Ketchup, Karate und die Folgen - Janwillem van de Wetering - E-Book

Ketchup, Karate und die Folgen E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Der Mann wehrt sich wütend. Immer wieder schlägt er mit seiner Krücke nach dem Polizisten, der ihm nachgesprungen ist, um ihn aus dem schleimigen Wasser der Gracht zu holen. Eine Zuschauermenge spendet begeistert Beifall, besonders als Brigadier de Gier sich auszieht, um seinem Kollegen zu Hilfe zu kommen. Abendliche Unterhaltung in Amsterdam. Besser jedenfalls als Mord und Totschlag. Einen Mord gibt es trotzdem. Die Leiche findet sich im Kofferraum eines Mercedes ... «Ein hochkarätiger Cocktail aus Spannung und Witz.» (NDR) «Als humane und witzige Mitteilung über das Leben der Menschen in der sacht vergammelnden und zunehmend sich kriminalisierenden Großstadt Amsterdam hat van de Weterings Buch kaum seinesgleichen.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Janwillem van de Wetering

Ketchup, Karate und die Folgen

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Teil 1EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfTeil 2EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehn
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Teil 1

Eins

Es war Freitagabend, und ungewöhnliche Sommerhitze hing noch unter dem sternklaren Himmel. Ein Volkswagen, altes Modell, zerbeult und an den Kanten verrostet, hielt an, bevor er von der Brouwersgrachtseite her auf die Brücke über die Keizersgracht fuhr. Ein gewöhnlicher Wagen mit zwei gewöhnlichen Männern.

Vielleicht doch nicht so gewöhnlich; der Fahrer galt als gutaussehend, besonders bei Frauen, und ein wenig davon war sogar durch das schmutzige Fenster zu erkennen, das der Brigadier herunterkurbeln wollte, es enthüllte so allgemein akzeptable Merkmale wie eine gerade Nase über einem schwungvollen Schnurrbart, sanfte, ausdrucksvolle Augen und dichte, sorgsam gekämmte Locken.

«Es funktioniert nicht!», sagte Rinus de Gier. Der Brigadier, beschäftigt bei der Amsterdamer Stadtpolizei, Abteilung Kriminalpolizei, ein erfahrener Mann vom Morddezernat, wandte sich seinem Vorgesetzten zu. «Das Fenster funktioniert nicht. Gestern ging es noch. Danach hast du den Wagen gefahren. Du hast es wieder mal mit Gewalt gemacht.»

«Ja», sagte Adjudant Grijpstra, «du hast recht. Was ich auch anfasse, geht kaputt. Fahr jetzt weiter.»

De Gier konzentrierte sich auf Grijpstras Gesicht und versuchte, die Gültigkeit und Ernsthaftigkeit des Befehls festzustellen. Er lächelte. Der Adjudant sah friedlich aus und solide in der Würde seines zerknitterten Nadelstreifenanzugs; eine Vaterfigur, zehn Jahre älter als der Brigadier, der mittlerweile auch älter wurde, da er die vierzig überschritten hatte. Grijpstras Körperhaltung charakterisierte ihn: ein Mann von Substanz, von Substanz der geistigen Art, ein erfahrener Beamter, vertrauenswürdig, gereift, während er mürrisch dem abstrakten Staat diente, verpflichtet, die Ordnung aufrechtzuerhalten, damit seine Millionen eigensinniger Bürger in ihrer egozentrischen Weise weitermachen konnten. Grijpstras ergrauter schwerer Kopf blieb teilnahmslos bei de Giers forschendem Blick, aber seine blassblauen Augen spiegelten verhaltene Ungeduld wider.

«Fahr weiter», sagte Grijpstra freundlich, aber nachdrücklich.

De Gier beobachtete die wachsende Menschenmenge, die sich unablässig auf der Brücke bewegte. Er schätzte die Haltung der Menge ab und nickte beifällig. Danach musterte er die Reihe der Giebelhäuser, die die Pracht des siebzehnten Jahrhunderts durch die Zweige majestätischer Ulmen entlang der beiden Grachten entfalteten.

«Ein herrliches Fleckchen, Grijpstra. Ich glaube, dies ist eine der besten Gegenden der Innenstadt. Wir sind umgeben von dekorativer, wunderschöner Architektur.»

Grijpstra streifte seine Uhr vom Handgelenk und ließ sie vor de Giers Augen baumeln. «Es ist nach halb elf, Brigadier. Wir sind überfällig im Präsidium. Unsere Aufgabe ist erledigt, und wir arbeiten an diesem Wochenende nicht. Das Wochenende hat begonnen.»

De Gier antwortete nicht. Grijpstra seufzte.

«Wir brauchen nicht hier zu sein, Rinus, wir müssen in einer Kneipe sein. Wir sollten schon unser erstes Glas bestellen. Du könntest mir eine Geschichte erzählen, und ich könnte dir zuhören.»

De Gier zeigte nach vorn auf ein Café, etwas nach rechts gelegen. Es nahm das Erdgeschoss eines stattlichen, herrlichen Gebäudes ein, und sein Schild, das Ziel von Brigadier de Giers langem und geradem Zeigefinger, verkündete in gefälliger Schrift BEELEMA; das Wort war von einer eisernen Blättergirlande umgeben.

«Ich bin seit Jahren nicht mehr bei Beelema gewesen, aber ich glaube, er lockt immer noch intelligente Gäste an.»

Grijpstra blieb ruhig, aber die Falten um seine Augen vertieften sich.

