Er hatte sich noch rechtzeitig daran erinnert, dass er den Riegel nicht mit der bloßen Hand anfassen durfte, und deshalb ein Taschentuch genommen. Als er sich umdrehte, flogen die drei Fliegen noch immer herum, ihr Summen hatte einen bösen Unterton. Sie hatten so gut gegessen und durften jetzt nicht mehr; sie wollten wieder an die Wunde und das dick geronnene Blut.

«Ruf du an», sagte Grijpstra und hustete. «Ich werde hier warten.»

De Gier lief die Treppe hinunter. Ihm war eingefallen, dass er unten im Wohnzimmer ein Telefon gesehen hatte. Auf dem Weg nach unten sah er die untersetzte Gestalt de Jongs auf dem Laufsteg. Er führte nur ein kurzes Telefongespräch und öffnete dann die Eingangstür.

«Und?», fragte Bart.

«Ja», sagte de Gier, «es ist tatsächlich etwas passiert. Deine Nachbarin ist tot.»

Barts schwarze Augen waren völlig ausdruckslos.

«Messer im Rücken», sagte de Gier.

«Gewalt», sagte Bart langsam, «ist nicht gut. Wir dürfen einander nichts Böses antun, nicht einmal, wenn der andere es herausfordert.»

«Hat sie es herausgefordert?», fragte de Gier. «Erzähle mir, was du über sie weißt. Schließlich bist du ihr Nachbar gewesen. Hast du sie gekannt?»

«Ja, ja, ich kannte sie. Durch die Katze. Ich brachte ihr das Tier immer zurück und konnte dann ein Tässchen Kaffee bei ihr trinken. Eine flüchtige Tasse Kaffee, wir waren keine Freunde, nur Nachbarn.»

«Hast du nie versucht, sie zu vernaschen?», fragte de Gier erstaunt. «Sie war doch eine schöne Frau.»

Bart begann zu lachen. «Nein. Das habe ich nie versucht. Bei Frauen bin ich nicht so gut. Keinen Mut, weißt du? Sie müssen mich darum bitten, ihre Absicht deutlich zeigen, und selbst wenn sie das tun, frage ich noch höflich, ob ich darf.»

De Gier lächelte. Er erinnerte sich an die zitternde Hand, die das Streichholz gehalten hatte. Vielleicht war Bart wirklich verlegen, vielleicht fühlte er sich unbehaglich, wenn andere sich ihm näherten.

«Wohnst du allein?», fragte er.

Bart zeigte auf sein Wohnboot. «Das ist ein ganz kleines Boot, wie du siehst. Es passt nur ein Mensch hinein. Falls mal jemand kommt, stolpert einer über des anderen Beine.»

«Aha», sagte de Gier. «Aber wieso hat sie die Gewalt herausgefordert? Das sagtest du vorhin.»

Bart antwortete nicht.

«Willst du nicht darüber sprechen?»

«Lieber nicht», sagte Bart, «ich halte nichts davon, über andere Leute zu klatschen.»

«Sie ist tot. Ermordet. Jemand hat ihr ein Messer in den Rücken gestochen. Wir wollen wissen, wer es war. Vielleicht wird er noch jemand ermorden. Das Volk muss sich gegen die Verletzung der öffentlichen Ordnung verteidigen. Du gehörst zum Volk, ich auch.»

Bart runzelte die Augenbrauen.

«Stimmst du mir nicht zu?»

«Nein. Das ist alles dummes Zeug, das mit dem Volk. Ein Haufen von Egoisten, die für sich selbst sorgen. Insekten, die in einer Flasche eingeschlossen sind und sich gegenseitig beißen.»

De Gier dachte nach. Er nickte langsam. «Vielleicht hast du recht, aber wir könnten versuchen, uns gegenseitig weniger zu beißen.»

«Sie hat Menschen gebissen», sagte Bart.

«Wie?»

«Nun ja, sie war eine Hure, weißt du. Ging mit jedem ins Bett, der Geld dafür zahlen wollte. Viel Geld. Schau dir nur das Boot an, das damit bezahlt worden ist.»

«Magst du keine Huren?», fragte de Gier.

