Der Commissaris fährt zur Kur - Janwillem van de Wetering - E-Book

Der Commissaris fährt zur Kur E-Book

Janwillem van de Wetering

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Beschreibung

Luku Obrian, der Fürst im Amsterdamer Rotlichtbezirk, ist erschossen worden. Die Liste der Verdächtigen ist lang, denn er hatte viele Feinde. De Gier und Grijpstra ermitteln im Milieu. Der Commissaris will zur Kur nach Österreich, doch dann lernt er Onkel Wisi kennen, und plötzlich sieht er den Mord in einem völlig anderen Licht ... «Ein Krimischreiber der Superlative.» (Time) «Was die Reihe so einnehmend macht, ist, dass die Polizeimänner ebenso exzentrisch, kompliziert und menschlich sind wie die Verbrecher.» (The Washington Post)

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Janwillem van de Wetering

Der Commissaris fährt zur Kur

Roman

Aus dem Englischen von Hubert Deymann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißig
[zur Inhaltsübersicht]

Eins

Adjudant Grijpstra schlief, eingemummt zwischen nagelneuen Schlafsäcken aus Armeebeständen, die um eine Schaumgummimatratze gewickelt waren. Bis auf die Campingausrüstung und den schnarchenden massigen Grijpstra war das Zimmer leer. Obwohl die Wohnung an der Amsterdamer Olieslagersgracht alt war und der Adjudant sie schon vor vielen Jahren gemietet hatte, sah das Zimmer neu aus. Seine Wände waren vor kurzem getüncht und der Fußboden geschliffen worden, sodass alle Spuren der Abnutzung verschwunden waren. Die anderen Zimmer im Obergeschoss waren ebenfalls hergerichtet worden, vor allem von Grijpstra selbst, aber auch von seinem Freund und Mitarbeiter, Brigadier de Gier. Der Brigadier war gekommen, gleich nachdem Mevrouw Grijpstra und die Kleinen ausgezogen waren, eingezwängt in einen Lastwagen, der mit den Möbeln der Familie und ungezähltem Kleinkram vollgestopft war. Nur der Adjudant war zurückgeblieben, gleichsam vergessen, sich selbst und seiner Arbeit überlassen; dem Aufspüren von Missetätern, die von der Mordkommission oder dem Dezernat für Kapitalverbrechen der Amsterdamer Polizei gesucht wurden.

Jetzt war auch de Gier nach einem langen und arbeitsreichen Wochenende gegangen. Er hatte seinen Vorgesetzten unbelastet von Besitztümern und in glücklicher Geistesverfassung zurückgelassen. Grijpstras Glück hatte bis in seinen Schlaf hinein angedauert und würde jetzt aufhören, um halb vier am Montagmorgen.

Das Telefon klingelte. Der Adjudant öffnete das linke Auge und tastete mit der rechten Hand den Fußboden ab. Als er sie zurückzog, hielt sie eine Pistole. Der Adjudant befahl seiner Hand, die Waffe hinzulegen und es noch einmal zu versuchen. Diesmal gab sie ihm den Telefonhörer.

«Was ist?»

«Ich habe ebenfalls geschlafen», sagte de Giers Stimme anklagend, «aber anscheinend hat es einen Mord gegeben.»

«Warum sagst du mir das?»

«Ich sage es dir nicht nur, sondern ich werde dich auch abholen, gleich, denn jetzt liege ich noch im Bett.»

«Tstsschik.»

«Was sagst du? Ich habe dich nicht ganz verstanden.»

«Ich habe mit den Lippen geschmatzt», sagte Grijpstra geduldig, «um etwas Spucke zu bekommen, weil mein Mund trocken war. Das ist er oft, wenn ich geschlafen habe. Wo war dieser Mord?»

«Sint Olofssteeg, Ecke Zeedijk.»

«Du übertreibst», sagte Grijpstra. «Wie so oft. Vielleicht ist es nur ein bisschen Totschlag, Brigadier, und ich werde nicht mitkommen. Versuch’s bei Cardozo, der mag so kleine Sachen. Mach gute Arbeit. Bis später.»

«He.»

«Ich bin dabei», sagte Grijpstra freundlich, «den Hörer aufzulegen.»

«Halt!», brüllte de Gier. «Ich hab gesagt, es ist Mord! Mit einer automatischen Waffe. Nicht nur ein fehlplatziertes kleinkalibriges Geschoss, sondern ein regelrechter Feuerhagel. Ein tödliches Knattern; die Leiche wird dir gefallen.»

«Kenne ich den Toten?»

«Aber sicher.»

Grijpstras Zehen tasteten nach dem Fußboden. «Wer?»

«Luku Obrian», sagte de Gier triumphierend.

Wäre Grijpstra ganz wach gewesen, hätte er vielleicht geschrien. Aber er war nur ein bisschen wach und brummelte etwas lauter. «Der Herrscher des Viertels? Ermordet? Verdammt sei seine schwarze Seele!»

«Hätten wir seine Seele nicht auch gern gehabt?», murmelte de Gier sehnsuchtsvoll. «Sie entkam», sagte er laut, «und der Mörder ebenfalls. Aber ihn gibt es noch, und wenn du dich anziehen und rauskommen würdest, könnten wir ihn schnappen.»

Grijpstra ließ den Hörer fallen und zog sein Hemd an, die Rückseite nach vorn. Er zog es aus und an, wiederum falsch. Erschöpft setzte er sich hin und überlegte, bis ihn das lärmende Scheppern eines Mülleimers, gegen den draußen ein Betrunkener gestolpert war, an den Brigadier erinnerte, der gewiss schon auf halbem Wege zu ihm war.

De Gier kam in einem neuen Volkswagenmodell, bereits rostig und zerbeult. Grijpstra zwängte sich in den Wagen. «Der Commissaris dürfte ebenfalls auf dem Wege sein», sagte der Brigadier. «Die Revierwache im Nuttenviertel hat ihn direkt benachrichtigt. Er wird Cardozo abgeholt haben. Ein prima Mord, Adjudant, er wird sehr nützlich sein.»

«Für wen?»

«Für uns.» De Gier strich seinen Schnurrbart zurecht, der so geschnitten war, wie ihn die Kavallerie der Königin im vorigen Jahrhundert trug. Mit seinen großen braunen Augen warf er einen Blick auf seinen Beifahrer. De Giers stark riechendes Aftershave veranlasste Grijpstra, das Fenster herunterzukurbeln. Der Brigadier sah flott aus in seiner engen, frisch gewaschenen Hose und der maßgeschneiderten Jacke mit den breiten Aufschlägen sowie dem locker geknoteten Seidenschal.

Grijpstra saß schwerfällig da in seinem Nadelstreifenanzug mit Weste. Die Hände hielt er über den Bauch gefaltet. Der Wagen fuhr doppelt so schnell, wie gesetzlich erlaubt, aber de Gier war ein guter Fahrer. Fröhlich sprach er über Abfall und Beseitigung und sechs schwarze Löcher in einer Brust von gleicher Farbe.

Der Wagen raste durch Amsterdams Innenstadt. Grijpstra schaute an die Wagendecke, um die vorbeiflitzenden Laternenmasten und die peitschenden Baumäste nicht zu sehen. Er riss am Schiebedach und betete zum Himmel, der unerschütterlicher als die verschwimmenden Gegenstände war.

«Nein!», schrie de Gier.

Grijpstra stöhnte. «Was heißt hier nein?»

«Das kann nicht wahr sein», sagte de Gier. «Nicht einmal in Amsterdam. Hast du das auch gesehen?»

