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DER MORDCODE (Ein spannungsgeladener Remi Laurent FBI Thriller - Buch 2) ist Buch Nr. 2 einer neuen Serie der Krimi- und Thriller-Autorin Ava Strong, die mit DER TODESCODE (Buch Nr. 1) beginnt. FBI Special Agent Daniel Walker, 40, bekannt für seinen Killerinstinkt bei der Verbrecherjagd, seine Gerissenheit und eine Vorgehensweise, die nicht immer so ganz regelkonform ist, wird von der Behavioral Analisys Unit des FBI zu der neuen Spezialeinheit für Antiquitätenraub versetzt. Die neue Einheit, die gegründet wurde, um unbezahlbare Relikte auf der ganzen Welt aufzuspüren, tappt ziemlich im Dunkeln, wenn es darum geht, wie man das Verhalten eines Mörders analysiert und in seinen Kopf eindringt. Remi Laurent, 34, brillante Geschichtsprofessorin an der Georgetown-Universität, ist die weltweit führende Expertin für obskure historische Artefakte. Als das FBI sie um Hilfe bei der Suche nach einem Mörder bittet, ist sie überrascht und findet sich kurz darauf in einer unfreiwilligen Partnerschaft mit dem ruppigen amerikanischen FBI-Agenten wieder. Special Agent Walker, mit seiner Fähigkeit, in die Köpfe von Mördern einzudringen und Remi Laurent, mit ihrer unvergleichlichen Expertise sind ein höchst ungleiches Duo und das Einzige, was sie verbindet, ist ihre Entschlossenheit, die Hinweise zu entschlüsseln und einen Mörder zu stoppen. Ein unbezahlbares, historisches Gemälde wird aus einem Museum in Washington, D.C., gestohlen und dazu wird auch noch eine Leiche gefunden. Als die Spur zurück nach Paris führt und die Expertise einer Historikerin erfordert, sieht FBI Special Agent Walker ein, dass er keine andere Wahl hat, als Remi Laurent erneut um Hilfe zu bitten. Gemeinsam müssen sie zum Louvre reisen, den Schauplatz des ersten Mordes besuchen, die Botschaft in den gestohlenen Gemälden entschlüsseln und den Mörder stoppen, bevor er erneut zuschlägt. Es beginnt eine weltweite Fahndung in einem Wettlauf gegen die Zeit, während Remi versucht, die Hinweise zu entschlüsseln, und schnell feststellt, dass dieser Mörder diabolischer ist als alles, was sie sich je hätte vorstellen können. Die REMI LAURENT-Reihe ist eine fesselnde Krimiserie, in dessen Zentrum die unwahrscheinliche Partnerschaft zwischen einem verbitterten FBI-Agenten und einer brillanten Historikerin steht. Die Geschichte ist voller Spannung und Enthüllungen, die Sie bis spät in die Nacht wachhalten werden.. Buch Nr. 3 der Serie - DER TEUFLISCHE CODE - ist jetzt ebenfalls erhältlich.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2022
der mordcode
(ein spannungsgeladener remi laurent fbi thriller – buch 2)
a v a s t r o n g
Ava Strong
Die Debütautorin Ava Strong ist Autorin der REMI LAURENT-Krimireihe, die aus drei Büchern besteht (weitere folgen), der ILSE BECK-Krimireihe, die aus vier Büchern besteht (weitere folgen) und der STELLA FALL-Psychothriller-Reihe, die aus vier Büchern besteht (weitere folgen).
Als begeisterte Leserin und lebenslange Liebhaberin des Krimi- und Thriller-Genres freut sich Ava darauf, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.avastrongauthor.com, um mehr zu erfahren und mit Ava Kontakt aufzunehmen.
Copyright © 2021 by Ava Strong. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig.
BÜCHER VON AVA STRONG
EIN STELLA-FALL-THRILLER
DIE ANDERE FRAU (Buch #1)
EIN SPANNUNGSGELADENER REMI LAURENT FBI THRILLER
DER TODESCODE (Buch #1)
DER MORDCODE (Buch #2)
EIN ILSE BECK-FBI-THRILLER
NICHT WIE WIR (Buch #1)
INHALT
PROLOG
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
East Hampton, Long Island
2:15 Uhr
Welch ein Triumph.
Das Gemälde erfüllte all seine Erwartungen, es übertraf sie sogar noch.
Es war alles so klar, so offensichtlich – zumindest für jeden, der wusste, wonach er Ausschau halten musste.
Doch nur die Allerwenigsten wussten, wie man danach Ausschau hielt.
Der Milliardär Montgomery Dyson stand allein in der Ostgalerie einer seiner Villen und starrte auf seine neueste Errungenschaft. Eine warme Sommerbrise wehte durch das Fenster in den Raum hinein und brachte den beißenden Geruch von Salzwasser sowie das Rauschen der Atlantikbrandung mit sich. An den Wänden der Galerie hingen Gemälde aus den größten Epochen der westlichen Zivilisation: ein elegantes kleines Porträt der Jungfrau mit Christkind aus dem Florenz des 14. Jahrhunderts, dessen Temperafarben auch nach Jahrhunderten noch leuchteten, ein Kupferstich von Albrecht Dürer aus dem 15. Jahrhundert und spätere Werke von Rembrandt, Matisse und Van Gogh. Auf einem vergoldeten Tisch, der einst das Innere von Versailles schmückte, stand eine Bronzestatue von Rodin.
Aber all diesen Dingen schenkte Dyson keinerlei Beachtung. Er hatte nur für seine neueste Errungenschaft Augen. Er war für den überwiegenden Teil seiner achtundsechzig Lebensjahre Kunstsammler gewesen und hätte seine gesamte, stattliche Sammlung aufgeben, nur um in den Besitz des Gemäldes zu kommen, dem er sich nun gegenüber sah.
Darauf war der Tod zu sehen, der unter sternenklarem Himmel auf einem roten Pferd durch die Nacht ritt. Die Figur, die den Tod darstellte, wirkte geradezu riesig und nahm den überwiegenden Teil des Gemäldes ein. Das kleine Dorf, das unterhalb der Todesfigur zu sehen war, wurde von der überdimensionalen Gestalt dominiert. In einigen der Hütten des Dorfes brannte Licht. Ein Bauer, der sich erst zu später Stunde von seinen Feldern auf den Heimweg gemacht hatte, fuhr mit seinem Ochsenkarren einen kleinen Pfad entlang und schien sich der Gefahr, die über ihm lauerte, nicht bewusst zu sein. In der unteren rechten Ecke des Bildes befand sich ein Herrenhaus mitsamt Mauertürmchen und einem geräumigen Garten. Aus den verzierten Fenstern eines Flügels des Gebäudes strömte helles Licht – ein Hinweis darauf, dass dort gerade eine Party stattfand.
Der Tod schien auf dem Weg zu diesem Herrenhaus zu sein. Er hatte einen seiner Arme in die Höhe gereckt, wodurch die bedrohlich gebogene Klinge seiner Sense eine Sternenkonstellation am Nachthimmel einrahmte.
„Faszinierend“, murmelte Dyson, während er die auf dem Gemälde abgebildeten Sterne genauer betrachtete.
Dann ging er zu einem Regal aus Mahagoniholz hinüber und holte ein in Leder eingebundenes Buch hervor. Er blätterte die Seiten des Buches durch und sah dabei immer wieder zu dem Gemälde auf.
„Nein, nein“, sagte er leise zu sich selbst, während er das Buch weiter durchblätterte.
Dann begannen seine Augen zu strahlen.
