Der blonde Affe - Janwillem van de Wetering - E-Book

Der blonde Affe E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Die Tote liegt im Partykleid mit gebrochenem Genick auf den Verandastufen. Ein Unfall? Alles sieht danach aus, doch es gibt Dinge, die einem guten Polizistenauge nicht entgehen: der Ehering auf dem Fußboden, ein zerbrochenes Glas, ein sauberer Aschenbecher und Zigarillostummel im Mülleimer. Commissaris de Gier und Adjudant Grijpstra glauben, dass hier etwas faul ist – und geraten deshalb bald selbst in Lebensgefahr. Es gibt einfach zu viele Verdächtige in diesem Fall: die Tochter, den Geschäftspartner, den Nachbarn – und einen Affen. «Die Romane um die Beamten Grijpstra und de Gier gehören mit ihren Milieuschilderungen und vor allem den skurrilen Handlungsabläufen zu den besten Werken des Genres überhaupt.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Seitenzahl: 315

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Janwillem van de Wetering

Der blonde Affe

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzig
[zur Inhaltsübersicht]

Eins

«Ganz schönes Lüftchen», meinte Adjudant Grijpstra.

Brigadier de Gier war der gleichen Meinung, aber er sagte nichts. Das war auch gar nicht nötig. Der hellgraue Volkswagen, den er über die breite, leere Durchgangsstraße Spui in der Innenstadt von Amsterdam zu steuern versuchte, war soeben auf einen Bürgersteig gedrückt worden und nur, weil er rechtzeitig gebremst hatte, etwa drei Zentimeter vor einem Laternenmast zum Stehen gekommen. Der Motor lief noch. Er setzte den Wagen zurück und stieß damit hart auf dem holprigen Pflaster auf. Der Sturm, der sich mit einem tödlichen Sog kühler Luft angekündigt und um die Mittagszeit die verängstigten Gesichter der Bürger der Hauptstadt gestreift hatte, war zum Orkan angewachsen. Er hatte die Bewohner des flachen, unter dem Meeresspiegel liegenden Küstenstreifens Hollands gezwungen, vorzeitig nach Hause zu gehen und das scheußliche Wetter durch die Scheiben ihrer Wohnungen oder die zierlichen Fenster der schmalen Giebelhäuser zu beobachten. Sie hörten Rundfunk und sahen fern und stellten fest, dass die Wettervorhersagen mit der Zeit immer etwas bedrohlicher wurden. Sie wussten, dass die Behörden überrascht worden waren, jetzt aber etwas gegen den Notstand unternahmen; sie hatten die Deiche bemannt und starke Baggerfahrzeuge an die gefährdeten Stellen geschickt, wo schwere Seen die von Menschen errichteten Befestigungen bedrohten und ihren Angriff verstärkten. Alle dreißig Sekunden erhoben sich brüllend schaumgekrönte Wasserberge zu tödlichem Ansturm, gepeitscht von kreischenden Böen rasender Winde.

Aber Brigadier de Gier kümmerte sich nicht um das drohende Unheil. Er bemühte sich nur, seine Pflicht zu tun, und die bestand jetzt darin, den Volkswagen in Gang zu halten. Er fuhr in der Stadt seinen normalen Streifendienst zusammen mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem massigen Adjudanten, der ruhig seinen Zigarillo rauchte, während er sich am Griff des Wagendachs festhielt und Bemerkungen über das Wetter machte.

Grijpstra wandte den schweren Kopf, der von grauweißen millimeterlangen Stoppeln gekrönt war, und lächelte beinahe entschuldigend. «Nicht viele Leute unterwegs, wie?»

Der Brigadier, der den kleinen Wagen wieder auf die Fahrbahn gelenkt hatte und gerade wenden wollte, brummte zustimmend.

«Die sind zu Hause», erläuterte Grijpstra, «wo sie auch sein sollten. Vielleicht liegen sie schon im Bett, es ist fast elf. He, pass auf!»

Grijpstra zeigte nach vorn. De Gier riss den Mund zu einem lautlosen Schrei auf. Eine Ulme, ein ausgewachsener Baum von mehr als zwölf Metern Höhe, war dabei umzuknicken. Sie hörten das protestierende Holz ächzen und sahen, wie der Stamm splitterte. De Gier legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gaspedal. Der Wagen setzte sich quietschend in Bewegung. Der Baum kippte schwerfällig und streifte mit seinem Laubwerk die runde Haube des Volkswagens. Grijpstra seufzte.

De Gier wollte etwas sagen, aber da meldete sich das Funkgerät im Wagen. «Drei-vierzehn», ertönte es höflich, «drei-vierzehn, bitte kommen.»

«Fahr weiter», sagte Grijpstra. «Hier sind noch mehr Bäume.» Er hatte nach dem Mikrophon unter dem Armaturenbrett gegriffen. «Drei-vierzehn.»

«Eine kleine Aufgabe für euch, Adjudant», sagte die wohlklingende Stimme eines weiblichen Konstabels in der Funkzentrale des Amsterdamer Polizeipräsidiums. «Ein Wagen der uniformierten Polizei bittet um Unterstützung. Die sind in der Kalverstraat. Wo seid ihr, drei-vierzehn?»

«Spui.»

«Gut, dann seid ihr ja in der Nähe. In der Kaverstraat sind mehrere Schaufenster von Mülltonnen zertrümmert worden. Man hat gesehen, wie sich ein Dieb an der Auslage eines Juweliers zu schaffen gemacht hat, aber er ist entkommen. Ein kleiner Bursche, etwas über eins fünfzig, langes schwarzes Haar, kurze neue Lederjacke. Er ist Ende zwanzig. Die Kollegen meinen, dass er noch in der Gegend ist.»

«Verstanden», sagte Grijpstra ohne jede Begeisterung. «Wir werden uns zu Fuß an der Suche beteiligen, dann sehen wir, was uns auf den Kopf fällt.»

«Viel Glück, Adjudant. Ende.»

Grijpstra kletterte noch aus dem Wagen, als de Gier schon lossprintete, nach vorn gebeugt, um der Kraft des Sturms zu begegnen. Grijpstra fluchte leise, als er seinen massigen Körper in Bewegung setzte. Der athletische Brigadier wartete auf dem Bürgersteig auf ihn, geschützt durch einen parkenden Lastwagen.

«Wohin?», fragte de Gier. Grijpstra zeigte im Laufen in die Richtung.

