Der Tote am Deich - Janwillem van de Wetering - E-Book

Der Tote am Deich E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Jemand hat den einunddreißigjährigen Tom Wernekink in dem kleinen Haus am Deich mit einem Schuss zwischen die Augen getötet. Den Nachbarn ist dieser Mord ein Rätsel. Adjudant Grijpstra und Brigadier de Gier wollen Bewegung in die Sache bringen und verhaften die ältliche Studienrätin von nebenan. Und es kommt Bewegung in die Sache. Ein Mensch wird sterben, ein anderer eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen. Und die Studienrätin wird den Beamten vielleicht verzeihen, dass man sie vorübergehend eingesperrt hat. «Der holländische Krimi-Autor Janwillem van de Wetering schreibt mörderische Romane als philosophische Traktate.» (Die Zeit)

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Seitenzahl: 314

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Janwillem van de Wetering

Der Tote am Deich

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehn
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Eins

Der Spätsommerabend war warm und drückend. Dunkle Wolken hatten sich zusammengeballt, bis sie den Himmel bedeckten, und das trübe Licht schien die Szene um die beiden einsamen Angler in ihrem kleinen Boot auf dem Fluss zu verzerren. Eine Weile vorher hatte eine leichte Brise geweht, aber jetzt war das Wasser um das flache Boot herum kaum noch gekräuselt. Die Fische verhielten sich still wie ihre Umwelt, denn Brigadier de Giers Schwimmer, der einsam und trotzig stand und weiß vor dem dunklen Grau des Wassers schimmerte, sah aus, als stecke er in Leim.

«Wenn dies Angeln sein soll», sagte de Gier, «dann ist es noch langweiliger, als ich dachte.»

Adjudant Grijpstra wandte den schweren Kopf und schob die Lippen vor.

«Dies ist doch Angeln, oder?», fragte de Gier.

Grijpstra nickte.

«Und es gibt Fische hier?»

Grijpstra nickte noch einmal.

De Gier betrachtete seinen Schwimmer. Er stand nicht mehr an derselben Stelle. Er hatte sich bewegt. Aber um wie viel hatte er sich bewegt? Um drei Zentimeter? Oder um eineinhalb Zentimeter? Er kniff ein Auge zu. Der Schwimmer hatte mit dem Stamm einer alten Kastanie an Land eine Linie gebildet, aber jetzt nicht mehr, also hatte er sich bewegt. Es war etwas geschehen. Zum ersten Mal seit mehr als einer Stunde war etwas geschehen. Sein Schwimmer hatte sich bewegt.

Aber es war ihm ziemlich einerlei. De Gier war nicht sehr motiviert, obwohl er sich in zehnjähriger Ermittlungstätigkeit bei der Amsterdamer Stadtpolizei den Ruf erworben hatte, ein tüchtiger und tatkräftiger Mann zu sein. Ehe er an diesem Abend in das Boot gestiegen war, hatte er sich ausgerechnet, dass sie nicht länger als zwei Stunden auf dem Wasser zubringen würden. Um zu diesem Schluss zu kommen, hatte es der Logik bedurft. Sie waren zu einem bestimmten Zweck hier: um einen entflohenen Sträfling zu fangen. Die Tatsachen, die man ihm gegeben hatte, waren einfach genug. Der Strafgefangene oder vielmehr Ex-Strafgefangene befand sich angeblich in einem der zwölf kleinen, baufälligen Häuser, die sich wacklig an den Deich lehnten, vor dem ihr Boot jetzt lag. Wenn sie die Häuser sehen konnten, dann konnten auch sie von deren Bewohnern, einschließlich dem Ex-Gefangenen, gesehen werden. Wer auch immer sie durch die Fenster der kleinen Häuser beobachtete, würde sie für Angler halten. Aber Angler fischen bei Tageslicht. In einer Stunde würde es dunkel sein. Es wäre seltsam, wenn Angler versuchten, im Dunkeln zu fischen, und der Ex-Sträfling würde misstrauisch werden. Also, schloss de Gier, wenn dort drüben nichts passiert, werden Grijpstra und ich zurückrudern. Wir werden das Boot festmachen und nach Hause gehen – Grijpstra in sein kleines Haus an der Lijnbaansgracht in der Amsterdamer Altstadt, um fernzusehen, und ich in die kleine Wohnung am Stadtrand, um die Blumenkästen auf dem Balkon zu begießen und Olivier zu füttern, den Siamkater, der sich auf dem Fußboden wälzen würde, sobald er den Schlüssel im Türschloss hörte, in der Erwartung, dass ich ihn aufhebe und mich mit ihm beschäftige. De Gier freute sich auf das Nachhausekommen. Er mochte seine Blumenkästen; die neugepflanzten dunkelorangenen Astern machten sich neuerdings gut. Er mochte seinen Kater Olivier – obwohl das arme, neurotische Tier irgendwie unmöglich war – und hielt nichts vom Angeln.

Was ist, wenn ich einen fange?, fragte er sich. Er sah sich, wie er versuchte, einem schleimigen, zappelnden Fisch den Angelhaken aus dem Maul zu ziehen, und schauderte. Er wollte keinem Fisch weh tun. Er hätte nicht zulassen sollen, dass Grijpstra an seinem Haken einen Köder befestigte. Vielleicht näherte sich eben jetzt dem Köder ein Fisch, das dumme Maul weit geöffnet, bereit, den scharfen, grausamen Stahl zu verschlingen. Ein Fisch sollte in funkelnd klarem, kühlem Wasser vor der Küste einer tropischen Insel mit einem Netz gefangen werden. Palmen. Nussbraune Mädchen, die in einem kurzen Lendenschurz aus Bananenblättern tanzen. Paradiesvögel, die über dem Unterholz flattern. De Gier lächelte vor sich hin.