«Bier!», sagte er schwerfällig. «Aber dort will ich keins, und du darfst keins bekommen. Es bringt dich dazu, an Bäumen stehenzubleiben, und ich habe es satt, auf dich zu warten. Ich gebe dir einen Genever aus. Gehen wir.»

De Giers Blick huschte zur Menschenmenge zurück. Sie hatte sich seit kurzem verdoppelt und begann, die Uferstraße zu blockieren.

«Geh!» Grijpstra stieß mit dem Ellbogen in de Giers empfindliche Seite. «Dies hat mit uns nichts zu tun. Für Menschenmengen ist die uniformierte Polizei zuständig. Sie sind dort. Siehst du? Ihr Wagen steht hinter dem Laster, und dort ist ein Konstabel. Er kann sich darum kümmern. Er ist ein ausgezeichneter Konstabel. Er heißt Ketchup. Er ist von der hiesigen Revierwache.»

De Gier entschloss sich, nach einem kurzen Blick auf das Gesicht des Adjudant, auf Zeit zu spielen.

«Ketchup?», fragte er höflich.

Grijpstra versuchte, die Frage mit einer Handbewegung abzutun.

«Ja. Der Konstabel hat den Ruf, ein wenig gewalttätig zu sein; er ist dafür bekannt, dass er gelegentlich einen Verdächtigen blutig schlägt. Sein Kollege ist vom gleichen Kaliber, ein Kerl namens Karate. Vielleicht grob, aber in dieser Gegend ist das zu erwarten. Ketchup hat in sein Funkgerät gesprochen, er muss Verstärkung angefordert haben. Zum letzten Mal, Brigadier, lass uns abhauen, solange wir es noch können.»

De Giers ebenmäßige, aber etwas vorstehende Zähne blitzten. Er parkte den Wagen und stieg aus. «Nur eine halbe Minute, Adjudant, ich bin gleich zurück.»

«’n Abend», sagte Ketchup. «Haben Sie über Funk meine Bitte um Verstärkung gehört? Schnelle Bedienung, Brigadier. Ich kenne Sie. Erinnern Sie sich an den Abend auf dem Schießstand? Als Karate alle Preise gewann? Schade, dass das Präsidium den Sieg nicht davontrug, aber wir haben mehr Übung, nehme ich an. Sie waren auch in der Mannschaft, glaube ich.»

«War ich?»

«O ja. Karate ist selbstverständlich ein echter Meisterschütze, ein Sieger, aber im Augenblick steckt er ein bisschen in Schwierigkeiten. Er liegt in der Gracht. Er versucht, einen ertrinkenden Mann zu retten, der lieber absaufen möchte.» Ketchup musste den letzten Teil des Satzes schreien. Die Begeisterung der Menge nahm zu. «Tor!», schrie die Menge. «Hurra!»

De Gier bahnte sich mit den Schultern den Weg zur Brücke. Die blaue Uniform des schwimmenden Polizisten bot einen hübschen Gegensatz zur tiefgrünen Farbe des schleimigen Wassers der Gracht; dann wurde der beherzte Konstabel für einen Moment unsichtbar, als er tauchte, um dem Angriff des ertrinkenden Mannes auszuweichen, der mit seinem Stock auf ihn eindrosch.

Der Stock war eine Krücke. Der Brigadier wandte sich an Ketchup, der ihm zum Brückengeländer gefolgt war.

«Ist der Zivilist körperbehindert?»

«Ja, Brigadier.»

Ketchup lächelte beflissen. Er war ein kleiner Mann, und de Gier beugte sich herab, um den Untergebenen anzusprechen.

«Erkläre!»

Ketchup gehorchte sofort und unterwürfig. Das meiste von seinem Bericht ging im geballten Lärm der Menge unter. De Gier runzelte die Stirn.

«Sag mir», brüllte der Brigadier, «wie hat das angefangen?»

Ketchup versuchte, sich abzusetzen, aber die Menge schob ihn zurück an die Brust des Brigadiers. Er wiederholte seinen Bericht, schreiend, wobei er die Sätze verkürzte.

«Aha.» De Gier hatte gehört. Er reihte jetzt die Tatsachen aneinander. Karate und Ketchup, Fahrer und Beobachter eines Streifenwagens, hatten Befehl, einen Tumult zu untersuchen. Ein Straßenhändler, der an seinem Stand Matjesheringe mit Zwiebeln verkaufte, hatte seine Anzeige telefonisch ans Präsidium durchgegeben. Hippies, so sagte der Heringsmann, beeinträchtigten seinen Handel. Der Streifenwagen, aufgehalten durch dichten Verkehr und viele ordentlich abgesperrte Gebiete, in denen Straßen repariert wurden, kam zu spät. Der Matjesstand war geschlossen, und Hippies waren nicht zu sehen. Die Konstabel, enttäuscht, gingen nicht zu ihrem Wagen zurück. Bis jetzt war der Abend ereignislos gewesen, und sie hätten es begrüßt, etwas zu tun zu bekommen. Sie waren darauf aus, Unordnung aufzuspüren, und sie wurden angelockt von Geräuschen, die aus dem Café Beelema kamen. Die Geräusche stammten von zerbrechendem Glas und lauten Stimmen. Sie stürmten das Café. Karate, der den Angriff anführte, wurde von einer Krücke getroffen, die ein Betrunkener schwang.