«Versuchen wir es in den Gassen.»

De Gier sprang voraus und bog auf die geschützte Seite einer Nebenstraße ab, während der Wind an den Fassaden der Geschäfte entlangheulte und an Ladenschildern und Dachrinnen zerrte. Ein Mülleimerdeckel geriet ihm in den Weg; er sprang und rief eine Warnung, aber der Adjudant hatte den rollenden Deckel gesehen und versetzte ihm einen Tritt, sodass er davonschoss. Einige Kartons folgten dem Deckel, aber die Polizisten wichen ihnen aus und bogen in eine Passage ein, die sie zum Einkaufszentrum der Kalverstraat bringen würde. Grijpstra ging langsamer.

«Hier irgendwo», keuchte er. «Hier muss er irgendwo sein. In der Kalverstraat könnte man ihn sehen, die Eingänge zu den Geschäften sind alle aus Glas. Also los.»

«Warte», sagte de Gier leise und versperrte ihm mit der Hand den Weg.

«Was ist?»

«Ich glaube, ich habe dort drüben einen Kopf auftauchen sehen. Ich werde hingehen.»

Grijpstra grinste, als er beobachtete, wie sich der Brigadier vorwärts bewegte.

De Gier glitt mit übertrieben langsamen Bewegungen dahin. Seine lange, schlanke Gestalt verschmolz mit den Schatten in der Gasse. Der Jäger, der tödliche Jäger. Grijpstra hörte auf zu grinsen. Er war sicher, dass de Gier seine Beute erlegen würde. Der ist scharf, dachte er. Sehr scharf.

Als de Gier einen Sprung nach vorn machte und sich dann wieder an die alte, bröckelige Fassade eines kleinen Hauses presste, trat Grijpstra einen Schritt zurück und zog seine schwere Dienstpistole. Er lud sie durch, als er sie aus dem rissigen Halfter zerrte. Er schüttelte den Kopf. Es hatte Zeiten gegeben, das war noch gar nicht so lange her, da hätte er überhaupt nicht daran gedacht, seine Waffe zu ziehen, aber die Diebe änderten sich. Heutzutage waren Diebe, die Gewalt in Kauf nehmen, gewöhnlich bewaffnet, meistens mit Messern, gelegentlich mit Schusswaffen, wenn sie verzweifelt genug waren, wozu sie durch die Drogensucht gezwungen wurden. Er gab dem sich langsam bewegenden Brigadier, der Zentimeter um Zentimeter an der Wand entlang weiterrückte, Deckung. Der Brigadier erreichte einen Eingang und erstarrte. Für eine Weile bewegte sich nichts. Der Sturm schien die Gasse für sich allein zu besitzen, er gewann keuchend an Stärke und klapperte versuchsweise an Fenstern und Türen. Der Dieb würde sich wieder zeigen. Er war dort drin. Er war nervös. Er wollte wissen, was los war.

Plötzlich kam der Kopf hervor. Langes, glänzend schwarzes Haar umrahmte ein verstohlen über den hochgeschlagenen Kragen einer Lederjacke spähendes Auge. Die Hand des Brigadiers schoss vor, ergriff den Kopf bei den Haaren und zog. Der Dieb kam taumelnd aus dem Eingang. Ein Plastikbeutel fiel und klirrte, als er auf die schimmernden Ziegel des Straßenpflasters auftraf. Ein Messer blitzte.

«Polizei», brüllte Grijpstra. Auch das Messer fiel. Der Daumen des Brigadiers hatte das Handgelenk des Diebs erwischt und brutal zugedrückt, wobei er die Finger verdrehte. Der Dieb schrie.

«Handschellen», sagte de Gier. Grijpstra steckte seine Waffe ein und gab ihm das gewünschte Paar. Die Handschellen schnappten zu. De Gier blies in seine Trillerpfeife. Der schrille, ohrenbetäubende Ton durchschnitt das Brüllen des Sturms. Zwei uniformierte Konstabel kamen in die Gasse gerannt.

«Ha!», riefen die Konstabel. «Ihr habt ihn!»

«Wir haben ihn», sagte de Gier. «Hier. Mit besten Empfehlungen von eurer Kripo. Warum habt ihr ihn nicht selbst geschnappt? Wir sollen nur ruhig umherfahren und uns in nichts einmischen.»

«Wir sind schon alt», sagte der Konstabel, der de Gier gegenüberstand, «und möchten anderen eine Chance geben. Ein unangenehmer Wind, wie?»

«Ein ganz schönes Lüftchen», stimmte Grijpstra zu. «Ihr habt wohl nichts dagegen, wenn wir wieder zu unserem Wagen gehen, nicht wahr? Falls er noch da ist – eine Ulme hätte ihn vorhin fast erwischt. Habt ihr gesehen, wie dieser Mann eingebrochen hat?»

«Ich habe nicht eingebrochen», sagte der Dieb. «Das Fenster war kaputt, und das ganze Zeug lag auf der Straße; deshalb habe ich es aufgesammelt, um es zur Polizeiwache zu bringen. Aber diese Idioten kamen angelaufen und haben geschossen, also bin ich gelaufen. Ich will nicht umgebracht werden.»

Grijpstra klopfte auf die schmale Lederschulter. «Ein Profi, wie?»

Der Dieb schaute auf. Er hatte vor Furcht große Augen und zitterte.

«Wir nehmen ihn mit. Willst du deine Handschellen wiederhaben, Adjudant?»

«Selbstverständlich, Konstabel. Mein Privateigentum, ich habe dafür gespart.»

Die Handschellen wurden abgenommen, der Konstabel holte ein anderes Paar hervor. Der Dieb machte ein unglückliches Gesicht. «Au! Zu eng!»

«Die sind nicht zu eng», sagte der Konstabel und zog sanft an den Stahlklammern. «Siehst du? Da ist noch viel Luft. Wir werden sie auf der Wache abnehmen. Komm mit.»

«Nach Hause», sagte de Gier, als er seine lange Gestalt auf den Fahrersitz des Volkswagens zwängte. «Der Wind wird direkt auf meinen Balkon stehen. Er wird meine Pflanzen ausreißen und Täbris nervös machen. Sie wird wieder am Marmeladenglas sein.»

«Marmeladenglas?», fragte Grijpstra. «Was will eine Katze mit einem Marmeladenglas?»

