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DER TODESCODE (Ein spannungsgeladener Remi Laurent FBI Thriller - Buch 1) ist der Debütroman einer neuen Serie der der Krimi- und Thriller-Autorin Ava Strong. Ein Serienmörder hat es auf Opfer an obskuren historischen Orten abgesehen – die Cloisters in New York City, das Glencairn in Philadelphia. Wo ist die Verbindung? Steckt eine verschlüsselte Botschaft in den Morden? FBI Special Agent Daniel Walker, 40, bekannt für seinen Killerinstinkt bei der Verbrecherjagd, seine Gerissenheit und eine Vorgehensweise, die nicht immer so ganz regelkonform ist, wird von der Behavioral Analisys Unit des FBI zu der neuen Spezialeinheit für Antiquitätenraub versetzt. Die neue Einheit, die gegründet wurde, um unbezahlbare Relikte auf der ganzen Welt aufzuspüren, tappt ziemlich im Dunkeln, wenn es darum geht, wie man das Verhalten eines Mörders analysiert und in seinen Kopf eindringt. Remi Laurent, 34, brillante Geschichtsprofessorin an der Georgetown-Universität, ist die weltweit führende Expertin für obskure historische Artefakte. Als das FBI sie um Hilfe bei der Suche nach einem Mörder bittet, ist sie überrascht und findet sich kurz darauf in einer unfreiwilligen Partnerschaft mit dem ruppigen amerikanischen FBI-Agenten wieder. Special Agent Walker, mit seiner Fähigkeit, in die Köpfe von Mördern einzudringen und Remi Laurent, mit ihrer unvergleichlichen Expertise sind ein höchst ungleiches Duo und das Einzige, was sie verbindet, ist ihre Entschlossenheit, die Hinweise zu entschlüsseln und einen Mörder zu stoppen. Buch #2 und #3 aus der Reihe – Der Mordcode und Der teuflische Code – sind ebenfalls erhältlich Die REMI LAURENT-Reihe ist eine fesselnde Krimiserie, in dessen Zentrum die unwahrscheinliche Partnerschaft zwischen einem verbitterten FBI-Agenten und einer brillanten Historikerin steht. Die Geschichte ist voller Spannung und Enthüllungen, die Sie bis spät in die Nacht wachhalten werden.
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2022
der todescode
(ein spannungsgeladener remi laurent fbi thriller – buch 1)
a v a s t r o n g
Ava Strong
Debütautorin Ava Strong ist die Autorin der REMI LAURENT MYSTERY-Serie, die drei Bücher umfasst (und ein Ende ist noch nicht in Sicht). Ava würde gerne von Ihnen hören, also besuchen Sie bitte www.avastrongauthor.com, um kostenlose Ebooks zu erhalten, die neuesten Nachrichten zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.
Copyright © 2021 by Ava Strong. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig.
BÜCHER VON AVA STRONG
EIN SPANNUNGSGELADENER REMI LAURENT FBI THRILLER
DER TODESCODE (Buch #1)
EIN ILSE BECK-FBI-THRILLER
INHALT
PROLOG
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Glencairn Museum, Bryn Athyn, Pennsylvania
Mitternacht
Ted Peterson spazierte durch den Palas und die Klappergeräusche seiner Schuhe hallten dabei durch die Dunkelheit, während er den Lichtkegel seiner Taschenlampe hin und her bewegte. Er arbeitete nun schon seit fast zwanzig Jahren hier, aber er dachte trotzdem immer noch regelmäßig darüber nach, wie unglaublich schön dieses Gebäude doch war.
Bei dem Palas handelte es sich um den Nachbau eines Festsaals, wie man ihn in einer mittelalterlichen Burg in Europa vorgefunden hätte. Teds Licht wanderte über einige Heiligenstatuen sowie einige jahrhundertealte Möbelstücke aus Samt und Mahagoni hinweg, dann huschte es zu der Galerie hinauf, wo verschiedene Stangenwaffen an der Wand hingen. Ted kannte die Fachbegriffe für jede einzelne dieser Waffen. Eine Helmbarte. Eine Glefe. Ein Spetum. Als der Kegel seiner Lampe bei der Decke angelangt war, wurde ihr Licht von der großen, dunklen Oberfläche fast vollständig verschluckt und die gotischen Spitzbögen und die Holzbalken, die sich über ihm befanden, waren nur noch zu erahnen.
Dann bewegte sich das Licht wieder nach unten und glitt dabei über die spitze Klinge eines deutschen Zweihandschwertes, dessen Länge beinahe seiner Körpergröße entsprach. Der Lichtkegel glitt nun auf die eleganten, dreigeteilten Buntglasfenster des Saals zu.
Doch noch bevor er dort angekommen war, hielt Ted kurz inne und stieß einen lauten Seufzer aus. Tagsüber, wenn Tageslicht durch die Fenster strömte, funkelten die darauf abgebildeten Heiligen in beeindruckenden Farbtönen und hüllten den Fußboden des Saals in ein Regenbogenmuster.
Er ließ das Licht seiner Taschenlampe nun spielerisch über die Fenster gleiten, wodurch die bunten Farben, die bei Sonnenaufgang in vollem Glanz darin zu sehen sein würden, zumindest im Ansatz zu erkennen waren. Beim Gedanken daran musste Ted lächeln. Er sorgte immer dafür, dass er bei Sonnenaufgang hier im Saal war.
Der Wachmann ging nun wieder aus dem Festsaal und setzte seine Runde durch das Gebäude fort. Vor der Vitrine, in der sich ein ottonisches Kunstwerk aus Elfenbein befand, hielt er kurz inne. Es handelte sich um den Einband eines Buches aus dem zehnten Jahrhundert. Von dem Buch selbst war schon längst keine Spur mehr, der Einband jedoch konnte noch immer in seiner ganzen Pracht bestaunt werden. Er zeigte eine liebevoll geschnitzte Kreuzigung, die von bunter Emaille und Goldfiligran eingerahmt war, ein Meisterwerk der Vorrenaissance. Im Strahl der Taschenlampe schien das jahrhundertealte Elfenbein fast durchsichtig zu sein und schimmerte bezaubernd.
Kaum zu glauben, dass die Zeit, aus der dieses Kunstwerk stammte, auch als das finstere Mittelalter bezeichnet wurde.
Ted hatte erneut ein Lächeln auf den Lippen. Hier im Museum gab es zwar insgesamt über 8.000 verschiedene Ausstellungsstücke, aber dieses hier gehörte zu seinen absoluten Lieblingen. Es war so unglaublich detailliert! Es war so viel Mühe und Geschick in seine Anfertigung gesteckt worden!
Er hätte eine ganze Vorlesung nur über dieses eine Ausstellungsstück halten können. Zugegebenermaßen galt das aber auch für die meisten anderen Dinge, die hier ausgestellt waren, denn über die Jahre hatte er sehr viel Gelegenheit gehabt, sich in der Materie einzulesen. Und außerdem war es ihm selbst mit seinem mickrigen Gehalt gelungen, genug Geld für die eine oder andere Reise anzusparen, um sich noch etwas weiterzubilden.
Ja, dieser Job war leider ziemlich schlecht bezahlt. Aber immerhin musste er damit keine Familie über die Runden bringen. Und zumindest im Geiste fühlte Ted sich mehr als reich.
Wie konnte es auch anders sein, wenn man an einem solch prachtvollen Ort arbeitete?
Wenn sie ihm doch bloß erlauben wurden, Führungen zu geben. Im Prinzip war er dafür sogar überqualifiziert – abgesehen davon, dass er nur einen Highschool-Abschluss hatte. Und die Museumsleitung interessierte sich nur dafür, ob man die richtigen Dokumente vorlegen konnte, der Mensch, der sich hinter diesen Dokumenten verbarg, war ihnen gleichgültig.