„Ah! Das hier vielleicht?“ Er sah sich die Illustration auf der nun aufgeschlagenen Seite an, dann schaute er kurz zu dem Gemälde, bevor sich sein Blick wieder auf das Buch konzentrierte. „Ja! Ich glaube, das ist es.“
Es war zu hören, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde, es folgten allerdings keine weiteren Geräusche. Ganz so, als ob dort jemand zögerte und sich nicht weiter ins Zimmer hinein traute.
„Ich brauche nichts, Winston, danke Ihnen“, sagte Dyson ohne sich dabei umzudrehen.
Die Tür fiel ins Schloss. Er hörte, wie jemand leisen Schrittes über den Perserteppich aus dem achtzehnten Jahrhundert schlich.
Genervt drehte Dyson sich jetzt doch um.
„Ich sagte doch, ich brauche –“
Doch ihm blieben die Worte im Halse stecken.
Vor ihm, mitten im Zimmer, stand ein Fremder. Er trug eine Mönchskutte und hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Weitere Details fielen Dyson nicht auf, denn sein Blick wurde nun auf die Sense gezogen, die der Mann in der Hand hielt. Es handelte sich eindeutig um eine Antiquität, die den Anschein machte, als sei sie einst auf einem Bauernhof im neunzehnten Jahrhundert bei der Getreideernte eingesetzt worden.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte Dyson krächzend. Er verspürte den Drang, um Hilfe zu schreien, aber der Anblick der rostigen Klinge, die allerdings so aussah, als wäre sie gerade erst geschärft worden, ließ ihn verstummen.
Der Kapuzenmann zeigte zunächst auf das Gemälde, dann auf das Buch, das mittlerweile vor Dysons Füßen auf dem Boden lag. Seine Hand machte einen kräftigen Eindruck, er hatte muskulöse Finger, deren Nägel dennoch gepflegt aussahen.
Dyson rührte sich zwar nicht von der Stelle, doch der Eindringling machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, wobei seine Kutte ein leises Rascheln von sich gab. Die Hand, mit der er eben noch auf Gemälde und Buch gezeigt hatte, umklammerte nun seine Sense.
Dyson hob seine eigenen Hände derweil in die Höhe – einerseits, um zu signalisieren, dass er keinen Widerstand leisten würde, andererseits aber auch, um einen möglichen Angriff damit besser abwehren zu können. Gleichzeitig machte er einen Schritt nach links.
Der Mann gestikulierte jetzt mit seiner Sense, als wollte er Dyson dazu auffordern, sich noch ein weiteres Stück zur Seite zu bewegen.
„Warten Sie!“, protestierte Dyson daraufhin, seine Angst hatte er zumindest vorübergehen überwunden. „Lassen Sie das Gemälde bitte hier. Sie können alles andere mitnehmen. Auch das Buch. Nur nicht dieses Gemälde.“
Der Eindringling machte eine weitere Geste mit seiner Sense.
„Haben Sie es auf Geld abgesehen? Ich kann Ihnen einen Millionenbetrag auszahlen. Aber bitte –“
Der Mann in der Mönchskutte hob seine Sense an.
Dyson begann zunächst zu zittern, doch dann hatte er sich wieder gefangen. Er hatte sein ganzes Leben mit der Suche nach diesem Bild verbracht. Da würde er jetzt nicht einfach so aufgeben. Auf gar keinen Fall.
Also stellte er sich zwischen den Eindringling und sein geliebtes Gemälde.
„Ich erfülle Ihnen jeden Wunsch“, sagte Dyson. „Aber das können Sie nicht –“
Der Fremde drehte seine Sense herum und schlug Dyson mit dem unteren Ende des Griffs auf die Schulter. Der Milliardär kam ins Straucheln und machte wieder einen Schritt zur Seite.
Der plötzliche, stechende Schmerz hatte seinen Widerstand gebrochen. Er war schließlich reich und würde es sich problemlos leisten können, gleich mehrere Privatdetektive damit zu beauftragen, diesen Verrückten ausfindig zu machen und ihm seinen rechtmäßigen Besitz wiederzuholen.
Der Einbrecher war offenbar zu dem gleichen Schluss gekommen, denn er machte zwei große Schritte vorwärts und schlug dann mit der Sense auf Dyson ein.
Dyson versuchte, mit seinen erhobenen Armen seinen Kopf vor dem Schlag zu schützen.
Der erste Schnitt hätte ihm deshalb beinahe den rechten Unterarm abgetrennt. Dyson ging keuchend in die Knie und fasste sich an den verletzten Arm.
So sah er den Schlag, mit dem die Sense ihm tief in den Nacken schnitt, nicht einmal kommen. Die Klinge durchtrennte seine Halsschlagader, wodurch eine Zeichnung von Caillebotte mit Blut vollgespritzt wurde.
Dyson ging nun gänzlich zu Boden. Der Eindringling wollte mit seiner Sense gerade zu einem dritten Hieb ausholen, doch dann hielt er inne.
Prof. Remi Laurent sortierte ihre Vorlesungsnotizen und machte sich dafür bereit, die heutige Sitzung ihres Kurses mit dem Titel Religiöser Symbolismus des Mittelalters zu Ende zu bringen. Vor ihr saß die übliche Menge gelangweilter Bachelorstudierender. Leider konnten sich diesen Kurs auch Studierende der Kunstgeschichte anrechnen lassen, deshalb waren diesmal noch mehr vollkommen desinteressierte Erstsemester angezogen worden, als es normalerweise der Fall war.
Aber immerhin konnte sie sich auf ein exzellentes italienisches Essen und die hervorragenden Fähigkeiten ihres Freundes im Bett freuen, die ihr den bevorstehenden Abend versüßen würden. Für einen Mann mittleren Alters war Prof. Cyril Mullen erstaunlich viril und ungeniert. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wieder so, wie sie sich zuletzt mit Mitte zwanzig gefühlt hatte, zumindest wenn er sie nicht gerade dazu zu drängen versuchte, sich endlich auf einen Termin für ihre Hochzeit festzulegen. Letzteres löste bei Remi mit der Zeit immer zwiespältigere Gefühle aus.
Jetzt konzentriere dich erst einmal deine Arbeit, über alles andere kannst du dir später Sorgen machen, sagte sie in Gedanken zu sich selbst.
„Also dann, machen wir mit der nächsten Folie weiter“, sagte sie und versuchte dabei möglichst zu ignorieren, dass mehrere ihrer Studierenden ihre Handys unterhalb ihrer Tischplatten versteckt in den Händen hielten und damit beschäftigt waren, Nachrichten zu schreiben.
Remi wandte sich der letzten Folie ihrer Powerpoint-Präsentation zu.
„Lassen Sie uns einen Augenblick lang über die symbolische Bedeutung von Farben in Gemälden der Renaissance sprechen. In unserer nächsten Sitzung werden wir uns mit diesem Thema noch genauer auseinandersetzen, aber ich wollte Ihnen darauf heute bereits einen kleinen Vorgeschmack geben. Die Bedeutung wurde nicht nur durch die Symbolik der Farbe selbst bestimmt, sondern auch durch praktische Aspekte wie die Kosten der Pigmente. Nehmen wir etwa die Farbe Blau. Sie sehen hier das Martinengo-Altarbild, das von Lorenzo Lotto um das Jahr 1516 herum angefertigt wurde. Die Jungfrau Maria hält das Christkind auf dem Arm und ist dabei von diversen Figuren umgeben, darunter auch ein erwachsener Jesus mit Wundmalen.