Der Brigadier legte die Hände trichterförmig um den Mund und richtete seinen Schrei auf Ketchups Stirn. «Ihr fühltet euch also bedroht?»

«Stimmt, Brigadier.»

«Und ihr habt die Bedrohung beseitigt, indem ihr euren Mann in die Keizersgracht geworfen habt?»

«Stimmt! Damit wir vorübergehend Ruhe schaffen konnten. Da waren noch andere Unruhestifter: ein fetter Mann in Lederkleidung, eine männliche Hure im Nachtgewand und eine jüngere Frau, die schrie. Sie standen dem Krückenschwinger bei. Sie waren Rädelsführer. Da war ein Hund.»

«Er griff euch an?»

«Er knurrte.»

De Gier beobachtete den Polizisten, der an verschiedenen Stellen der Gracht auftauchte. Er zuckte die Achseln. «Ihr habt nicht nach euren Schusswaffen gegriffen?»

Ketchup lächelte höflich. «Nein.»

Der ertrinkende Mann wiederholte seinen Angriff Seine Krücke traf die Stelle, an der Karates Kopf gewesen war. Die Menge fand das gut. «Olé!»

«Bitte, Brigadier, helfen Sie Karate. Ich werde die Leute in Schach halten.» Ketchup hatte ein Schlupfloch gefunden, er machte sich davon.

De Gier begann, sich auszuziehen. Er nahm den Seidenschal aus dem Kragen seines taillierten Hemdes und schaute sich um. Grijpstra kam herbei und hielt seinen Arm hoch. De Gier legte den Schal ab. Er zog die Jacke aus. Er streifte die Riemen ab, die unter seiner Armhöhle die Schusswaffe gehalftert hielten. Er stieg aus seiner Hose. Ein Mädchen schob Grijpstra weg und bewunderte den sich ausziehenden Brigadier. Die Freundin des Mädchens schubste Grijpstra ebenfalls.

«Dufte», sagte das erste Mädchen.

«Ooh», sagte das zweite Mädchen und wiederholte den Ausruf, als de Giers breite Schultern, der lange und muskulöse Rücken, die schlanke Taille und die geraden Beine sichtbar wurden.

«Bisschen dünne Beine», sagte die erste, «was mir aber nichts ausmacht. Hübsch, nicht?»

Die zweite blieb bei ihrer ursprünglichen Bemerkung. Die erste stieß sie sanft an.

«Ja», sagte das zweite Mädchen. «Ich mag auch die Augen und die Locken. Ob wir uns den hinterher mal aufreißen?»

De Gier stieg über das Geländer, zögerte und sprang. Während er sprang, dachte er, es sei schade. Der Fall war nicht ungewöhnlich: Ein Betrunkener in einer Gracht kam vielleicht nicht jeden Tag vor, aber bestimmt einmal in der Woche. Er hatte, als er auf den Tumult aufmerksam wurde, etwas mehr erhofft. Er brauchte Arbeit, um die Leere des bevorstehenden Wochenendes auszufüllen. Er sah, als er fiel (der Verstand ist schnell), auf der sanften grünen Dünung der Grachtenoberfläche in ordentlichen Lettern einen Aphorismus. Leere ist des Teufels Kopfkissen. Dann änderte sich ein Wort. Leere ist des Rauchers Kopfkissen. An zwei unausgefüllten Tagen nichts zu tun zu haben würde ihn gewiss wieder veranlassen zu rauchen. Er hatte jetzt seit fünf Tagen nicht geraucht. Der drohende Friede und die entsetzliche Ruhe des bevorstehenden Wochenendes würden seine Bemühung zerbrechen. Das Wochenende würde ihn vernichten, es sei denn, klatsch! Das Aufklatschen sprengte sowohl Aphorismus als auch Nachdenken. (Der Verstand mag schnell sein, aber er bewegt sich dennoch innerhalb der Zeit.) De Gier, der Pflicht zu denken enthoben, machte die Empfindungen durch, nass und schmutzig zu werden. Ein Präservativ wickelte sich um seinen Zeh, eine aufgeweichte Zeitung trieb an seinem Mund vorbei, seine Handgelenke verfingen sich in einer blassgrünen Wasserpflanze. Er murrte und schüttelte das Präservativ ab. Die Zeitung schwamm weiter. Er zerriss die Wasserpflanze. Er bestimmte seine Position. Sein Körper hatte sich gedreht, während er fiel; er sah nicht mehr den Konstabel und den Zivilisten, sondern eine Reihe von Beinen. Sie gehörten zu ordentlich aufgereihten Zuschauern, die sich auf einem Baum niedergelassen hatten, der vom Alter gefällt worden war und die Gracht überquerte. Die Augen der Zuschauer waren feindselig. De Gier atmete aus; das sich kräuselnde Wasser reichte ihm bis zum Mund.

«Aufpassen!», rief Karate.

De Gier drehte sich um und sah einen blonden Kopf und eine rosa Hand. Der Gegner beobachtete ihn aus blutunterlaufenen Augen. Sein sprudelnder Mund blies eine Blase, einen Ballon – der mehr sein musste als nur ein Speichelhäutchen, denn er zerplatzte nicht –, der sich von den vorstehenden Lippen des Mannes lösen konnte und davonschwebte. Die Krücke war erhoben, bereit herunterzukommen, und de Gier breitete die Arme aus und setzte sich nach rückwärts in Bewegung. Die Krücke kam herunter und schoss wieder hoch. De Giers rudernde Arme verschafften ihm einen größeren Abstand.