Aber um ehrlich zu sein war er auch noch nie besonders gut im Umgang mit anderen Menschen gewesen. Er fand in sozialen Situationen nie die richtigen Worte – und wenn doch, dann brachte er sie nicht richtig herüber. Ted Peterson fühlte sich in Museen wohler als in Kneipen, verbrachte seine Freizeit lieber mit Lesen als in der Gesellschaft anderer. Deshalb bezweifelte er, dass er in der Lage gewesen wäre, ein Publikum bei Laune zu halten, selbst, wenn es sich dabei um ein interessiertes Publikum handelte.
Es würde ihm nie gelingen, mehr als ein einfacher Wachmann zu werden.
Ted seufzte. Ach, was soll’s. Immerhin war es ihm gegönnt, an einem wunderschönen und geschichtsträchtigen Ort zu arbeiten.
Dann war in der Ferne plötzlich ein Scheppern zu hören, weshalb sein Herz einen Sprung machte und er sich erschrocken umdrehte. Es klang so, als wäre das Geräusch aus dem östlichen Treppenhaus gekommen. Er eilte sofort in diese Richtung und es pumpte Adrenalin durch seinen Körper. In all den Jahren, die er hier gearbeitet hatte, hatte er es bisher nur ein einziges Mal mit Eindringlingen zu tun gehabt, damals waren Schüler der örtlichen Highschool eingebrochen, weil sie eine Wette verloren hatten. Nachdem er sie erwischt hatte, waren die Kinder so verängstigt gewesen, dass er die zehn Minuten, die sie auf die Polizei hatten warten müssen, hauptsächlich damit verbracht hatte, sie wieder zu beruhigen.
Handelte es sich womöglich auch diesmal wieder um Jugendliche? Oder würde er es diesmal mit einem richtigen Einbrecher zu tun bekommen? Er verspürte eine gewisse Angst, aber auch eine Art Beschützerinstinkt. Falls es sich um einen Einbrecher handelte, musste der Typ erstmal Ted Peterson fertigwerden.
Mit wild pochendem Herzen durchquerte er den Raum, der der italienischen Renaissance gewidmet war, das Licht seiner Taschenlampe flog dabei im Zickzack über einige elegante Gemälde der Jungfrau Maria und über verschiedene klassische Bronzestatuen hinweg, bis er schließlich beim Treppenhaus angekommen war.
Und dort blieb er auf der Stelle stehen.
Es war niemand zu sehen.
Doch am oberen Ende der Treppe stand ein Sockel, auf dem sich normalerweise eine Gipsbüste des berühmten Historikers Edward Gibbon befand. Nun jedoch lag die Büste auf dem Marmorfußboden davor und war in tausende Stücke zerbrochen.
Einen Moment lang horchte Ted ganz genau hin. Doch es war kein Ton zu hören.
Er suchte seine gesamte Umgebung mit dem Licht seiner Taschenlampe ab, entdeckte aber keinen Eindringling und ging schließlich auf Zehenspitzen zu der zerbrochenen Büste hinauf. Sie sah irgendwie seltsam aus.
Mit einem irritierten Blinzeln beugte er sich ein Stück zu den Überresten der Büste hinunter. Sie war innen hohl gewesen. An einem Bruchstück von der Oberseite des Kopfes und einem der Seitenstücke konnte er erkennen, dass sich im Inneren ein Hohlraum befunden haben musste, in etwa von der Größe eines Taschenbuches.
„Sie haben mich aber ganz schön warten lassen.“
Das leise Flüstern kam aus dem Ausstellungsraum zur italienischen Renaissance. Ted rutschte das Herz in die Hose und er drehte sich schlagartig herum.
Dann ging er einige zögerliche Schritte vorwärts und suchte mit seiner Taschenlampe das Zimmer ab, durch das er gerade gekommen war. Da war niemand – und es gab auch keinen Ort, an dem sich jemand vor ihm hätte verstecken können. Wie schon vor ein paar Sekunden, als er durch den Raum geeilt war, befand sich niemand darin.
Aber die Stimme war eindeutig aus dieser Richtung gekommen.
Diese Stimme hatte noch etwas Merkwürdiges an sich gehabt. Sie hatte kindlich geklungen, wie die eines kleinen Jungen.
Dann hörte er hinter sich leise Schritte.
Noch bevor er sich umdrehen konnte, hatte sich ein kräftiger Arm um seinen Körper geschlungen und seine eigenen Arme fest an seine Seiten gedrückt, außerdem spürte er, wie plötzlich die kalte, scharfe Klinge eines Messers an seine Kehle gedrückt wurde.
„Geräusche können trügerisch sein“, flüsterte ihm eine raue Stimme ins Ohr.
Ted schauderte, was eher am Klang der Stimme, denn an dem kräftigen Arm des Mannes oder gar der Klinge an seinem Hals lag. Denn es war die Stimme eines Wahnsinnigen.
„B-bitte“, stammelte Ted. „Ich habe Ihr Gesicht nicht gesehen. Ich kann Sie nicht identifizieren.“
„Das bekommt nie jemand zu sehen.“
„Verschwinden Sie einfach. Bitte. Ich habe Familie.“
Das war allerdings gelogen. Er hatte keine Frau und auch keine Kinder. Lediglich eine Schwester, die allerdings in einem anderen Bundesstaat lebte und mit der er kaum je ein Wort wechselte. Freunde hatte er auch nur wenige. Er war schon immer ein ziemlicher Einzelgänger gewesen. Deshalb hatte er sich ja auch freiwillig für die Nachtschicht gemeldet. Um seine Ruhe zu haben. Allein zu sein. Aber vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht hätte er sich mehr bemühen sollen, auf seine Mitmenschen zuzugehen.
„Dein Wille geschehe“, intonierte die raue Stimme mit einem Ächzen.
Ted Peterson spürte, wie die Klinge ihm in die Kehle schnitt und ihn ein kalter, stechender Schmerz überkam. Heißes Blut sprudelte daraufhin aus der klaffenden Wunde. Er verschluckte sich daran und schnappte vergeblich nach Luft. Seine verzweifelten Versuche, einzuatmen, erzeugten dank der Wunde an seiner Kehle ein widerliches, saugendes Geräusch. Es strömte nun Blut in seine Lunge. Ted war im Begriff, zu ertrinken.
Dann gaben seine Beine nach. Der Mann ließ ihn los und Ted sackte zu Boden. Er spürte jetzt nur noch zwei Dinge: Schmerz – und Reue.
Das Vorletzte, das Ted Peterson im Licht seiner Taschenlampe, die mittlerweile neben ihm zu Boden gefallen war, zu sehen bekam, war ein Paar schwarzer Stiefel, an denen hellroter Schlamm klebte. Was funkelte denn da in dem Dreck? Es sah beinahe wie Goldstaub aus.
Quantico, Virginia
Am nächsten Morgen
Agent Daniel Walker eilte die Stufen zum Verwaltungsgebäude des FBI-Hauptquartiers hinauf, ohne dem sonnigen Wetter dieses schönen Frühlingstages oder der Begrüßung eines Kollegen, der gerade die Treppen hinuntergelaufen kam, irgendeine Beachtung zu schenken. Er würde mal wieder Ärger bekommen; das wusste er ganz genau. Es war keine gute Idee gewesen, mit dem Zeugen so grob zu werden.
Aber wie sollte er den Finger-Mörder denn jemals schnappen, wenn niemand dazu bereit war, mit der Polizei zu kooperieren?
Und außerdem war der Typ ja schließlich ein Drogendealer. Der hatte sich die Tracht Prügel ohnehin redlich verdient.
Gegen Walker sollten interne Ermittlungen eingeleitet werden. Das war die einzige Erklärung dafür, dass er so plötzlich von dem stellvertretenden Direktor einbestellt worden war.