Grijpstra lächelte ebenfalls. Seine Gedanken waren zunächst in eine ähnliche Richtung wie die von de Gier gegangen, aber Grijpstra hatte sich in den Traum versetzt, tatsächlich einen Fisch zu fangen, einen großen Fisch, einen Hecht, einen Mordskerl von einem Hecht. Er wusste, es gab Hechte im Fluss; er hatte über der Theke einer Kneipe am Deich einen großen gesehen, der präpariert worden war. Man hatte ihm gesagt, das Präparat sei erst ein Jahr alt. Warum sollte er jetzt keinen Hecht fangen? Warum nicht zuerst den Hecht fangen, dann den Ex-Sträfling, und den Fisch den anderen Kriminalbeamten zeigen? Warum soll es schlimm sein, wenn man Erfolg hat? Er stellte sich das neidisch erstaunte Lächeln auf dem Gesicht von Adjudant Geurts vor. Geurts war selbst ein leidenschaftlicher Angler. Grijpstra genoss es immer, Adjudant Geurts zu ärgern.

«Es wird allmählich dunkel», flüsterte de Gier. «Die Kollegen werden sich dort drüben beeilen müssen, sonst ist es aus für heute.»

Grijpstra brummte. Er hatte es sich plötzlich anders überlegt. Er wollte den Ex-Sträfling nicht mehr fangen. Ihm gefiel es auf dem Wasser. Warum mussten sie den unglücklichen Mann belästigen. Aber der Mann musste selbstverständlich gefangen werden. Der Mann war aus der Strafanstalt entkommen und hatte aus freiem Willen – einem Willen, der von den Behörden ausgesetzt worden war und nicht frei sein sollte – eine Haft von drei Jahren unterbrochen, die ein älterer und wohlmeinender Richter nach reiflicher Überlegung verhängt hatte, weil eine Kombination von Vorschriften verletzt worden war – Vorschriften, die der Staat erlassen hatte, um die Bürger vor sich selbst zu schützen. Der Mann hätte in seiner grauen Betonzelle in Gesellschaft einer grauen Metallpritsche sowie eines Tisches und Stuhls aus grauem Metall bleiben sollen. Der Mann hätte geduldig sein sollen. Aber das war er nicht gewesen. Er hatte sich einen Plan ausgedacht, während er in dem gefilterten Licht seiner Zelle lebte, wo ihn die Sonne nur durch undurchsichtige, dicke, verstärkte Glasscheiben erreichen konnte. Und er hatte seinen Plan ausgeführt.

Er hatte mit einem scharfen Nagel in der Nase gestochert und sich diesen so schmerzhaft eingebohrt, wie sich de Giers Angelhaken jetzt jeden Augenblick in die weiche, kalte Haut an der Innenseite eines Fischmauls bohren könnte. Der Nagelstich ließ das Blut fließen, das der Gefangene mit den zur Schale geformten Händen auffing, etwas davon auf sein Hemd schmierte sowie den Rest aufschlürfte und im Mund behielt. Ehe er den Mund füllte, hatte er an die Tür geklopft und nach dem Auge gerufen, nach dem hässlichen Auge, das ihn stündlich durch einen schmalen Schlitz kontrollierte. Das Auge kam und fand auf dem Fußboden den Sträfling, dem das Blut am Kinn heruntertropfte. Das Auge machte eine Meldung und kam mit anderen Augen zurück, die den Gefangenen in eine Ambulanz brachten. Der Sträfling hatte einen Freund im Krankenhaus und entkam am selben Tag.

Das war jetzt drei Monate her. Die Behörden hatten sich nicht sehr aufgeregt. Die Polizei war benachrichtigt worden. Man hatte Adjudant Grijpstra ins Büro des Commissaris gerufen und ihm die Akte über den Gefangenen gezeigt.

«Ein kleiner Fisch», sagte der Commissaris, «ein ganz kleiner. Nicht einmal gefährlich. Du kennst ihn doch, nicht wahr? Hast du nicht mit de Gier den Fall bearbeitet?»

«Ja, Mijnheer», sagte Grijpstra und las weiter in der Akte.

«Fangt ihn irgendwann», sagte der Commissaris, «aber lasst euch dabei nicht von eurer Arbeit ablenken. Es hat keinen Zweck, nach ihm zu suchen. Er wird bei einer dieser Adressen auftauchen. Informiert die Spitzel darüber; setzt eine kleine Belohnung für Hinweise aus. Warum hat er drei Jahre bekommen? Er ist nur ein Einbrecher, oder?»

«Ja, Mijnheer», sagte Grijpstra, «aber er bricht weiter ein, das ist sein Fehler. Er ist ein schlimmer Einbrecher. Und ein glückloser.»

Der Commissaris seufzte. «Erzähl mal. Ich habe keine Lust, die ganze Akte zu lesen; sie ist zu dick.»

Grijpstra schaute auf und sah, dass der Commissaris nur einen maschinebeschriebenen Bogen gelesen hatte, dem ein Foto beigefügt war. Das Foto zeigte das Gesicht eines bärtigen Mannes, ein ziemlich angenehmes Gesicht, ein Gesicht mit Sinn für Humor.

Der Commissaris gab Grijpstra den Bogen. Die Angestellten im Präsidium hatten drei Amsterdamer Adressen angegeben und ausgeführt, dass die erste die der ältlichen Schwester des Verbrechers und die anderen die von zwei Freunden waren.

«Er ist ruhig mitgekommen, als wir ihn damals festgenommen haben», sagte Grijpstra. «Er war in ein Geschäft eingebrochen, aber der Besitzer kam an dem Abend zufällig vorbei und hat ihn erwischt. Es gab einen Kampf, und der Besitzer fiel hin und verletzte sich am Kopf. Dadurch wurde die Anklage geändert. Der Staatsanwalt war schlechter Laune. Der Verteidiger war nicht sehr klug. Drei Jahre.»

Der Commissaris schüttelte den Kopf.

«Nun, er wird wieder ruhig mitkommen. Reg ihn nicht auf. Sprich mit ihm. Das kannst du gut, Grijpstra. Und übereile nichts. Manchmal müssen wir uns beeilen, und manchmal müssen wir abwarten. Diesmal werden wir abwarten.»

Grijpstra seufzte. «Er hat zwei Jahre im Gefängnis gesessen, Mijnheer. Wir wollen hoffen, dass er nicht gewalttätig geworden ist.»

»Ja», sagte der Commissaris. «Das Gefängnis!»

«Es bessert sie kaum», sagte Grijpstra.