Grijpstra hatte genug gesehen. Behindert durch rempelnde Körper und ertaubt von rauen Stimmen, mühte der Adjudant sich ab, kam frei und fand etwas abseits des Tumults einen verlassenen Handkarren, der an einen Baum gekettet war. Er kletterte auf den Karren, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht umzukippen, und bewunderte den Anblick – ein vollkommenes Quadrat, eingefasst von Brücke, Uferstraßen und umgefallener Ulme –, die Arena, in der der Gesetzeshüter seinen schrecklichen Gegner bekämpfte. Er wandte die Augen ab. Der Anblick mochte interessant sein, aber ihm gefiel der regelwidrige Verlauf dort nicht. Ihm war lieber, was außerhalb jenes Bereichs lag, und er beobachtete ruhiges Wasser, das zwei Gänse mit feurigrotem und rundem Schnabel sowie glitzernden Augen trug. Grijpstra glaubte, diese Szene zu kennen, und forschte in seinem Gedächtnis nach Assoziationen. Die gewünschte Information kam sofort. Er sah deutlich in seiner Erinnerung Gemälde, geschaffen von Melchior Hondecoeter, einem Künstler des Mittelalters, den Vögel stets inspiriert hatten. Der Adjudant sah Fasanen auf einem schneebedeckten Friedhof, eine riesige Waldschnepfe, die sich mit aufgeplusterter purpurner Kehle und halb erhobenen Flügeln gegen den Angriff eifersüchtiger Pfauen verteidigte, und rußschwarze Blesshühner, die auf einem Burgteich landeten, der von zerfallenden, moosüberwachsenen Mauern umgeben war. Er nickte, aber Hondecoeter hatte vergessen, diese exotischen Gänse zu porträtieren, wie sie in arroganter Pracht auf der grünen Dünung glänzenden Wassers dahinglitten, in dem sich hoch aufragende silbergraue Herrenhäuser spiegelten, die sich in ihrem hohen Alter aneinander festhielten.

Grijpstra schaute hoch. Die schmalen Giebelstrukturen trugen goldene Kugeln, die einen steinernen Engel flankierten, der seine Posaune hob. Die hohen Bäume, die eine große Last an Laub trugen, griffen nach dem Engel. Der Adjudant seufzte. Er würde dieses Bild gern malen, aber dazu benötigte er Ruhe und einen aufgeräumten Platz. Seine kleine Wohnung bot weder das eine noch das andere. Er dachte an seine plattfüßige, schwere Frau und den Überfluss an Möbeln, aufgestapelt unter niedrigen Zimmerdecken, in einem Dunst von Küchengerüchen.

Er war nahe daran, noch einmal zu seufzen, als ihn der schaukelnde Karren zu einem schrägen Tanz zwang. Eine alte Frau erkletterte den Karren, eine hässliche Gestalt, gekrönt von einem glänzenden Schädel, gesprenkelt mit Büscheln grauer hängender Haare. Sie blinzelte ihn an aus wässerigen Augen, eingeengt von aufgedunsenen Tränensäcken. Ihre Zähne klapperten, als sie sprach.

«Ist es nicht schrecklich? Ja, es ist schrecklich. Das da ist mein Nachbar Frits Fortune. Er tut keinem was. Es ist keine Sünde, betrunken zu sein. Ich bestelle noch Bier, und Frits will es holen und fällt. Seine Krücke fliegt weg und zerteppert ein paar Gläser. Wir springen auf, ich und die anderen, um Frits festzuhalten und das Bier zu retten, und wieder fällt er hin. Die Bullen stürzen rein. Sie hauen mit Polizeiknüppeln auf uns ein. Frits kommt vom Fußboden hoch und trifft mit seiner Krücke den Bullen, mitten in die Fresse. Unglücklicher Zufall; alle wissen, er meint es nicht so, aber die Bullen wissen das nicht. Sie schleppen Frits raus und werfen ihn in die Keizersgracht. Wir sind Freunde und legen deshalb ein Wort ein. Ich und Xavier, er ist der Barmann, und Titania, sie ist das Barmädchen, und Borry Beelema, er ist der Chef; ihm gehört auch der Frisiersalon auf der anderen Seite. Borry hilft immer, das tut er. ‹Gottes anderen Sohn› nennen wir ihn, wissen Sie? Borry greift sich also eine Flasche, und wir rufen alle: He, he, und die Bullen kommen zurück. Dann tun wir nichts, denn die Bullen haben Schießeisen.» Sie wedelte mit ihrer Klaue.

«Ja, Mevrouw», sagte Grijpstra.

Die Klaue zeigte nach vorn. «Es wird sein Tod sein, armer Kerl, und alles wegen einem Irrtum. Weil Onkel Harry Angst hatte vor den Taugenichtsen. Er ruft die Polizei und geht nach Hause. Kennen Sie Onkel Harry?»

«Nein, Mevrouw.»

«Verkauft Heringe, er ist in Ordnung. Aber wenn er an seinem Stand ist, kann er nicht weg, und die Taugenichtse kommen und brüllen ihm ins Gesicht. Schwache Nerven, die hat Onkel Harry. Die Taugenichtse sind rauschgiftsüchtig, hängen an der Spritze, das ist am schlimmsten. Es ist schrecklich, nicht?»

Grijpstra stimmte zu.