Die drei Männer, weit hinter dem Wagen, fuhren auf Rollschuhen. Es waren sehr vornehme Herren, korrekt gekleidet, in makellos weißen Hemden unter dreiteiligen Anzügen mit gut gebundenen Krawatten und angemessenem Haarschnitt, nicht zu lang und nicht zu kurz. Sie trugen neue Aktentaschen, schwangen den freien Arm im gleichen Takt und fuhren mühelos auf dem glatten Asphalt in Richtung Dam und des Nationaldenkmals auf diesem Platz, vielleicht in der Absicht, es dreimal zu umrunden, um dem Land die Achtung zu erweisen.

«Was hast du gesehen?», drängte Grijpstra. «Was gibt es um vier Uhr morgens zu sehen?»

De Gier erklärte es. Grijpstra brummte.

«Also wirklich», flehte de Gier. «Drei rollschuhfahrende Herren, gelassen auf dem Weg wohin?»

«Zu ihrem Büro. Gleitende Arbeitszeit. Wen kümmert’s? Wir fahren zum Sint Olofssteeg. Dort drüben. Rechts rein. Pass auf den Radfahrer auf.»

Der Volkswagen wich dem Radfahrer aus, aber der fiel dennoch um, und das Auto hielt an. Grijpstra stieg aus. «Alles in Ordnung?»

«Nein», sagte der Betrunkene. «Ich bin soeben vom Rad gefallen.»

Grijpstra stieg wieder ein. «Herren», murmelte de Gier. «Auf Rollschuhen.»

Grijpstra hantierte mit einer Zigarre. Der VW fuhr mit einem Satz los. Die Zigarre zerbrach. Grijpstra warf sie zum Fenster hinaus. «Warum nicht? Es gibt Herren und Rollschuhe. Diese Begriffe können kombiniert werden.»

«Um vier Uhr morgens?»

«Alles ist miteinander verbunden», sagte Grijpstra. «Man schaffe nur die Möglichkeit dazu. Und einen Zeitpunkt dafür muss es auch geben. Was ist so schlimm am frühen Morgen?»

Der Wagen fuhr auf den Zeedijk; sie hielten an. Die Kriminalbeamten schlenderten zur Gasse. Niemand wartete auf sie, aber ihr Eintreffen schien willkommen zu sein. Der Commissaris streckte eine kleine Hand aus und ließ sie sich schütteln, zuerst von Grijpstra, dann von de Gier. Der Commissaris war alt, ein unbedeutender Schatten neben dem großen uniformierten Brigadier mit dem roten Haar. «Hallo, Jurriaans», sagten Grijpstra und de Gier gleichzeitig. «Hallo, Cardozo.» Dieser stand auf der anderen Seite vom Brigadier und kontrastierte ebenfalls mit dessen martialischer Gestalt, denn Cardozo war jung, locker, nachlässig mit einer abgetragenen Samtjacke und einer zerknautschten Cordhose bekleidet. Cardozo hatte ein klassisches Profil, und seine Augen, zu groß für sein Gesicht, glänzten neugierig. Er konnte nicht ruhig bleiben und zog Grijpstra am Ärmel. «Komm, Adjudant, die Leiche ist drüben.»

Die Leiche begrüßte die Neuankommenden mit breitem Grinsen zwischen verzerrten Lippen, wobei sie starke weiße Zähne mit hervorragenden Goldfüllungen entblößten. Obrian war im Tod ebenso imposant, wie er im Leben gewesen war. Sein zugeknöpftes weißes Leinenjackett war mit Blut befleckt, das auf die Hose getropft und dann entlang den tadellosen Bügelfalten bis zu glänzenden weißen Lederstiefeln gelaufen und geronnen war.

«Da hat ihn ein Meisterschütze erwischt», sagte Jurriaans, hockte sich hin und zeigte auf die blutigen Löcher im Jackett. «Sechs Schüsse, alle in die Brust. Maschinenpistole, meinen die Experten. Mit einer automatischen Waffe richtig zu zielen ist nicht einfach. Eine hervorragende Arbeit, Kollegen.»

Die enge Gasse war voller Menschen, und überall waren Polizisten in Uniform und Zivil. Grijpstra und de Gier nickten Bekannten zu. Zwei Konstabel kamen, um den Toten zu betrachten. Die Konstabel ähnelten sich.

«Hallo, Ketchup», sagte Grijpstra. «Hallo, Karate.»

«Hallo», sagte de Gier.

«Die haben den Halunken ganz schön erwischt, nicht wahr?», fragte Karate.

«Wer?» Der Commissaris kam herangeschlurft, auf seinen Stock gestützt. «Wer hat ihn erwischt, Konstabel?»

«Schwer zu sagen, Mijnheer. Und so nahe bei unserer Wache. Wir hörten den Mörder feuern, aber wir dachten, die Heizung sei wieder mal nicht in Ordnung; vor kurzem hatten wir statt heißem Wasser Luftblasen in den Rohren. Oder vielleicht ein Wagen mit kaputtem Schalldämpfer.»

«Und du?», fragte der Commissaris Brigadier Jurriaans.

«Mir war auch nicht klar, dass da was nicht stimmte.»

«Wie hast du es denn erfahren?»

«Der verrückte Chris hat es uns gesagt, Mijnheer.»

«Und wer ist der verrückte Chris?»

«Er trinkt Methylalkohol, Mijnheer», sagte Ketchup. «Der alte Dachs hatte Obrians Wagen beobachtet. Der verrückte Chris verkauft tagsüber Gemüse und so ’n Zeug von seinem Karren und kann nicht schlafen, deshalb ist er auch nachts hier. Einer aus Obrians Gefolge, Mijnheer, unbezahlt selbstverständlich und dumm genug, kleine Aufgaben zu übernehmen, wie das Bewachen des Porsche; nagelneue Maschine mit allen Extras.»

«Hat der verrückte Chris den Mord gesehen?»

«Nicht so richtig», sagte Jurriaans. «Das wäre zu schön gewesen. Er hörte Schüsse und sah Obrian fallen, so weit ganz gut, aber Chris dachte nicht daran, festzustellen, woher die Kugeln kamen. Er verlor den Kopf und rotierte ein Weilchen, es dauerte ein bisschen, bis er begriff, dass er uns rufen sollte.» Jurriaans streckte den Arm aus. «Dort stand der Mörder, Mijnheer.»

Der Commissaris schaute auf das Obergeschoss des Eckgebäudes. «Die ausgebrannte Ruine?»

«Ein Sexladen, der seine Rechnungen nicht bezahlen konnte. Gültige Versicherung, ein Streichholz und eine alte Zeitung. Vergangene Woche, Mijnheer. Wird demnächst abgerissen.»

«Spuren», sagte der Commissaris. «Die Fährte ist frisch. Drinnen wird es jede Menge Holzkohle geben, in der sich Abdrücke gut halten. Haben wir Abdrücke?»

Cardozo wollte losflitzen. Jurriaans hielt ihn zurück, Kamerablitze waren im Gebäude zu erkennen. «Du brauchst jetzt nicht hineinzugehen», sagte er freundlich. «Du könntest im Wege sein.»

«Maschinenpistole?», fragte der Commissaris. «Warum?»

Jurriaans wandte sich schwerfällig dem alten Mann zu. «Ein Knattern, Mijnheer, sagen der verrückte Chris und eine alte Dame weiter hinten in der Gasse. Die Waffe wurde gehört, nicht gesehen. Trrrrr. Eine wirkungsvolle Waffe, denn die Geschosse durchschlugen den Körper; wir haben alle sechs gefunden. Neun Millimeter.»