„Es fällt auf, dass die Farbe Blau hauptsächlich für das Kleid der Jungfrau Maria verwendet wurde. Die einzigen anderen Figuren, die ebenfalls blau trägt, sind der erwachsene Jesus sowie die beiden Engel, die oberhalb der Menschen auf dem Gemälde in der Luft schweben. In dieser Zeit hat man sich die Farbe Blau für die heiligsten Figuren auf einem Gemälde aufgespart, weil diese Farbe die mit Abstand teuerste war. Sie wurde damals aus Lasurstein hergestellt, der dafür eigens aus Afghanistan importiert werden musste.“
Eine Hand schoss vor Remi in die Höhe. Sie erkannte, dass es die Hand einer Archäologiestudentin war, eine intelligente junge Frau, die die ihr aufgegebenen Texte tatsächlich las.
„Wurde Lasurstein nicht auch im Alten Ägypten für die Verzierung der Maske des Tutanchamun verwendet?“
Eigentlich war das gar keine Frage, sondern eher ein Statement. Diese Studierende war immer besonders versessen darauf, anderen zu zeigen, wie viel sie wusste.
Das konnte Remi ihr verzeihen. Immerhin gab es in ihrem Fall tatsächlich Dinge, die sie wusste.
„Ja, das stimmt. Lasurstein wurde im Alten Ägypten vielfach verwendet. Über die symbolische Bedeutung dieser Farbe in der ägyptischen Kultur kann ich allerdings nichts sagen. Das war doch ein wenig vor meiner Zeit.“
Über ihren Witz musste Remi selbst ein wenig lachen. Unter den Studierenden lachte allerdings niemand.
Nun meldete sich ein junger Mann, der weiter hinten im Raum saß.
„Ja?“
„Haben Sie schon von diesem Serienmörder gehört, der es auf die Kryptex abgesehen hatte?“
Remi war sofort ganz angespannt. Dieser verrückte Kerl hatte auf seiner Jagd nach diesem mittelalterlichen Artefakt mehrere Menschen ermordet und hätte es dabei um ein Haar geschafft, das darin verborgene Geheimnis zu lüften.
Sie hatte dabei geholfen, ihn zur Strecke zu bringen. Eine Leistung, die Remi mit mehr Stolz erfüllt hatte als all die akademischen Lorbeeren, die sie in ihrer Karriere bisher gewonnen hatte.
Glücklicherweise war die Aufmerksamkeit der Medien dadurch nicht auf sie gelenkt worden. Zumindest noch nicht.
„Ja, selbstverständlich habe ich davon schon gehört“, antwortete sie und wischte sich dabei nervös die Haare aus dem Gesicht.
„Haben die Sie angerufen und dazu befragt, oder so?“
„Nein, wieso hätten sie das tun sollen?“
„Na ja, also, sie haben uns schon sehr viel über die Kryptex erzählt. Sie sind doch eine Expertin auf dem Gebiet, oder nicht?“
„Ich kenne keine Details zu dem Fall. Nur das, was ich in den Nachrichten dazu gehört habe. Ich gehe davon aus, dass das FBI den Täter mit ganz gewöhnlichen Ermittlungsmethoden geschnappt hat.“
Zum Beispiel, indem es eine zivile Expertin als Beraterin engagiert hat, dachte sie stolz.
„Also hatten Sie mit dem Fall nichts zu tun?“, hakte der Student weiter nach.
„Nein.“ Remi wandte sich wieder ihrer Präsentation zu. „Also, es ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass Symbolismus in der Renaissance manchmal von Kostenfaktoren beeinflusst wurde. Künstler mussten also mit gewissen praktischen Einschränkungen klarkommen und ihren Werken dabei trotzdem so viel symbolträchtige Bedeutung verleihen wie möglich. Wir werden im Verlauf des Kurses feststellen, dass die Künstler dieser Zeit immer besser darin wurden, in ihren Werken viele verschiedene Bedeutungsebenen unterzubringen. Und das war’s für heute –“ Im Geraschel der Bücher, die nach diesen Worten zugeklappt wurden, sowie den Geräuschen der über den Boden kratzenden Stühle ging der zweite Teil ihres Satzes unter, deshalb drehte sie ihr Mikro lauter.
Durch die Lautsprecher ertönte das unangenehme Quietschen der Rückkopplung im Raum. Ihre Studierenden verzogen ihre Gesichter.
Remi hingegen setzte ein Lächeln auf. Es wäre zwar noch effektiver gewesen, mit einem neuen Stück Kreide an einer Tafel entlangzukratzen, aber dieses Geräusch zeigte ebenfalls bereits beachtliche Wirkung.
„Bitte lesen Sie für die nächste Sitzung Kapitel fünf des Buches.“
Ihre Studierenden hielten inne. Als sie sich sicher waren, dass Remi dem nichts weiter hinzuzufügen hatte, stürmten sie auf die Tür des Saals zu, viele von ihnen hatten dabei bereits ihr Handy hervorgeholt.
Remi stieß einen Seufzer aus und verstaute ihre Unterlagen in ihrer Tasche. Mit jeder Vorlesung, die sie hier hielt, vermisste sie die Sorbonne noch ein Stück mehr. Dort hatte man es nur mit den allerbesten Studierenden zu tun, die bereits beachtliche Grundkenntnisse mitbrachten und trotzdem geradezu begierig darauf waren, weiteres Wissen anzuhäufen.
Und doch war Remi der Meinung, dass sie eigentlich keinen Grund hatte, sich zu beschweren. Während sie ihrem letzten Studierenden aus dem Vorlesungssaal folgte, dachte sie darüber nach, welche Vorzüge es mit sich brachte, hier zu sein: Die Georgetown University zahlte ihr ein gutes Gehalt und stellte ihr außerdem genügend Geld zur Verfügung, um Reisen für ihre Forschung zu finanzieren. Zudem konnte sie hier mit Cyril zusammen sein.
Obendrein hatte ihre Anstellung hier auch indirekt dazu beigetragen, dass sie in eine FBI-Ermittlung involviert worden war – etwas, das sie sich zuvor niemals hätte träumen lassen. Ihr Studierender, der nach dem Serienmörder gefragt hatte, wäre nun beinahe hinter dieses Geheimnis gekommen.
Sie schaute sich in der Menge nach diesem Studierenden um und hoffte inständig, dass er nicht zu ihr kommen und ihr noch weitere Fragen zu dem Fall stellen würde. Remi war noch nie eine besonders gute Lügnerin gewesen.
Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie seinen Hinterkopf in etwa fünfzig Meter Entfernung in der Menge. Er hatte es genauso eilig, aus dem Gebäude herauszukommen, wie all ihre anderen Studierenden.
Ihre Anspannung verflog und wurde von einem Gefühl der Vorfreude abgelöst, während sie die Treppe hinaufging und auf ihr Büro zusteuerte. Jetzt, wo sie ihren letzten Kurs des Tages hinter sich gebracht hatte, konnte sie sich wieder ihrer eigentlichen Berufung widmen: Dem Entschlüsseln des Geheimnisses, das in der Kryptex verborgen gewesen war.
Denn was ihr Student nicht wusste, was überhaupt niemand wusste, war, dass sie den kurzen Augenblick, in dem der FBI-Ermittler Daniel Walker und seine Kollegen damit beschäftigt gewesen waren, den Mörder abzuführen, dazu genutzt hatte, um die Kryptex mithilfe des Codes, den der Täter selbst entdeckt hatte, zu öffnen.
Sie rannte nun beinahe den Flur zu ihrem Büro entlang, dabei erwiderte sie geistesabwesend den Gruß eines Kollegen, an dem sie vorbeikam, mit einem anderen stieß sie beinahe zusammen. Als sie es endlich in ihr Büro geschafft hatte, verriegelte sie die Tür hinter sich. Sie wollte von niemandem gestört werden.