Der Commissaris stimmte dem zu, aber er verfolgte das Thema nicht weiter. Der Commissaris war ein alter Mann, der Pensionierung nahe. Er hatte selbst schon im Gefängnis gesessen, während des Krieges, als die Gestapo wissen wollte, wie die niederländische Widerstandsbewegung arbeitete. Der Commissaris war damals ein höherer Offizier in der Widerstandsbewegung und nicht willens, mit den deutschen Ermittlungsbeamten zusammenzuarbeiten. Man hatte den Commissaris im selben Gefängnis untergebracht, aus dem der schlimme Einbrecher jetzt geflohen war, aber die Zeiten waren anders gewesen. Ein bisschen Blut, das einem Gefangenen vom Kinn heruntertropft, hätte die Deutschen in jenen Tagen nicht sehr beeindruckt. Der Commissaris erinnerte sich, dass er ein Stück Brot gegessen hatte, das einem Mitgefangenen – geblendet vom Blut, das ihm aus einer Schnittwunde über der Braue, beigebracht vom Ehering eines verhörenden deutschen Polizeibeamten, in die Augen lief – versehentlich in den Scheißeimer gefallen war. Der Commissaris hatte das Brot herausgenommen, abgewischt und gegessen. Es war ein böses Gefängnis gewesen. Es war, trotz veränderter Umstände, noch immer ein böses Gefängnis. Aber der Staat braucht Gefängnisse. Der Commissaris brummte und rieb sich das rechte Bein, das ihn an diesem Tag mehr schmerzte als das linke. Der rheumatische Schmerz ließ etwas nach und biss nicht mehr so tief in den Knochen wie vorher. Er rieb weiter. Er konnte den Schmerz nicht beseitigen und die Gefängnisse nicht abschaffen.

Grijpstra schaute von der Akte auf. «Mijnheer, hier steht, dass der Mann seiner Schwester nahesteht. Er hat bei ihr gewohnt. Sie hat nie geheiratet, und der Mann ist Witwer. Er wird sie also wahrscheinlich aufsuchen. Die Adresse ist am Deich. Kennen Sie den Deich, Mijnheer?» Grijpstra war zu der großen Karte von Amsterdam an der Wand des Büros gegangen. Sein dicker Zeigefinger verfolgte rasch einen Kurs vom Polizeipräsidium nach Norden, überquerte den Fluss IJ und bog nach links ab.

«Da», sagte er, «Landsburgerdijk.»

Der Commissaris war Grijpstras Finger mit den Augen gefolgt und überlegte jetzt. «Ja», sagte er nach einer Weile, «dort drüben ist eine Werft, eine kleine Werft. Ich wurde vor Jahren mal nach dort gerufen, weil ein Arbeiter vom Gerüst gefallen war und sich den Hals gebrochen hatte. Der Arzt meinte, er sei vielleicht heruntergestoßen worden, was sehr wahrscheinlich stimmte, aber wir konnten es nicht beweisen.»

«Dort sind einige kleine alte Häuser», sagte Grijpstra, «voller seltsamer Leute. Asoziale nennt man sie heutzutage. Arbeitslose. Trinker. Rentner. Halbidioten. Kleine Ganoven. Ich bin oft dort gewesen, hauptsächlich wegen Diebereien und Schlägereien unter Betrunkenen, wenn sie sich über die Teilung der Beute nicht einigen konnten. Die Schwester des Mannes wird in einem dieser Häuser wohnen. Der Stadtrat hatte mal den Plan, den Deich zu räumen und zu verbreitern und Blocks mit Mietwohnungen zu bauen, aber die Häuser sind alt, vielleicht dreihundert Jahre alt, und wurden unter Denkmalsschutz gestellt. Sie sollen irgendwann restauriert werden.»

Der Commissaris saß wieder an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Notizbuch. «Wir haben einen Spitzel am Deich», sagte er.

«Ich weiß, Mijnheer. Man nennt ihn die Maus.»

«Kennst du ihn?», fragte der Commissaris.

Grijpstra verzog das Gesicht.

«Du magst ihn nicht?»

«Wer mag schon einen Spitzel?», fragte Grijpstra die Zimmerdecke im Büro des Commissaris.

«Aber du hast ein sehr angewidertes Gesicht gemacht», sagte der Commissaris vergnügt.

«Er ist ein widerlicher Mann, Mijnheer. Ein petzender, widerlicher kleiner Mann. Zu unbedeutend, um Ratte genannt zu werden. Er hat mir im vergangenen Jahr einen Tip gegeben und seinen Freund hinter Gitter gebracht – einen Mann, mit dem er jahrelang Billard gespielt hat –, und noch dazu wegen eines sehr kleinen Verbrechens. Aber die Anklage setzte sich durch.»

«Kopf hoch, Grijpstra», sagte der Commissaris, «Kopf hoch. Wir haben Gefängnisse und Spitzel. Und wir haben Verbrecher. Und wir sind Polizisten. Und es regnet. Kopf hoch.»

«Mijnheer», sagte Grijpstra.

 

Grijpstra verlagerte sein Gewicht, das Boot bewegte sich.

«Vorsicht», flüsterte de Gier, «sitz still. Dies Boot ist klein. Wenn du es umkippst, liegen wir im Bach und saufen ab. Und wenn wir nicht absaufen, werden wir blöd aussehen. Und wir werden nass sein. Also Vorsicht!»

«Du bist doch Sportler, oder?», fragte Grijpstra.

«Hier nicht. Dies Wasser muss sehr dreckig sein.»

Grijpstra seufzte. Er begann wieder an den Ex-Sträfling zu denken. Der wird jetzt Tee bei seiner Schwester trinken, dachte Grijpstra. Er ist erst heute zu ihr gegangen, aber die Maus hat ihn gesehen und fünfundzwanzig Cent für einen Anruf ausgegeben. Er wird sie, zusammen mit der Belohnung, hinterher auf die Rechnung setzen. Und jetzt werden die Kripobeamten Geurts und Sietsema in einem Wagen sitzen, der in der Nähe der Haustür geparkt ist. Sie werden den Transportwagen haben und den Eingang durch Schlitze beobachten. Bald werden sie an die Haustür klopfen, und wenn er dumm genug ist, zum Fluss zu rennen und in eins der Ruderboote zu springen, gehört er uns. De Gier wird den Außenborder starten, und wir werden ihn vielleicht schon haben, ehe er die Riemen eingelegt hat, und wenn de Gier es vermasselt, wird ihn die Reichswasserschutzpolizei schnappen. Deren Barkasse liegt direkt hinter der nächsten Biegung, und unter dem Baum dort drüben haben sie einen Beamten mit Fernglas und Funkgerät postiert. Der arme, blöde Kerl hat keine Chance. Er wird schon heute Abend wieder im Gefängnis sein und ein weiteres Jahr absitzen. Vielleicht stecken sie ihn für eine Weile in eine Sonderzelle. Vollzugsbeamte mögen keine Sträflinge, die entkommen. Vielleicht schikanieren sie ihn. Ich sollte ihn vielleicht gelegentlich mal besuchen, um zu sehen, wie es ihm geht. Ich werde ihm eine Stange Zigaretten kaufen. Grijpstra nickte. Ja. Das werde ich tun.