Dass er jetzt auch noch spät dran war, machte die Sache nur noch schlimmer.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, ging zügig durch den Metalldetektor im Eingangsbereich des Gebäudes und meldete sich dann bei dem Mann vom Sicherheitsdienst an, der am Empfangstresen stand. Vor den Fahrstühlen hatte sich eine Schlange gebildet, also nahm er stattdessen die Treppe – immer drei Stufen auf einmal, bis er schließlich im dritten Stock angekommen war, wo sich das Büro seines Vorgesetzten befand. Im Flur vor der Bürotür hielt er kurz inne, um sich die Krawatte zurechtzurücken, den Anzug zu glätten und sich ein wenig zu sammeln. Kein gutes Zeichen, dass er nach den paar Treppenstufen schon so außer Atem war. Er war schließlich gerade mal vierzig Jahre alt, aber seine Vorliebe für Bier und Fastfood wurde ihm, verbunden mit seiner Abneigung gegen Sport, allmählich zum Verhängnis.
Mit aufrechter Körperhaltung schritt er durch die Tür, an der „Deputy Director Burton“ geschrieben stand.
„Sie sind ganz schön spät dran“, sagte die Sekretärin seines Chefs. Flora Whitaker war eine nüchterne, professionelle Frau, die langsam aufs Rentenalter zuging und in der Verwaltung des FBI schon viele hatte kommen und gehen sehen. Sie hatte ein schlaffes Gesicht, trug viel zu viel Make-up, doch ihrem aufmerksamen Blick entging normalerweise nichts. Und da sie unkündbar war und Karriere-technisch nichts mehr zu fürchten hatte, hatte sie sich angewöhnt, auch die Dinge beim Namen zu nennen, die sich außer ihr niemand auszusprechen traute.
„Tut mir leid, aber ich bin auf eine neue Spur gestoßen.“
Daniel fühlte sich im Vorzimmer von Deputy Director Burton, ausgestattet mit Benjamini, Präsidentenporträt und grimmiger Chefsekretärin hinter einem weitläufigen Schreibtisch, wie am Ufer des Flusses Styx. Und Flora Whitaker war Charon
Sie kniff die Augen zusammen und setzte eine für sie typische Miene auf, die „kommen Sie mir bloß nicht damit“ zu sagen schien und mit der sie vermutlich schon unzählige Ermittler in die Verzweiflung getrieben hatte. Dann deutete sie mit dem Kopf auf die Tür, die zu dem Konferenzraum führte. „Gehen Sie am besten gleich durch. Mittlerweile sind die wahrscheinlich schon eingeschlafen.“
Die?
Daniels Blick fiel zu der Tür, die in Burtons Büro führte und er fragte sich kurz, warum er nicht dort hineingeschickt wurde, wie er es eigentlich erwartet hatte. Doch dann ging er zu der Tür des Konferenzraumes hinüber, klopfte an und wurde schließlich hineingebeten.
Er öffnete die Tür und erstarrte daraufhin sofort auf der Stelle.
Der stellvertretende Direktor saß am Kopfe eines langen, schwarzen Tisches, vor ihm waren einige Aktenordner ausgebreitet. Er war ein steifer, kräftiger Mann in seinen Siebzigern, der immer noch den gleichen Kurzhaarschnitt trug, der ihm erstmals im Vietnamkrieg verpasst worden war. Zu seinen Seiten saßen einerseits der buckelige, dickbäuchige Leiter der Personalabteilung und andererseits Daniel Walkers unmittelbarer Vorgesetzter, der stellvertretende Leiter der Verhaltensanalyseeinheit, der wie eine jüngere Version von Burton aussah. Und außerdem war da noch eine weitere Person.
Ich habe den Typen doch nicht etwa ertränkt, oder?
Diese weitere Person, eine attraktive Frau in den Vierzigern, die japanisch aussah, aber mit einem dicken, texanischen Akzent sprach, sagte: „Agent Walker, wie schön, dass Sie Zeit für uns haben. Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Mist. Die ist wahrscheinlich nicht einmal vom FBI. Wahrscheinlich ist das eine Anwältin, die mich jetzt wegen Körperverletzung drankriegen will. Und der Typ von der Personalabteilung? Der ist wahrscheinlich hier, um mich zu feuern.
Zögerlich ließ sich Daniel auf einen der Stühle nieder und schaute über die gut drei Meter lange Tischplatte hinweg zu den wichtigen Menschen, die sich am anderen Ende des Tisches versammelt hatten. Psychologen hätten dieses Set-up wahrscheinlich als „nonverbalen Ausdruck der Dominanz“ bezeichnet. Er selbst hätte die Formulierung Vorspielzu der Mutter aller Standpauken vorgezogen.
Deputy Director Burton deutete mit der Hand auf die japanisch-amerikanische Frau, die gerade das Wort ergriffen hatte. „Ich möchte Ihnen Keiko Ochiai vorstellen, stellvertretende Leiterin der Antiquitäteneinheit.“
Mit verwirrter Miene nickte Daniel der Frau zu. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Professor Ochiai. An welcher Universität lehren Sie denn?“
Die Frau lächelte ihn an. „Ich bin keine Professorin. Ich bin FBI-Ermittlerin, ganz genau wie Sie. Aber ich kann Ihre Verwirrung nachvollziehen. Die Antiquitäteneinheit ist ja noch ganz neu, sie wurde erst letzte Woche ins Leben gerufen.“
„Ach so.“
„Das FBI hat sich dazu entschlossen, diese Einheit einzurichten, weil der illegale Handel mit Antiquitäten in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Wie Sie ja sicher wissen, plündern viele Terrorgruppen wie ISIS oder al-Qaida archäologische Stätten und verkaufen die Objekte, die sie dort finden, dann auf dem Schwarzmarkt. Und mit ihren Einnahmen kaufen sie dann Waffen. Es gibt zwar bereits verschiedene Behörden, die sich mit diesem Problem auseinandersetzen, aber das FBI hielt es dennoch für angemessen, eine eigene Abteilung dafür einzurichten, weil dem ganzen auf nationaler Ebene noch immer nicht genug Aufmerksamkeit zukommt. In der Regel wird es als internationales Problem abgetan, dabei befinden sich viele der Käufer und Händler in den Vereinigten Staaten. Was leider auch auf einige der Terrorzellen zutrifft, die damit finanziert werden.“
„Hört sich nach einer sinnvollen Einrichtung an“, sagte Daniel, den allerdings weiterhin nicht klar war, worauf sie mit ihrer Ausführung hinaus wollte. „Ich wünsche Ihnen viel Glück bei den Ermittlungen.“
Assistant Director Ochiai lächelte erneut. „Glück werde ich wohl kaum brauchen, wo ich doch einen so talentierten Ermittler wie Sie an meiner Seite habe.“
Daniel blinzelte. „Da kann ich Ihnen jetzt leider nicht ganz folgen.“
Deputy Director Burton schlitterte eine Aktenmappe über die Tischplatte bis zu Daniels Ende des Tisches. Das war einer seiner Lieblingstricks. Die Oberfläche des Tisches war aalglatt, denn sie wurde jeden Morgen frisch gewachst, außerdem ließ er es nicht zu, dass sich darauf lauter Wasserkrüge und Kaffeetassen ansammelten, wie es in so vielen der anderen Konferenzräume der Fall war. Auf seinem Tisch durften nur Dinge ablegt werden, die unmittelbar mit der Arbeit zu tun hatten. So blieb ihm mehr Platz zum Schlittern von Aktenmappen.
Mit einem Zischen landete die Mappe zielsicher in Daniels Hand, die er bereits in Position gebracht hatte, um sie in Empfang zu nehmen. Eine Büroklammer sorgte dafür, dass die Mappe bei dem Kunststück verschlossen blieb. Burtons Trick wäre sicher nicht ganz so beeindruckend gewesen, wenn die Zettel, die sich in der Mappe befanden, auf der Reise über den Tisch wie Konfetti zu allen Seiten herausgefallen wären.