Remi schaltete ihren Computer ein und öffnete darauf einen Ordner, dem sie den irreführenden Namen „Familienfotos“ gegeben hatte, damit er nicht die Aufmerksamkeit neugieriger Beobachter erweckte. In der Liste der Unterordner, die sich darin befanden, scrollte sie zum Ordner mit dem Namen „Sommer 2019“, dann zu einem Ordner namens „Ausflüge“ und schließlich zu einem Ordner, den sie „Bridgettes achter Geburtstag“ genannt hatte.
Selbstverständlich hatte sie gar keine achtjährige Verwandte namens Bridgette.
Nachdem sie diesen letzten Dateiordner geöffnet hatte, hatte sie die sechs Fotos vor sich, die sie in der besagten Nacht vom Inneren der Kryptex gemacht hatte.
Die ersten zwei dieser Fotos waren verschwommen und die Kryptex war darauf nicht ganz im Bild. Nachdem es ihr endlich gelungen war, das rätselhafte Objekt zu öffnen, war sie so nervös gewesen, dass es ihr kaum gelungen war, ihr Handy ruhig zu halten.
Die anderen vier Fotos waren allerdings nicht verwackelt, sondern die Kryptex war darauf klar und deutlich zu erkennen. Sie öffnete eines dieser Fotos.
In das innere Elfenbein der Kryptex war eine Karte graviert worden. Darauf war eine kleine Ortschaft zu sehen, die sich neben einem schlängelnden Fluss befand. Ein Stück rechts davon war eine Hügel- oder Gebirgskette eingezeichnet worden, die an beiden Seiten bis an den Rand der Karte reichte, womit angedeutet wurde, dass die Kette über den Kartenausschnitt hinaus weiterging.
Auf der dem Ort gegenüberliegenden Flussseite, ein kleines Stück weiter den Strom hinauf oder hinab, war eine Stelle mit einem X markiert worden.
In der unteren rechten Ecke der Karte fand sich der Grundriss einer Kirche. In der Mitte des Hauptschiffes war ein weiteres X eingezeichnet worden.
Remi lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelte. Schon seit Tagen hatte sie jede freie Minute – darunter auch viele Stunden, in denen sie eigentlich hätte schlafen sollen – damit verbracht, Nachforschungen darüber anzustellen, welche Ortschaft und welche Kirche auf dieser Karte wohl abgebildet worden war. Denn auf der Karte fand sich keine Legende, überhaupt gab es im Inneren der Kryptex keinerlei Beschriftung. Die Schöpfer des Artefakts waren offenbar davon ausgegangen, dass eine Person, der es gelang, die Kryptex zu öffnen, auf Anhieb erkennen würde, was auf der Karte genau abgebildet wurde.
Aber Remi hatte das natürlich nicht erkannt. Also hatte sie bereits unzählige Stunden damit verbracht, mithilfe von Google Earth sowie diversen alten, europäischen Landkarten aus dem Mittelalter und der Renaissance eine Region zu finden, die zu der Abbildung passte.
Das war eine äußerst knifflige Aufgabe. Denn im Laufe der sieben Jahrhunderte, die seit der Anfertigung der Karte verstrichen waren, hatte sich der Verlauf mancher Flüsse verändert, waren neue Ortschaften gegründet worden und andere vom Erdboden verschwunden, waren diverse alte Kirchen zerstört und anderen bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet worden.
Doch Remi hatte trotz all dieser Unannehmlichkeiten nicht aufgegeben, sondern den Grundriss mit jeder Kirche verglichen, die im passenden Jahrhundert bereits existiert hatte und über die heute noch Informationen zu finden waren.
Und ihre Beharrlichkeit hatte sich letztlich bezahlt gemacht.
Es war ihr gelungen, die richtige Kirche ausfindig zu machen. Diese Kirche stand noch immer in der Toskana, in einer ländlichen Gegend unweit von Florenz. Auch der Fluss existierte noch, allerdings hatte sich sein Verlauf aufgrund eines Damms, den Mussolini Ende der Zwanziger hatte errichten lassen, ein wenig verändert. Die Ortschaft gab es ebenfalls noch immer.
Die Kirche des Heiligen Pantaleon von Nikomedien war im frühen dreizehnten Jahrhundert errichtet und dem Schutzheiligen der Ärzte und Hebammen gewidmet worden. Pantaleon war im späten dritten Jahrhundert zum Christentum konvertiert – als Christen im Römischen Reich noch verfolgt wurden – und hatte dem Kaiser Galerius als Arzt gedient. Diese Anstellung verlor er, als er sich zu seinem Glauben bekannte. Er soll mehrere Wunderheiligungen vollbracht haben. Letztlich starb er mit mehreren anderen Christen aus der Region im Jahr 303 einen Märtyrertod.
Die Herkunft des Mannes war Remi ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Bei Nikomedien handelte es sich um eine Stadt im Römischen Reich, die im Nordwesten der heutigen Türkei lag. Diese Stadt, mittlerweile fast gänzlich vom Erdboden verschwunden, war einst die Hauptstadt des Oströmischen Reiches und eine Brutstätte des frühen Christentums gewesen.
An diesem Ort war auch noch ein anderer Heiliger aktiv gewesen, den man heute Adrianus von Nikomedien nannte.
Während ihrer Ermittlungen zum Kryptex-Mörder hatten sie einen Mönch des Klosters des Heiligen Sankt Adrianus festgenommen. Dieses Kloster befand sich in Norditalien, in der Nähe von Ravenna. Remi hatte herausgefunden, dass dieser Orden ins Leben gerufen worden war, um die das in der Kryptex verborgene Geheimnis zu schützen. Sie hatten den Mann bei dem Versuch erwischt, die Kryptex zu stellen, was mit Sicherheit eine Sünde gewesen wäre, wenn es nicht dem Zweck gedient hätte, das Artefakt davor zu bewahren, in die Hände eines Serienmörders zu gelangen.
Nun befand sich die Kryptex in den Händen des Vatikans. Remi fragte sich, was wohl inzwischen aus dem Mönch, den sie wieder hatten gehen lassen, und seinem uralten Orden geworden war.
Sie fragte sich auch, was es mit der Verbindung zu Nikomedien auf sich hatte. Sankt Adrianus war nur drei Jahre nach Sankt Pantaleon aufgrund seines Glaubens hingerichtet worden, und zwar in der gleichen Stadt. Hatten sich die beiden Männer womöglich gekannt?
Remi steuerte die Position der Kirche auf Google Maps an und sah sich das Satellitenbild bereits zum hundertsten Mal ganz genau an. Ja, das musste der richtige Ort sein. Die Karte aus der Kryptex war zwar alles andere als genau, aber sie konnte dennoch erkennen, dass sich Fluss und Hügelkette im gleichen Winkel zueinander befanden und dass auch die Kirche und die kleine Ortschaft am richtigen Ort lagen. Es gab keinen Zweifel, dass sie die richtige Kirche gefunden hatte.
Zumindest abgesehen von der Tatsache, dass es ihr nicht gelungen war, einen Grundriss der Kirche aus dem vierzehnten Jahrhundert zu finden. Der einzige Grundriss, den sie hatte ausfindig machen können, stammte aus einem Buch, das im frühen zwanzigsten Jahrhundert veröffentlicht worden war. Die Abbildungen darin, die zeigen sollten, wie sich das Aussehen der Kirche im Laufe der Jahrhunderte verändert hatte, waren allesamt nicht mehr als bloße Spekulation. Bei einer Ausgrabung, die im Jahre 2007 stattgefunden hatte, waren vermutlich wesentlich belastbarere Erkenntnisse gewonnen worden, aber der Bericht zu der Ausgrabung war nie veröffentlicht worden – eine unter Archäologen weit verbreitete, ärgerliche Angewohnheit. Um sich das Manuskript zu dieser Ausgrabung ansehen zu können, würde sie ins Archiv nach Florenz reisen müssen.