Bart wurde gelöster; er winkte mit dem rechten Arm. «Na ja, Huren muss es natürlich geben. Die Männer müssen sich entspannen. Das kann man bei den Huren. Aber die Männer gehen nicht gern zu ihnen. Und das wissen die Huren. Sie wissen, wie schwach wir sind, wir, die Samenträger.»

«Und deshalb beißen sie uns», sagte de Gier.

«Wenn sie es schaffen können. Und sie konnte es. Sie war eine gute Hure. Ich habe oft genug gesehen, wie ihre Kunden weggingen. Sie sahen nie sehr glücklich aus. Sie hat die Kerle völlig ausgesogen. Und einer dieser Kerle war vielleicht etwas jähzornig.»

«Du bist nicht jähzornig, wie?», fragte de Gier.

«Nein. Nicht jähzornig und nicht gewalttätig. Ich will auch nichts mit Waffen zu tun haben. Deshalb habe ich auch den Wehrdienst verweigert, aber ich kann nicht gut reden und bin nicht religiös und wurde deshalb eingezogen. Ich bin einige Wochen geblieben und habe dann eine kleine Komödie aufgeführt. Mit einem Taschenmesser habe ich mir die Hände zerschnitten und bin dann auf den Kasernenhof gegangen und habe geheult.»

«Selbstverstümmelung ist auch gewalttätig.»

«Das hat mir nicht viel ausgemacht, ich habe mir nur einige Kratzer beigebracht. Nach einer Woche sah man nichts mehr davon. Aber im Prinzip hast du recht.»

De Gier spürte, dass er wütend wurde, und versuchte, sich zu beherrschen. Männer wie Bart machten ihn immer wütend. Aber er war sich bewusst, dass er nur wütend werden durfte, wenn die Ermittlungen davon profitierten.

«Wovon lebst du?»

Bart schüttelte den Kopf.

«Arbeitslosengeld?», fragte de Gier.

«Seit einem halben Jahr. Ich habe schon allerlei Stellungen gehabt, aber wenn ich ein halbes Jahr da bin, kommt der Chef meistens schon mit der Kündigung. Zuletzt war ich Fahrer eines Lieferwagens, das war eine lustige Arbeit.»

De Gier sah die Polizeiwagen, drei unauffällige Autos, langsam die enge Straße heraufkommen.

«Dort sind meine Kollegen. Ich halte es für das Beste, wenn du auf dein Boot zurückgehst. Dann komme ich nachher noch einmal vorbei.»

«Bin ich jetzt festgenommen?»

«Nein, nein. Aber bleib noch auf deinem Boot, bis wir nachher vorbeikommen. Bis jetzt bist du der einzige Bekannte des Opfers, und wir werden dir noch einige Fragen stellen müssen.»

 

Grijpstra hatte sich in der Zwischenzeit kaum gerührt. Zuerst hatte er eine Weile dort gesessen und die tote Frau betrachtet. Ihn bedrückte die Stille im Raum. Er wollte aufstehen und die Fliegen verjagen, aber er blieb auf seinem Sessel, denn jede seiner Bewegungen hätte eine Spur des Mörders verwischen können. Das Zimmer sollte eigentlich voller Fingerzeige sein. Er betrachtete in einem Abstand von zwei Metern den Griff des Messers. Er setzte seine Brille auf und konzentrierte sich auf den Blutfleck und auf dessen glänzenden Mittelpunkt. Es sah aus, als sei der Messergriff poliert.

Ein Armeemesser, dachte er, aber warum glaube ich das? Solche Messer hatten wir nicht, als ich in der Armee war.

Aber er blieb davon überzeugt, dass es ein Armeemesser war, und er begann, geduldig in seinem Gedächtnis zu graben. Welche anderen Armeen kannte er? Die deutsche. Er konzentrierte sich und sah wieder, wie die deutschen Soldaten vor dreißig Jahren durch die Straßen von Amsterdam gingen. Die deutschen Soldaten hatten keine Messer, sie hatten Bajonette. Vielleicht die Offiziere. Er erinnerte sich, dass die deutschen Marineoffiziere Dolche hatten. Aber das waren andere Dolche gewesen, geschmückt mit Kordel und Troddel, und der Griff endete in einem Knauf mit Hakenkreuz. Also die falsche Armee. Noch andere Armeen? Die amerikanische? Die kanadische? Die englische?