Die Frau klapperte fröhlich mit den Zähnen. Sie wandte sich dem Adjudant zu und bewunderte seine sauberen rosa Wangen, die schwer über die festen Kiefernknochen hingen. Eifrig bemüht, den Kontakt zu vertiefen, knuffte sie ihm in den Schenkel. Der Karren schaukelte.

«Vorsicht, Mevrouw.»

«Ja. Armer Frits, das hat er nicht verdient, nicht nach dem anderen Ärger. Wie Hiob hat er alles verloren.»

«Hiob?»

«Na, kommen Sie», sagte sie kokett. «Sie sind mein Jahrgang, Sie lesen die Bibel. Wie Hiob, der auf dem Scheißhaufen, der Mann, der Geschwüre kriegte. Hat alles verloren, nicht? Über Nacht arm und krank dazu, ist das nicht schrecklich?»

«Ja, Mevrouw. Hat Mijnheer Fortune ebenfalls alles verloren?»

«Ja. Gestern. Stellen Sie sich vor, er kommt nach Hause, hat den ganzen Tag gearbeitet, der arme Mann ist müde, ein guter Mensch, er öffnet die Tür, und da ist nichts.»

«Überhaupt nichts?»

«Nichts. Dort drüben. Sehen Sie das Hotel Oberon? Da nebenan. Ein altes Lagerhaus, aus dem sie Mietwohnungen gemacht haben. Er wohnt oben, ich wohne unter ihm. Daher weiß ich das. Frits kommt nach Hause, steckt seinen Schlüssel rein, öffnet die Tür, und da ist nichts.»

«Diebe?»

Sie piepste wie ein ängstlicher Vogel. «Keine Spur. Seine eigene Frau. Hat mich nicht überrascht. Rea Fortune, die blöde Zicke. Frits ist zu gut für eine blöde Zicke. Der Mann arbeitet, und die Frau hockt auf ihrem Hintern. Ist er zu Hause, schreit sie ihn dauernd an; der Fußboden ist zwar dick, aber ich höre sie trotzdem. Er verdient das Geld, und sie gibt es aus, das ist das Einzige, was sie kann.»

«Mevrouw Fortune war nicht zu Hause?»

Die Frau gackerte. «Nicht zu Hause? Nichts war im Haus. Er geht rein, und da ist nichts, bis auf gebohnerte Fußböden. Deshalb hat er die Krücke. Er rutscht aus und tut sich weh. Ich höre es und gehe rauf und helfe ihm die Treppen runter und bringe ihn zum Doktor. Er hat Schmerzen. Er ist lahm. Armer Frits. Aber sie hat alles mitgenommen, bis auf das Telefon, können Sie sich das vorstellen? Sogar der Hund ist weg, netter Hund, ein Pudel, Babette. Aber Babette kommt gestern am späten Abend zurück, kratzt und bellt, und Frits lässt sie rein, und heute Morgen ist der Hund wieder weg, ist das nicht schrecklich? Deshalb nehme ich Frits mit in die Kneipe, und alle wissen Bescheid und geben ihm einen aus. Und gucken Sie sich das jetzt an.»

Grijpstra guckte und nickte. Die ordnungshütende Macht kam heran; Frits Fortunes Bewegungen wurden eingeengt durch die Strategie de Giers und Karates. Er schwang immer noch die Krücke, aber weder kräftig noch zielgerichtet. Der Anblick ließ den Adjudant nicht freudig erbeben. Er wandte den Blick ab und bewunderte wieder die Gänse. Die Vögel, plump, als sie auf eine an einem Hausboot festgemachte Planke stiegen, wurden von einem heilig aussehenden alten Mann gefüttert. Grijpstra war nicht mehr bei der Sache, seine Gedanken kehrten zur Pflicht zurück. Er sah im Geiste einen Bericht und formulierte die erforderliche Feststellung: Während die gesamte Haushaltseinrichtung ausgeräumt wurde.

«Mevrouw Fortune hat keine Nachricht hinterlassen?»

«Nichts. Sie hinterlässt Leere.»

«Niemand sah einen Möbelwagen?»

«Keiner. Der arme Frits geht herum und fragt, aber tagsüber ist hier viel Betrieb; irgendwo steht immer ein Möbelwagen. Das fällt keinem auf. Er ruft seine Verwandten an, jeden, den er kennt. Mich auch, aber an dem Tag war ich die meiste Zeit nicht zu Hause.»

«Grijpstra!», rief de Gier.

«Hier.»

Der Brigadier und Karate schoben Fortune vorwärts. Grijpstra stieg vom Karren und nahm den Verdächtigen in Empfang. Ketchup fuhr den Streifenwagen heran. Die Menge näherte sich und wurde zurückgehalten von anderen Polizisten, die aus einem Kleinbus strömten. Frits Fortune, erleichtert, wieder auf trockenem Boden zu sein, und ermutigt durch freundliche Gesichter in der Menge, schlug Ketchup auf die Mütze. Die Menge johlte, und Grijpstra ging zu seinen Kollegen und sprach liebevoll auf die feindseligen Zivilisten ein, mit wohlwollendem Augenzwinkern.

«Sie sind auch ein Bulle», kreischte die alte Frau.

«Ja, Mevrouw.»

«Kümmern Sie sich um den armen Frits.»

«Das werden wir», sagte Ketchup. «Wir werden ihn in der Ausnüchterungszelle auf und ab hüpfen lassen, und er kann sich die ganze Nacht in seinem eigenen Dreck wälzen. Und wenn er uns morgen nicht mit ‹Mijnheer› anredet, werden wir ihn noch ein bisschen länger behalten.»