Und genau das hatte Remi auch vor. Sobald ihr eine Ausrede eingefallen war, mit der es ihr gelingen würde, um eine Woche Befreiung von ihren Unterrichtspflichten zu bitten, würde sie nach Italien aufbrechen, um dieses Manuskript ausfindig zu machen. Da sie im Laufe der FBI-Ermittlungen schon für längere Zeit vom Unterricht freigestellt worden war, konnte sie es sich aktuell allerdings eigentlich nicht leisten, erneut darum zu bitten.
Und doch musste sie unbedingt einen Weg finden, diese Reise zu ermöglichen. Schließlich ging es hier um ihr Lebenswerk. Nachdem sie so viel wie möglich über die Geschichte der Kirche und ihren Bau herausgefunden hatte, würde sie sich für eine Woche vom Unterricht freistellen lassen, dort hinfliegen und sich mit eigenen Augen ansehen, was das auf der Karte eingezeichnete X markierte.
Sofern es denn überhaupt noch irgendetwas markierte. Wie so viele Kirchen war auch diese im Laufe der Jahrhunderte mehrfach restauriert und erweitert worden. Dann waren auch noch moderne Archäologen angerückt und hatten Suchschnitte angelegt und Untergrundkarten angefertigt. Deshalb war es nicht unwahrscheinlich, dass das, was von dem X in der Kryptex markiert worden war, schon längst ausgegraben worden war, möglicherweise sogar bereits vor hunderten von Jahren.
Nein, so darfst du nicht denken. Du hast es schon so weit gebracht und dabei so viel riskiert, dass du jetzt nicht aufgeben kannst.
Sie suchte einige Artikel zur Renaissance in der Toskana heraus und begann, sie zu lesen. Sie wollte ihr Wissen über die Kirchenpolitik in der Region zur Zeit, in der die Kryptex angefertigt worden war, erweitern, denn als Wissenschaftlerin wusste sie, dass möglichst breit angelegte Grundkenntnisse einem später oftmals auf ungeahnte Art und Weise zu nutzen kamen. Da es nichts mehr gab, was sie zur Kirche des St. Pantaleon selbst noch hätte lesen können, wollte sie stattdessen mehr über den Kontext, in dem die Kirche erbaut worden war, in Erfahrung bringen.
Ihre Aufregung diente ihr als Motivation. Seitdem sie bei den FBI-Ermittlungen mitgewirkt hatte, empfand Remi den akademischen Alltag, der ihr einst so angenehm und intellektuell stimulierend vorgekommen war, fast ein wenig langweilig. Den Spuren der Kryptex weiter nachzugehen brachte etwas Abwechslung in ihre sonst recht eintönigen Tage.
Also las sie weiter.
Dann klingelte der Wecker, den sie auf ihrem Handy gestellt hatte. War es wirklich schon Viertel vor sieben? Sie hatte Cyril versprochen, sich um sieben mit ihm zu treffen. In letzter Zeit hatte sie sich so sehr in ihre Forschung gestürzt, dass sie schon zu mehreren Verabredungen mit ihm zu spät gekommen war. In seiner Verärgerung war Cyril dann bereits mehrfach zu ihr ins Büro gekommen.
Das konnte nicht so weitergehen. Denn sie wollte nicht, dass Cyril herausfand, womit sie sich beschäftigte.
Remi schaltete ihren Computer aus und ging aus ihrem Büro. Während sie die Tür abschloss, überkamen sie Schuldgefühle. Sie mochte es nicht, Cyril hinters Licht zu führen, denn er war ein guter, liebenswerter Mensch, der ihr gegenüber immer sehr zuvorkommend war. Er war außerdem auch ein perfekter Vater, der sich sehr fürsorglich um seine Tochter aus erster Ehe kümmerte.
Es war keine einvernehmliche Scheidung gewesen. Cyril erzählte nur sporadisch davon. Seine Ex-Frau Trisha hatte Remi bisher nicht kennengelernt – und sie hatte auch nicht vor, das zu ändern.
Was auch immer der Grund für die Trennung gewesen sein mochte, um seine Tochter im Teenageralter kümmerte sich Cyril jedenfalls noch immer sehr gut. Er verbrachte jeden Donnerstagabend und jedes zweite Wochenende mit ihr und diese Zeit war ihm heilig. An diesen Tagen traf sich Remi nie mit ihm.
Ja, er war definitiv ein guter Mensch. Einer von der Sorte, die man so schnell nicht wiederfindet. Solche Menschen sollte man wertschätzen und man sollte es tunlichst vermeiden, sie anzulügen.
Und doch: Während Remi die Treppe hinunterging und unten an einem Hausmeister vorbeikam, der gerade den Boden wischte, dachte sie darüber nach, dass sie ihm trotzdem aus irgendeinem Grund nicht die ganze Wahrheit sagen wollte. Er machte sich über ihre Forschung zur Kryptex zwar nicht lustig, aber besonders viel Respekt hatte er vor ihrer Arbeit auch nicht unbedingt. Er versuchte immer wieder, sie dazu zu bringen, sich auf ihre ‚seriösen Forschungsinteressen‘ zu konzentrieren.
Außerdem gefiel es ihr eigentlich ganz gut, ein Geheimnis zu haben. Nicht einmal Daniel Walker, der FBI-Agent, mit dem sie bei den Ermittlungen zum Kryptex-Mörder zusammengearbeitet hatte, wusste, dass sie die Kryptex geöffnet und das Innere abfotografiert hatte.
Es hatte sich als richtige Entscheidung herausgestellt, die Kryptex sofort zu öffnen, denn nur kurze Zeit später hatte der Vatikan das Objekt dem Museum, in dem es – versteckt in einem anderen Ausstellungsstück – gefunden worden war, abgekauft. Remi wusste zwar nicht, wie viele Millionen der Vatikan dem Museum dafür gezahlt hatte, aber sie hätte jeden einzelne dieser Millionen darauf gewettet, dass die Kryptex nun nie wieder in die Hände von Wissenschaftlern gelangen würde.
Cyril wartete vor dem Gebäude bereits auf sie, er hielt seine Aktentasche in der Hand. Anders als die meisten Akademiker trug er weder Umhängetasche noch Rucksack, sondern eine Aktentasche, die man normalerweise nur bei Geschäftsleuten sah. Aber Cyril hatte schon immer eine gewisse kaufmännische Ausstrahlung gehabt.
„Und, hast du heute wieder etwas Meth erbeuten können?“, fragte Remi ihn, womit sie einen der wenigen amerikanischen Slangausdrücke benutzte, die sie kannte.
„Ja, heute wieder von bester Qualität“, sagte Cyril. „Vor fünf Minuten erst ist mir einer meiner Schneidezähne ausgefallen.“
Es war ein Witz, den Remi häufiger machte. An zwei Abenden in der Woche wirkte Cyril, einer der angesehensten Historiker seiner Generation, ehrenamtlich bei einem Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene mit. Dort brachte er alleinstehenden Müttern, die gerade auf Entziehungskur waren, das ABC bei. Und obwohl sie darüber scherzte, hob diese Arbeit Cyril in ihren Augen auf ein Podest.
Sie relativierte außerdem ihre eigenen Probleme. Wenn es diesen ungebildeten Frauen möglich war, von einer extrem abhängig machenden Droge wegzukommen, dann würde es Remi auch gelingen, ein Rätsel aus dem Mittelalter zu lösen.