Auch de Gier dachte nach. Er hatte Mund und Augen zusammengekniffen. Ich bin ein unbedeutender Polizist, dachte de Gier, der unbedeutende Verbrecher fängt. Ich hätte ihm eine Nachricht zuspielen sollen. De Gier starrte auf seinen Schwimmer, der sich wieder bewegt hatte, obwohl er dies nicht gesehen hatte. Es würde bald Regen geben, Regen, Donner und Blitze. Die Hitze wurde drückend, die Wolken waren dunkler geworden. Ein Fischreiher, der in der Nähe des Bootes gestanden hatte, zum Teil hinter dem halbgesunkenen Wrack einer Flussbarkasse verborgen, schlug seine großen Schwingen und erhob sich langsam himmelwärts. Der Federbusch auf seinem dünnen, zarten Kopf wippte, als der stattliche Vogel seinen langsamen, schwerfälligen Flug begann. Aber, so überlegte de Gier, man wird den Mann sowieso schnappen. Dies Land ist klein, und er ist nicht sehr intelligent. Er kann nicht entkommen. Wir kennen seine Gewohnheiten, die er nicht ablegen kann. Es ist immer das Gleiche. Stelle fest, welche Wege sie gehen, und stell ihnen auf ihrem Pfad eine Falle. Sie werden ihre Pfade nicht aufgeben.

Das tragbare Funkgerät zwischen Grijpstras Füßen piepte.

«Hallo», sagte Grijpstra.

«Jetzt», kam es aus dem Funkgerät.

«Verstanden.»

Die Polizeibeamten holten ihre Angelruten ein und schraubten sie auseinander. De Gier zog am Startseil des kleinen Außenborders. Er sprang sofort an. De Gier ließ ihn im Leerlauf; er machte sehr wenig Geräusch und tuckerte nur leise in der drückenden Atmosphäre dieses schwülen Abends. De Gier lächelte. Er hatte Schwierigkeiten erwartet, aber der Brigadier von der Wasserschutzpolizei, der ihnen das Boot geliehen hatte, übertrieb nicht, als er die Qualitäten der Maschine lobte.

«Prüf deine Pistole», sagte Grijpstra.

Die beiden Pistolen – Grijpstras großes Modell, das er in einem Halfter am Gürtel trug, und de Giers leichtes Modell, das er in einem Spezialhalfter unter der Achselhöhle mit sich führte – klickten, als die Patronen in den Lauf glitten.

Ich werde nicht auf ihn schießen, dachte de Gier. Nicht einmal, wenn er davonläuft. Lieber hole ich ihn zu Fuß ein.

De Gier wird ihn zu Fuß einholen, dachte Grijpstra. Er hat lange Beine.

«Da», sagte Grijpstra.

Der Mann rannte durch den Garten hinter dem Haus. Er sprang in ein Ruderboot, das an dem kleinen Landungssteg festgemacht war.

«Polizei», rief Grijpstra. Ihr Boot nahm Fahrt auf. Der Mann legte die Riemen in die Dollen.

«Halt», dröhnte Grijpstra, «du kannst nicht entkommen; auf dich wartet auch noch eine Barkasse. Hände hoch!»

Die hässliche Schnauze der Polizeibarkasse schob sich um die Flussbiegung.

Der Mann hob die Hände. Seine Riemen glitten in den Fluss. Grijpstra zog mit der linken Hand einen aus dem Wasser.

«Danke», sagte der Mann. «Das Boot gehört meiner Schwester. Sie hätte etwas dagegen, wenn ich ihre Riemen verliere.»

 

Geurts und Sietsema warteten im Garten auf sie.

«Handschellen?», fragte Geurts.

«Nein», sagte der Mann, «ich werde friedlich mitkommen. Ich bin unbewaffnet.»

«Das wollen wir mal kontrollieren», sagte de Gier und tastete dem Mann die Seiten und Hosenbeine ab.

«Du hast etwas in deiner rechten Tasche», sagte de Gier. «Zeig’s her.» Es war ein Klappmesser, und de Gier steckte es in die eigene Tasche.

«Danke. Er gehört dir, Adjudant Geurts.»

»Danke, Brigadier.»

«Danke, danke», sagte der Mann. «Für euch ist es Arbeit, für mich ein Jahr im Gefängnis.» Er sagte es freundlich, und Grijpstra lächelte.

«Tut mir leid.»

«Ist schon gut, Adjudant», sagte der Mann. «Ich nehm’s nicht übel. Aber ein Jahr ist eine lange Zeit.»

«Ich werde dich in etwa einer Woche besuchen. Möchtest du noch etwas außer Zigaretten?», sagte Grijpstra.

Der Mann machte große Augen. «Meinen Sie das im Ernst?»

«Selbstverständlich.»

«Einige Zigarren», sagte der Mann. «Zigarillos. Ich habe einen alten Freund im Gefängnis, der sie gern raucht.»

Grijpstra nickte und winkte zur Polizeibarkasse hinüber, die sofort rückwärts fuhr, um zu wenden.

De Gier steckte seine Pistole ins Halfter.

«Haben Sie Ihre Pistole immer in der Achselhöhle, Brigadier?», fragte der Mann.

«Ja, so beult sie den Anzug nicht so aus.»

«Sehr elegant», sagte der Mann.

«De Gier ist ein eleganter Bulle», sagte Adjudant Geurts. «Der bestgekleidete Mann bei der Polizei.»

Es herrschte verlegenes Schweigen, und Geurts legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. «Gehen wir», sagte Geurts.