«Auf den Boden werfen und zerbrechen, was sonst? Damit ich mir die Füße zerschneiden und im Gelee herumrutschen kann – das ist mir schon zweimal passiert. Das letzte Mal bin ich auf den Tisch gefallen und habe versucht, mich an einem Regal festzuhalten; dabei habe ich so ziemlich alles in der Küche zerteppert und mir eine Schnittwunde am Fußgelenk geholt.»

«Ich weiß.» Der Adjudant versuchte sich zu strecken, gab es aber auf. Seine Schulter schmerzte. Vermutlich hatte er sich bei der Verfolgung gestoßen. «Du hast eine Woche gefehlt, erinnerst du dich? Aber ich möchte immer noch wissen, warum eine Katze an ein Marmeladenglas geht.»

Es waren noch mehr Bäume umgestürzt, um deren Kronen de Gier den Wagen manövrierte. Das eine Wagenfenster schloss nicht, sodass der Wind mit einem hohen, unheimlichen Heulen hereinkam. «Dies Geräusch haben sie auch in Hörspielen. Schreckliches Geräusch. Zur Begleitung, wenn junge Mädchen in Dachkammern vergewaltigt werden, als ob das Weinen und Schluchzen nicht genügen würde.»

«Katze», sagte Grijpstra. «Marmeladenglas.»

«Ich weiß nicht, warum sie das tut; vermutlich, um ihren Unwillen zu zeigen. Katzen haben so ihre Eigenarten. In deinem Haushalt wird auch ein schönes Durcheinander herrschen, wenn deine Frau und die Kinder durch die Zimmer klappern.»

Grijpstra runzelte die Stirn. «Meine Frau klappert nicht. Sie trieft. Sie ist schon wieder fetter geworden, weißt du. Ich habe nicht geglaubt, dass sie noch zunehmen würde, aber sie hat. Sie schläft jetzt auf dem Fußboden, weil das Bett ihr Gewicht nicht aushält.» Er nahm das Mikrophon aus der Halterung.

«Präsidium, drei-vierzehn hier.»

«Kommen, drei-vierzehn.»

«Wir haben unseren Dieb gefasst und ihn den Konstabeln übergeben; wir sind jetzt auf dem Weg zur Garage.»

Es gab ein Geräusch, als ob etwas zerbrochen wäre. Grijpstra starrte das Mikrophon an, das in seiner großen Hand klein und unschuldig aussah.

«Der Wind hat eine Fensterscheibe eingedrückt», sagte der weibliche Konstabel. «Das ist heute Abend schon das zweite Fenster. Hier herrscht ein wildes Durcheinander. Mein Notizbuch ist weggeweht. Hast du gesagt, dass ihr zurückkommt?»

«Ja, wir sollten um elf Dienstschluss haben. Jetzt ist es fast Mitternacht.»

«Tut mir wirklich leid, aber ich habe noch einen Auftrag für euch. Wir sind mal wieder knapp an Leuten – alle sind draußen, um Menschen aus der Klemme zu helfen. In der ganzen Stadt sind Autos zertrümmert worden, und wir bekommen Notrufe von Leuten, denen der Sturm die Wände umgeweht oder die Dächer abgedeckt hat. Und Menschen sind in die Grachten geweht worden und, oh, alles Mögliche.»

«Ist das so ein Auftrag, den du für uns hast?», fragte Grijpstra und ließ das Mikrophon baumeln, als wäre es eine tote Maus.

Sie versuchte zu lachen. «Nein, Adjudant, schließlich gibt es auch noch die uniformierte Polizei und die Feuerwehr. Ich habe eine richtige Aufgabe für euch, eine tote Frau. Ein Sanitäter hat soeben angerufen. Er sollte eine Leiche abholen, aber der Arzt ist nicht gekommen; außerdem war es kein natürlicher Tod. Ein Unfall, wie die Tochter der Frau sagt. Sie ist die Treppe zum Garten hinuntergefallen und hat sich das Genick gebrochen. Die Ambulanz kann die Leiche erst wegschaffen, wenn wir sie freigegeben haben. Frans van Mierisstraat dreiundfünfzig. Vermutlich nur eine Routinesache.»

Grijpstra bleckte die Zähne. Das Mikrophon baumelte immer noch.

«Drei-vierzehn?»

De Gier hielt den Wagen an und nahm Grijpstra das Mikrophon aus der Hand.

«Wir werden hinfahren, Schatz. Hast du noch zusätzliche Informationen? Die Frans van Mierisstraat ist eine hübsche und ruhige kleine Straße. Dort schmeißt keiner einen die Haustreppe hinunter.»

«Mehr weiß ich nicht, Brigadier. Tote Frau, ist die Gartentreppe hinuntergefallen und hat sich vermutlich das Genick gebrochen. Der Sanitäter sagt, sie ist tot.»

«Gut.»

«Ende.»

De Gier zog am Armaturenbrett einen kleinen Knopf heraus, woraufhin ein kleines hellrotes Lämpchen aufleuchtete und die Sirene in ihrem Versteck unter der Haube zu heulen begann. Grijpstra nahm aus dem Handschuhfach die Blaulichtlampe und drehte seine Scheibe nach unten. Der Magnet hielt die Lampe auf dem dünnen Wagendach fest; ihr Schein beleuchtete die nasse Fläche ringsum und warf einen geisterhaft breiten Strahl auf die reflektierende Straße. Der Volkswagen schoss davon, als de Gier auf das Pedal trat. Der Sturm erfasste den Wagen an der nächsten Straßenecke und schob ihn mitten auf die schimmernde Teerdecke. Es regnete plötzlich stark, und der Scheibenwischer hatte Mühe, die Windschutzscheibe frei zu halten. Eine Straßenbahn kam ihnen entgegen, de Gier riss wütend das Steuer herum. Die Klingel der Straßenbahn ertönte, als ihre lange gelbe Form vorbeiflitzte. Grijpstra schloss die Augen und stöhnte. Der peitschende Regen wurde im Licht der Scheinwerfer zu einer dichten weißen Gischt, dann hörte er auf. Eine andere Straßenbahn schleuderte einen Schwall grauen flüssigen Drecks empor, der den Volkswagen von vorn traf. De Gier fluchte und bremste. Die Scheibenwischer durchschnitten den Schlamm, sodass er wieder sehen konnte. Der Wagen rutschte an einem Baum vorbei, an einer riesigen Pappel, die parallel zum Bürgersteig umgestürzt war. Ein Zweig geriet in das rechte Vorderrad und wickelte sich um den Reifen. De Gier fuhr weiter, sie hörten Zweige knacken. Grijpstra öffnete die Augen.