Ihre Finger verschränkten sich für einen Moment, bevor sie sich wieder voneinander lösten. Dann gingen sie gemeinsam den Weg am Rande des Campusgeländes entlang, nah beieinander, aber nicht zu nah. An amerikanischen Universitäten musste man darauf achten, den Schein zu wahren.
Aus demselben Grund sprachen sie ausschließlich über die Arbeit, etwa über die Tagesordnung einer bevorstehenden Fakultätssitzung und über die Dinge, die sie im Moment erforschten. Remi fühlte sich schuldig.
Du liebst diesen Mann und hast sogar vor, ihn zu heiraten, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Du musst ihm unbedingt von deiner Entdeckung erzählen. Er wird sicher begeistert sein. Und sich für dich freuen.
Von Letzterem war Remi nicht vollends überzeugt. Denn als sie ihm gesagt hatte, dass sie nicht mehr zur Kryptex forschte, hatte er das gutgeheißen. Wie alle anderen in ihrem beruflichen Umfeld war auch er davon überzeugt, dass sie mit dieser Arbeit ihr Talent vergeudete.
Deshalb hatte Remi Angst vor seiner Reaktion, falls sie ihm davon erzählen sollte. Nein, wenn sie ihm davon erzählen würde.
Er musste schließlich seine Zustimmung zu der Reise nach Florenz und den damit verbundenen Ausgaben geben.
Er würde doch nicht etwa nein sagen, oder?
Das wäre gemein. Du bist ihm schließlich wichtig.
„Du bist plötzlich so still“, sagte Cyril.
Remi schaffte es, ein Lächeln aufzusetzen. „Beim Essen werden wir ja noch jede Menge Zeit zum Quatschen haben.“
„Das stimmt“, sagte Cyril und streifte ihre Hand mit der seinen. „Es gibt da etwas Wichtiges, was wir dringend besprechen müssen.“
Remis Herz schlug daraufhin etwas schneller und sie wurde von gemischten Gefühlen überrascht. Er wollte einen Hochzeitstermin festlegen, aber sie musste ein unangenehmes Gespräch über ihre Forschung mit ihm führen.
Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie musste der Sache schließlich auf den Grund gehen.
„Hast du Schmetterlinge im Bauch?“, fragte Cyril sie mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Was meinst du denn damit?“
Cyril musste lachen. „Das ist eine amerikanische Redewendung. Schmetterlinge im Bauch haben heißt, dass man nervös ist.“
„Ja. Ich habe Schmetterlinge im Bauch.“
Agent Daniel Walker von der Antiquitäteneinheit des FBI sah sich den Tatort an. Er war noch nie zuvor in den Hamptons gewesen und der Anblick der blutigen Leiche eines Milliardärs wäre nicht gerade die angenehmste Art und Weise gewesen, mit einer der teuersten Gegenden der Vereinigten Staaten Bekanntschaft zu machen.
Doch der Mord war schon vor über acht Stunden begangen worden. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit bereits abgeschlossen und die Leiche abtransportiert. Da das FBI eingeschaltet worden war, hätte die Leiche eigentlich am Tatort bleiben sollen, um ihm die Gelegenheit zu geben, sie sich an Ort und Stelle anzusehen, aber bei Montgomery Dyson handelte es sich eben nicht um ein gewöhnliches Mordopfer. Laut Akte war er der 27. reichste Mann Amerikas, ein Milliardär, dem ein Immobilienimperium gehört, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er hatte sieben verschiedene Wohnsitze, besaß drei Yachten, einen Privatjet, ein Schweizer Bankkonto und der Himmel weiß, was sonst noch alles.
Seltsam, dass Daniel von ihm noch gehört hatte. Seine Firma war nicht nach ihm benannt und auch eine schnelle Googlesuche hatte kaum nennenswerte Ergebnisse erbracht. Keine besonders auffälligen Großspenden oder Aufsichtsratsposten, abgesehen von dem in seiner eigenen Firma. Auch die Klatschpresse hatte nicht über ihn berichtet. Dabei war doch jeder andere Reiche, der auch nur ein Zehntel seines Reichtums angehäuft hatte, überall im Internet zu finden.
Deshalb fragte sich Daniel nun, womit Mr. Dyson sich wohl die Zeit vertrieben hatte.
Einerseits offenbar mit dem Sammeln von Kunst. Die ‚Ostgalerie‘, wie seine Bediensteten sie nannten, um sie von der ‚Westgalerie‘ zu unterscheiden (Warum sollte man auch nur eine Galerie haben?) sah wie ein kleines städtisches Museum aus. Hier fanden sich Werke aus der italienischen Renaissance, aus dem Goldenen Zeitalter der Niederlande und dem französischen Impressionismus. Der Typ hatte definitiv Geschmack.
Womit Daniel bei einer auffällig großen Lücke an der Wand angekommen war, an der sich nur ein unbenutzter Haken fand, obwohl hier genug Platz gewesen wäre, um ein Gemälde mittlerer Größe aufzuhängen.
Bei diesem Gemälde dürfte es sich um das einzige Ausstellungsstück handeln, das entwendet worden war.
Moment. Oder vielleicht auch nicht. Unterhalb einer Landschaft von Manet befand sich ein Bücherregal, in dem eine Reihe antiquarischer Bücher standen, die allesamt so aussahen, als waren sie mehrere hundert Jahre alt. Die Bücher standen dicht an dicht in dem Regal, was empfehlenswert war, um zu verhindern, dass die Seiten sich von der Luftfeuchtigkeit wellten, abgesehen von einer einzigen Lücke in ihren Reihen. Es fehlte ein Buch von etwa fünf Zentimetern Dicke. Ein ziemlich dicker Schinken – oder vielleicht zwei etwas weniger dicke Schinken.
Daniel drehte eine Runde durch den ganzen Raum. Von dem Regal abgesehen waren an keiner anderen Stelle Bücher zu finden. Dyson, oder vermutlich eher seine Bediensteten, hatten den Raum sauber und ordentlich gehalten. Eine Lücke im Bücherregal wies deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein fehlendes Buch hin.
Die Spurensicherung hatte ihm bereits eine Zusammenfassung davon gegeben, was sie im Rest des Hauses vorgefunden hatten. Es hatte keine Anzeichen eines Einbruches gegeben, es war niemand sonst ermordet worden, aber es gab eine Blutspur, die von der Ostgalerie hinaus zum Pool führte.
Daniel folgte dieser Spur, die aus einer Reihe verkrusteter Bluttropfen bestand, die sich auf dem Teppich, der den Flur hinunterführte, deutlich abzeichneten. Als das Knarzen eines Polizeifunkgerätes aus dem Wohnzimmer zu vernehmen war, drehte Daniel sich in Richtung des Geräusches um. Die örtliche Polizei hielt dort noch immer die drei Angestellten des Milliardärs fest, die wie ungezogene Schulkinder nebeneinander aufgereiht standen und ihm nervöse Blicke zuwarfen.
Er ging an ihnen vorbei, ohne ein Wort zu verlieren. Es konnte nicht schaden, sie noch ein wenig länger dort versauern zu lassen.
Die Blutspur führte ihn weiter durchs Haus, aber die Tropfen wurden immer kleiner und der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich – wahrscheinlich weil das Blut an der Waffe, laut der vorläufigen Analyse ein gebogener, scharfer Gegenstand, inzwischen zu trockenen begann.