Immer dann, wenn Burton in einem Meeting eine Mappe so über seinen Tisch gleiten ließ – was bei jedem Meeting der Fall war –, hatte Daniel das Bedürfnis „Geschoss im Anflug!“ zu brüllen. Zu gern hätte er gewusst, ob das bei seinem Chef Erinnerungen an Vietnam ausgelöst hätte.
Aber er hatte sich das noch nie getraut. Denn obwohl Burton dreißig Jahre älter war als er, wäre es dem alten Mann wahrscheinlich ein Leichtes gewesen, Daniel den Hintern zu versohlen.
„Ein Nachtwächter des Glencairn Museums in Pennsylvania wurde gestern Nacht von einem unbekannten Eindringling ermordet“, sagte Burton. „Obwohl dabei ein Ausstellungsstück zu Bruch gegangen ist, wurde nichts gestohlen.“
Daniel klappte die Mappe auf und entdeckte darin das Foto eines Mannes, der ein Namensschild mit der Aufschrift Ted Peterson trug. Der ansonsten relativ nichtssagende Mann hatte ein Lächeln auf den Lippen und war etwa Ende vierzig, Anfang fünfzig.
„Bei dem Einbrecher handelt es sich um einen Profi“, fuhr Burton fort. „Er hat ein ziemlich komplexes Alarmsystem außer Kraft gesetzt und dann das Schloss eines Seiteneingangs geknackt. Drinnen hat er dann auch noch die Überwachungskameras deaktiviert. Wir gehen davon aus, dass ihn der Nachtwächter entweder auf frischer Tat ertappt hat oder von dem Geräusch auf ihn aufmerksam geworden ist, das beim Zerbrechen einer Gipsbüste entstanden ist. Die Büste ist das einzige Ausstellungsstück, an dem sich der Täter zu schaffen gemacht hat.“
Daniel blätterte die Dokumente in der Mappe interessiert durch. Wie immer, wenn er von einem neuen Fall hörte, war er inzwischen neugierig geworden. Ein Mord konnte noch so schlicht sein – irgendein interessantes, ungewöhnliches Detail fand sich in jedem Mordfall. Es gab schlicht unendlich viele verschiedene Möglichkeiten, wie eine menschliche Tragödie tödlich enden konnte.
Nun schaute sich Daniel einige Standbilder der Aufnahmen der Überwachungskameras an, die digital vergrößert worden waren. Sie waren chronologisch sortiert und zeigten einen maskierten, schwarz gekleideten Mann in schweren Stiefeln, der an der Außenseite eines Gebäudes einige Treppenstufen hinunterging, die zu der metallenen Tür des Seiteneingangs führten. Es folgten einige Nahaufnahmen, die zeigten, wie sich der Mann zunächst an der Elektronik der Alarmanlage zu schaffen machte, bevor er schließlich das Schloss der Tür knackte. Die letzte Aufnahme zeigte ihn dann auf der anderen Seite der Tür, wo er sich mit einem Schaltkasten auseinandersetze, mit dem die Überwachungskameras gesteuert wurden.
„Ein hellhäutiger Mann, kräftig gebaut, nicht ganz eins neunzig groß, Rechtshänder“, sagte Daniel.
„Sie haben wie immer ein gutes Auge, Agent Walker“, sagte Deputy Director Burton.
Von diesem Kompliment ließ Daniel sich dazu ermuntern, noch etwas weiter in der Akte herumzublättern, denn sein Interesse war mittlerweile definitiv geweckt.
„Sowohl die Alarmanlage als auch die Überwachungskameras waren auf dem neusten Stand der Technik“, fuhr Daniel fort. „An den Zeitangaben auf den Aufnahmen können wir erkennen, dass er es in weniger als fünf Minuten geschafft hat, die Tür aufzubrechen und dann auch noch die Kameras zu deaktivieren. Ihr Mann weiß auf jeden Fall, was er da tut.“
„Sie meinen Ihr Mann, Agent Walker“, sagte Burton.
Daniel sah zu seinem Chef auf. „Mein Mann? Ich bin auf Serienmörder spezialisiert.“
Also bekomme ich wohl doch keinen Ärger, weil ich den Kopf eines Drogendealers in eine Kloschüssel gesteckt und dann die Spülung gedrückt habe, oder wie?
„Es könnte sich auch hierbei um einen Serienmörder handeln“, sagte Burton und jagte eine weitere Aktenmappe über die Tischplatte. Daniel fing auch diese Mappe mit der Hand auf, entfernte die Büroklammer und sah sich dann die Dokumente an, die sich darin befanden.
„Vorgestern Nacht wurde ein Wächter der sogenannten Cloisters, den Kreuzgängen, in New York City ermordet. Es handelt sich dabei um ein religiöses Gebäude aus dem Mittelalter, das aus Frankreich hierhergebracht wurde.“
„Um genau zu sein sind es vier separate Gebäude“, sagte Daniel geistesabwesend, während er die Dokumente in der Mappe durchblätterte, unter denen sich erneut Standbilder von Überwachungsaufnahmen sowie ein Bericht der New Yorker Polizei befanden. Gleiche Vorgehensweise, scheinbar der gleiche Täter. Auch hier hatte er Alarmanlage und Kameras deaktiviert und sich über einen Hintereingang Zugang zum Gebäude verschafft. Die Leiche des Nachtwächters wurde mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden, daneben befand sich eine zerbrochene Elfenbeinstatuette.
Ganz unbewusst klopfte Daniel mit seinem Daumen mehrfach gegen die Tischkante. Interessante Angelegenheit. Ein hochmotivierter, geschickter Täter, der es auf ganz bestimmte Opfer abgesehen hatte. Sollte kein allzu großes Problem sein, dem auf die Schliche zu kommen. Das dürfte allerdings ein ziemlich spannendes Verhör geben. Er musste unbedingt daran denken, sich die Aufnahmen davon anzusehen, sobald Ochiais Team den Kerl geschnappt hatte.
„Wir glauben, dass es sich um denselben Täter handelt“, sagte Ochiai.
„So ist es auch“, sagte Daniel mit einem Nicken. „Aber der Mann ist kein Serienmörder. Dafür geht er zu bedacht vor, außerdem nimmt er sich keine Trophäen mit. Hier in den Unterlagen steht, dass er nichts gestohlen hat und auch die Leichen nicht verunstaltet hat. Außerdem haben es Serientäter normalerweise auf wehrlose Opfer abgesehen. Die brechen nicht gern in gesicherte Gebäude ein. Das ist zu planungsintensiv und lässt sich mit der Gefühlsachterbahn, die diese Menschen normalerweise durchmachen, nicht gut vereinbaren. Und es scheint hier auch keinerlei rituellen Aspekt zu geben, anders als beim Finger-Mörder, zum Beispiel.“
„Beim Finger-Mörder?“, fragte Director Ochiai.
„So nennen meine Partnerin, Agent Nomellini, und ich den Serienmörder, hinter dem wir gerade her sind. Er ermordet sportliche, junge und immer blonde Männer, wenn sie spät abends aus dem Fitnessstudio kommen. Und er schneidet ihnen immer den rechten Mittelfinger ab. Also nennen wir ihn Finger-Mörder.“
Während seiner Ausführungen beobachtete er die Leiterin der neuen Antiquitäteneinheit ganz genau, denn er wollte ihre Reaktion sehen. Doch sie zeigte überhaupt keine Reaktion.
Immerhin hat sie wohl schon reichlich Erfahrung gesammelt. Was man von den anderen Bürohengsten hier nicht gerade sagen kann. Der Typ aus der Personalabteilung sieht so aus, als kommt ihm jeden Moment sein Frühstück wieder hoch.