«Ein schweres Kaliber», stimmte der Commissaris zu, «vielleicht zu schwer für einen Revolver oder eine Pistole, obwohl es, wie ich glaube, beim Militär Faustfeuerwaffen dieser Größe gibt. Maschinenpistole? Eine bestimmte Marke? Die Deutschen hatten eine Neun-Millimeter, fällt mir ein.»

Er überlegte, wobei er vorsichtig die Spitze seiner kleinen Nase berührte. «Vielleicht eine Schmeisser?»

«Oder eine britische Waffe, Mijnheer, die Sten.»

Der Commissaris nickte. «Wo war Chris, als Obrian getroffen wurde?»

Jurriaans ging ein paar Schritte. «Hier stand Chris.» Er streckte den Arm anklagend aus. «Dort wohnt die alte Dame, Sie können sie jetzt sehen. Es ist ein großer Tag in ihrem Leben. Und dort war der Mörder. Er brauchte nur die Treppe hinunterzulaufen und über den Zeedijk zu entkommen, dann zur Damstraat und in ein Gewirr von Gassen auf der anderen Seite, um für immer zu verschwinden.»

Der Commissaris stützte sich auf seinen Stock und betrachtete das Gesicht der Leiche. «Stimmt, Brigadier. Tja, wem nützte der Tod dieses Mannes?»

«Der Konkurrenz, Mijnheer.»

«War der Tote ein Zuhälter?»

Jurriaans lächelte. «Der Zuhälter aller Zuhälter. Der Herrscher des Viertels. Sozusagen des Teufels Bruder.»

Die schwachen Augen des Commissaris blinzelten hinter der randlosen Brille. «Die Konkurrenten dürften also ebenfalls Zuhälter sein. Habt ihr jemand im Sinn?»

«Lennie», sagte Ketchup.

«Gustav», sagte Karate.

Der Stock des Commissaris rutschte auf einem blutigen Pflasterstein weg. Mit der Hilfe von de Gier gewann er sein Gleichgewicht wieder. Er rieb sich die Hüfte.

«Schmerzen, Mijnheer?»

«Ja», sagte der Commissaris. «Und ich sollte gar nicht hier sein. Das ist die schlimmste Zeit für mein Rheuma, und ich bin außerdem krankgeschrieben. Morgen reise ich nach Österreich; wie man sagt, gibt es dort irgendein schlammiges, heißes Wasser, und darin werde ich eine Woche lang sitzen. Wenn ich nicht schnell nach Hause gehe, wird meine Frau mich umbringen, bevor ich kuriert werden kann. Dieser Mord kommt wirklich sehr ungelegen.»

Diese Bemerkung löste Schweigen aus, ein achtungsvolles und mitfühlendes, wie Grijpstra, de Gier und Cardozo es zeigten, ein achtungsvolles und leicht amüsiertes im angedeuteten Lächeln von Jurriaans, Karate und Ketchup. Eine Drossel auf der Ecke einer Dachrinne rahmte die Pause mit klaren, kräftigen Tönen ein, die sie lautstark an ihre Zuhörer unten richtete. Heiseres Singen unterbrach den Vogel. Eine Horde betrunkener Seeleute oder Touristen tauchte im zarten Licht des frühen Morgens auf, hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und taumelten vorwärts. Karate und Ketchup, die mit dem Gummiknüppel gestikulierten, wollten sie abdrängen.

Der vielköpfige Trupp senkte das Kinn.

Die Konstabel gingen auf sie zu. Die Gruppe teilte sich in strategisch wichtig platzierte Einzelkämpfer auf und schwang die Fäuste. Brigadier Jurriaans richtete sich zu seiner vollen Größe auf. De Gier spreizte die Beine und beugte sich sprungbereit vor. Cardozo schlich sich nach vorn. Grijpstra erstarrte. Der Commissaris trat einen Schritt zurück.

Der Commissaris hatte den Feind tatsächlich noch nicht gesehen. Ihn interessierte die Drossel. Er grübelte, wieder auf seinen Stock gestützt, und hob den kleinen Kopf, den spärliches, ordentlich gekämmtes Haar bedeckte. Die Drossel war gefällig und ließ ein neues Arpeggio nach unten erklingen, brach aber wieder ab, als ein großer Schatten über die Dachrinne hinwegschwebte und den Singvogel veranlasste, sein Lied abzubrechen und davonzuflattern. «Meine Güte», murmelte der Commissaris, als der Schatten davonschwang und hinter den Giebeln verschwand. «Was auf Erden …», murmelte der Commissaris. «Schwärzer als eine Krähe? Größer als ein Falke? Ein breiter Schwanz über steifen gelben Beinen? Ein scharfer Krummschnabel?»

«Mijnheer?», fragte Grijpstra.

«Ich habe mit mir selbst gesprochen», sagte der Commissaris. «Alte Menschen, weißt du, tun das nun mal.» Sein Stock berührte die Leiche. «Schade.»

Grijpstra schaute nach unten. «Ein ganz übler Bursche, Mijnheer.»

«Tatsächlich?», fragte der Commissaris. «Und warum? Ich würde es gern wissen, aber ich werde im Schlamm sitzen müssen. Dabei möchte ich das eigentlich gar nicht.»

Der Feind hatte wieder eine Kette gebildet, zog sich aber dann schweigend zurück, umrundet von Ketchup und Karate, die mit den Gummiknüppeln wedelten. «Schlagt sie nicht», rief Jurriaans. «Es gibt schon genug Ärger», sagte Brigadier Jurriaans zu niemand im Besonderen. «Mijnheer? Kann die Leiche weggeschafft werden?»

«Auf jeden Fall.» Der Commissaris berührte den Brigadier am Ärmel. «Ein leichter Fall?»

Jurriaans schüttelte den Kopf. «Nein. Verzwickt, würde ich meinen. Es erfordert einen schlauen Menschen, um den Herrscher selbst zu beseitigen. Und einen niederträchtigen Menschen. Einen wirklich niederträchtigen. Wie Lennie. Wie Gustav. Krieg zwischen den großen Zuhältern – schwierig, ihr Vorgehen zu berechnen, und dazu noch als Außenseiter.»

«Es gibt auch eine Innenseite», sagte der Commissaris. «Grijpstra?»

Grijpstra schaute zum Himmel empor. Sein Mund stand offen. Jurriaans klopfte ihm auf die Schulter. «Der Commissaris will was von dir.»

«Mijnheer?»

«Du hast die Verantwortung, Adjudant, weil ich nicht hier sein werde. Such dir ein Zimmer zum Wohnen, in der Nähe, wenn’s recht ist, und Cardozo kann sich dir anschließen. De Gier ebenfalls. Aber de Gier sollte in Uniform arbeiten, denke ich.»

De Gier, der zugehört hatte, protestierte, aber die Drossel war zurückgekommen und sang seine Bemerkungen in den Wind.

«Herrlich», sagte der Commissaris und lächelte über den abwärtsgeneigten Kopf und die kleinen glänzenden Augen des Vogels. «Brigadier Jurriaans?»

«Mijnheer?»

«Ich möchte, dass du den Frontalangriff führst, während meine Leute im Verborgenen operieren. Ich werde mich mit deinem Chef in Verbindung setzen, damit du von deiner Routinearbeit befreit wirst. De Gier kann als eine Art Verbindungsmann dienen. Geht das in Ordnung?»

«Selbstverständlich, Mijnheer», bestätigte Jurriaans.