Und doch war auch zu diesem Zeitpunkt noch genug Blut auf den Boden getropft, dass es Daniel gelang, der Spur hinaus bis auf die Terrasse und direkt bis an den Rand des Pools zu folgen. Dort endete die Spur – und sie nahm auch an keiner anderen Stelle einen neuerlichen Anfang.
Hat er also seine Mordwaffe sauber gemacht. Kommt mir ja ein bisschen überflüssig vor.
Daniel blieb einen Augenblick lang neben dem Pool stehen. Während er über dieses merkwürdige Detail nachdachte, fiel ihm auf, welch eindrucksvoller Blick auf den Atlantik sich einem von hier bot. Auf der Terrasse fand sich nicht nur der Pool, sondern auch eine voll ausgestattete Bar und ein ziemlich teures Soundsystem. Der Blick auf den Ozean wurde durch nichts verstellt, weil die Terrasse erhöht gebaut worden war. Eine Treppe führte Daniel hinunter in den Garten, von dem die erhöhte Terrasse umgeben war.Der Garten wurde von einer etwa drei Meter hohen Mauer eingezäunt, gekrönt von kunstvoll geschmiedeten Stacheln. Künstlerisch ansprechend, aber dennoch spitz genug, um jemanden zu verletzen, der versuchte, darüber hinwegzuklettern.
Es sei denn, man brachte eine kleine Trittleiter und eine dicke Plane mit, die man in mehreren Schichten über die Spitzen legte. Diese beiden Dinge hatte der Täter zurückgelassen.
Daniel schüttelte den Kopf. Wie oft war er schon Zeuge davon geworden, dass reiche Menschen ausgeraubt worden waren, weil sie keine ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten? Diese Menschen dachten in der Regel, dass die vornehme Gegend, in der sie lebten, sie davor beschützen würde. Nun ja, Dyson hatte jetzt jedenfalls herausgefunden, dass dem mitnichten so war.
Er stieg auf die Trittleiter, die noch ganz staubig war, weil die Spurensicherung sie vergeblich nach Fingerabdrücken abgesucht hatte, und warf einen Blick über die Mauer hinweg. Dahinter befand sich eine Grasfläche, die schon bald in Sandstrand überging. Im Sand konnte er einen länglichen, plattgedrückten Streifen erkennen. Der Mörder hatte offenbar etwas hinter sich hergezogen, um seine Spuren zu verwischen. Etwas, das ungefähr einen Meter breit gewesen war. Der Streifen endete an der Flutgrenze.
Daniel holte sein Handy hervor, um den Gezeitenkalender für diese Region zu überprüfen. Jepp, die Flut war etwa eine Stunde nach der geschätzten Todeszeit gekommen. Er hätte hundert Dollar darauf gewettet, dass das kein Zufall gewesen war.
Er stieg wieder von der Leiter und sah sie sich etwas genauer an. Dabei entdeckte er einen kleinen, rechteckigen Klebstofffleck, auf dem einige vom Wind aufgewehte Sandkörner haften geblieben waren. Natürlich hatte der Täter auch daran gedacht, das Preisschild abzuziehen. Er hatte einfach an alles gedacht. Oder zumindest war er vermutlich davon überzeugt, an alles gedacht zu haben. Aber in Wahrheit war das in der Geschichte der Menschheit noch keinem einzigen Verbrecher gelungen. Irgendeinen Fehler hatten sie alle begangen.
Über die Holztreppe ging er zurück zur Terrasse hinauf und stellte fest, dass ein Beamter der örtlichen Polizei dort auf ihn wartete. Ein Mann, der nicht nur einen weichen Bauch vor sich herschob, sondern auch einen sanften Blick auf dem Gesicht hatte, was wahrscheinlich an seinem angenehmen Job lag. Er hatte nichts mit den taffen Großstadtpolizisten gemein, die Daniel als Kind so bewundert hatte.
Und mit Daniel selbst hatte er ebenfalls nichts gemein. Er trug zwar ebenfalls einen Rettungsring mit sich herum, aber es lag nichts Sanftes in seinen Augen. Das war schon seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr der Fall gewesen.
„Wollen Sie jetzt mit den Angestellten sprechen?“, fragte der Beamte ihn. Nicht einmal in Gedanken konnte Daniel für diesen Mann die Bezeichnung ‚Polizist‘ verwenden. Dieses Wort implizierte, dass man draußen auf der Straße mit harter Arbeit Verbrecher überwältigte. Solche ‚richtigen‘ Polizisten waren die Helden seiner Kindheit gewesen. Wenn er sich damals doch bloß getraut hätte, einmal mit einem dieser Polizisten ein Wort zu wechseln.
„Lassen Sie die noch ein bisschen schmoren“, sagte Daniel. „Zeigen Sie mir zunächst die Aufnahmen der Überwachungskameras.“
Der Beamte schüttelte den Kopf. „Der Anblick hat es in sich.“
Er führte Daniel durch die Küche – gut ausgeleuchtet, glänzende Chromoberflächen, eine Schüssel mit verschiedenen exotischen Früchten auf der Theke, die Daniel nicht genauer identifizieren konnte – hindurch zu einem kleinen Nebenraum, in dem eine der Wände mit einer ganzen Batterie an Überwachungsmonitoren ausgestattet war.
„Ich hatte das schon vorbereitet“, erklärte der Beamte.
Dann drückte er auf einen Knopf. Auf einem der Monitore wurden Aufnahmen abgespielt, die die Terrasse hinter dem Haus vom oben zeigten, die Kamera befand sich offenbar auf dem Dach. In der unteren rechten Ecke der Aufnahmen stand das heutige Datum und die Uhrzeit 2:14. Die Mauer des Grundstücks war am Bildrand zu erkennen. Auf dem stummen Video war zu sehen, wie zwei Hände auf der Mauer auftauchten und dann eine Plane über die metallenen Zacken warfen.
Dann tauchte eine Gestalt auf, die eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte und an einen Mönch aus dem Mittelalter erinnerte. Die Gestalt warf ein Bein über die abgedeckten Zacken, wodurch eine helle Hose und ein Paar Deckschuhe ins Bild kamen, dann saß sie mit gespreizten Beinen auf der Mauer.
Die Gestalt streckte den Arm nach etwas aus, was hinter der Mauer lag (Linkshänder) und hatte kurz eine Sense in der Hand, wie sie früher von Bauern verwendet wurde.
Vorsichtig legte die Gestalt die Sense auf der anderen Seite der Mauer wieder ab, dann rutschte sie einen Augenblick lang auf der Mauer vor und zurück, während sie sich mit beiden Händen an den abgedeckten Zacken festhielt.
Daniel starrte irritiert auf den Bildschirm und verstand nicht, was der Mann da genau tat.
Doch dieses Rätsel wurde nur wenige Sekunden später aufgelöst, als der Mann die Trittleiter mit einem seiner Füße hinter der Mauer hervorhob.
Als er die Leiter weit genug hochgehoben hatte, um mit den Händen an sie herankommen zu können, schnappte er sie sich, hob sie über die Mauer und setzte sie auf der anderen Seite wieder ab.
Der Idiot hat eine zu kleine Leiter mitgebracht.
Die Gestalt (männlich, durchschnittlicher Körperbau, etwas über eins achtzig groß) kletterte von der Mauer, schnappte sich seine Sense und ging dann die ersten Treppenstufen zur Terrasse hinauf. Auf der Treppe hielt er kurz inne, schaute zum Haus und als er sich davon überzeugt hatte, dass die Luft rein war, überquerte er die Terrasse so schnell wie möglich und verschwand damit aus dem Bild.
Gesund. Ruhig. Selbstbewusst.
„Aha“, sagte Daniel. „Und gibt es auch Aufnahmen aus dem Inneren des Hauses?“
„Da sind keine Kameras.“
Daniel schüttelte den Kopf.