De Gier sah dem Mann in die Augen, lächelte und berührte flüchtig dessen Arm, ehe er sich umdrehte. Grijpstra wartete auf ihn in der Nähe des Transportwagens, aus dem heraus Adjudant Geurts und Brigadier Sietsema das Haus des Mannes beobachtet hatten und der den Gefangenen jetzt wegbringen würde. Grijpstra ging fort, als de Gier ihm folgte, und dieser musste laufen, um ihn einzuholen.

«Eine feine Aufgabe prima erledigt», sagte Grijpstra bedrückt.

«Zum Teufel damit», sagte de Gier.

«Und obendrein keine Fische», sagte Grijpstra mürrisch. «Wir waren länger als eine Stunde in dem Boot. Ich hatte den richtigen Köder, und es gibt dort viele Fische.»

«Ein schlechter Tag», sagte de Gier.

Ihr Wagen stand am Ende des Deichs, zehn Minuten zu Fuß entfernt. Sie kamen an einem verschlampten Café vorbei, das versteckt in einer Ecke des Deichs stand. Es war eher ein Schuppen, dessen morsches Holz dringend gestrichen werden musste. Sogar das Metallschild mit der Bierreklame hatte Sprünge.

«Kaffee?», fragte de Gier aufgeräumt.

Grijpstra nickte. Sie gingen hinein und setzten sich an einen kleinen Tisch, den ein schmutziges rot-weiß kariertes Tuch teilweise bedeckte. Ein Jüngling stand hinter der Theke und beobachtete sie. «Zwei Kaffee», sagte de Gier.

Der Junge füllte zwei Becher aus einer altertümlichen Maschine, die seit Jahren nicht geputzt worden war, und verschüttete etwas von der übel aussehenden bräunlichen Flüssigkeit, als er die Becher auf den Tisch knallte.

«Warum servierst du ihn nicht in einem Eimer?», fragte Grijpstra.

Der Junge zuckte die Achseln und ging zur Theke, wo er das Telefon aufnahm. Er hatte seine Nummer gerade gewählt, als eine junge Frau ins Café gestürzt kam und direkt zur Theke rannte.

«Lass mich bitte das Telefon benutzen», sagte sie zu dem Jungen. «Es ist ein Notfall. Ich will die Polizei anrufen.»

«Moment», sagte der Junge.

«Bitte, bitte», kreischte das Mädchen.

De Gier war aufgesprungen. Er ging zu dem Mädchen und berührte es an der Schulter. «Kann ich helfen, Juffrouw? Ich bin Polizist.» Er zeigte seinen Ausweis, aber das Mädchen schien nicht zu begreifen.

«Bitte», sagte es zu dem Jungen. «Gib mir das Telefon.»

«Was ist passiert, Juffrouw?», fragte de Gier und versuchte, noch einmal seinen Ausweis zu zeigen, aber das Mädchen beachtete ihn nicht. Grijpstra war amüsiert. Die alte Tour, dachte Grijpstra, aber diesmal klappt’s nicht. Sieh nur die breiten Schultern, die starken Zähne und das charmante Lächeln. Und die Nase, wir wollen die Nase nicht vergessen. Schade, dass er keine Zeit hatte, sich zu kämmen, aber vielleicht ist das Haar so attraktiv ungebändigt noch besser. Es ringelt sich ihm über die Ohren, und auf der selbstverständlich edlen Stirn hat er kleine Locken. Schade, dass die Dame nicht in der richtigen Stimmung ist, um dies alles zu würdigen.

Der Junge legte das Telefon endlich auf. Und das Mädchen wählte wie toll sechsmal die Zwei, die Nummer, die jeden nervösen Bürger mit den Friedenshütern verbindet.

De Gier legte die Hand auf das Telefon. «Juffrouw!», rief er. «Die Polizei steht direkt neben Ihnen. Brigadier de Gier, zu Ihren Diensten. Wollen Sie mir jetzt sagen, was mit Ihnen ist?»

Das Mädchen begriff. «Sie sind Polizist», sagte es leise.

«Stimmt, Juffrouw», sagte de Gier, «und an dem kleinen Tisch dort sitzt noch ein Polizist: Adjudant Grijpstra. Setzen Sie sich zu uns und erzählen Sie, was los ist.»

Die junge Frau war anziehend, und ihre atemlose Sprechweise und generelle Schüchternheit machten sie noch anziehender. Sie trug verblichene Jeans und eine Bluse, die ein wenig zu eng schien, um ihre aggressiv strammen Brüste zu beherbergen. Sie ließ sich zum Tisch führen und schüttelte Grijpstras schwere Hand.

«Nun», sagte Grijpstra freundlich, «was können wir für Sie tun, Juffrouw?»

«Es geht um meinen Nachbarn», sagte das Mädchen. «Ich hatte ihn seit Tagen nicht gesehen und mir um ihn Sorgen gemacht.» Sie begann zu weinen.

«Na, na «, sagte de Gier und gab ihr sein Taschentuch. Sie schluchzte und rieb sich die Augen.

«Und?», fragte Grijpstra.

«Er geht nie aus», sagte das Mädchen. «Nur manchmal zum Einkaufen. Er ist immer innerhalb einer Stunde wieder da. Und er arbeitet immer im Garten. Ich wohne im Haus nebenan, aber im Garten habe ich ihn auch nicht gesehen, und sein Wagen steht vor dem Haus, also sollte er da sein. Vorhin habe ich mir dann wirkliche Sorgen gemacht und bin über den Zaun gestiegen.»

Sie schluchzte wieder, und Grijpstra klopfte ihr auf den Rücken. «Ja, Juffrouw. Erzählen Sie uns, was passiert ist.»

«Und die Küchentür stand offen, und ich bin die Treppe hinaufgegangen. Ich war noch nie in seinem Haus gewesen, und da war er.»

«Er war doch nicht etwa tot?», fragte de Gier.

«Doch», kreischte das Mädchen, «er ist tot. Man hat ihn umgebracht. Die haben ihn umgebracht.»

«Gehen wir nachsehen», sagte Grijpstra.

 

Sie gingen zurück bis fast zu dem Haus, wo der entlaufene Sträfling gefasst worden war. Das Mädchen blieb vor einem zweigeschossigen Haus stehen.

«Ist dies das Haus, in dem Sie Ihren Freund gefunden haben?», fragte Grijpstra.

