Der Freund, der keiner war - Janwillem van de Wetering - E-Book

Der Freund, der keiner war E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Mord verjährt nie. Der Bankierssohn Johan und sein Freund Henri wachsen zusammen im Rotterdam der dreißiger Jahre auf. Als die Nationalsozialisten die Niederlande besetzen, wird Henri zum Kollaborateur. Johan hingegen hält zu den jüdischen Freunden der Familie. Eines Tages kommt es zu einem Unglück mit tödlichem Ausgang, und Johan muss sich fragen, wie groß seine Schuld am Tod Henris ist.

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Janwillem van de Wetering

Der Freund, der keiner war

Kriminalnovelle

Deutsch von Klaus Schomburg

Es kam alles zusammen, als er die Leute vom World Trade Center springen sah. Die Leute waren kleiner als die Soldaten der Luftwaffe, die einst Bomben auf sein Haus fallen ließen. Das war eine Weile her, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, aber es geschah wieder, jetzt, da er die Menschen in den Tod springen sah. Er sah das zweite Passagierflugzeug in den zweiten Turm fliegen. Das erste Flugzeug, das den ersten Turm traf, hatte er nicht gesehen, aber er hörte den dumpfen Aufprall und sah die am Himmel reflektierten Flammen, gefolgt von sich türmenden vielfarbigen Wolken, grausig schön mit ihren purpurnen, grauen und rosa Schattierungen.

Seltsamerweise machte die Katastrophe ihn hungrig, oder vielleicht doch nicht seltsamerweise, denn dies war ein folgenschwerer Augenblick, der nach Konsequenzen verlangte. Und er war nicht einfach nur hungrig. Was er jetzt brauchte, war gebratene Seezunge, nichts anderes würde genügen. Und, bitte, nicht irgendeine Seezunge. Was er vor Augen hatte, war ein großer Fisch, dessen Kopf und Schwanz über die längliche Platte hingen. Keine Beilagen, nichts, was von dem herrlichen, sorgfältig zubereiteten Exemplar ablenkte. Ja, nur die Seezunge selbst, goldbraun, Flossen, Kopf, Schwanz und alles fachmännisch gebraten bis zu dieser köstlichen Knusprigkeit, die zwischen seinen Zähnen knirschen würde.

Verlockende Farben ließen ihm zusätzlich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das frische Gelb dünn geschnittener Zitronen. Die Zitronenscheiben waren dekorativ über den Rücken der Seezunge verteilt, oder über ihre Seite – schwer zu sagen bei einem Grundfisch, der beide Augen auf einer Seite des Kopfes hat. Und noch eine andere Farbe, Grün, das helle Grün der Petersilie, Minuten zuvor vom Koch persönlich im Küchengarten ausgewählt. Der Koch, in tadellosem Weiß natürlich, mit einer hohen Chefkochmütze über den rosa Wangen, hackte die Petersilie, während der Fisch in einer gusseisernen Pfanne brutzelte.

All diese Details waren von Bedeutung, sie hatten mit prägenden Ereignissen zu tun, wie zum Beispiel dem Abendessen an dem Tag, der Rotterdam in ein Flammeninferno verwandelte, dem 10.Mai 1940.Ein Tag, der wieder Jetzt war, am 11.September 2001, mit verrückten Arabern, die Flugzeuge mit amerikanischen Passagieren in amerikanische Gebäude lenkten.

All dies geschah im immerwährenden Hier und Jetzt, in dem Augenblick, in dem Vergangenheit und Zukunft sich begegnen, Tod und Geburt miteinander verschmelzen.

Er dachte an seine eigene Geburt, als man ihn Johan nannte, während sein Vater am Krankenbett seiner Mutter im Haus der Diakonissen gebratene Seezunge aß. Seine Mutter war religiös, protestantisch religiös, und Diakonissen waren protestantische Nonnen. Die Seezunge wurde von einer jungen Nonne in steif gestärkten Kleidern serviert, respektvoll, denn Mijnheer Halbertsma war Bankier. Rotterdam ist eine Geldstadt. Die Stadt an der Maas ist der Ort, an dem das meiste holländische Geld verdient wird, bevor es, wie man sagt, im Rest des Landes ausgegeben wird. In Rotterdam bekommt man, wofür man bezahlt.