De Gier lachte. «Schau mal! Wir fahren durch einen Wald.»

Die Blätter der Pappel streiften Grijpstras Fenster.

«Die Frau ist wahrscheinlich die Treppe hinuntergeweht worden», sagte er mürrisch, «und dieser Idiot von Sanitäter hätte nicht anrufen sollen. Weiß der nicht, dass wir heute Abend zu tun haben?» Er schloss die Augen wieder. Der Wind drückte den Wagen auf eine Gracht zu, der VW geriet ins Rutschen. Der Brigadier bremste pumpend und steuerte nicht gegen. Sie hielten kurz vor einem schwachen, etwa dreißig Zentimeter hohen Geländer, das ein Abrutschen geparkter Wagen ins Wasser verhindern sollte.

«Alles in Ordnung», sagte de Gier und setzte zurück. Der Wind peitschte den Wagen von hinten; ihre Geschwindigkeit nahm zu.

Der Adjudant hielt die Augen geschlossen. Es wird wieder passieren, dachte er, als ihm einfiel, wie er einmal in einem kleinen Wagen gesessen hatte, der in eine Gracht gerutscht und langsam gesunken war, wobei er beinahe ertrunken wäre; im allerletzten Augenblick war er durch einen Kran der Feuerwehr gerettet worden. Er hätte de Gier am liebsten angeschrien und gesagt, dass die Frau tot sei und nicht wiederbelebt werden könne, indem sie gegen einen Baum fuhren oder in einer schlammigen Gracht ertranken oder unter eine Straßenbahn gerieten. Er wollte den Brigadier fragen, wozu er die Sirene eingeschaltet hatte, wenn das Getöse des Sturms so überwältigend war, dass sie die elektrische Klingel der Straßenbahn kaum hören konnten, als sie direkt neben ihren Ohren ertönt war.

Grijpstra öffnete die Augen, als de Giers Hand ihn streifte. Der Brigadier schaltete die Sirene aus. Sie waren da. Frans van Mierisstraat. Er kannte sie. Ruhig, vornehm. Breite Bürgersteige, gesäumt von hohen Platanen. Hohe, schmale Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende. Eine Straße für Ärzte und Anwälte und für gesicherte Familien der oberen Mittelschicht, die ihr Geld auf leichte und gemächliche Art verdienen. Eine Straße, von der man nicht vermutet, dass der gewaltsame Tod hier auf die Pirsch geht. Eine Straße, in der Hunde mit Stammbaum umständlich das Bein heben, ehe sie den Laternenmast bespritzen. Er lächelte. Das Lächeln kam jedoch nicht zur vollen Blüte.

«Der Hund», sagte er und boxte de Gier leicht in die Seite.

«Der Hund, verdammt noch mal. Dieselbe Adresse. Vorgestern. Cardozo sollte sich um die Anzeige kümmern. Erinnerst du dich?» De Gier stieß einen Pfiff aus.

«Dieselbe Adresse. Vergifteter Hund. Frans van Mierisstraat dreiundfünfzig. Cardozo wollte nicht hingehen.»

«Stimmt.» De Gier nickte ernst.

«Du musstest ihn praktisch hinprügeln. Und gestern hat er davon erzählt. Er habe einen Verdächtigen, sagte er. Ein Mann, der gegenüber von der Rückfront wohnt. Die Gärten grenzen aneinander. Er hatte von dem Erbrochenen des Hundes etwas in einem Fläschchen. Er war sehr stolz auf sich. Der Labortest hat eine Arsenvergiftung ergeben.»

Während de Gier nickte, schüttelte Grijpstra den Kopf. «Schlimm. Ein vergifteter Hund und eine Frau mit gebrochenem Genick. Dieselbe Adresse. Wir werden zu tun haben.»

Sie warteten, während sie nachdachten. Polizeiliche Überlegungen. Eine Kleinigkeit passiert, dann geschieht etwas Bedeutendes. Im selben Haus. Da musste eine Verbindung bestehen. Sie warteten, bis behandschuhte Finger höflich an die Windschutzscheibe klopften.

De Gier stieg aus. Der Sanitäter salutierte.

«Guten Abend, Brigadier. Lange nicht gesehen, wie? Unterschiedliche Wege. Mein Kollege wartet drinnen auf euch. Die Tochter der Frau ist etwas verstört, er beruhigt sie. Die beiden Damen wohnten ganz allein, kein Mann im Haus. Und da ist was mit einem Hund. Eine Vergiftung, wie die junge Frau sagt.»

«Der Wind», sagte Grijpstra hoffnungsvoll, «der verdammte Sturm. Bist du sicher, dass der Sturm deine Dame nicht gepackt hat?»

«Ja, Adjudant.» Das Gesicht des Sanitäters war eine treffliche Mischung von Hilfsbereitschaft und Entschuldigung. «Der Sturm kommt nicht bis in diese Gärten hier. Die Häuser sind hoch, weißt du. Der Wind erreicht vielleicht die Baumspitzen, aber er kommt nicht bis runter an die Gartentreppe. Ich bin für eine Weile draußen im Garten gewesen, da ist es hübsch und ruhig. Aber vielleicht ist sie ausgeglitten. Es hatte vorher geregnet, die Stufen waren nass, und sie trug hochhackige Schuhe und ein langes Kleid.»

«Eine Party?»

«Könnte sein. Sie riecht nach Alkohol, und da ist eine leere Flasche. Die Tochter sagt, da sei keine Party gewesen. Die Dame habe gern allein einen gehoben.»

«War sie nicht bei ihrer Mutter, als es passierte?»

«Nein. Die junge Dame hat ihre eigene Wohnung, ganz oben. Sie sagt, sie ist heruntergekommen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei, bevor sie zu Bett ging. Die Tür zum Garten sei offen gewesen und ihre Mutter … Na, ihr werdet es ja sehen.»

De Gier betrachtete die geschlossene Tür. Sie war von guter Qualität und hatte eine schlicht-vornehme Verzierung. Gefirnisste Eiche mit einer Blattgirlande. Zwei Namensschilder und zwei Klingeln. Elaine Carnet. Gabrielle Carnet. Handgemalte Namensschilder, weiß auf grün. Polierte Messingklingeln. Ein polierter Messingtürklopfer in Form eines Löwenkopfes.