«Nein», sagte das Mädchen. «Hier habe ich mein Zimmer. Wir können hier durchgehen und dann in den Garten.»

Sie öffnete die Tür mit ihrem Schlüssel, aber die beiden Polizisten fanden den Weg versperrt durch eine kleine, dicke Frau. «Was soll das alles?», fragte die kleine Frau.

«Lass sie bitte hinein, Mary», sagte das Mädchen. «Es sind Polizisten, die nach nebenan wollen. Tom ist tot.»

«Polizei?», fragte die kleine Frau misstrauisch, ohne sich zu rühren.

De Gier holte seinen Ausweis heraus und gab ihn ihr. «Brigadier de Gier», las die Frau laut vor. «Städtische Polizei Amsterdam.»

«Stimmt, Mevrouw», sagte de Gier liebenswürdig. «Können wir jetzt durch Ihr Haus gehen?»

Sein Charme beeindruckte die Frau nicht. Sie streckte eine Hand aus, und de Gier schüttelte sie. Ihm war die Berührung mit der Hand unangenehm. In den kurzen und dicken Fingern war eine Menge Kraft.

«Mary van Krompen», sagte die Frau. «Ich bin pensionierte Lehrerin und wohne hier. Sie können hier durchgehen, wenn Sie wollen, Brigadier, obwohl ich den Grund dafür nicht einsehe. Evelien macht viel Geschrei um nichts, wie alle jungen Mädchen. Der Mann ist vermutlich krank oder so was. Woher weißt du, dass er tot ist, Evelien?»

«Ich habe ihn gesehen», schluchzte Evelien.

«Wann?», fragte die kleine Frau.

«Soeben erst. Ich war in seinem Haus, und er lag auf dem Boden und hatte Blut im Gesicht. Er hat ein Loch im Kopf. Ich bin schließlich Krankenschwester, oder? Ich weiß, wenn jemand tot ist.»

«Schon gut, schon gut», sagte die kleine Frau.

«Darf ich auch mitkommen?», fragte Grijpstra.

«Sind Sie ebenfalls Polizist?»

«Ja, Mevrouw.»

«Sind noch mehr da?»

«Nein, Mevrouw.»

«Eine Invasion», murmelte Mary. «Füße abtreten, Leute! Ich habe dieses verdammte Haus den ganzen Tag über sauber gemacht; macht es nicht schmutziger als unbedingt nötig.»

De Gier warf einen Blick auf den Zaun. «Sind Sie ganz sicher, dass Sie sich das alles nicht nur eingebildet haben?», fragte er das Mädchen. «Wenn mit Ihrem Freund alles in Ordnung ist, könnte er sich aufregen, wenn er sieht, wie wir bei ihm alles zertrampeln. Rechtlich wäre es Hausfriedensbruch, und das könnte uns eine Menge Schwierigkeiten machen.»

«Bitte», sagte das Mädchen.

De Gier sah sich den Zaun noch einmal an. Er war eineinhalb Meter hoch und mit Schlingpflanzen überwachsen. Er legte seine Hand auf einen der Pfähle. Der schien widerstandsfähig genug zu sein. «Gut», sagte er und sprang hinüber. Das Mädchen machte, obwohl es verwirrt war, große Augen. Der Bewegungsablauf war perfekt, geschmeidig und anscheinend mühelos gewesen.

«Ganz schön», sagte das Mädchen.

Grijpstra seufzte und erläuterte. «Er ist Athlet; er gewinnt viele Preise. Er hat einen schwarzen Gürtel im Judo und ist außerdem ein Meisterschütze.»

Das Mädchen hatte sich durch den Gleichmut des Kriminalbeamten irgendwie beruhigt und wirkte etwas entspannter. «Können Sie das auch?», fragte es und sah Grijpstra zum ersten Mal an.

«Nein», sagte Grijpstra. «Im Sport bin ich schlecht, aber ich angle. Leider fange ich heutzutage nicht viel. Ich glaube, das Wasser wird allmählich zu schmutzig.»

Auf dem Gesicht des Mädchens zeigte sich ein leichtes Lächeln. «Macht nichts», sagte es, «ich bin sicher, dass Sie ein guter Polizist sind.»

«Mittelmäßig», sagte Grijpstra, «aber ich lerne täglich etwas dazu.»

«Ich bin als Krankenschwester furchtbar», sagte das Mädchen. «Immer lasse ich Sachen fallen. Ich bin zu nervös.»

«Du kannst am Ende des Zauns herumgehen, Grijpstra», rief de Gier, «beim Treppenabsatz, aber pass auf, sonst kriegst du nasse Füße.»

Grijpstra manövrierte seine schwere Gestalt um den Zaun herum.

«Das Fenster dort oben ist offen», sagte de Gier. «Das muss das Fenster des Zimmers sein, in dem sie die Leiche gefunden hat.»

Das Mädchen kam zu ihnen.

«Sagten Sie nicht, die Küchentür sei auf, Juffrouw?», fragte de Gier.

Sie nickte.

«Ich werde nachsehen.»

Bald darauf erschien de Giers Kopf oben im Fenster.

«Ja?», fragte Grijpstra.

«Ja», sagte de Gier. «Es ist besser, wenn du raufkommst.»

Grijpstra ging in die Küche und fand hinten eine kurze Treppe, die er hinaufstieg. De Gier stand neben der zusammengesunkenen Gestalt eines jungen Mannes. Die Gestalt war wirklich tot und lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken.

«Ich werde mich nie daran gewöhnen, nie», murmelte de Gier. «Schau mal, er hat den Mund offen und ein Loch zwischen den Augen. Ein schwarzes Loch. Bah.»

De Giers Gesicht war sehr bleich. Er hielt sich an der Wand aufrecht.

«Geh ins Nachbarhaus», sagte Grijpstra, «oder besser noch zum Café. Die Nachbarin wird kein Telefon haben, sonst hätte das Mädchen gleich von dort aus angerufen. Ich werde hier warten. Bring das Mädchen nach Hause. Wir wollen nicht, dass hier zu viele Leute herumlaufen.»

«Ja», sagte de Gier. Unter den Achseln seines teuren Maßanzugs waren große, feuchte Flecken.

«Geh schon», sagte Grijpstra.