„Ihre Partnerin wird wohl oder übel ohne Sie auskommen müssen“, fuhr Ochiai fort. „Sie arbeiten jetzt für mich – und zwar ab sofort.“
„Moment mal. Wie bitte? Der Finger-Mörder hat bereits acht junge Männer auf dem Gewissen. Und trotzdem sind wir erst jetzt dabei, ihm endlich näher auf die Spur zu kommen. Wenn ich jetzt aus den Ermittlungen aussteigen, dann –“
„Agent Nomellini ist äußerst kompetent“, unterbrach Burton ihn.
„Sie ist eine der Besten der Branche.“ Besser bin nur ich, fügte Daniel in Gedanken hinzu. „Es handelt sich dabei allerdings um einen hochkomplexen Fall. Mit hunderten von Beweismitteln. Und die Zeit drängt. Er hat schon seit einem Monat nicht mehr zugeschlagen. Er ist mehr als überfällig. Wenn wir ihn nicht bald haben, dann wird es ein neuntes Opfer geben.“
„Wir stellen ihr Agent Dunning als Unterstützung an die Seite.“
Dunning? Der verbringt doch seine halbe Dienstzeit draußen im Park und schaut sich Pornos auf dem Handy an. Wenn Nomellini das herausfindet, dann wird aus ihr womöglich die Finger-Mörderin.
Daniel gelang es, diese Gedanken für sich zu behalten. Mit Mühe und Not. Stattdessen sagte er: „Ich bin besser als Dunning. Warum geben Sie dem nicht diesen Fall? Er sieht doch ziemlich unkompliziert aus. Der Täter hat ja offensichtlich aus irgendeinem Grund etwas gegen Museen. Die für Serienmörder typischen Eigenschaften weist er nicht auf. Vielleicht hat er sogar schon alles erreicht, was er erreichen wollte, denn womöglich wollte er sich nur an diesen beiden Museen rächen. Der Finger-Mörder hingegen wird nicht aufhören, bis wir ihn geschnappt haben.“
„Wir sind der Auffassung, dass dieser Fall komplizierter ist, als es den Anschein hat“, sagte Ochiai. „Und das er für Ihre besonderen Fähigkeiten bestens geeignet ist.“
„Ich bin aber Profiler und kein Fachmann für Antiquitäten.“
„Aber Sie haben einen Bachelor in Geschichte. Und danach sind Sie nur von der Uni gegangen, um beim FBI anzufangen. Wenn Sie das nicht getan hätten, dann säßen Sie jetzt womöglich schon auf einem Lehrstuhl – das haben uns jedenfalls Ihre ehemaligen Professoren erzählt.“
„Ich hatte es nicht auf eine akademische Laufbahn abgesehen.“
Zumindest nicht nach dem, was in Lyon passiert ist. Oder in Rom. Oder in Aachen.
Nicht, nachdem sie ihm geglaubt hat – und nicht mir.
„Wie dem auch sei, Sie haben jedenfalls ein Talent dafür, Rätsel zu lösen, die einen Bezug zu Geschichte haben. Ich habe von dem Fall gelesen, bei dem es um Colonial Williamsburg ging.”
Dieser uralte Fall? Der liegt doch schon Jahre zurück. Sieht ganz so aus, als hätte sie ihre Hausaufgaben gemacht.
„Diesen Fall habe ich gelöst, indem ich ein Profil des Täters erstellt und dann herausgefunden habe, auf welchen der Angestellten des Museums dieses Profil zutrifft.“
„Und mithilfe Ihres umfangreichen Wissens zu alten Schwarzpulver-Schusswaffen“, sagte Ochiai mit einem Lächeln auf den Lippen.
Daniel zuckte mit den Achseln. „Ist ein Hobby von mir. Ich bin da etwas altmodisch. Es ist wesentlich anspruchsvoller, mit einer Muskete auf die Jagd zu gehen, als mit einem hochmodernen Gewehr mitsamt Zielfernrohr. Mögen Sie Wild?“, fragte er und hoffte insgeheim, dass sie Vegetarierin war.
Doch Ochiai grinste nur. „Rindfleisch schmeckt mir besser. Ich komme schließlich aus Texas.“
„Sie haben außerdem dreimal in Folge die Auszeichnung für die beste Treffsicherheit unter FBI-Ermittlern gewonnen“, sagte Martin Bradshaw, der stellvertretende Leiter der Verhaltensanalyseeinheit. Sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar machte nicht den Anschein, als würde es bald ausfallen – und das, obwohl er schon stramm aufs Rentenalter zuging. Auf seinem zerfurchten Gesicht zeichneten sich allerdings tiefe Sorgenfalten ab.
„Und im vierten Jahr haben Sie mich geschlagen“, sagte Daniel zu seinem Chef. „Schade, dass wir da keine Musketen benutzt haben.“
Bradshaw schmunzelte nun. Daniel mochte den Kerl. Er hatte Verständnis dafür, wie FBI-Ermittlungen im wahren Leben durchgeführt werden mussten und beharrte nicht stur auf dem Verhaltenskodex. Er war für Daniel schon mehrfach in die Bresche gesprungen.
Aber es sah nicht danach aus, dass er das auch diesmal tun würde.
Daniel sprach seinen Vorgesetzten nun direkt an, in der Hoffnung, dass er ihm dann vielleicht zu Hilfe kommen würde. „Agent Nomellini und ich sind dem Täter mittlerweile ganz dicht auf den Fersen. Das spüre ich. Deshalb muss ich unbedingt an diesem Fall weiterarbeiten.“
Zu Daniels Entsetzen schüttelte Bradshaw daraufhin jedoch den Kopf. „Sie sind in der Antiquitäteneinheit wesentlich besser aufgehoben.“
Nun schaltete sich der Mann aus der Personalabteilung ins Gespräch ein, er wirkte dabei noch immer so, als sei ihm speiübel. Ein Bürohengst der reinsten Sorte. „Außer Ihnen haben wir niemanden, der sowohl einen Hintergrund in Geschichte als auch in der Verhaltensanalyse hat. Sie passen da gut rein. Außerdem glauben wir …“, er warf nun Bradshaw einen bitterbösen Blick zu, der daraufhin nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte, „…, dass es der Verhaltensanalyseeinheit gut zu Gesicht stehen würde, in ihren Ermittlungen etwas behutsamer vorzugehen.“
Daniel lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seinen Widerstand hatte er nun aufgegeben. Nun war es also so weit. All die Disziplinarverfahren, all die Beschwerden von Zeugen und Verdächtigen. Sie hatten das Fass offenbar zum Überlaufen gebracht. Er wurde versetzt, und zwar von einer der wichtigsten und prestigeträchtigsten Abteilungen des FBI in eine gerade erst neu geschaffene, die wahrscheinlich kaum Mittel zur Verfügung hatte und alles andere als prestigeträchtige war.
Der stellvertretende Direktor beugte sich vor. „Sie fliegen noch heute Nachmittag nach Philadelphia. Mrs. Whitaker wird Ihnen alle nötigen Unterlagen dafür und die Kontaktadressen in Philly per E-Mail zukommen lassen. Sehen Sie sich die Akten ganz genau durch. Wir haben den Verdacht, dass der Täter erneut zuschlagen wird, und zwar schon bald. Sie müssen ihn unbedingt vorher schnappen.“
„Sehen Sie es als Chance, in einer brandneuen Einheit etwas gutzumachen“, sagte Ochiai mit ihrem texanischen Akzent. „Das ist eine einmalige Gelegenheit für Sie.“
Etwas gutzumachen? Alles klar. Ich werde also degradiert.
Es gab nichts weiter zu sagen, also sagte Daniel nichts weiter. Er schnappte sich die Akten, dankte den Bonzen in einem möglichst aufrichtigen Tonfall und ging dann nach draußen.
Er zog die Tür ins Schloss und ließ damit nicht nur den Konferenzraum hinter sich, sondern auch eine erfolgreiche Karriere. Innerhalb der letzten vier Jahre hatte er drei Serienmörder gefasst und unzähligen Menschen das Leben gerettet – und das war der Dank, den er dafür erhielt?