Karate und Ketchup kamen anmarschiert und nahmen Haltung an.

«Habt ihr sie geschlagen?», fragte Jurriaans.

«Es waren Deutsche», sagte Ketchup.

«Ihr dürft auch keine Deutschen prügeln.»

«Siehst du?», sagte Ketchup zu Karate.

«Du hattest recht», sagte Karate traurig. «Aber es ist kaum zu glauben.»

«Ich habe oft recht.» Ketchup lächelte stolz.

«Du hast sie auch geschlagen», sagte Jurriaans. «Als du außer Sichtweite warst. Das hättest du nicht tun dürfen.»

Der Commissaris wandte sich ab, nachdem er sich verabschiedet hatte. De Gier ging mit ihm zu einem alten, aber gut erhaltenen Citroën, der halb auf dem Fußweg im Zeedijk parkte. «Soll ich Sie heimfahren?»

«Nein», sagte der Commissaris. «Es schmerzt nicht mehr so sehr, wenn ich erst einmal sitze. Es wird immer schlimmer, Rinus, die Schmerzen steigen bis in den Nacken. Ich werde bald aufgeben müssen, meine Frau hat recht.»

Die anderen beobachteten das ungleiche Paar – den großen, breitschultrigen Brigadier, federnd auf seinen langen Beinen, ein Beispiel männlichen Selbstbewusstseins, und den kleinen, alten Chef, auf den Arm seines Beschützers gestützt, das kranke Bein nachziehend.

«Lässt er sich pensionieren?», fragte Jurriaans.

Grijpstra runzelte die Stirn. «Niemals.»

Cardozo hüpfte auf und ab. «Einen solchen Mord, noch dazu an einem Zuhälter, haben wir seit Jahren nicht gehabt. Ein richtiger Killer, der alles geplant und eine Maschinenpistole benutzt hat. Den schnappen wir schon, Adjudant, was?»

«Selbstverständlich», sagte Grijpstra.

Jurriaans zog seine Mütze unter dem Arm hervor. «Ich bewundere deinen Optimismus. Hast du eine Ahnung, worauf du dich da einlässt?» Er rückte die Mütze mit beiden Händen zurecht. «Dies ist kein ordentlicher Mord, sauber geplant von fröhlichen Vorstadtganoven. Diese Gegend ist krank, total verrottet.»

«Okay», sagte Cardozo.

«Eine Tasse Kaffee?», fragte Jurriaans.

«Und eine Wohnung», sagte Grijpstra. «In der Nähe, aber frei, damit wir gleich einziehen können.» Seine Unterlippe hing traurig herab. «Dabei will ich gar nicht umziehen, wo ich jetzt selbst ein hübsches Haus habe.»

«Du?», fragte Cardozo. «Wo? Du sagst doch immer, du magst dein Haus nicht. Bist du umgezogen?»

De Gier war zurückgekommen. Er lächelte Cardozo an. «Man braucht die Gegenstände nicht umstellen, damit sich etwas ändert, weißt du. Sie können an Ort und Stelle bleiben und anderes bedeuten.»

«So schnell?» Cardozo klatschte in die Hände. «In der letzten Woche hat der Adjudant darüber gejammert.» Er rümpfte die Nase. «Über den Gestank.» Er hielt sich die Ohren zu. «Über den Lärm.» Er fasste sich an den Hals. «Über die Enge.»

«Pssst», machte Grijpstra. Eine Ambulanz war eingetroffen. Die Sanitäter legten die Leiche auf eine Trage. Obrians lange Arme baumelten und wurden verstaut. Er lächelte in alle Richtungen, während sein Kopf von einer Seite zur anderen rollte. Die Polizisten folgten, wobei sie automatisch Gleichschritt aufnahmen, Jurriaans neben dem Adjudant, de Gier mit Cardozo, Ketchup mit Karate. Sie reihten sich auf und warteten, dass die Sanitäter die Türen der Ambulanz schlossen.

«Der Herrscher des Viertels», sagte Jurriaans. «Ich dachte, er würde nie abhauen.»

«Wir sind die Krone.»

Jurriaans schaute Grijpstra an. «Wie bitte?»

Der Adjudant nahm dem Brigadier die Mütze ab. «Hier, die Krone, das höchste Emblem an deiner eigenen Kopfbedeckung.»

Jurriaans nickte. «Das vergisst man hier manchmal.»

De Gier sprach mit Cardozo. «Vor einer Weile sah ich drei feine Herren, die auf Rollschuhen liefen.» Er legte eine Hand auf den Rücken und lief auf imaginären Rollschuhen. Er wedelte mit der anderen Hand vor Cardozos Gesicht. «Sie trugen Aktentaschen. Kannst du dir das vorstellen?»

«Muss ich das?», fragte Cardozo. Er knuffte de Giers Arm. «Mord! Ich hätte es fast vergessen. Wir haben einen Mord, Brigadier. Juchhu!»

«Fünf Jahre lang», sagte Ketchup, «hat Obrian uns verarscht. Er hat Idioten aus uns gemacht, uns beim Schlafittchen gehabt, mit uns gespielt wie mit Stoffpuppen. Und jetzt ist er weg für immer.» Er schüttelte den Kopf. «Kaum zu glauben.»

Karate schüttelte ebenfalls den Kopf. «Ich kann es noch nicht fassen, auf diese, wenn auch illegale Art befreit zu sein; wir können dem Mörder nicht einmal danken.»

Die beiden Konstabel liefen zusammen die Stufen zur Revierwache hinauf.

«Dumme kleine Arschlöcher», sagte Grijpstra.

«Meinst du?», fragte Jurriaans.

Grijpstra stieß einen dicken Finger dem Brigadier in die Magengegend. «Ja. Sie waren hier, fünfzig Schritte vom Mord entfernt, und sie machten sich nicht einmal die Mühe, nach draußen zu gehen, um zu sehen, warum jemand eine Maschinenpistole abfeuert. Luft in den Heizungsrohren! Kaputter Auspuff!»

«Ich war ebenfalls drinnen», sagte Jurriaans. «Es muss ein sehr kurzes Knattern gewesen sein. Maschinenpistolen haben eine Feuergeschwindigkeit von fünf- bis sechshundert Schuss pro Minute, aber sie fassen nur dreißig Patronen oder so. Sechshundert pro Minute, das sind zehn in der Sekunde. Sechs Schuss dauern etwas länger als eine halbe Sekunde. Bamm!» Er schnippte mit den Fingern. «Das war’s schon.»

«Trrrrr, hast du vorhin gesagt. Nicht bamm.»

«Adjudant», sagte Jurriaans vergnügt, «ich höre oft, wie es hier bamm macht. Aber das sind keine Schüsse. Dies ist eine üble Gegend, aber kein Schlachtfeld. Hier gibt es üblen Sex und übles Rauschgift und Diebstahl und Erpressung und Raubüberfall. Alles sehr übel. Aber es gibt kaum jemals üble Schießereien.»

De Gier setzte sich in Bewegung. «Kaffee?»

«Kuchen?», fragte Grijpstra.

«Ihr seid eingeladen.»

Jurriaans ging voraus. Grijpstra folgte. Cardozo stand noch auf der Straße und beobachtete eine geschmeidige schwarze Katze mit langen Beinen und einem zierlich kleinen Kopf.

«Kommst du?», fragte de Gier.

«Ja.»

«Was ist mit der Katze?»

Cardozo streichelte der Katze den Rücken. «Ich habe sie vorhin schon gesehen, als sie bei der Leiche herumlungerte. Ich habe sie verjagt, weil ich dachte, sie könnte das Blut auflecken, aber sie ist wiedergekommen und hat sich einfach hingesetzt und gestarrt.»