Die Tür ging auf, als er die Hand nach dem unteren Klingelknopf ausstreckte.

Ein schlechter Abend, dachte de Gier und wartete, dass die Tür ganz geöffnet wurde. Ein sehr schlechter Abend. Ich sollte zu Hause sein, um die Pflanzen auf dem Balkon zu retten und Täbris zu trösten und heiß zu duschen und einige Tassen starken Tee zu trinken. Es wäre kein schlechter Abend, wenn ich zu Hause wäre. Aber dort bin ich nicht, und dies ist ein Mordfall.

Selbstverständlich konnte er sich dessen nicht sicher sein, aber er war es. Ebenso sicher wie Grijpstra, der unmittelbar hinter ihm stand. Jeder Beruf prägt die Menschen, die ihn ausüben. Die Beamten der Amsterdamer Mordkommission werden dazu angehalten, misstrauisch zu sein, was nur besagt, dass sie immer misstrauisch sind. Sie stellen freundliche Fragen und betrachten Gesichter und vertiefen sich in die endlose Kette von Ursache und Wirkung, aber ihr Blick ist ruhig, ihre Stimme sanft und ihr Benehmen mild. Nicht immer. Es gibt Momente, da die Beamten beben, da sie leichte, brennende Stiche im Rückgrat spüren, da sie ein wenig schwitzen, da sie ihre Augen aufreißen und grimmig starren.

Gabrielle Carnet trat einen Schritt zurück und wäre fast gestolpert. De Giers langer Arm schoss vor und gab ihr Halt.

«Guten Abend, Juffrouw», sagte er und bemühte sich, die Stimme tief und vorschriftsmäßig höflich klingen zu lassen. «Wir sind von der Polizei.»

Grijpstra war am Brigadier vorbeigegangen. Er folgte dem anderen Sanitäter durch einen langen Korridor in eine zentral gelegene Diele, in eine geschlossene Veranda, zur Tür zum Garten.

Elaine Carnet, eine durchnässte traurige Gestalt, lag am Fuß der Treppe. Der Sanitäter zog die Decke weg. Der Kopf war nach hinten in einem äußerst unnatürlichen Winkel weggeknickt. Die Augen der Toten starrten aus einem Gesicht, dessen Make-up ineinandergelaufen war. Ihr Doppelkinn war durch die Lage des Kopfes gestrafft. Das Haar, vor wenigen Stunden noch zu weichen Löckchen aufgedreht, klebte am nassen Schädel. Der breite Mund lächelte, die Goldplomben von zwei Eckzähnen funkelten im Licht, das durch die Verandafenster nach draußen drang. Das Lächeln war anscheinend echt, eine freudige Begrüßung für einen unerwarteten, aber willkommenen Besucher.

Grijpstra trat über die Leiche hinweg und hockte sich nieder. Das Licht fiel jetzt anders, das Lächeln war zu einem Zähnefletschen geworden. Die plötzliche Veränderung verwirrte ihn. Er ging zurück zur Treppe. Wieder ein Lächeln, zweifellos.

Erst später fiel ihm ein, dass beide Gesichtsausdrücke ein gemeinsames Merkmal gehabt hatten. Der gemeinsame Nenner hieß Sieg. Elaine Carnet hatte sich über irgendetwas gefreut, irgendetwas hatte sie Sekunden vor ihrem Tod übermütig gestimmt. Der Gedanke war ihm zwar blitzartig gekommen, aber nicht weiter herangereift. Er hatte sich bereits an seine Routinearbeit begeben. Er betrachtete die Umgebung.

«Lassen wir sie hier?», fragte der Sanitäter.

«Klar. Ich rufe die Experten. Wir brauchen Fotos.»

In der Veranda war ein Telefon; er wählte. «Commissaris?»

«Ja», antwortete eine leise Stimme.

«Ich weiß, dass Sie krank sind, Mijnheer, aber ich dachte mir, ich rufe Sie trotzdem an. Wir sind da auf etwas gestoßen. Frans van Mierisstraat dreiundfünfzig. Heute Abend ist es schlimm, Mijnheer. Soll ich den Inspecteur anrufen?»

«Nein, ich fühle mich schon besser. De Gier soll mich holen – vor meiner Garage liegt ein Baum, und Taxis wird es heute Abend nicht geben. Was gibt es bei euch, Adjudant?»

«Einen vergifteten Hund und eine tote Frau, Mijnheer.» Grijpstra ging zum Fenster und schaute hinaus. Große Regentropfen trommelten auf die Leiche. «Eine sehr tote Frau, Mijnheer.»

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Zwei

«Juffrouw?», fragte de Gier, als er sie stützte. «Fühlen Sie sich auch wohl?»

«Ja. Ich heiße Gabrielle. Gabrielle Carnet. Sind Sie von der Polizei?»

Er zeigte seinen Ausweis, aber der interessierte sie kaum. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf. Er steckte ihn wieder in die Brusttasche seiner maßgeschneiderten Jeansjacke. Regen war in seinen Seidenschal gelaufen. Er löste ihn, faltete ihn neu und steckte die Enden in den offenen Hemdkragen. Der Schal hatte einen sehr hellen Blauton. Die Jeansjacke und die dazu passende enge Hose waren dunkelblau. Sie folgte seinen Bewegungen mit verträumten Augen. Ihr Blick fiel auf sein Gesicht und nahm den vollen, glatt gebürsteten Schnurrbart, die hohen Wangenknochen und die großen, glänzend braunen Augen in sich auf.

«Sind Sie wirklich Polizist?»

«Ja. Sie haben soeben meinen Ausweis gesehen. Brigadier de Gier. Rinus de Gier. Wir sind auf den Anruf des Sanitäters hin gekommen. Haben Sie den Krankentransportdienst angerufen?»

«Ja.» Ihre Stimme war tief. Sie hatte einen interessanten Beiklang. Er versuchte zu bestimmen, wie dieser war. Seidig? Nein. Irgendwas mit einem Gewebe. Samten. Eine schnurrende Stimme. Die Stimme, mit der sie sich an Männer wandte, nicht an Frauen. Zu Frauen würde sie mit anderer Stimme sprechen.

«Was ist passiert, Juffrouw? Würden Sie mir das bitte erzählen?»

Sie war anscheinend immer noch unsicher auf den Beinen; er sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Der Korridor war leer, bis auf einen Teppich und ein Tischchen neben der Wandgarderobe. Er legte eine Hand unter ihren Ellenbogen und führte sie zur Treppe.