Grijpstra legte den Arm um Ketchups Schulter und nahm ihn beiseite. «Blödmann.»

«Wie bitte, Adjudant?»

«Ich sage, du bist ein Blödmann. Du solltest keine Körperbehinderten in die Gracht werfen. Und du solltest dich nicht in Kneipen schlagen. Wenn es in einer Kneipe Ärger gibt, solltest du in der offenen Tür stehen bleiben und warten, bis er abgeklungen ist, und dann solltest du hineingehen. Lernt ihr das nicht mehr in der Schule?»

«Doch, Adjudant, aber heute Abend war es anders. Karate war ein bisschen nervös und ich auch. Wir wollten das schnell erledigen.»

«Das habt ihr nicht. Ihr habt es verschlimmert und provoziert. Ich werde die Angelegenheit melden. Ich sage dir das jetzt, damit du weißt, was auf euch zukommt.»

«Ja, Adjudant.»

«Kümmert euch um den armen Frits.»

«Ja, Adjudant.»

De Gier hatte sich angezogen. «Seltsam, dieser Verdächtige, weißt du. Er machte Blasen. Wie mit Bubblegum, aber es war keins.»

«Der Mann war verstört.» Grijpstra gab seine Informationen weiter.

De Gier hörte zu, während er sein Haar mit dem Schal trocknete. «So? Das hört sich für mich nicht richtig an.»

«Das hört sich überhaupt nicht richtig an», sagte Grijpstra, «aber die im Café können es erklären und uns inzwischen einen einschenken.»

De Gier schüttelte den Schal.

«Ich möchte nichts trinken, ich möchte rauchen.»

«Die werden Nikotin haben.»

«Solches wie in Zigaretten?»

«Selbstverständlich und wie in Shagtabak und in Zigarren.»

«Aber ich habe aufgehört zu rauchen.»

Grijpstra betrat die Kneipe. De Gier blieb stehen und beobachtete einen Radfahrer. Es war ein schlanker, behaarter Herr, gekleidet in einen dreiteiligen Sommeranzug, vervollständigt durch einen altmodischen Filzhut. Das Fahrrad war neu, aber ein verbogenes Pedal schlug gegen das Kettenschutzblech, das monoton klirrte. Enten, geweckt von dem sich melancholisch wiederholenden Geräusch, schnatterten schlaftrunken. Die beiden rotschnabeligen Gänse schrien kurz. Der alte Mann, der sie gefüttert hatte, räusperte sich traurig. Aus einem glänzenden Mercedes vor dem Oberon, das auf der anderen Seite der Gracht die fünf schönsten Häusergiebel einnahm, stieg ein dicker Mann aus.

Grijpstra kam wieder aus der Kneipe, ergriff den Brigadier beim Arm, machte mit ihm kehrt und schob ihn zur Tür hinein.

«Ich habe es irgendwo gelesen», sagte Grijpstra, «in einem Buch mit Beispielen für korrekte Berichte, die auf echten Fällen basieren. Ein Mann wurde wütend, weil seine Frau ihn nervte. Er nahm eine Vase und zerbrach sie auf ihrem Kopf, was sie tötete. Die Leiche fiel auf den Teppich und blutete stark. Der Mann rollte die Leiche in den Teppich und grub in seinem Garten ein großes Loch. Er warf das Bündel ins Loch, bedeckte es mit Erde und behauptete: ‹Meine Frau hat mich verlassen; ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist.›»

«Ja», sagte de Gier, «und so hat er sowohl die Leiche als auch die Spuren seines Verbrechens beseitigt. Ich erinnere mich an den Bericht, aber darin wird nur ein Teppich erwähnt, nicht der gesamte Hausrat. Dieser Fall ist anders.»

«Jeder Fall ist anders, die Prinzipien sind oft identisch.»

«Stimmt.»

«Wir haben geschlossen», sagte der Barmann. Er trug einen Latzoverall aus imitierter Seide. Weiches Haar floss über den Latz. Er hatte ein griechisches und göttliches, aber nicht mehr junges Profil.

«Polizei.»

Der Barmann las die beiden plastiküberzogenen Dienstausweise und betrachtete die Stempel, die Fotos und die rotweißblauen Diagonalstreifen. Er legte sie auf die Theke und schnippte sie mit dem Daumen hinüber zu einem kleinen, älteren Mann, der an der Bar saß. «Noch mehr von der Sorte, Borry.»

Der Mann musterte die Ausweise und gab sie den Kriminalbeamten zurück. Er befühlte seinen Bauch, der sich unter einer Lederweste vorwölbte, zupfte an seinen krausen Koteletten und lächelte überzeugend.

«Getränke sind umsonst, meine Herren. Ich bin Borry Beelema. Mir gehört dieser Laden, und mein Frisiersalon auf der anderen Seite des Wassers steht Ihnen zu Diensten, falls Sie besser aussehen möchten als jetzt. Titania, frage meine Freunde, was sie möchten.»

Eine junge Frau präsentierte sich hinter der Bar.

«Titania?», fragte Grijpstra.

«Titania, zu Ihren Diensten. Was wünschen unsere Gäste? Einen dreifachen Whisky mit einem Schuss Cognac? Eis mit Schlagsahne? Einen vergoldeten Strohhalm? Nennen Sie bitte Ihre Wünsche.»

Grijpstra verzog die Lippen.

«Nicht diese Art von Wunsch», sagte das Mädchen geziert.