«Und?»

«Das bedeutet Pech.»

«Also wirklich», sagte de Gier. «Katzen bringen nie Pech. Geh in die Wache.» Er packte Cardozo am Arm und schob ihn die Stufen hinauf Ein lautes Kreischen ließ ihn aufblicken. Auf einer Fernsehantenne, die aus dem eingefallenen Dach des ausgebrannten Eckhauses ragte, saß ein Geier. Der Vogel war nicht besonders groß, aber mindestens doppelt so groß wie eine Krähe. Seine gelben Füße umklammerten die oberste Querstange der Antenne, und ein scharf gebogener Schnabel ragte am haarlosen grauen Kopf hervor.

Cardozo war hineingegangen. «Ich glaub, ich werd verrückt», flüsterte der Brigadier. Er fuchtelte mit der Hand in Richtung Vogel. Der erhob sich langsam, ungeschickt flatternd. Als er an Höhe gewann, flog er geschickt davon, schwebte er tief über den Dachziegeln, änderte er mühelos die Richtung durch ein Krümmen der fingerartigen Federn am Ende der Schwingen.

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Zwei

«Nein», sagte die Frau des Commissaris.

Der Commissaris, der das Messer locker in der Hand hielt und sein gekochtes Ei betrachtete, schaute auf und lächelte. «Wegen des Geldes, Schatz? Du meinst, wir büßen die Anzahlung im Reisebüro ein? So viel ist es nicht. Und Österreich wird warten, der Heilschlamm ewig weiterblubbern. Ich denke doch, dass ich noch eine Chance haben werde, meine Knochen einzuweichen.»

«Eine Verschwendung.»

«Weißt du», sagte der Commissaris, «eigentlich habe ich nichts dagegen, hin und wieder etwas Geld zu verlieren. Erinnerst du dich an diese Fonds auf Gegenseitigkeit, zu denen uns dein Bruder überredet hat? Sie haben ständig an Wert verloren, seit ich sie kaufte.» Er köpfte ärgerlich das Ei und stocherte mit dem Löffel darin herum. «Aber was ist schon Geld? Mit komischen Gesichtern bedrucktes Papier. Man braucht es selbstverständlich für Lebensmittel und so weiter, aber bei einem gewissen Punkt ist man damit fertig. Glücklicherweise wolltest du nie Pelzmäntel oder Schmuck, und den Kindern geht es gut. Nein, Geld …»

Sie stand auf und machte die Türen zum Garten auf. Sie wandte sich um. «Ach, Geld … Das ist es nicht. Ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit. Diese Bäder haben viele Patienten geheilt. Wenn du dir nur mal Ruhe gönnen und etwas von der Arbeit anderen überlassen würdest. In den Zeitungen steht, dass es in dieser Stadt mehr als dreitausend Polizisten gibt. So wichtig bist du also nicht, oder?»

«Der Hoofdinspecteur hat eine Migräne.»

Sorgfältig legte sie Salatblätter in eine Schüssel. «Schildkröte?», rief sie. Das Unkraut am Fuße der Treppe bewegte sich, und das kleine Reptil zeigte seinen Kopf. «Hier, Frühstück.» Sie setzte die Schüssel ab und beobachtete, wie die Schildkröte zuschnappte und kaute. «Der Hoofdinspecteur? Ich glaube, der stellt sich wieder mal an. Und der Inspecteur?»

«Der lernt Türkisch. Nachdem wir alle unerwünschten Chinesen geschnappt und nach Singapur und Hongkong zurückgeflogen haben, stehen wir mit den Türken da. Deren Heroin ist anscheinend noch besser. Der Inspecteur leistet gute Arbeit.»

«Und Grijpstra? Ich bin sicher, Grijpstra kann mit diesem Mord an einem Zuhälter fertigwerden.»

Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. «Das Ei war ausgezeichnet.» Er leerte seine Tasse. «Und der Tee hervorragend.» Er streichelte ihren Rücken. «Ich muss jetzt wohl gehen. Hilfst du mir, ein paar passende Sachen zum Anziehen rauszusuchen?»

Sie steckte ein paar lose, silbrige Haare in den Dutt zurück. «Nein. Du versuchst nur wieder einmal, mich weichzukriegen. Ich weiß, was du vorhast. Es ist verrückt; ich will damit nichts zu tun haben.» Eine Träne rann ihr die Wange hinab, sie wischte sie ungeduldig weg. «Du bist jetzt alt, Jan, du brauchst Ruhe, der Arzt sagt es immer wieder. Erwartest du wirklich von mir, dass ich ruhig zusehe, wie du in die Unterwelt hinabsteigst? Und dazu allein? Wie oft war ich nachts auf und habe mir Sorgen gemacht, aber dann wusste ich wenigstens, dass Grijpstra bei dir war oder de Gier, obwohl der auch ziemlich verrückt ist. Wohin gehst du denn? Etwa in dieses Zuhälterviertel? Womöglich finden sie dich in einer Gracht wieder.»

Er legte ihr den Arm um die schmalen Schultern und steckte die Nase in ihren Nacken. «Ich werde dich anrufen. Ich bleibe in Amsterdam, Schatz, ich werde in der Nähe sein. Ich fahre ja nicht nach Beirut. Ich geh nur ein bisschen herum, um zu sehen, was los ist, und wenn etwas schiefläuft, rufe ich einen Konstabel. In der Gegend gibt es davon Hunderte.»

«Und wenn du wieder Schmerzen hast? Was ist, wenn du stürzt, schlagen sie dich dann zusammen?»

«Ich werde nicht zusammengeschlagen und kann mir ein Taxi nehmen.»

Sie ergriff seine Hand und fuhr mit sanftem Finger eine blaue Ader entlang. «Du gehst gern dorthin, stimmt’s? Einige von diesen Frauen sind schön.»

«Also wirklich, Schatz, in meinem Alter.»

«Du hast dich nicht geändert, Jan. Äußerlich vielleicht, ein bisschen. Aber im Grunde deines Herzens bist du der Gleiche geblieben.»

«Ich bin treu gewesen.»

«Seit wann?»

«Seit langer Zeit.»

Ihre Hand fuhr seinen Ärmel entlang und klopfte ihm auf die Schulter. «Ja, wegen fehlender Auswahl.»

«Wegen großer Liebe. Hilfst du mir jetzt?»

«Nein», sagte sie im Schlafzimmer. «Die Jacke ist am Ellbogen durchgescheuert. Ich mag es nicht einmal, wenn du sie im Garten trägst. Kannst du nicht den grauen Anzug nehmen? Der ist zwar auch abgewetzt, hat aber wenigstens keine Löcher.»

«Und der Hut?»

Sie musste lachen. «Der hat mal meinem Vater gehört.»

«Er passt.» Der Commissaris schaute in den Spiegel. «Und er hat einen schönen breiten Rand, um mein Gesicht zu verbergen. Weißt du, was aus der runden Brille geworden ist, die ich mal hatte?»

«Die Brille für Behinderte?»

Er fand sie in einer Schublade. «Du übertreibst wirklich. Nicht für Behinderte, für Widerstandsfähige. Ich habe sie gekauft, als ich das unbewaffnete Kämpfen lernte. Da wurde ich ganz schön verprügelt, aber die Brille ging nicht kaputt.»

«Nimm die.» Sie reichte ihm eine Pistole, vorsichtig auf der Handfläche.