De Gier ging. Grijpstra hörte, wie er im Garten mit dem Mädchen sprach. Dann wurden die Stimmen immer leiser. Grijpstra steckte die Hände in die Taschen und sah den toten Mann an. «Verrückter Kerl, warum hast du dich umbringen lassen?», fragte Grijpstra.

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Zwei

Das Gewitter ließ sich Zeit. Gelegentlich aufzuckenden Blitzen folgte ein Donnern, aber in langen Abständen, und das Poltern eines schweren Lastwagens, der auf dem Deich hinter Grijpstra und der still lächelnden Leiche vorbeifuhr, verschlang leicht das Grollen des fernen Donners. Das Zimmer war dunkel, und Grijpstra sah sich um. Irgendwo sollte ein Lichtschalter sein, aber Grijpstra sah ihn nicht. Im Zimmer befanden sich anscheinend viele Möbel. Grijpstra drehte sich langsam auf den Absätzen um. Bücherregale, Schränke, ein großes, altmodisches Fernsehgerät, mehrere Sessel, zwei runde Tische, eine Couch, ein Sideboard. An jeder freien Stelle der Wand hing ein Bild, Gemälde mit Goldrahmen, verzierten Rahmen. Die Möbel waren ebenfalls verschnörkelt. Auf den Sesseln und der Couch lagen Kissen – Kissen aus dickem, glänzendem Samt, an jeder Ecke eine Troddel.

Grijpstra setzte sich in Bewegung. Er musste einen Schalter finden, selbst wenn er dabei Fußspuren und Fingerabdrücke verwischte. Er tastete mit den Händen an der Wand entlang; er stolperte gegen einen Sessel und tat sich am Knie weh. Er fühlte sich kalt und hatte schwitzende Hände. Sein Nacken schmerzte. Das Licht half, aber nicht viel. Eine schwache Glühbirne beleuchtete das Zimmer, aber es gab immer noch Schatten darin und die weiterlächelnde Leiche.

«Verrückter Kerl», sagte Grijpstra noch einmal.

Er setzte sich auf die Couch. Warum?, fragte er sich. Was war geschehen? Eine Schlägerei? Eine Meinungsverschiedenheit über irgendetwas? Hatte der andere Mann den Bewohner dieser vermodernden, zusammenfallenden kleinen Hütte bedroht? «Dafür bringe ich dich um!» Hatte er geschrien? Vielleicht gezischt? Hatte er mit Pistole oder Revolver dramatisch herumhantiert, damit gefuchtelt? Oder war dies eine kaltblütige Angelegenheit von: Peng! Du bist tot?

Grijpstra sagte sich, er müsse beobachten. Zuerst beobachten, dann vielleicht eine Schlussfolgerung ziehen. Nein. Keine Schlussfolgerung. Beobachten. Was beobachtete er? Zweifellos einen toten Mann. Einen dreißigjährigen Mann mit dichtem schwarzem Haar, einem dicken Schnurrbart und großen weißen Zähnen, die wie bei einem Nagetier vorstanden. Aber keine Maus oder Ratte. Ein Kaninchen. Ein hübsches Tier. Der Mann sah hübsch aus, angenehm, sogar noch im Tode. Das Grinsen war schrecklich, aber es war ein Grinsen, das Furcht verriet. Und Überraschung. Der Mann war überrascht gewesen, an diesem Abend dem Tod zu begegnen. Abend? Warum Abend? Er war vielleicht früh am Morgen oder am Nachmittag erschossen worden. Vor einiger Zeit, vor ein oder zwei Tagen vielleicht. Die Fliegen hatten sich an seinem Gesicht zu schaffen gemacht. Und die Wasserratten auch? Nein. Grijpstra wischte sich mit seinem großen weißen Taschentuch das Gesicht ab. Keine Ratten. Etwas ist sonderbar. Was? Die Möbel. Warum sollte ein aus wenigen Zimmern bestehender Schuppen, eine an den Deich gelehnte Hütte, über einen solchen Reichtum an Möbeln verfügen? Es gab noch etwas anderes, das diese Beobachtung stützte. Was? Ja; der Sportwagen draußen. Ein teures neues Modell. Der Mann war vermögend, warum wohnte er also in einer Hütte? Und weshalb war alles so staubig? Was war doch noch schmutzig gewesen? Richtig, wieder der Sportwagen. Das Auto war mit Schlamm bedeckt. Ein ein Jahr alter Wagen, nie gewaschen.

Er stand auf, um die Leiche besser betrachten zu können. Er wollte die Kleidung sehen. Die Leiche trug einen Anzug, einen altmodischen mit Weste. Keine Krawatte. Schmutziges Hemd, ausgefranster Kragen. Er sah eine der Manschetten. Ebenfalls ausgefranst. Alte Schuhe. Grijpstra rückte ein wenig. Loch in der Sohle. Logischer Gedankengang. Reicher Mann, der sich vernachlässigt. Ja. Man betrachte den riesigen Sessel vor dem Fernsehgerät. Vermutlich der einzige Sessel, in dem der Mann jemals gesessen hat. Grijpstra warf einen Blick auf den Aschenbecher. Er war voller Stummel, Asche und zerknüllter leerer Zigarettenpackungen. Der Aschenbecher war übervoll. Leere Bierdosen lagen ebenfalls herum. Keine Gläser, nur Dosen. Wie viele? Grijpstra zählte und hörte bei fünfzig auf; es waren noch mehr. Ein sehr unordentlicher Mann. Nein. Irgendetwas stimmte da nicht. Was war es nur? Ja. Der Garten. Er ging einen Schritt nach vorn und konnte durch die offenen Fenster den Garten sehen. Einen wunderschönen Garten. Ordentliche Reihen mit Dahlien, Margueriten, Astern. Sträucher an der Seite. Das Kopfsteinpflaster unter dem Baum war gefegt, und der Gartenstuhl sah ebenfalls sauber aus. Was hatte das Mädchen gesagt? «Er ist immer im Garten.»

Also außen hui, innen pfui. Verrückt. Warum?

Aber da war noch etwas, was nicht stimmte. Wo war de Gier?

«Grijpstra», sagte de Gier. Er stand in der offenen Tür.

«Ja?»