«Zwei Genever, Juffrouw.»

Grijpstra wandte sich de Gier zu. Der Brigadier bot ihm keine Hilfe an. Sein Blick galt nicht Titania, sondern der halb entblößten oberen Hälfte einer jungen Dame auf einem Plakat. Grijpstra korrigierte seine Beobachtung. De Gier schaute auf die Hand der jungen Dame. Die Hand hielt eine Zigarette.

De Gier fluchte.

«Wie bitte?»

De Gier lächelte strahlend. «Nichts, Adjudant. Ich habe an etwas gedacht. Mach nur weiter.»

Zwei

«Ich bedaure, feststellen zu müssen, dass die in nobler Vergangenheit geborene und sich in eine leuchtende Zukunft erstreckende Tradition der Polizei keine …»

«Ja», sagte Brigadier Jurriaans sanft.

«… erbärmliche Gegenwart gestattet. Zwei von deinen Männern, gekleidet in die Uniform der Königin, haben der Truppe gestern Abend Schande gebracht. Ich bin hier, um mich zu beschweren.»

«Das nehme ich an.»

Die beiden Männer kamen einander über dem abgewetzten Tresen im vorderen Büro der Revierwache in der Innenstadt mit den Köpfen näher. Grijpstra trug seinen üblichen zerknitterten dreiteiligen Nadelstreifenanzug, der jetzt in traurigem Gegensatz zur untadeligen Uniform Brigadier Jurriaans stand. Grijpstra seufzte und machte sich bereit, der Kraft dieses großen und breitschultrigen Kollegen entgegenzutreten und sich dem festen Blick zu widersetzen, der auf ihn aus einem stark faltigen Gesicht unter der Fülle kurz geschnittenen orangefarbenen Haars gerichtet war.

«Möchtest du Kaffee?», fragte ein weiblicher Konstabel. Grijpstra seufzte jetzt vor Vergnügen. Er stellte fest, dass der junge Konstabel gut gebaut war und ihn aus ungewöhnlich großen und blitzenden blauen Augen anschaute. Sie war klein und schlank, aber ihre Brüste schienen beträchtlichen Druck gegen das steife Material ihrer Jacke auszuüben. Die Intensität ihrer Augen verwirrte ihn jedoch, und er schaute wieder den Brigadier an. Der rieb sich das Gesicht. Die steifen Haare auf seinem Handrücken erinnerten Grijpstra an abgeriebene Karotten.

«Bitte, meine Liebe», sagte Jurriaans, «und ich habe nichts dagegen, wenn du dem Racheengel auch einen servierst. Schließlich ist er Kollege und hat einen höheren Dienstgrad, und vermutlich hat man ihn geschickt, er kann nichts dafür.»

Das Mädchen kicherte. Der Adjudant versuchte, sie zu ignorieren. Er konnte es nicht. Er sah mehr in ihren Augen, als er wollte. Wissend, dachte Grijpstra, und geil. Sie kennt alles. Wie kann sie alles kennen? Sie ist zu jung.

Der Konstabel ging, wobei sie graziös mit dem kleinen, festen Hintern wackelte.

«Lass sie nur», sagte Brigadier Jurriaans, «ältere Männer amüsieren sie. Sie gefallen ihr außerdem. Sie hat einen Vaterkomplex. Wenn du mit deinen gewichtigen Worten fertig bist, werde ich dir eine Geschichte über sie erzählen. Es ist an der Zeit, dass wir die Neuigkeiten des Tages austauschen, wir sehen einander nicht mehr sehr oft.»

Grijpstras Blick lag wieder auf dem Mädchen. Brigadier Jurriaans hüstelte höflich.

«Ach ja», sagte Grijpstra. «Sie ist von hinten so hübsch wie von vorn. Warum bekommen wir nie weibliche Assistenten? Cardozo ist nicht zu vergleichen mit … wie heißt sie?»

«Asta.»

«Asta. Und man hat mich nicht geschickt, Jurriaans, wie du weißt.»

«Ich weiß. Was ist passiert?»

«Zwei von deinen Konstabeln, Ketchup und Karate, haben gestern Abend einen Körperbehinderten in die Keizersgracht geworfen. Eine aufgebrachte Menschenmenge musste von sechs uniformierten Kollegen, meinem Brigadier und mir zurückgehalten werden. Mein Brigadier musste sogar schwimmen. Ein unnötiger und peinlicher Tumult. Außerdem unvernünftig. Deine Konstabel haben die Unannehmlichkeit provoziert. Es gab keine Beschuldigung gegen den Behinderten. Vermutlich wird es jetzt eine geben. Falls ja, verlange ich von dir, dass du sie zurückziehst, dich bei dem Zivilisten entschuldigst und disziplinarische Maßnahmen gegen die Konstabel ergreifst.»

Der Brigadier nickte. «Gut. Aber es ist meine Schuld. Nicht nur bei diesem Vorfall, sondern bei allem. Ich gebe es freimütig zu, damit wir auf unseren verschiedenen Wegen weitermachen können. Weißt du, warum man mir die Schuld geben sollte?»

«Erzähl mal», sagte Grijpstra und rührte den Kaffee im Pappbecher um, den Asta ihm gereicht hatte, deren Attraktivität er diesmal nicht wahrnahm. Er nahm den Plastiklöffel und steckte ihn in den Becher des Brigadiers. Der hielt Grijpstras Löffel zusammen mit seinem eigenen fest und rührte ebenfalls. Dann nahm er beide Löffel und steckte sie in Grijpstras Becher. Der nahm sie heraus, hielt sie eine Weile in der Hand und warf sie in einen Abfalleimer.