«Zu groß», sagte der Commissaris. «Warum wir uns auf dies Monstrum umstellen mussten, leuchtet mir immer noch nicht ein. Die Walther P 5 ist ihr Gewicht in Gold wert; sie wurde in großer Menge eingekauft ohne Rabatt. Sie trifft alles auf zweihundert Meter, rostet nicht, weil sie größtenteils aus Plastik besteht, aber es ist einfach unmöglich, sie zu verstecken.» Er öffnete seine Jacke und steckte die Waffe ins Holster. «Selbst ein kaputter Fixer könnte sie von der anderen Straßenseite aus erkennen.»

Sie verschränkte die Arme. «Ich lass dich nicht unbewaffnet gehen.»

Der Commissaris schwang seinen Stock. «Aber ich bin bewaffnet, Schatz. Der Griff ist bleibeschwert. Der Brigadier der Waffenkammer hat mich damit vertraut gemacht. Pass auf.»

Er drehte den Stock und schwang ihn mehrmals. «Siehst du den Aschenbecher?»

«Nicht, Jan.»

Der Stock traf. Der Aschenbecher explodierte. Der Glasteller darunter zerbrach. «Ha», sagte der Commissaris. Er schaute seine Frau an. «Tut mir leid, Schatz. Tödlicher, als ich dachte.»

Seine Frau ging aus dem Zimmer und kam mit Kehrblech und Handfeger zurück. Er half ihr, indem er mit dem Stock auf die Scherben zeigte. Sie stand auf und presste eine Hand an ihr Kreuz. Er streichelte ihren Arm. «Ich bitte um Vergebung, Schatz. Ich weiß, du solltest dich nicht bücken, aber mein Bein ist so steif.»

«Und du solltest keine Straßenräuber mit diesem blöden Stock bekämpfen. Glaubst du wirklich, sie lassen sich von dir schlagen? Die werden mit dem Messer nach dir werfen.»

Der Commissaris kniff die Augen zusammen. «Ich fang es mit den Zähnen auf. Jetzt brauche ich nur noch diese Tasche. Mit der bin ich mal zum Angeln gegangen und habe sie in den See fallen lassen. Grijpstra hat sie Stunden später rausgeholt. Danke, Schatz. Sie sieht schäbig genug aus.»

Sie half ihm in den Mantel. «Der gehörte auch meinem Vater. Er ist dir zu groß, aber er wird dich warm halten.»

«Aber es ist Sommer, Schatz.»

«Die Nächte sind kühl. Wo, denkst du, wirst du schlafen?»

Er musterte sich im Flurspiegel, Tasche in der Hand, auf seinen Stock gestützt. «In einem hübschen Zimmer. Ich suche mir ein Hotel. Ich gebe dir Bescheid, in welchem ich bin.»

«Kann ich dich besuchen?»

«Wenn du musst.» Er spähte sie unter der herabgeklappten Hutkrempe an. «Aber es wäre mir lieber, wenn du nicht kämst. Grijpstra und de Gier werden dort sein, sie könnten dich sehen. Cardozo ebenfalls.»

«Dich werden sie bestimmt erkennen.»

Der Commissaris schlurfte gebückt durch den Flur und stach mit dem Stock in den Teppich. «In diesem Aufzug? Die suchen nicht mich, sondern einen verächtlichen Charakter, der einen Verbrecherkumpanen mit einer Automatik niedermähen kann. Weshalb sollten sie nach mir Ausschau halten. Ich bin in Österreich und sitze mit dem Hintern im Moorbad.»

«Oh!» Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Er schob den Hut mit dem Stock hoch. «Sagtest du ‹oh›?»

«Oh, Jan. Warum kannst du dich nicht wie ein normaler Polizeichef benehmen? Bequem hinter deinem Schreibtisch sitzen? Warum musst du dich unbedingt draußen herumtreiben?»

Er richtete sich auf und präsentierte den Stock. «Weil dies ein kniffliger Fall ist. Er hat zu viele Seiten.»

«Du siehst lächerlich aus.»

Er nickte. «Ja, lächerlich ist der Fall auch.»

Sie umarmte ihn mitsamt dem Stock. «Grins mich nicht so an. Benimm dich anständig. Du bist jetzt eine Vaterfigur, da finden dich junge Frauen doppelt attraktiv. Vielleicht werden sie versuchen dich rumzukriegen.»

«Meinst du?», fragte der Commissaris.

«Du lachst über mich», sagte sie.

Er befreite sich sanft aus ihren Armen. «Nein, ich habe nur nach Luft geschnappt. Ich rauche zu viel, davon werde ich kurzatmig.»

 

Eine Stunde später schleppte sich ein armselig gekleideter, kleiner alter Mann durch eine der Nebengassen vom Zeedijk. Eine abgewetzte und verfärbte Ledertasche baumelte an seiner schmalen, welken Hand. Runde, kleine Brillengläser blitzten unter der breiten Krempe seines altmodischen Filzhutes und schützten farblose Augen, die neugierig und irgendwie einfältig die Gegend musterten. Sein Stock klopfte energisch auf das Kopfsteinpflaster, bis ihm das fröhliche Ticken auffiel und er den Stock schleifen ließ.

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Drei

«Unsere Wache», sagte Brigadier Jurriaans, «ist vor kurzem in Schuss gebracht worden, sodass wir hier jetzt alles haben, einschließlich Sitzungsraum für die mit Sternen auf den Schultern, die morgens nie vor elf oder später kommen, weil sie zu tun haben. Kommt bitte rein.»

Der Raum war groß, hatte eine hohe Decke und schmale altmodische Fenster. Um einen alten Eichentisch standen gerade, ledergepolsterte Stühle. «Du kannst an der Stirnseite sitzen», sagte Jurriaans zu Grijpstra, «da du der Chef bist.»

«Ich bin Gast», sagte der Adjudant und runzelte die Stirn über Karate und Ketchup, die sich geräuschvoll setzten. «Ist das hier unser Arbeitsteam?»

Ein gut aussehender weiblicher Konstabel brachte Kaffee. De Gier musterte sie und lächelte. «Eine Frau», sagte de Gier, «und das hier im Nuttenviertel. Sollten wir in unserem Team nicht auch eine Frau haben?»

Der Konstabel sah ihn kalt an. De Gier stand auf und verbeugte sich von der Hüfte aus. Sein Lächeln wurde breiter. Der Konstabel runzelte die Stirn.

Jurriaans hüstelte. «Gestatte, dass ich dir diese Kollegin vorstelle.» Er nannte Namen. «Und diese Dame ist Konstabel Anne, aber sie ist noch nicht voll ausgebildet. Unsere Vorschriften besagen, dass Konstabel mit einem Ärmelstreifen nicht an gefährlichen Aktionen teilnehmen dürfen.»

«Aber euch den Kaffee zu servieren, das ist in Ordnung», sagte Konstabel Anne, verließ den Raum und knallte die Tür zu.

«Eine Frau», sagte Grijpstra. «Ah, ja.»

Jurriaans zog das Telefon zu sich heran. Er blätterte in seinem Notizbuch und wählte eine Nummer. «Hallo, Adjudant. Ich weiß, dass du noch geschlafen hast, aber es hat einen Mord gegeben, und wir haben Ermittlungen aufgenommen. Glaubst du, dass du uns unterstützen kannst?»

Er legte den Hörer auf. «Adjudant Adèle wird in fünfzehn Minuten hier sein, nehme ich an, da sie gleich um die Ecke wohnt. Kennt ihr den Adjudant?»

«Ich habe ihr Aussehen bewundert», sagte de Gier.