«Setzen Sie sich, Juffrouw. Dann werden Sie sich besser fühlen.»

Automatisch nahm er ihre Erscheinung wahr. Klein, eins fünfzig, vielleicht etwas größer, aber das lag an den hohen Absätzen ihrer modischen Stiefel aus weichem Leder. Jeans in die Stiefelschäfte gesteckt. Enge Jeans, die etwas krumme Beine verbargen. Eine sehr kurze Bluse, die oben und unten viel Haut frei ließ. Schlanke Taille, kleiner Nabel und der Glanz einer Goldkette. Ein modebewusstes Mädchen. Der oberste Blusenknopf stand offen, er konnte die Kurven ihrer Brüste sehen. Langes dunkelbraunes Haar, schimmernd. Kein Schmuck. Ein spitzes, kleines Gesicht, uninteressant, bis auf die Augen, aber die waren geschickt geschminkt und nicht so groß, wie sie aussahen. Sie hatten eine überraschende Farbe, ein glänzendes Grün. Metallisch leuchtende Augen. Sofort ergab sich die Möglichkeit von Drogen, aber er sah ihre Arme. Keine Einstiche. Vielleicht schnupfte sie Kokain oder schluckte Pillen. Aber der fiebrige Glanz ihrer Augen konnte ebenso gut vom Schmerz kommen. Die Mutter der jungen Dame war gestorben.

Als sie zu sprechen begann, fiel ihm wieder das Schnurren auf. Das konnte nicht natürlich sein. Sie schauspielerte, sie gab an, also hatte der Schock über den Tod ihrer Mutter bereits nachgelassen. Sie hatte sich die Zeit genommen, ihr Make-up zu erneuern. Die um die Augen gezogenen dünnen Striche waren noch keine zehn Minuten alt.

«Ich wohne oben», sagte Gabrielle Carnet, «in meiner eigenen Wohnung. Ich bin voriges Jahr von Mutter weggezogen. Wir haben das Haus umbauen lassen. Ich wohne jetzt für mich allein.»

«Können Sie die Türklingel Ihrer Mutter hören, Juffrouw?»

«Nicht, wenn ich in der Küche oder im Badezimmer bin.»

«Wissen Sie, ob Ihre Mutter Besuch hatte?»

«Ich weiß nicht.» Sie schluchzte beim Sprechen, ihre Hände zuckten. Das Haar war ihr über die Augen gefallen, sie schob es zur Seite und verschmierte dabei Wimperntusche. Eine echte Reaktion. Aber echt in welcher Hinsicht? Tat es ihr leid, dass sie ihre Mutter die Treppe hinuntergestoßen hatte?

«Erzählen Sie weiter», sagte er sanft und bemühte sich, seine Stimme und Stimmung der ihren anzupassen.

«Ich bin vor etwa einer Stunde nach unten gegangen. Ich schaue immer noch mal nach, bevor ich schlafen gehe. Mutter trinkt ganz gern einen und schläft manchmal vor dem Fernsehgerät ein. Dann muss ich sie wecken und nach oben bringen.»

«Es tut mir leid, dass ich Fragen stellen muss. Das wissen Sie, nicht wahr, Juffrouw Carnet?» Sie nickte. Sie versuchte, ein Taschentuch aus der Hosentasche zu ziehen, aber es saß fest, sodass sie sich erhob. Er stand ebenfalls auf. «Möchten Sie nach oben gehen, Juffrouw?»

«Nein. Mir ist es hier recht.»

Sie setzten sich wieder. Sie saß ganz nahe; er spürte die Wärme ihres Oberschenkels.

«War Ihre Mutter Alkoholikerin, Juffrouw?»

«Ja. Nein.»

«Wie viel hat sie getrunken, ich meine täglich? Hat sie jeden Tag getrunken?»

«An den meisten Tagen, aber nur Wein. Guten Wein. Vielleicht eine Flasche pro Tag, aber ich glaube, sie hat in letzter Zeit mehr getrunken. Ich habe sie nicht mehr oft gesehen, wir lebten getrennt.»

«Gab es Schwierigkeiten? Haben Sie sich gestritten?» Er sprach so leise wie möglich, um den Schlüsselwörtern den Stachel zu nehmen. Alkoholikerin. Streit. Es waren keine guten Wörter, aber er musste sie verwenden.

«Nein, wir haben uns nicht gestritten, wir kamen nur nicht miteinander aus. Ich bin fast dreißig. Ich brauchte meine eigenen vier Wände, aber ich wollte nicht woanders hinziehen, sie brauchte Pflege. O Gott.»

Sie weinte. Er wartete. Ihr Schenkel presste sich immer noch an ihn. Er mochte das Mädchen nicht, aber weshalb nicht? Sie war nicht hübsch, aber sie war zweifellos attraktiv. Ein attraktives Flittchen. Er hörte, wie Grijpstras dröhnende Stimme die des Sanitäters weiter hinten im Haus übertönte. Wenn sie nicht wären, könnte er das Mädchen hier auf der Treppe haben, ob tote Mutter oder nicht. Er spürte, wie sich sein Mund zu einem Hohnlächeln verzog. Ein höchst unpassender Gedanke. Ein Polizist ist Diener der Öffentlichkeit. Aber in Wahrheit erregte ihn das Mädchen nicht, nicht im Geringsten. Und er war sicher, dass Gabrielle log. Sie musste gehört haben, wie ihre Mutter schrie, als sie die Treppe hinunterfiel. Aber da war der Sturm. Vielleicht hatte sein Tosen den Schrei übertönt. Der Sturm hatte anscheinend in diesem Augenblick die Straße gefunden, er hörte das tiefe, drohende, tönende Dröhnen und das Scheppern geparkter Wagen, die ineinandergeschoben wurden.

«Brigadier?»

De Gier schaute auf. «Ja, Grijpstra?»

«Würdest du den Commissaris abholen? Ich habe die Experten angerufen. Sie werden kommen, sobald sie ihre Sachen zusammenhaben. Der Arzt ist ebenfalls auf dem Wege.»

«Gern.»

«Und bring auch Cardozo mit, wenn du kannst. Er hat heute Abend dienstfrei und besucht Freunde, aber seine Mutter hat mir die Adresse gegeben, es liegt auf dem Weg. Er weiß, dass du kommst.»