Jurriaans lächelte. «Eins zu null für mich. Du bist dran. Aber vorher will ich dir erzählen, warum ich an allem schuld bin, was schiefgeht, hier und überall. Es hat mit meiner Geburt zu tun. Ich hätte zurückschlüpfen können, tat es aber nicht. Indem ich diese anfängliche Wahl traf, wurde ich Teil einer inakzeptablen Situation, die ich – und nicht in meiner Unschuld, versichere ich dir – akzeptierte. In diesem schicksalhaften Augenblick wurde ich mit universeller Schuld beladen.»

«Stimmt.»

«Nachdem das aus dem Wege ist, werde ich vom Allgemeinen zum Besonderen übergehen. Ich bin auch verantwortlich für das System, das neues Blut in die Polizei bringt. Kannst du mir noch folgen?»

Grijpstra lächelte unverbindlich.

«Ich folge dir.»

«Weißt du, wie das System funktioniert, jetzt, meine ich?»

Grijpstras Lächeln erstarrte.

«Nein, weil du und ich zur gleichen Zeit angefangen haben, ich aber bei der uniformierten Abteilung und dann der Basis näher bin. Ich weiß, was los ist, und ich erinnere mich, wie es mal war. Zu unserer Zeit blies einem ein Commissaris Zigarrenqualm ins Gesicht, und wenn man nicht umfiel – die waren nicht wirklich korrupt, wie du dich erinnern wirst, die rauchten alles, was die Zivilisten ihnen gaben –, war man akzeptiert. Es war eine harte Prüfung, aber eine ehrliche. Jetzt ist es anders. Der strebsame Anwärter steht einem Psychologen mit dem akademischen Grad einer angesehenen Universität und einem starken, krankhaften Muskelzucken im Gesicht gegenüber, der eine nicht ziehende Pfeife in einem kleinen Zimmer raucht, in dem sich Fliegen die Köpfe am Fenster zerschmettern. Er muss Fragen beantworten, die ihm der Psychologe von einem Formular vorliest, auf dem auch die richtigen Antworten stehen. Manchmal liest der Psychologe auch die Antworten vor.»

«Was für Fragen?»

«Nach Hobbys. Hat der junge Mann Hobbys? Die Antwort sollte lauten ‹Blumen züchten› oder ‹Puzzle zusammensetzen›, aber unser Bursche weiß das noch nicht und sagt in seiner Unwissenheit, dass er gern Leute verprügelt. Der Psychologe weiß, was zu tun ist. Er sagt: ‹Hihi, das werde ich nicht hinschreiben, Mijnheer, Sie scherzen, aber später werde ich festhalten, Sie hätten Sinn für Humor, und das ist noch etwas, das heute bei der Polizei gebraucht wird; die richtige Antwort ist …› Was habe ich soeben gesagt?»

«Gedichte machen.»

«Richtig. Also hilft der Psychologe dem Burschen weiter und sagt: ‹Sie machen gern Gedichte, wie?› Und der Bursche sagt: ‹Und ob.› Und der Psychologe sagt: ‹Lassen Sie mal was von Ihrer Kunst hören, Mijnheer.› Und der Bursche deklamiert:

Flüchtig den Himmel durchschwirrend

für Krone und Kirche, ich fliege …

Und der Psychologe sagt: ‹Gut, gut, mehr nicht, Mijnheer, nicht in diesem elenden kleinen Zimmer, in dem die Fliegen ans Fenster klatschen und meine Pfeife die bereits verpestete Luft vergiftet. Meine Güte, sind Sie empfindsam; die Polizei sollte stolz sein, Sie willkommen zu heißen. Welche Sportarten bevorzugen Sie?›»

«Puppen erschießen», sagte Grijpstra, «mit vergifteten Pfeilen.»

«Genau, und der Psychologe überprüft sein Formular, schüttelt den Kopf, würgt und flüstert schließlich: ‹Bälle, Mijnheer, Bälle!› Und der Bursche versteht nicht sofort und ruft: ‹Was meinen Sie, was meinen Sie?› Und der Psychologe steht auf und fängt an, durchs Zimmer zu dribbeln, wobei er so tut, als fange und werfe er Bälle, und am Ende sagt der neue Bursche, nachdem er so ziemlich alles gesagt hat – die können sich wirklich engagieren, weißt du, manchmal gibt es Schlägereien, oder sie hauen die Möbel kaputt –, jedenfalls am Ende kapiert der Bursche und sagt, er spiele viel Fußball, Badminton, Rugby, Pelota, Jokari, Volleyball, Squash, Tennis und so weiter, und der Psychologe hakt auf seinem Formular eine Menge ab, denn er ist ein geistiger Krüppel und kann täglich nur wenige Stunden arbeiten, und es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Sie kommen also zum letzten Punkt, und er fragt den Burschen, ob er jemals von der Königin träumt, und der begreift und sagt, ja, das tue er.»

«Also schwänzt er oft die Schule, aber er bringt das Jahr hinter sich, und sie stecken ihn in Uniform und schicken ihn dir», sagte Grijpstra.

«Und was mache ich mit ihm? Schieße ich ihm zwei Löcher in den Bauch und lege ihn in der Akte ab? Oder bewahre ich ihn im Kühlschrank hinter dem Bier auf?»

«Nein.»