Daniel wusste, dass es manchmal nicht leicht war, mit ihm zurechtzukommen. Er wusste, dass er seinen Vorgesetzten gegenüber so manches Mal zu aufbrausend gewesen war und dass er seine Kollegen durchaus besser hätte behandeln können. Aber er hatte doch Menschenleben gerettet, verdammt noch mal!
Wie ein gezüchtigter Schuljunge ging Daniel zurück zu Flora Whitakers Schreibtisch. Sie war damit beschäftigt, auf ihrer Tastatur herumzutippen.
„Sie haben Reiseunterlagen für mich?“, fragte er sie.
„Die schicke ich Ihnen sofort zu“, sagte Whitaker und tippte dabei noch immer. „Fahren Sie jetzt erst mal nach Hause, denn Sie müssen packen. Ihr Flug geht um zwei.“
„Eine neue Einheit“, grunzte Daniel der Sekretärin entgegen und versuchte, ihr damit eine Reaktion zu entlocken. Vielleicht wusste sie über die ganze Sache ja irgendetwas, dass ihm die anderen nicht erzählt hatten.
Sie sah daraufhin kurz zu ihm auf. „Das ist keine Degradierung.“
Dann wandte sie sich wieder ihrem Computer zu.
„Sie mir aber verdächtig danach aus“, knurrte Daniel und schlich sich aus dem Zimmer.
Er war gerade auf den Flur getreten, da klingelte plötzlich sein Handy. Seine Frau Veronica. Daniel stöhnte.
„Sind die Unterlagen angekommen?“, fragte Veronica, nachdem er den Anruf entgegengenommen hatte. Die meisten Ehefrauen hätten ein Telefonat vermutlich mit einem „Hallo“ begonnen. Sogar die meisten Fremden hätten das getan.
Und Veronica wurde traurigerweise zunehmend zu einer Fremden für ihn. Dieser Eindruck verstärkte sich von Monat zu Monat.
„Hallo“, sagte Daniel mit einem flauen Gefühl im Magen. Er ging den Flur entlang und seine Augen wanderten dabei immer wieder von links nach rechts, er hoffte inständig, dass die anderen Ermittler, an denen er vorbeiging, ihm nicht ansehen konnten, wie gestresst er war. In einem Arbeitsumfeld, in dem sämtliche Kollegen dazu ausgebildet worden waren, die Körpersprache anderer zu lesen, erschwerte es, private Telefongespräche zu führen. Also steuerte Daniel auf die Toiletten zu.
„Hallo“, erwiderte Veronica mit einem merklich ungeduldigen Unterton Veronica. „Ich hatte dich gefragt, ob die Unterlagen angekommen sind.“
„Augenblick noch. Ich bin gerade auf dem Flur. Warte kurz.“
Daniel eilte auf die Tür zu den nächstgelegenen Toiletten zu, doch gerade, als er dort angekommen war, ging vor ihm ein Kollege durch die Tür.
So viel zum Thema Privatsphäre.
Zwischen den Herren- und Damentoiletten befand sich die Tür, die zu der Behindertentoilette führte. Er sah sich kurz um, um sicherzustellen, dass er nicht beobachtet wurde, dann ging er dort hinein und verriegelte die Tür hinter sich.
Es war ein ziemlich kleiner Raum, in dem sich nur eine einzige Toilette befand. Er setzte sich auf den Klodeckel und lehnte sich gegen den Handlauf, dann sagte er: „Ja, die Unterlagen sind angekommen. Aber ich habe noch nicht reingeschaut.“
„Weil du zu sehr mit einem Fall beschäftigt bist“, sagte Veronica in einem Tonfall, der suggerierte, dass sie genau diesen Satz schon tausende Male gesagt hatte. Womit sie nicht ganz falsch lag.
„Nein, weil ich genau weiß, was da drinsteht und weil ich sie nicht unterschreiben will.“
Ein lautes Seufzen. „Du weißt schon, dass ich mich auch ohne deine Zustimmung von dir scheiden lassen kann, oder? Ich versuche nur, den netteren Weg zu gehen.“
„Und ich versuche, unsere Ehe zu retten!“
„Das kommt leider mehrere Jahre zu spät.“
„Es ist nie zu spät dafür“, sagte Daniel und warf dabei einen Blick auf seine Armbanduhr. Er musste in ein paar Stunden einen Flug bekommen. Schon jetzt blieb ihm kaum noch genug Zeit, um vorher noch zum Packen nach Hause zu fahren und es dann trotzdem noch rechtzeitig zum Flughafen zu schaffen. Diese Schlawiner hatten alles so geplant, dass ihm keine Zeit mehr blieb, sich gegen seine Versetzung zu wehren.
„Komm schon, Daniel, unterschreib die Dokumente bitte einfach. Bei den Unterhaltszahlungen bin ich dir wirklich sehr weit entgegengekommen.“
Das stimmte zwar, aber darum ging es ihm nicht. Er wollte sie als Frau behalten – und nicht als Ex-Frau.
„Schatz, ich weiß doch, dass es zwischen uns Probleme gab, aber dafür finden wir schon eine Lösung. Wir können doch nicht einfach so acht Jahre wegwer –“
„Siebeneinhalb Jahre.“
Daniel bis sich auf die Zähne. Veronica war Mathematikprofessorin an der Georgetown University. Sie nahm es immer ganz genau. Ging immer analytisch vor. Und verbesserte ihn ständig.
„Ist doch egal. Entscheidend ist doch, dass wir so eine lange Zeit nicht einfach so wegwerfen können.“
Ein weiteres lautes Seufzen. „Ich möchte mein Leben weiterleben. Ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste.“
„Wo wir bei dem Thema sind. Ich habe noch einmal mit der Adoptionsvermittlungsstelle gesprochen und –“
„Das hatten wir doch schon besprochen.“
„Ich weiß, aber hör mir doch erst mal zu. Die sagen, dass es weniger als ein Jahr dauern würde, bis wir ein Baby bekommen. Aufgrund unseres Einkommens und der Tatsache, dass ich fürs FBI arbeite, werden wir vorgezogen.“
„Ich möchte aber kein fremdes Kind. Ich will mein eigenes.“
„Aber Kinder sind doch alle gleich. Was macht das denn für einen Unterschied?“
„Komisch, dass das nur Männer so sehen!“
In Gedanken schimpfte Daniel mit sich selbst. Er war schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten. Diese Formulierung hatte er schon einmal gewählt und auch damals war Veronica ausgerastet. Jetzt hatte er den gleichen Fehler noch einmal begangen.
Es folgte ein Moment der Stille, doch dann fuhr Veronica mit brüchiger Stimme fort.
„Ich habe einfach die Nase voll, Daniel. Ich habe die Nase voll davon, dass du die ganze Zeit davonrennst und dich in irgendwelche Ermittlungen stürzt. Ich habe die Nase voll davon, dass du einfach nicht verstehen willst, warum ich mir ein eigenes Kind wünsche. Ich habe die Nase voll davon, dass du immer so unsensibel bist.“
„Ich bin überhaupt nicht unsensibel. Ich versuche nur, dir deinen Wunsch zu erfüllen.“
Eine Pause. „Den kannst du mir aber nicht erfüllen.“
Dann legte Veronica auf.
Daniel sackte auf der Toilette ein Stück in sich zusammen und ließ den Kopf hängen.
„Das war ganz schön unfair“, flüsterte er sich selbst zu.
Er blieb regungslos dort sitzen und starrte den Boden an, nur mit Mühe konnte er dem Drang widerstehen, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.
Daniel schaute erneut auf seine Uhr.
„Scheiße“, murmelte er dann.
Er riss sich zusammen und öffnete die Tür zur Toilette wieder, musste dann allerdings feststellen, dass davor bereits eine Frau im Rollstuhl wartete.