Johan konnte nicht beweisen, dass die Seezunge am Krankenbett serviert wurde, er war damals erst zehn Minuten alt. Vielleicht war das Ereignis eine Legende. Zehn Jahre später, als der zehnjährige Henri als Johans Bruder angenommen wurde, aß die Familie, nun als Quartett, ebenfalls gebratene Seezunge im Art-déco-Speisezimmer der Halbertsma’schen Villa im ’s Gravendijkwal Nr.59, einer mit jahrhundertealten Platanen gesäumten Prachtstraße. Tatsache diesmal. Keine Legende. Johan erinnerte sich deutlich an das Ereignis. Prägend, außerordentlich. Was hatte die Familie fünf Jahre später an dem Tag zum Abendessen, als es galt, ein weiteres prägendes Ereignis zu feiern, als nämlich Henri seinen Nachnamen offiziell in Halbertsma änderte? Gebratene Seezunge.

Und fünfzehn Jahre später aßen Johan und Henri wieder Seezunge, nicht lange bevor Henri von Johan ermordet wurde.

Korrektur– Mord war vielleicht nicht der passende Ausdruck. Wie wäre es mit Totschlag? Es hatte keinen Vorsatz gegeben. Johan hatte sich nicht hingesetzt, Aussagen abgewogen, das Beweismaterial studiert, seinen Bruder zum Tode verurteilt und ihn dann umgebracht. Vielleicht lautete die Anklage nicht einmal auf Totschlag, «Tod durch grobe Fahrlässigkeit» könnte passender sein oder besser noch «Tod durch Unterlassung». Möglich, dass Johan in der Lage gewesen wäre, Henri zu retten. Dass er seinen Bruder aus dem Fluss auf die Plattform hätte ziehen oder den Unglücklichen, dessen Fuß sich in der Schlinge einer Stahltrosse verfangen hatte, hätte befreien können, damit er mit der Strömung schwimmen, irgendwo flussabwärts ans Ufer klettern, nach Hause humpeln und einen heißen Toddy trinken konnte.

Tod durch Unfall?

Nun ja, philosophisch betrachtet gewiss. Diese beiden Freunde, diese beiden besonderen Menschen, dieses auserwählte Paar, diese beiden Supermänner, genannt Henri und Johan, glaubten fest daran, dass, was auch immer geschieht, durch Zufall geschieht. Da sie in einem weder guten noch schlechten, sondern rein zufälligen Universum lebten, wie konnten sie da für Handlungen verantwortlich gemacht werden, mit denen sie nichts zu tun hatten?

Während Johan beobachtete, wie die Zwillingstürme brannten und allmählich auseinanderfielen, ihre äußere Haut aus Glas und Stahl verloren, die herabglitt, als entblößte eine schöne Frau ihre langen Beine, indem sie langsam ihre Strümpfe hinunterrollte, fragte er sich, warum er sich gleichzeitig in einem Rotterdamer Gerichtssaal sah. Und warum die gebratene Seezunge. War dies ein weiterer Moment der Veränderung? Wieder ausgelöst von stupider Gewalt?

Er konnte die Wut spüren, die von damals und die von heute. Mehr Wut als Angst. Die Junkers 52, ein altmodisches Flugzeug, das sogar früher, in den dreißiger Jahren, überwiegend im Frachtverkehr eingesetzt wurde, aber für gut genug erachtet wurde, das wehrlose Rotterdam zu zerstören, rumpelte dröhnend dahin. Als das schwerfällige Flugzeug über das Halbertsma’sche Haus flog, glitt eine Seitentür auf. Zwei Soldaten der Luftwaffe beugten sich hinaus und feuerten Brandbomben auf Johan und Henri.

«Gott sei mit uns. Zwei unfreundliche Käseköpfe da unten, Heinz. Triff den mit den dicken Brillengläsern.»