Der Polizeibeamte spulte das Video viereinhalb Minuten weit vor – bis zu dem Moment, in dem die Gestalt wieder im Bild erschien.
Das Layout des Hauses war ihm offenbar bekannt. Sonst hätte er es nie im Leben geschafft, sich innerhalb so kurzer Zeit an drei Bediensteten vorbeizuschleichen, den Typen zu ermorden und wieder hier draußen aufzutauchen.
Die Gestalt hatte nun eine Tasche dabei, in der sich ein sperriger, rechteckiger Gegenstand befand. Dabei handelte es sich natürlich um das Gemälde (etwa sechzig mal fünfundvierzig Zentimeter groß, die kleinere Ausbuchtung daneben muss das Buch sein). Von der Sense tropfte Blut. Der Täter tauchte sie kurz in den Pool, schüttelte das Wasser von ihr ab und lief dann geradewegs zurück zu seiner Leiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Kurz darauf hatte er es über die Mauer geschafft und war aus dem Bild verschwunden.
„War’s das?“, fragte Daniel.
„Das war’s.“
Das mittelalterliche Kostüm ist Teil der Show. Er wollte seinem Opfer damit etwas sagen, dass er sich wie der Tod verkleidet hat.
Und uns wollte er damit ebenfalls etwas sagen. Er wusste mit Sicherheit von den Kameras. Deshalb war er die ganze Zeit über mit gesenktem Kopf durchs Bild gelaufen, damit er unter der Kapuze nicht zu erkennen war.
„Lassen Sie uns mit dem Personal sprechen“, sagte Daniel.
Dyson Bedienstete waren noch immer im Wohnzimmer aufgereiht, aufmerksam bewacht von einem weiteren Mitglied der örtlichen Polizei. Ein weiterer uniformierter Mensch mit sanften Augen, der eher gewohnt war, es mit betrunkenen Verkehrsteilnehmern als mit einem Mordfall zu tun zu haben. Der einzige Unterschied zu dem ersten Beamten bestand darin, dass es sich diesmal um eine Frau handelte.
Der erste Bedienstete war ein aufrecht stehender, älterer Herr mit Hängebacken und Bierbauch, der sich seine wenigen noch vorhandenen grauen Haare zurückgekämmt hatte. Er trug das Outfit eines Dieners. Der zweite war dünner und jünger und sah so aus, als sei er italienischstämmig. Er trug die übliche Arbeitskleidung eines Chauffeurs. Bei der dritten Person handelte es sich um eine Frau, die noch keine zwanzig Jahre alt gewesen sein durfte. Sie war blond, vollbusig, hatte pralle Lippen und strahlende blaue Augen. Sie trug fast gar keine Kleidung.
Auf dem Weg zum Tatort hatte sich Daniel das Protokoll ihrer ersten Aussagen bereits durchgelesen.
Er zeigte auf den Diener. „Sie haben die Leiche gefunden.“
Der Diener nickte, vom Schicksal seines Dienstherren schien er vollkommen ungerührt zu sein.
„Ja, Sir“, sagte er mit einem vornehmen, britischen Akzent. „Ich bin um sechs Uhr aufgestanden, um Mr. Dysons Frühstück vorzubereiten. Die Köchin kümmert sich nur um Mittag- und Abendessen. Mr. Dyson frühstückt immer um Punkt halb sieben. Mein Schlafzimmer liegt genau neben der Küche, deshalb ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen, bis ich mit dem Frühstückstablett hinunter in den Flur gegangen bin. Da habe ich bemerkt, dass in der Ostgalerie das Licht an war und die Tür dazu offenstand. Als Nächstes sind mir die Blutflecken auf dem Teppich ins Auge gefallen. Deshalb bin ich schnell den Flur entlang in die Galerie geeilt, wo ich Mr. Dyson vorgefunden habe. Danach habe ich die Polizei verständigt und das restliche Personal geweckt.“
„Was haben Sie heute Nacht um zwei Uhr gemacht?“, fragte Daniel.
„Da habe ich geschlafen, Sir. Mr. Dyson hatte mir gegen Mitternacht gesagt, dass ich ins Bett gehen könne, nachdem ich ihn gerade einen kleinen Snack zubereitet hatte. Er hatte gerade ein neues Objekt erworben und wollte es sich in Ruhe genauer ansehen. Nach so einem Kauf verbrachte er oft die ganze Nacht damit, sich das neuste Objekt anzusehen.“
„Darauf kommen wir später noch zurück.“ Daniel wandte sich dem Chauffeur zu. „Und wo waren Sie heute Nacht?“
„Im Bett“, erwiderte der Mann. Ein Amerikaner. New Yorker Akzent. „Mr. Dyson habe ich zuletzt gesehen, als ich ihn aus der Stadt hierhergefahren habe –“
„Aus welcher Stadt?“
„Aus New York City.“
„Fahren Sie fort.“
„Ich habe ihn gegen zehn Uhr morgens dort abgesetzt und sollte ihn dann gegen zwei Uhr nachmittags, nach dem Mittagessen, bei einem Restaurant namens Eleven Madison Park wieder abholen. Es war auf jeden Fall ungewöhnlich, dass er sich während seiner Zeit in der Stadt nicht von mir hat fahren lassen, wie es normalerweise immer der Fall war. Als ich ihn dort eingesammelt habe, hatte er ein neues Gemälde dabei.“
„Und wie sah dieses Gemälde aus?“
„Das konnte ich nicht sehen. Es war verpackt.“ Den letzten Satz betonte der Chauffeur so, als hätte er sagen wollen, dass Daniel sich diesen Teil auch hätte denken können. „Er hat in New York City häufig Kunst gekauft, bei verschiedenen Händlern oder Auktionshäusern. Danach war er immer ganz aufgekratzt. Auf der Heimfahrt war er dann meist gut gelaunt und gesprächig. Aber diesmal war er ganz still. Nicht unbedingt bedrückt, sondern eher nachdenklich. Hat auf der gesamten Fahrt kaum ein Wort mit mir gewechselt.“
Daniel wandte sich wieder an den Diener. „Haben Sie das Gemälde gesehen?“
„Ja, als ich ihm seinen Snack gebracht habe. Da hatte er es bereits selbst in der Ostgalerie aufgehängt. Ein Werk von Bloemaert hatte er abgehängt, um dafür Platz zu schaffen. Besonders viele Details konnte ich aber nicht erkennen. Es war der Tod als Sensenmann darauf abgebildet, der auf einem Pferd unter sternenklarem Himmel durch die Nacht ritt.“
Als Daniel diese Worte höre, lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Der Tod als Sensenmann. Genau wie der Kerl, der ihm ein paar Stunden später einen Besuch abgestattet hatte.
Der Täter hatte also gewusst, was auf dem Gemälde abgebildet worden war. Höchstwahrscheinlich hatte er auch gewusst, dass Dyson dieses Gemälde gerade erst gekauft hatte.
„Ich möchte zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlicher mit Ihnen sprechen“, sagte Daniel zu den beiden Männer. „Meine Kollegen werden mir Ihre Telefonnummern geben. Hier steht meine drauf.“
Er reichte beiden jeweils eine Visitenkarte. Beide Männer nahmen die Karte mit ihrer rechten Hand entgegen.
Nun drehte sich Daniel zu der jungen Frau, die ein knappes, schwarzes Negligé aus hauchdünnem Stoff trug, als wäre das die ganz normale Garderobe, zu der man griff, wenn sein Boss gerade ermordet worden war.
„Haben Sie das Gemälde auch gesehen?“