Die Frau verzog grimmig das Gesicht. „Diese Toilette ist für Menschen mit Behinderungen gedacht.“
„Na ja, also, meine Frau hat mich schon oft genug als emotionalen Krüppel bezeichnet.“
Ihre Miene verfinsterte sich daraufhin noch weiter. „Diesen Begriff höre ich gar nicht gern.“
„Sagen Sie das meiner Frau“, erwiderte er schnippisch. „Ich muss jetzt einen Flug erwischen.“
* * *
Das Team der Spurensicherung hatte den Tatort bereits wieder verlassen. Sie hatten lediglich die zerbrochene Büste und einen Kreideumriss auf dem Boden zurückgelassen, der zeigte, wo genau Ted Peterson an seinem eigenen Blut ertrunken war.
Eine verstörend große, getrocknete Lache ebendiesen Blutes bedeckte fast den gesamten Boden des Treppenabsatzes.
Daniel stand neben einem Beamten der örtlichen Mordermittlung und dem Direktor des Museums. Bei dem Detective namens Philip Fish handelte es sich um einen untersetzten, älteren Mann, dessen Ausstrahlung irgendwie etwas Trauriges an sich hatte. Sein schlaffes Gesicht unterhalb buschiger Augenbrauen sah verbraucht aus, ganz so, als hätte ihm das Leben schon die ein oder andere Abreibung verpasst.
Mit anderen Worten: Er sah genau so aus, wie Daniel sich fühlte.
Der Museumsdirektor, der Daniel als Mr. Farnsworth vorgestellt worden war – ein Vorname war nicht genannt worden –, war ein Mann mittleren Alters mit gerötetem Gesicht und in einem Designer-Anzug. Er roch nicht nur nach dreißig Jahre altem Whisky, sondern auch nach geerbtem Wohlstand.
„Wir haben Peterson bereits überprüft“, erklärte ihm Detective Fish. „Ein ziemlich introvertierter Typ. Hat sich keine Feinde gemacht. Hat auch keine Vorstrafen oder andere Einträge im Polizeiregister. Und wir haben in seiner Wohnung nichts Illegales gefunden.“
„Er war ein ruhiger Typ“, fügte der Museumsdirektor hinzu. „Nicht besonders gebildet, weshalb dieser Job ihm vielleicht ein bisschen zu hoch war, aber man konnte sich auf ihn verlassen. Wir mochten ihn alle.“
„Und was ist mit seiner Internet-History?“, fragte Daniel den Beamten der Mordermittlung.
„Die Einheit für Cyberkriminalität sieht sich seinen Computer gerade an“, antwortete Detective Fish. „Aber den Aussagen seiner Nachbarn und Freunde nach zu urteilen, würde ich nicht davon ausgehen, dass wir da irgendetwas Auffälliges finden.“
Der Museumsdirektor schüttelte daraufhin den Kopf. „Sie werden garantiert nichts finden. Er war ein sehr zurückhaltender Typ. Fred hätte keiner Fliege was zuleide getan.“
„Ted“, korrigierte Daniel den Mann, dann wandte er sich wieder an Detective Fish. „Hat die Spurensicherung schon irgendetwas herausgefunden?“
Der Detective zuckte mit den Achseln. „Das ist ein öffentliches Gebäude. An dem Treppengeländer wimmelt es nur so von verschiedenen Fingerabdrücken. Wir haben auch diverse Haare und Hautfetzen gefunden. Aber solange wir keinen Verdächtigen haben, werden die uns nicht besonders viel weiterhelfen, denn jeder halbwegs kompetente Anwalt wird einfach die Verteidigung anführen, dass sein Klient das Museum besucht hat.“
Daniel gab ein Grunzen von sich. Bei Morden, die an öffentlichen Orten verübt wurden, war das ein übliches Problem. „Und was ist mit der Tür, über die er sich Zugang zum Gebäude beschafft hat?“
„Da hatten wir durchaus etwas mehr Glück. Die Rasenfläche, die er auf dem Weg zur Tür überquert hat, ist erst kurz davor gewässert worden, weshalb sich an den Sohlen seiner Stiefel Dreck gesammelt hat. Vor der Türschwelle haben wir einen Abdruck gefunden. Außerdem sind uns da einige Tonklümpchen aufgefallen. Die Spurensicherung ist sich noch nicht sicher, ob er selbst mit Ton gearbeitet hat oder ob er einfach nur über einen tonhaltigen Boden gelaufen, wie etwa ein ausgetrocknetes Flussbett. Sobald sie das im Labor überprüft haben, können sie uns dazu sicher mehr sagen.“
„Na, das ist ja immerhin schon etwas.“ Daniel richtete sich nun an den Museumsdirektor. „Sind Sie sich absolut sicher, dass nichts gestohlen wurde, Mr. Farnsworth?“
„Sehr sicher. Wir haben eine Inventur gemacht. Es wurde nur diese Büste beschädigt, die nicht besonders wertvoll ist. Es handelt sich um eine Gipsbüste, die in den Dreißigern von einem Kunststudierenden angefertigt wurde, der sie dem Museum überlassen hat. Sie stellt Edward Gibbon dar. Das war der Autor, der –“
„Verfall und Untergang des römischen Imperiums verfasst hat. Das habe ich gelesen.“
Mr. Farnsworth machte einen überraschten Eindruck. Daniel versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich über diese Reaktion ärgerte. Warum wurden Polizisten eigentlich immer gleich als Analphabeten abgestempelt?
Daniel ging nun ganz vorsichtig um die am Boden liegenden, zerbrochene Büste herum und achtete dabei genauestens darauf, nicht auf den riesigen, verkrusteten Fleck zu treten, den das ehemalige Lebenselixier des armen Ted Peterson hinterlassen hatte.
„Die Büste ist also nicht wertvoll“, sagte Daniel.
„Zumindest nicht wirklich“, sagte der Museumsdirektor. „Im Prinzip könnte man sogar sagen, dass der Mörder sich dazu entschlossen hat, das wertloseste aller unserer objets d‘art zu zerstören.“
Daniel warf dem Mann einen genervten Blick zu. Daniel war zwar gebildet, aber Menschen, die in einem ganz normalen Gespräch plötzlich obskure Fremdwörter wie objets d’art verwendeten, konnte er trotzdem nicht ausstehen. Es löste bei ihm den Impuls aus, diesen Menschen einen gehörigen Tritt in die Testikel zu verpassen, wie es seine Partnerin vermutlich formuliert hätte.
Oder seine ehemalige Partnerin. Zumindest, wenn es nach den Vorstellungen der Bonzen ging.
Aber die konnten sich auf was gefasst machen.
Dann fiel ihm ein merkwürdiges Detail auf. Ein den zwei größten Gipsbruchstücken ließ sich erkennen, dass sich in der Büste einmal ein Hohlraum befunden haben musste.
Er ging in die Hocke, um sich die Bruchstücke genauer ansehen zu können.
„Die Büste war innen hohl“, sagte Daniel.
Mr. Farnsworth zuckte mit den Achseln. „Das ist bei Gipsbüsten oftmals der Fall. Gips ist ein ziemlich brüchiges Material, wenn man innen einen Hohlraum lässt und eine Art Innengerüst aus Draht anfertigt, dann gibt das der Struktur zusätzliche Stabilität“
„Es ist aber kein Innengerüst zu sehen.“
„Das ist auch nicht immer zwingend nötig. Es ist ja nur eine Büste, noch dazu nur in Lebensgröße. Bei einer Statue wäre so etwas nötig gewesen.“
Daniel beugte sich noch ein Stück herunter und sah sich die Überreste der Büste noch etwas genauer an. Auf der glatten Seite eines der beiden Stücke, an denen sich der Hohlraum abzeichnete, war ein glänzender, grüner Punkt zu erkennen, der einen Durchmesser von kaum mehr als zwei Zentimeter hatte.