«Mich hat ihr Verstand beeindruckt», sagte Grijpstra, «die erste Frau, die vom Konstabel zum Adjudant befördert wurde, mit lauter Einsen in der Prüfung und öffentlichem Lob.»

«Ich habe sie auf dem Schießstand kennengelernt», sagte Cardozo, «sie hat geglaubt, mich zu schaffen, aber ich war an dem Tag einsame Klasse.»

«Wir kennen sie auch sehr gut», sagten Karate und Ketchup. «Eine ausgezeichnete Ergänzung unseres Teams», fügte Karate hinzu. «Ich träume oft von ihr», sagte Ketchup.

«Sollen wir anfangen oder warten?», fragte Jurriaans.

«Warten wir lieber», sagte Grijpstra.

Der Adjudant kam, eine stattliche Frau mit dem Gesicht einer Madonna, wie von einem naiven Meister gemalt, gemildert durch feine Sommersprossen, die ihr einen mehr menschlichen Anstrich gaben. Sie begrüßte jeden einzeln und bekam einen Stuhl angeboten. Der Konstabel brachte noch mehr Kaffee und Kuchen, auf Grijpstras Wunsch und de Giers Kosten.

«Was haben wir also?», fragte Jurriaans. «Einen toten Zuhälter. Wen? Luku Obrian, schwarz, geboren in Paramaribo, Surinam, früher Niederländisch-Guinea, an der südamerikanischen Ostküste, vor achtunddreißig Jahren. Wer sein Vater war, ist unbekannt, aber wir dürfen annehmen, dass sein Großvater, auf jeden Fall sein Urgroßvater Sklave war und aus Afrika stammte. Unser Mann traf vor fünf Jahren auf dem Amsterdamer Flughafen ein, vor der Unabhängigkeit Surinams, aber nicht aus Furcht vor der unsicheren Zukunft seines Landes oder aus Habgier, weil er nur Sozialhilfe zu beantragen brauchte, um nie mehr zu arbeiten, sondern aus purer Bosheit. Er wollte das Schicksal seiner Vorfahren rächen. Er hat es mir am Abend seiner Ankunft gesagt, als er in diese Revierwache, wegen ungebührlichen Benehmens, geschleppt wurde. Betrunkene sagen nicht immer die Wahrheit, aber Obrian hat nicht gelogen, als er ankündigte, er werde uns aus der Fassung bringen. Das war seine Formulierung, denn sein Niederländisch war perfekt, besser als unseres, und er drückte seine Gedanken sehr genau aus, wobei er grammatisch unübertrefflich war. Er hat uns aus der Fassung gebracht, fünf schreckliche Jahre lang, uns und die Bevölkerung. Gestern Abend wurde er nun endgültig aus unserer Mitte gerissen mit Hilfe von sechs Neun-Millimeter-Geschossen, abgefeuert aus einer automatischen Waffe.» Jurriaans schaute Adjudant Adèle an. «Ecke Olofssteeg und Zeedjik. Hast du etwas gehört?»

«Ich habe geschlafen», sagte Adjudant Adèle.

Jurriaans telefonierte. Er dankte der anderen Seite und legte den Hörer auf. «Das war das Präsidium. Der Brigadier der Waffenkammer sagte, die Waffe müsse eine Schmeisser gewesen sein.»

Cardozo hob fragend einen Finger. «Wie sieht eigentlich eine Schmeisser aus?»

Jurriaans hielt seine Hände etwa fünfundsechzig Zentimeter auseinander. «So lang.» Er verringerte den Abstand auf fünfundzwanzig Zentimeter. «So groß ist das Magazin, wird senkrecht in die Kammer eingeschoben. Im Magazin sind zweiunddreißig Patronen. Eine alte Maschinenpistole, ein Modell aus dem Zweiten Weltkrieg, benutzt von SS und Gestapo, bekannt aus Konzentrationslagern und von Straßenrazzien, funktioniert angeblich gut und schießt genau. Als die deutsche Wehrmacht kapitulierte, händigte sie ihre Waffen dem Vernehmen nach aus, aber wir kriegten nicht alle, denn immer wieder taucht eine auf und wird missbräuchlich benutzt, wie in der vergangenen Woche, als Türken eine Bank überfielen.»

Adjudant Adèle stand auf. «Die Waffe ist noch hier. Ich werde sie holen, damit du siehst, wonach wir suchen.»

De Gier sah zu, wie Adjudant Adèle hinausging. Ihr steht die Uniform gut, dachte der Brigadier, seltsam, da unsere Polizistinnen meistens etwas reizlos aussehen. Ich frage mich, wieso. Weil sie so lange und schlanke Beine hat? Und sich beim Gehen in den Hüften wiegt?

Auch Cardozo grübelte über die weiblichen Reize seiner Kollegin. Am liebsten hätte er seine Händen auf die Waden des Adjudanten gelegt und sie langsam gestreichelt bis zu der Stelle, wo die Strümpfe enden und die weiche Haut beginnt. Er war überrascht von seinem Verlangen. Er schaute auf die Uhr. Es war noch viel zu früh für solche Gedanken. Aber es ist ihre Schuld, dachte Cardozo. Sie ist zwar meine Vorgesetzte und von allen sehr geachtet, aber sie ist auch hinreißend gewachsen. Eine so attraktive Frau lenkt zwangsläufig die Männerblicke auf sich. Wie komme ich bloß auf solche Gedanken? Normalerweise bin ich rücksichtsvoll in weiblicher Gesellschaft. Weshalb provoziert sie mich? Warum ist sie nicht stämmig und dumm wie die anderen?

Adjudant Adèle kam zurück und legte eine Maschinenpistole auf den Tisch. Sie sprach leise, aber deutlich. «Dies ist eine japanische Imitation des deutschen Originals. Sie schießt nicht und ist als Modell für Sammler gedacht. Sie wurde einem eingewanderten türkischen Arbeiter verkauft, der das Instrument in London erwarb. Er hat es eingeschmuggelt, da nach unseren Gesetzen die Einfuhr verboten ist, weil solche Modelle zu echt aussehen und missbraucht werden können. Der erwähnte Türke missbrauchte die Waffe und richtete sie auf einen Bankkassierer. Der Türke ist nicht mehr unter uns; er bekam zwei Schüsse in den Bauch von einem Kollegen, der es eilig hatte.» Sie schaute Karate an.

«Ja», sagte Karate. Er nahm das Modell auf und legte es wieder hin. «Sieht echt genug aus, nicht wahr?»

«Unsere eigene Waffe», sagte Adjudant Adèle und schaute auf die Tischplatte, die Karates Pistole vor ihrem Blick verbarg, «ist als Instrument der Verhütung gedacht, nicht zur sofortigen Tötung. Ein Verdächtiger, auch ein Türke, der mit einem Spielzeug hantiert, kann vielleicht vorher gewarnt werden, damit er die Möglichkeit hat, sich zu ergeben und einige Fragen zu beantworten.»

«Luku Obrian», sagte Jurriaans, «war schwarz und bewegte sich in schwarzen Kreisen, in die wir nur schwer hineingelangen können, aber ich glaube nicht, dass er von einem Angehörigen seiner Rasse umgebracht wurde. Obrian war das Beispiel eines Mannes, der weiß, wie er seine Hilfsmittel organisieren muss, ein reicher und erfolgreicher Unternehmer, Besitzer eines kostspieligen Wagens und einer Luxuswohnung an der Keizersgracht sowie von mindestens zwei Bars, von …»

«Warte», sagte Grijpstra. «Wenn du das alles wusstest, hättest du die Steuerfahnder alarmieren können. Zuhälter geben selten ihr Einkommen an. Wenn ein Zuhälter Besitzer von teurem Eigentum ist – wie von einem Porsche-Cabrio und einer Wohnung in der besten Gegend der Stadt –, dann wird diese Tatsache als Beweis für Steuerhinterziehung angesehen. Er hätte festgenommen und sein Eigentum beschlagnahmt werden können.»