«Nimm den linken Turm, Mustafa. Inschallah.». (Inzwischen riefen die Leute: «Arabische Terroristen!», als sie an Johan vorbeirannten. «Muslime!»)

Heinz verfehlte Johan. Mustafa verfehlte Johan sechzig Jahre später. Johan und Henri aßen gebratene Seezunge nach dem ersten Fehlschuss.

Wie unnötig all diese Unannehmlichkeiten waren, dachte Johan Halbertsma, und wie dringend er jetzt gebratene Seezunge essen musste, obwohl es nichts zu feiern gab außer der Dummheit des Menschen, seiner unübertrefflichen Beschränktheit. Wieder der Konflikt zwischen hausgemachten relativen Werten.

Gier und Angst, die sich selbst bewaffneten. Hirnloses gegenseitiges Köpfeeinschlagen.

Moral im Kampf gegen Moral, wie dumm.

Fundamentalismus gegen Fundamentalismus, wie unglaublich dämlich.

Lange bevor die Luftwaffe Rotterdam bombardierte, lasen Johan und Henri Nietzsche – in einer Philosophieklasse, die der Direktor des Grotius-Gymnasiums, Dr.Elias Finkelbaum, unterrichtete. Beide Jungen waren von Nietzsches Idee, sich über Gut und Böse zu erheben, begeistert.

Bevor sie ihre Hausaufgaben machten (das Schreiben eines Aufsatzes über Unmoral kontra Amoral, über das Böse kontra Unbeteiligtheit), diskutierten die Jungen die Möglichkeiten.

Dr.Finkelbaum hatte gesagt, sie seien nicht zu jung, um sich mit dem grundlegendsten Problem der Schöpfung zu befassen. Im Gegenteil, Teenager seien bekannt für ihre klaren Einsichten, die, so sagte der Direktor, unter dem elterlichen Druck und der allgemeinen geistigen Verschmutzung aufgrund der Notwendigkeit, sich anzupassen, leider oft wieder verloren gingen.

Henri, der sich eine Zigarette rollte – die Brüder hatten gerade das Rauchen entdeckt–, sagte, dass Gewalt als ein Aspekt des Bösen, der Unmoral (wie bei der Selbstüberhebung), aber nicht der Amoral (wie beim Unbeteiligtsein) zwar unnötig sei und die Qualität des menschlichen Lebens beeinträchtige, jedoch unvermeidbar sei, weil die Menschen falsch programmiert wären. Das menschliche Ich, die treibende Kraft menschlichen Verhaltens, sei egoistisch. «Das Gute für mich, zur Hölle mit dir – du weißt, wie es geht, Johan.»

Henri nannte die Chibcha, einen Stamm im nördlichen Südamerika, als Beispiel. Die heutigen südamerikanischen Einheimischen würden sich über unnötige spanische Gewalttätigkeit beklagen, doch wären die Chibcha, nachdem die Konquistadoren die meisten der Eingeborenenkrieger getötet hatten, bereit gewesen, einen Krieg unter Chibchas anzufangen, denn sie hatten Strategie und Disziplin gelernt und überlegene Waffen (Speerwerfer) erfunden. Fertigkeiten, die der spanischen Taktik und Feuerkraft leider immer noch unterlegen waren.

Der Punkt? Johan wollte wissen, was der Punkt von alldem war.

«Nun, versuch bitte zu verstehen, Bruder, dass wir nicht ohne Gewalt auskommen können. Sie ist ein Teil der Programmierung. Wenn Nietzsche die Theorie vertreten möchte, dass die Möglichkeit der Amoralität besteht, dass wir aus der Dualität von Gut und Böse herauskommen können, was dasselbe ist, nur von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet: Was gut für dich ist, ist schlecht für mich, dann fahr du zur Hölle, und alles Gute für mich, okay…? Wenn Nietzsche also sagt, dass wir uns vom kleinlichen Denken befreien können, dann geht er über die normalen Leute hinaus. Weil die normalen Leute, wie zum Beispiel Chibcha-Generäle oder die spanischen Kolonialpriester, vom kleinlichen Denken nicht loskommen können.» Henri beugte sich vor, blies Rauch in Johans Gesicht, tätschelte ihm die Schulter, als er zu husten anfing. «Niemals.»