«Es wird eine Weile dauern. Ich habe telefoniert, konnte aber bis auf den wachhabenden Brigadier keinen erreichen. Sie sind über die ganze Stadt verstreut. Da war eine Leiche im Kanal und eine im Park, und es gab irgendwo in einer Kneipe eine Schlägerei. Der Arzt hat ebenso zu tun wie die Fotografen und die Fingerabdruckleute. Wir müssen vielleicht einige Zeit warten. Der Hoofdinspecteur hat einen Tag freigenommen; seine Mutter ist sehr krank. Der Commissaris wird kommen. Er besucht Freunde und konnte nicht gleich erreicht werden.»

«Nein», sagte Grijpstra. «Was ist mit dem berühmten Stadtdienst? Von denen sollten zwei Wagen herumrasen, zwei Wagen voll mit Beamten. Inspecteure und Subinspecteure. Wo sind die?»

«Die haben zu tun», sagte de Gier. «Es ist ein heißer Abend.»

«Na, dann nimm Platz», sagte Grijpstra. «Dies ist ein seltsames Haus. Sieh dich mal um.»

«Grijpstra», sagte de Gier.

«Nein. Lass mich überlegen. Ich dachte an etwas, als du hereinkamst, und jetzt ist es weg.»

Grijpstra schloss die Augen; die dichten Brauen senkten sich und berührten fast die Augenhöhlen. Er runzelte die Stirn und ballte die Hände zu mächtigen Fäusten. Was? Ach, ja. Das Loch. Die Schusswunde. Direkt zwischen den Augen. Keine angesengte Wunde, also musste eine ziemliche Entfernung zwischen der Waffenmündung und dem Kopf des Opfers gelegen haben. Ein guter Schütze. Ein sehr guter Schütze. Ein ausgezeichneter Schütze, wenn man bedenkt, dass der jetzt tote Mann nahe am Fenster gestanden und nach draußen geschaut haben muss. Und der Mörder war im Garten. Ein Meisterschütze. Ein Profi. Das war der Gedanke gewesen, der ihm durch das langsame, schwerfällige Gehirn geschossen war. Niemand trägt Feuerwaffen in Holland. Eine Feuerwaffe zu tragen, ist ein Verbrechen. Sogar eine ungeladene Waffe in der Tasche eines Mannes zieht eine hohe Geldstrafe und einige Zeit im Gefängnis nach sich. Mit einer Spielzeugwaffe zu drohen, ist ein Verbrechen. Niemand erhält eine Lizenz zum Tragen einer Waffe. Wohl für den Schießsport. Aber nur, um die Waffe von zu Hause direkt zum Schützenclub und wieder zurück zu befördern, und zwar angemessen verpackt. Und selbst eine Sportschützenlizenz ist schwer zu bekommen. Man muss Formulare ausfüllen und Mitglied werden, und die Polizei will Referenzen. Aber hier war ein Mann aus einer gewissen Entfernung durch einen Schuss mitten zwischen die Augen umgebracht worden. Von einem Gangster? Und warum sollte bitte ein Gangster einen Mann erschießen, der tagsüber in seinem Garten arbeitet und abends auf den Fernsehschirm schaut? Einen Mann, der nicht einmal arbeitet? Der nur ausgeht, um etwas einzukaufen? Grijpstra stöhnte. In was waren sie da jetzt hineingestolpert? In einen Wahnsinnigen, der ein schreckliches Geheimnis hütet, und ein anderer Wahnsinniger kommt und bringt ihn vom Garten aus um? Nein. Amsterdam ist eine ruhige Stadt. Eine hübsch ruhige Stadt. Grijpstra hatte den ganzen Nachmittag mit dem Lesen von Polizeiberichten verbracht, in denen die täglichen Ereignisse von fast drei vollen Wochen standen. Diebstähle, Einbrüche, einige Fälle von Straßenraub, eine Messerstecherei, Selbstmorde, viele Feuer, ein Haus, das wegen seines Alters eingestürzt war und einem Kind das Bein zerschmettert hatte. Das Schlimmste, was sich in den vergangenen zwei Monaten ereignet hatte, war ein italienischer Bankräuber, der versucht hatte, mit einer alten Sten-Maschinenpistole zu schießen, die nach der dritten Patrone Ladehemmung hatte. Bei der Polizei wurde immer noch darüber gesprochen. «Maschinenpistolen», hatten die jungen Polizisten in den Kantinen gesagt, «demnächst kommen sie mit einer Kanone, und wir haben nur eine 7.65 mit sechs Patronen.» Und die Offiziere hatten die Polizisten angelächelt, ihnen den Kopf getätschelt und gesagt: «Na, na, na.» Und hier war ein Mann mit einem Loch zwischen den Augen.

«Grijpstra», sagte de Gier noch einmal.

«Ja, ja.»

«Er wurde vom Garten aus erschossen», sagte de Gier, «durch das offene Fenster.»

«Ich weiß.»

«Schau dir mal die leeren Bierdosen an.»

«Ich habe sie gesehen.»

«Dies ist ein Antiquitätenladen», sagte de Gier. «Woher mag er das ganze Zeug haben? Wertvoll ist es auch noch. Wenn das ganze Haus mit solchen Möbeln voll gestopft ist, muss er Antiquitäten im Wert von hunderttausend Gulden besessen haben. Warum hat er sich also nicht jemand genommen, der hier sauber macht? Und warum hat er seine Schuhe nicht geputzt? Oder sich ein neues Farbfernsehgerät besorgt, statt diese alte, krächzende Kiste zu behalten? Oder sich ein Hemd gekauft?»

«Tja», sagte Grijpstra.

«Verrückt», sagte de Gier. «Ein verrückter Kerl. Und warum hat man ihn umgebracht?»

«Und warum war er ordentlich im Garten und schlampig im Haus?», fragte Grijpstra.

«Ich weiß nicht», sagte de Gier. «Ich bin schlampig mit meinem Balkon und ordentlich im Haus. Genau umgekehrt. Aber nicht so schlampig wie dieser Vogel.»

«Er sieht aus wie ein Kaninchen», sagte Grijpstra, «nicht wie ein Vogel.»

«Wie ein Kaninchen?», fragte de Gier und stand auf, um das Gesicht des Toten sehen zu können. Er setzte sich wieder. «Ja. Ein harmloses Gesicht. Was werden wir also jetzt tun?»