Das Mädchen weinte immer noch und verbarg das Gesicht. Grijpstra zog die Augenbrauen hoch. De Gier schüttelte stumm den Kopf. Seine Lippen formten lautlos die Wörter «Sie lügt». Grijpstra nickte. De Gier stand auf und machte eine einladende Handbewegung. Grijpstra ließ sich langsam nieder. Das Mädchen spürte seinen massigen Körper auf der Stufe und rückte weg.

«Sie können mir erzählen, was Sie dem Brigadier berichtet haben, Juffrouw. Wissen Sie, was passiert ist?»

Die Haustür schnappte hinter de Gier ins Schloss. Die Sanitäter kamen und verabschiedeten sich. Grijpstra hörte, wie der Volkswagen und die Ambulanz starteten, als der Sturm für eine Sekunde Atem holte, um dann mit voller Stärke wieder loszubrüllen.

«Juffrouw?»

«Sie muss die Treppe hinuntergefallen sein», sagte Gabrielle. «Ich denke mir, sie hat sich um ihre Azaleen gesorgt und die Tür zum Garten geöffnet. Und dann hat der Wind ihr die Tür aus der Hand gerissen, wobei sie das Gleichgewicht verloren hat.»

«Kommen Sie bitte mit, Juffrouw.»

Er zog sie hoch. Sie folgte ihm durch den Korridor ins große Wohnzimmer. Er warf einen Blick auf die Wand. Ein Bücherschrank mit einer schön gebundenen Enzyklopädie, nagelneu und nie gebraucht. Eine Reihe mit Kunstbüchern, ebenso neu. Ein Blumengesteck. Ein modernes Gemälde. Unter seinen Füßen ein dicker Spannteppich, hell, um sich von den dunkleren Möbeln abzuheben. Ein Ausstellungsraum, entworfen von einem Innenarchitekten. Die Veranda war persönlicher mit einem arg mitgenommenen Fernsehgerät auf einem Korbtisch und einigen Sesseln, die hässlich und bequem aussahen.

«Hat Ihre Mutter gern auf der Veranda gesessen, Juffrouw?»

«Ja. Sie hat sie verglasen lassen, als sie hier eingezogen ist; das war vor etwa zehn Jahren, glaube ich. Sie saß immer hier. Dies ist der einzige Raum im Haus, den sie nicht hat neu tapezieren lassen. Und selbstverständlich meine Wohnung nicht. Das habe ich selbst gemacht, nachdem die Zimmerleute fertig waren.»

Grijpstra hatte die Tür zum Garten geöffnet. «Hier ist kein Wind, Juffrouw. Diese Gärten liegen sehr geschützt. Die Häuser halten den Sturm ab. Verstehen Sie?»

«Ja.»

«Wie konnte Ihre Mutter also die Treppe hinunterfallen?» Grijpstras Stimme klang freundlich und verwundert. Er sah zuverlässig, vertrauenswürdig, väterlich aus. Er war sehr besorgt. «Wie konnte ein so schrecklicher Unfall nur passieren? Ihre Mutter kannte diese Treppe gut, nicht wahr? Hat sie gern im Garten gearbeitet?»

«Ja.»

«Sie hat die Sträucher dort gepflanzt, nicht wahr? Hübsche Azaleen. Hat sie auch die Hecke dort hinten gepflanzt?»

«Ja.»

Gabrielle ging verträumt im Raum umher. Sie streckte die Hand nach dem Weinglas auf dem niedrigen Tisch beim Fernsehgerät aus. Grijpstra berührte ihren Arm. «Bitte nichts anfassen, Juffrouw. Wir werden das Glas auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Gehört der Ring Ihrer Mutter, Juffrouw?» Er zeigte auf einen glatten goldenen Ehering, der auf dem nackten Fußboden neben der Tür zum Garten lag. Sie bückte sich.

«Bitte liegen lassen, Juffrouw.»

«Ja, das ist der Ring meiner Mutter.»

«Hat sie damit herumgespielt? Ihn abgezogen und wieder aufgesteckt, wenn sie nervös war?»

«Nein.»

«Saß er stramm auf dem Finger?»

Sie weinte, kämpfte mit den Tränen, biss auf ihr Taschentuch.

«Tut mir leid, Juffrouw.»

Sie hatte sich gesetzt. Er nahm ihr gegenüber Platz und rieb sich die Wangen. Er müsste sich mal wieder rasieren, am Morgen hatte er nicht viel Zeit gehabt. Seine Frau war ins Bad gekommen, und er wollte schnell weg, sodass er sich nur nachlässig rasiert hatte. Später würde er es besser machen, dann würde sie schon schlafen. Der Gedanke an kochend heißes Wasser, das die stoppeligen Falten aufweichte, und an die ordentlichen Striche einer neuen Rasierklinge munterte ihn irgendwie auf. Er wollte das Mädchen nicht gern in die Ecke treiben. De Gier meinte, dass sie log, womit er wahrscheinlich recht hatte. Aber es könnte mildernde Umstände geben. Eine betrunkene, nörgelnde Mutter, die jammert und schreit. Ein Familienstreit. Ein Schubs. Fast alles kann erklärt und verstanden, wenn nicht gar akzeptiert werden. Aber wenn es Streit gegeben hatte, wäre es ratsam für das Mädchen, dies zuzugeben, jetzt, da alles noch frisch war. Vor Gericht würde es besser aussehen. Aber er würde ihr kein Geständnis nahelegen. Vielleicht würde der Commissaris das tun. Er würde warten.

Das Mädchen schaute auf. «Ich will nicht weinen.»

«Nein, Juffrouw, ich verstehe. Vielleicht könnten wir einen Kaffee trinken. Ich werde ihn zubereiten, wenn Sie mir sagen, wo die Sachen sind.»

«Nein, das kann ich machen.»

Er folgte ihr zur Küche und stand herum, während sie arbeitete. Ihre Bewegungen waren aufeinander abgestimmt, zweckmäßig. Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln, dann zu pulsieren. Sie starrte hinaus in den Garten, als er nach dem Abfallbehälter zu suchen begann. Er fand ihn unter der Spüle in einem Schränkchen, befestigt an der Tür. In dem Plastikbeutel, der den Behälter vor Schmutz schützte, befand sich noch ein Weinglas. Der Stiel war abgebrochen. Das Glas hatte die gleiche Form wie das, das er auf dem Tisch neben dem Fernsehgerät gesehen hatte. Er nahm eine langstielige Gabel von der Arbeitsplatte und stocherte im Beutel herum. Er fand mehrere Zigarillostummel mit Plastikmundstück und etwas Asche. Der Aschenbecher stand auf der Arbeitsplatte. Er war gesäubert worden.