Gewalt, sagte ihnen Nietzsche, sei eine Tatsache des Lebens. Der Dualität. Der Moral kontra Unmoral. Der Art und Weise, wie die Menschen programmiert sind. Gewalt ist gut und schlecht, gibt dem Prinzip der Vergeltung Raum. Ich kämpft gegen Ich. Viele kleine Ichs gegen viele kleine Ichs. Normale gegen Normale.

Also, erklärte Henri, statt dass Chibcha Chibcha ermordeten, ermordeten die Spanier die Chibcha, sehr effizient, wenn man die damalige Technologie bedenke. Donnerbüchsen und so weiter, ein paar Eisenkugeln feuernde Kanonen. Jetzt, in den frühen dreißiger Jahren, gebe es Flugzeuge. Senfgas. Landminen. Panzer. Maschinengewehre.

Chibcha. Merkwürdig, dachte Johan, dass er sich jetzt, zu Beginn des dritten Jahrtausends, während die Zwillingstürme brannten, an den Namen eines präkolumbischen Stammes erinnerte. Langzeitgedächtnis, in der Tat, dabei konnte er sich heute nicht mehr an die Namen von Leuten erinnern, die er am Tag zuvor getroffen hatte.

«Chibcha waren blutrünstige Kerle», sagte Henri, immer noch seinen Punkt verdeutlichend. «Sie töteten Kinder und verspeisten sie vor den Augen ihrer Mütter, und anschließend vergewaltigten sie die Mütter.»

Was natürlich Unsinn war. Henri wusste nichts über die Eroberungsmethoden der Chibcha. Alles, was er an jenem Tag von Fräulein Krompen, der Geschichtslehrerin – einer stämmigen Lesbierin, die Schnallengürtel und Stahlkappenschuhe trug und eine winzige Freundin namens Mignon hatte, die sie zu Schulfesten mitnahm, um die Jungen zu beeindrucken–, gelernt hatte, war, dass die Konquistadoren nicht die einzigen schlechten Kerle waren. Oder überhaupt schlechte Kerle.

Einfach normale Kerle.

«Menschen sind alle normale Kerle», sagte Henri zu Johan. Er lachte. «Außer, wenn sie amoralisch werden. Das Normengefüge verlassen.»

«Was wir nicht können?», fragte Johan. «Sagtest du nicht, dass Nietzsche sich irrt, wenn es heißt, wir sollten uns von den Normen befreien? Von der Dualität? Von Begrenzungen? Denn da wir kleinliche Kerle und falsch programmiert sind, können wir das nicht, oder?»

«Nicht wir können das nicht, Johan. Sie!», rief Henri. «Sie können das moralische Gefüge nicht verlassen. Du weißt jetzt, wer sie sind.» Henri klopfte auf sein Notizbuch. «Die normalen Leute. Die Untermenschen. Neunundneunzig Komma neun Prozent der Menschheit», sagte Henri. «Das ist traurig, aber unser Nietzsche hier deutet an, dass es höhere Menschen, Übermenschen geben könnte.» Er machte eine dramatische Pause. Senkte seine Stimme zu einem Flüstern. «Weißt du, Johan, wer diese Superkerle sind?»

Johan hatte es begriffen. «Du und ich?»

«Genau», sagte Henri. «Die Superkerle sind wir. Und weißt du, was wir Superkerle tun können?»

«Alles, womit wir davonkommen?»

«Absolut alles.» Henri wedelte die Begrenzung weg. «Laut Nietzsches Definition. Und weißt du, wohin uns das bringt? Nein? Zur Unendlichkeit. Und glaubst du, das ist alles?» Henri lachte. «Nein, Johan, als Supermänner wird uns das über die Unendlichkeit hinaus bringen.» Henri sprach jetzt ruhig, feierlich nickend, präzise gestikulierend, als wolle er Decke und Wände des Zimmers durchdringen. «Zur Unendlichkeit und darüber hinaus.»

Henri kam erneut auf das Thema zu sprechen, als im Mai 1940