«Außerdem ist es eine gute Möglichkeit, Verdächtigen Schulden aufzubrummen», sagte de Gier.

«Weil», sagte Cardozo, «die Geldstrafe höher als der Wert ihres Besitzes ist.»

Grijpstra nahm seine Untertasse, kippte sie, ließ in seine hohle Hand die Kuchenkrümel fallen und beförderte sie mit einem Schwung in den Mund. Er kaute und schluckte. «Na?»

«Sehr einfach», sagte Jurriaans. «Schade nur, dass Obrian kein einfacher Mensch war. Der Porsche hat eine ausländische Zulassung, und wir können seinen rechtmäßigen Eigentümer nicht ermitteln. Offiziell hat Obrian seine Wohnung gemietet, aber er zahlte keine Miete. Die Bars, die ihm gehörten, betrieben seine Angestellten, die ihm achtzig Prozent der Gewinne in Bargeld übergaben. Obrian gab an, was er nicht verstecken konnte, und das war nicht wenig, es reichte, um die Steuerfahnder zu besänftigen.»

Grijpstra zog eine Zigarre aus seiner Weste. «Darf ich?»

«Lieber nicht», sagte Adjudant Adèle.

«Darf ich etwas sagen?», fragte Ketchup.

«Dürfte ich vielleicht eine Zigarette rauchen?», fragte Grijpstra.

Adjudant Adèle steckte eine Haarsträhne hinters Ohr zurück. «Wenn du den Rauch in die andere Richtung bläst.»

«Hört mal», sagte Ketchup. «Wisst ihr, was Obrian getan hat? Es gab hier mal eine Nutte, die hieß Madeleine, eine unheimlich schöne Frau, wie eine Dame, arbeitete auf eigene Rechnung, vom bestplatzierten Schaufenster des ganzen Viertels aus. Sie konnte ihre Tür elektrisch öffnen und drückte nur dann auf den Knopf, wenn der Kunde aussah, als habe er genug Kohle. Die verdiente täglich ein Vermögen.»

«Mit gewaltigen, aber noch gut geformten Titten», sagte Karate, «und Beinen, wie man sie in Videofilmen für die Ölscheichs sieht.»

«Ja», sagte Ketchup, «kein Zuhälter kassierte bei ihr. Mann, und die Kunden schleppten die Kohle massenhaft an. Tag für Tag. Sie war kalt wie ’n Frosch, wie die meisten von ihnen, aber sie hatte sanfte, geheimnisvolle Augen und ein leises Lächeln. Eine Schauspielerin mit Charakter und Seele.»

Karate knallte die schmale Faust auf den Tisch. «Und wir dachten alle, Obrian konnte nicht an sie ran.»

Ketchup schlug ebenfalls mit der Faust auf den Tisch. «Selbst wenn er jede Nutte im Viertel hatte, selbst wenn sie sich alle für ihn abrackerten und das Zittern kriegten, wenn er zufällig an ihren Fenstern vorbeikam, unsere Madeleine war aus Stahl, er würde Madeleine nie bekommen. Er würde mit seinen dreckigen Pfoten nie an sie herankommen.» Ketchup stand auf.

Karate war ebenfalls auf den Beinen. «Wisst ihr, wie er Madeleine kriegte?»

«Indem er ihr einen Blick zuwarf», rief Ketchup, «von der Seite, als er an ihrem Fenster vorbeikam.»

«Und wisst ihr, wozu er sie zwang», schrie Karate, «an einem schönen Sonntagmorgen, als das Wetter so hell und frisch wie heute war? An einem herrlichen Sommertag, als wir alle auf der Straße waren, um in Ruhe auf alles ein Auge zu haben.»

«Er ließ sie zu der kleinen grünen Brücke kommen», flüsterte Ketchup, «zu der gusseisernen Brücke am Oudezijde Kolk, nur für Fußgänger, mit Löwenköpfen am Geländer, viele Jahrhunderte alt, eine geschätzte Antiquität, von den Touristen begafft.»

«Sie gafften auch», flüsterte Karate, «und wir ebenfalls und alle anderen. Auch Obrian schaute, aber er war kalt wie eine Hundeschnauze.»

«Er hat nichts Besonderes gemacht, dieser Obrian, nicht wahr?»

«Er stand nur da, oben auf der Brücke.»

«In seinem maßgeschneiderten 1000-Gulden-Leinenanzug, mit Panamahut und einer Havanna zwischen den goldgefassten Zähnen.»

«Und ein seidenes Taschentuch steckte in seiner Brusttasche.»

«War unbewaffnet, völlig sauber.»

«Unangreifbar, ein Zivilist darf auf jeder Brücke stehen, die ihm gefällt.»

«Und da stand Luku Obrian, und da kam sie, unsere Madeleine, in ihrem neuen hübschen Kleid, der Rock nicht zu kurz und der Busen dezent bedeckt. Unsere Dame.»

«Und sie kniete vor ihm nieder.»

«Und sie öffnete seinen Hosenstall.»

«Ich will das nicht hören», sagte Grijpstra.

«Und dann?», fragte Cardozo.

«Na, was glaubt ihr wohl?», fragte Karate. «Hä? Nach ihrem Belieben, sanft und fest, als gäbe es nichts, was sie lieber täte. Als sei sie dankbar für den Gefallen, den er ihr erwies.»

Es war still am Tisch. Adjudant Adèle betrachtete ihre Fingernägel, mit durchsichtigem Lack überzogen, perfekt gefeilt. Grijpstra drückte seine Zigarette im Aschbecher aus, langsam, wütend. Karate und Ketchup sanken auf ihre Stühle zurück und seufzten. Jurriaans zog mit einem spitzen Bleistift einen Kreis auf eine neue Seite seines Notizbuchs. De Gier wartete darauf, dass sein Erröten verging.

«Und Madeleine?», fragte de Gier.

«Sie arbeitete weiter», sagte Jurriaans, «aber nicht mehr lange, denn Obrian nahm sie aus, und das Heroin, das er ihr verschaffte, reichte nie. Sie erhängte sich an der Lampe in ihrem Zimmer. Ich habe ihre Akte noch, komplett mit Fotos. Ich werde sie euch zeigen, wenn ihr mal Zeit habt.»

Grijpstra griff in seine Tasche, holte die Zigarre heraus, die er vorher weggesteckt hatte, ließ sie an seinem Ohr knistern, roch daran und legte sie auf den Tisch. Er betrachtete die Zigarre. Er murmelte.

De Gier murmelte auch.

«Es hört sich an, als wäret ihr beide überrascht», sagte Adele.

«Ich bin immer überrascht», sagte de Gier, «wenn ich nicht aufpasse. Weil ich an bestimmte Grenzen glaube, die ich mir selbst gesetzt habe, da die Wirklichkeit sich nicht an Grenzen hält. Nehmen wir zum Beispiel heute Morgen – drei rollschuhfahrende Herren mit neuen Aktentaschen, und es war noch vor vier Uhr, und jetzt wieder dieser Obrian, auf einer gusseisernen Brücke, nuckelt an seinem kommunistischen Glimmstängel, während ihm die Hurendame einen ablutscht, vor aller Augen.»