Also doch ein Besucher. An den Mundstücken waren keine Lippenstiftspuren, und sowohl Gabrielle als auch ihre Mutter benutzten Lippenstift. Frauen rauchen heutzutage Zigarillos, lange und sehr dünne. De Gier rauchte manchmal solche Zigarillos; de Gier war eitel. Ein eitler männlicher Besucher. Aber wer ist nicht eitel?

Ich bin nicht eitel, dachte Grijpstra, und schaute auf seinen zerknitterten Anzug. Er war aus einem ausgezeichneten britischen Material, reine Wolle, dunkelblau mit weißem Nadelstreifen. Er war eitel genug, sich teure Anzüge zu kaufen, immer vom gleichen Muster, aber er behandelte sie schlecht. Also gut, er wollte einräumen, dass er etwas eitel war. Dennoch würde er keine weibischen Zigarillos mit künstlichem Mundstück rauchen. Oder vielleicht doch. Wenn er sie sich leisten konnte. Sie würden zu seinem Anzug passen. Er atmete schwer, sodass die Luft durch die zusammengepressten Lippen zischte. Nie war etwas einfach. Verdächtige lügen und verbergen ihre Gefühle. Spuren werden übersehen oder gehen verloren. De Gier meinte, das Mädchen lüge, und er schloss sich der Ansicht des Brigadiers an, aber warum sollte er das tun? Die Eindrücke des Brigadiers wurden durch dessen Wahrnehmungen gesiebt, in Formen gezwungen, die Wahrheit dabei vielleicht verdreht.

Ein Mann besucht Elaine Carnet. Sie hat sich mit einem langen geblümten Kleid geschmückt. Ein Sommerabend. Sie hat alles Mögliche getan, um sich herauszuputzen. Sie ist eine Frau und will nicht zugeben, dass sie älter wird. Wie alt mochte sie sein? Anfang fünfzig? Ja, höchstwahrscheinlich. Sie wartet in der vertrauten Umgebung ihrer Veranda auf den Mann. Sie steht auf, geht vorsichtig umher, ihr Kleid raschelt. Ein Hauch von Parfüm erfüllt den Raum. Hinter ihr blühen die Azaleen. Die untergehende Sonne berührt die Spitzen der Pappeln, Ulmen und Trauerweiden. Das war es, was sie erwartet hatte, aber stattdessen bricht ein Sturm herein, eine schrecklich drückende Atmosphäre, die in alles hineinkriecht, sogar bis in ihre Seele und in den Geist des Mannes. Sie trinken zusammen Wein, einen schweren Beaujolais, und der Sturm gelangt auch in den Wein und verwandelt ihn in ein hitziges Getränk, das in ihre Gedanken eindringt. Sie spricht mit ihm. Ihre Stimme ist rau und schneidend. Sie spricht von der Vergangenheit. Sie zerrt ihren Ehering vom Finger und wirft ihn auf den Boden. Eine plötzliche Beschuldigung verletzt den Mann bis ins Innerste, er wirft den Zigarillo in den Aschenbecher, springt auf, ergreift sie am Hals und schüttelt sie. Die Tür zum Garten steht offen, er sieht es, schiebt sie hin und lässt los. Und dann geht er.

Der Blick des Mädchens ruhte auf Grijpstras Gesicht.

«Ja, Juffrouw?»

«Der Kaffee ist fertig. Ich werde ihn auf die Veranda bringen.»

«Ja, bitte, Juffrouw.»

Er schlürfte den Kaffee und ging die Szene noch einmal durch, die er sich vorgestellt hatte. Alle Tatsachen passten zusammen. Aber er würde jetzt keine Fragen mehr stellen. Das Mädchen hatte sich anscheinend wieder gefasst.

 

Es klingelte, das Mädchen ging, um die Tür zu öffnen. Sie kam zurück, gefolgt von de Gier, der ihr den Commissaris und Cardozo vorstellte. Grijpstra stand auf und bot dem Commissaris seinen Sessel an, der dankbar akzeptierte und seinen zerbrechlichen Körper vorsichtig auf die zerknautschten Kissen niederließ. Cardozo, noch jungenhafter und frischer als sonst aussehend, holte aus dem Wohnzimmer einen Sessel für Grijpstra und ging noch einmal los, um Hocker für de Gier und sich zu besorgen.

«Tja, Juffrouw, das ist eine schlimme Sache», begann der Commissaris. «Mein Brigadier hat mir im Wagen davon berichtet. Es tut uns leid, Sie belästigen zu müssen. Wären Sie bereit, uns einige Fragen zu beantworten? Wir machen es so kurz wie möglich.»

Seine blassen, fast farblosen Augen funkelten hinter der goldgerandeten Brille. Seine mageren Hände umfassten die Knie. Er sah ordentlich und harmlos in seinem abgetragenen, aber frisch gebügelten dreiteiligen Anzug aus. Eine Goldkette umspannte seinen leicht vorstehenden Bauch, die perfekt gebundene Krawatte und das genau in zwei Hälften gescheitelte Haar vervollkommneten das Bild einer freundlichen, aber gewissenhaften Autoritätsperson, eines Schuldirektors, sogar der Miniaturausgabe eines Patriarchen.

«Vielleicht möchten Sie Kaffee, Mijnheer. Juffrouw Carnet hat soeben welchen gemacht. Ausgezeichneten Kaffee.»

«Das wäre sehr nett, aber vielleicht sollte Juffrouw Carnet sich nicht bemühen. Cardozo kann ihn holen.»

Gabrielle stand auf, um Cardozo die Küche zu zeigen. Der Commissaris wandte sich schnell um. «Gibt’s was Interessantes, Grijpstra?»

Er hörte sich den Bericht über den Ehering, das zweite Weinglas und die Zigarillostummel an.

«Hast du eine Theorie, Adjudant?»

«Ein Besucher, vermutlich männlich. Ein Streit. Wir wissen noch nichts über den Familienstand von Mevrouw Carnet.»

«Hast du nicht gefragt?»

«Das Mädchen war sehr nervös, Mijnheer. Ich habe auf Sie gewartet, Mijnheer.»

«Gut.»