„Was ist das?“, fragte Daniel.
„Keine Ahnung“, sagte Detective Fish, der sich das Bruchstück über Daniels Schulter hinweg ansah.
Mr. Farnsworth fiel diesmal wohl kein neunmalkluger Kommentar ein, denn er sagte nichts.
„Das lassen wir im Labor untersuchen“, sagte der Detective. „Hey, da ist noch so einer.“
Er zeigte auf ein weiteres Bruchstück, auf dem sich ebenfalls ein grüner Punkt befand.
Daniel nickte anerkennend, dann bewegte er sich weiter um die Büste herum, um sich die Bruchstücke – insbesondere die, an denen sich der Hohlraum abzeichnete – aus allen Blickwinkeln anzusehen. Dabei entdeckte noch mehrere weitere solcher grünen Punkte.
„Das ist seltsam“, murmelte Farnsworth.
„Was genau?“, fragte Daniel daraufhin.
Der Museumsdirektor zeigte auf den Sockel der Büste, der in zwei Teile zerbrochen war.
„Da ist kein Loch im Sockel. Bei Gipsbüsten mit Hohlraum ist normalerweise immer ein Loch im Sockel. Der Künstler formt den Gips um das Gerüst herum, das auf seiner Arbeitsfläche befestigt ist, dadurch bleibt ein im Sockel ein Loch zurück, das man hinterher allerdings nicht sehen kann, wenn die Büste aufrecht steht.“
Daniel war nun neben den Sockelbruchstücken in die Hocke gegangen und tippte sich mit den Fingern geistesabwesend aufs Knie. Er verspürte nun dieses köstliche Kribbeln im Bauch, das ihn immer überkam, wenn er in einer Ermittlung eine entscheidende Entdeckung gemacht hatte.
„Dann wollte die Person, die diese Büste angefertigt hat, also nicht, dass man erkennen kann, dass die Büste hohl ist. Und ich würde mein linkes Ei darauf verwetten, dass die grünen Punkte von etwas stammen, dass in diesem Hohlraum versteckt war. Sieht mir ganz danach aus, als wenn der Mörder mehr über Ihre Sammlung wusste als Sie selbst.“
Farnsworth verzog beleidigt das Gesicht.
Daniel richtete sich aus der Hocke wieder auf. „Damit sind wir dann hier fertig, würde ich sagen.“
„Und was denken Sie, wer Fred ermordet hat?“, fragte Farnsworth.
Daniel funkelte den Mann böse an. „Er hieß Ted.“ Farnsworth blinzelte kurz und zuckte dann kaum merklich mit den Achseln. Daniel wandte sich daraufhin von ihm ab.
Während Detective Fish damit beschäftigt war, die Überreste der Büste einzutüten, lief Daniel durch das Museum, um den Weg nachzuvollziehen, den der Nachtwächter in der Tatnacht gegangen war. Der Museumsdirektor hatte Daniel darüber informiert, dass der Wachdienst das Museum immer in einer bestimmten Route ablief, weshalb davon auszugehen war, dass das Opfer vor der Begegnung mit dem Täter durch den Palas und durch den Ausstellungsraum zur italienischen Renaissance gegangen war.
Daniel hatte sich zwar im Internet einige Fotos von dem Palas angesehen, während er am Flughafen auf seinen Flug gewartet hatte, aber Bilder konnten ihn nicht auf den Anblick vorbereiten, der sich ihm bot. Die Decke, deren Bögen mit eng verschlungenen, gold-blauen keltischen Knoten bemalt waren, ragte hoch über ihm auf und die Sammlung mittelalterlicher Kriegsausrüstung wurde von den atemberaubenden bunten Buntglasfenstern, die im Sonnenschein eines wolkenlosen Frühlingstages erstrahlten, in buntes Licht getaucht.
An den meisten anderen Tagen wäre es hier wahrscheinlich brechend voll gewesen, aber da das Museum wegen der Mordermittlungen heute geschlossen geblieben war, hatte er den Saal nun ganz für sich allein. Es war hier sehr ruhig. Geradezu friedlich. Der arme Ted hatte es wahrscheinlich genossen, nachts durch diesen Raum zu laufen. Der Detective hatte erwähnt, dass man in der Wohnung des Opfers diverse Kunst- und Geschichtsbücher gefunden hatte. Im Gegensatz zu diesem Arschloch eines Museumsdirektors ging Daniel davon aus, dass Ted wahrscheinlich jedes einzelne Ausstellungsstück dieses Museums ganz genau gekannt hatte.
Ob er wohl auch gewusst hatte, dass die Edward Gibbon hohl gewesen war?
Vermutlich nicht. Von außen war das schließlich nicht zu erkennen gewesen. Und Daniel war sich ziemlich sicher, dass der Gegenstand, der darin versteckt war, auch keine Geräusche gemacht hatte, wenn man die Büste bewegte – falls die Büste denn überhaupt jemals bewegt worden war, seit man sie dem Museum vor fast hundert Jahren übergeben hatte. Auf der Innenseite des Hohlraums waren so viele Kontaktpunkte zu erkennen gewesen, dass man davon ausgehen konnte, dass das Objekt, das sich daran befunden hatte, wahrscheinlich bombenfest gewesen war. Vermutlich hatte keiner der Museumsangestellten eine Ahnung davon gehabt, dass im Inneren der Büste etwas versteckt gewesen war.
Woher hatte der Täter es denn dann gewusst?
Und warum hatte er den Nachtwächter ermordet? Peterson war offensichtlich nicht sofort auf den Eindringling aufmerksam geworden, sonst hätte er Mord im Untergeschoss stattgefunden, dort, wo der Mörder das Gebäude betreten hatte. Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass der Täter die Büste zerbrochen hatte, um an den darin versteckten Gegenstand zu kommen und das Peterson davon angelockt worden war.
Davor hatte Peterson den Eindringling vermutlich überhaupt nicht bemerkt. Dem Täter muss allerdings klar gewesen sein, dass das Gebäude nachts bewacht wurde. Er hatte sich so gut auf den Einbruch vorbereitet, dass auszuschließen war, dass er nicht davon gewusst haben könnte. Er hatte sich offensichtlich mit dem Grundriss des Gebäudes vertraut gemacht und außerdem über die Alarmanlage informiert. In diesem alten Gebäude, mit all seinen verschiedenen Räumen und Treppen, bot einem unendlich viele Orte, die als Versteck geeignet gewesen wären. Der Täter hätte also abwarten können, bis der Nachtwächter auf einem seiner Rundgänge bis ganz ans andere Ende des Gebäudes gegangen war. Dann hätte Peterson das Geräusch, das beim Zerbrechen der Büste entstand, womöglich überhaupt nicht gehört. Und selbst, wenn er es doch gehört hätte, wäre dem Täter so genug Zeit geblieben, sich aus dem Staub zu machen, bis Peterson es zu der Büste geschafft hätte.
Es war also überhaupt nicht nötig, den Nachtwächter zu ermorden – woraus man schließen konnte, dass der Täter den Mann hatte ermorden wollen.
Damit stellte sich die Frage, was dem Täter bei seinem Einbruch wichtiger gewesen war: Den versteckten Gegenstand zu stehlen oder den Mann umzubringen, der diesen Gegenstand bewachte? Oder waren diese beiden Aspekte von gleich großer Bedeutung für die Erfüllung seines Ziels?
Der Einbruch bei The Cloisters in New York war sehr ähnlich verlaufen. Dort hatte es zwei Wachmänner gegeben, einer auf dem Grundstück und einer im Gebäude. Der Täter hatte so lange abgewartet, bis sich der eine Wachmann ganz am anderen Ende des Grundstücks befunden hatte, bevor er in das Gebäude eingebrochen war. Dann hatte er die Alarmanlage und die Kameras deaktiviert und das Schloss geknackt.
