Nicht wie wir (Ein Ilse Beck-FBI-Thriller – Buch 1) - Ava Strong - kostenlos E-Book

Nicht wie wir (Ein Ilse Beck-FBI-Thriller – Buch 1) E-Book

Ava Strong

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

NICHT WIE WIR (Ein Ilse Beck-FBI-Thriller – Buch 1) ist der Debütroman in der neuen Reihe der Mystery- und Krimiautorin Ava Strong. FBI-Spezialagentin Ilse Beck, Opfer einer traumatischen Kindheit in Deutschland, zog in die USA, wo sie eine renommierte Psychologin mit Schwerpunkt auf posttraumatische Belastungsstörungen wurde und weltweit als führende Expertin für das einzigartige Trauma von Überlebenden von Serienmördern gilt. Durch ihre Forschung an der Psychologie der Überlebenden besitzt Ilse ein einzigartiges und unvergleichliches Fachwissen über die wahre Psychologie von Serienmördern. Allerdings hatte sie nicht geahnt, dass sie selbst einmal FBI-Agentin werden würde. Und doch kann nichts Ilse auf ihre neue Patientin vorbereiten, die eine Begegnung am Straßenrand mit einem Serienmörder überlebt hat. Die paranoide Patientin ist davon überzeugt, dass der Mörder sie noch immer beobachtet. Und als der Mörder ein weiteres Opfer fordert, braucht das FBI Ilses Hilfe, um den Fall zu lösen. Dieser Fall und dieser Mörder gehen Ilse jedoch mehr unter die Haut, als ihr lieb ist. Als ihr klar wird, dass sie selbst ins Visier gerät, zeigt das Trauma ihrer eigenen Vergangenheit erneut seine hässliche Fratze. Schafft es Ilse, mit ihrem brillanten Instinkt in den Kopf dieses Mörders zu blicken und ihn aufzuhalten, bevor er wieder zuschlägt? Und wird sie sich selbst retten können? Die ILSE-BECK-Reihe ist ein dunkler und spannender Krimi und dermaßen fesselnd, dass man ihn praktisch in einem Zug durchlesen muss. Der packende und verwirrende Krimi steckt voller Wendungen und erstaunlicher Geheimnisse. Sie werden sich in eine brillante neue Protagonistin verlieben, während das Buch Ihnen bis spät in die Nacht den Atem raubt. Band 2, 3 und 4 in der Reihe – NICHT WIE ER SCHIEN, NICHT WIE GESTERN und NICHT SO – sind ebenfalls erhältlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 332

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



n i c h t   w i e   w i r

(ein ilse beck-fbi-thriller — buch 1)

a v a   s t r o n g

Ava Strong

Debütautorin Ava Strong ist die Autorin der REMI LAURENT MYSTERY-Serie, die drei Bücher umfasst (und ein Ende ist noch nicht in Sicht). Ava würde gerne von Ihnen hören, also besuchen Sie bitte www.avastrongauthor.com, um kostenlose Ebooks zu erhalten, die neuesten Nachrichten zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.

Copyright © 2021 by Ava Strong. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig.

BÜCHER VON AVA STRONG

EIN ILSE BECK-FBI-THRILLER

INHALTSVERZEICHNIS

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL EINS

Ihr Daumen winkte über den Asphalt, die Spitzen ihrer Turnschuhe berührten den weißen Streifen, der am Rand des gewundenen Highways gestrichen war. Sarah Beth blickte finster vor sich unter dem dunklen Firmament der Nacht, als ein weiteres Auto an ihr vorbeiraste, den Staub aufwirbelte und einen Haufen trockenes Laub auf der anderen Seite der Betonabgrenzung hinter ihr in die Luft blies.

Sie murmelte düster vor sich hin und hob weiter ihre Hand in die Nachtluft, aber dieses Mal streckte sie einen anderen Finger in Richtung der Limousine, die an ihr vorbeigeschossen war.

Nachdem das Auto außer Sichtweite war, ließ sie ihre Hand herunter und fröstelte am Straßenrand kurz außerhalb von Seattle. Die Umgebung der Stadt war normalerweise selbst tagsüber von Nebel verdeckt, aber jetzt, im Schutz der Dunkelheit und der Wolken, kam die einzige Beleuchtung von den Highway-Laternen, die im Abstand von fünfzehn Metern voneinander entfernt standen, und dem gelegentlichen Scheinwerferlicht vorbeifahrender Fahrzeuge, obwohl die eher selten waren.

Sarah Beth hob eine Schulter an, spürte ein Knacken im Nacken und zuckte zusammen, rieb sich den Oberarm und setzte ihren Rucksack auf dem Boden ab.

Fünfzehn Autos waren es jetzt … fünfzehn Autos, die sie ignoriert hatten.

Sie seufzte. Der Durchschnitt waren zweiundzwanzig. Sie hatte es sich angewöhnt zu zählen, seitdem sie das Gruppenheim vier Jahre zuvor verlassen hatte. Sie hatten ihr gesagt, dass es ihr schlecht ergehen würde, wenn sie versuchen würde, allein zu leben. Sie hatten ihr gesagt, dass sie keine Woche überleben würde.

Nun, vier Jahre später, hatte sie allen das Gegenteil bewiesen, indem sie letzten Monat ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Ein Leben unterwegs, auf dem Highway, in Güterwagen oder unter Unterführungen, bei dem man sich im Fitness-Studio duschte oder für ein Zimmer und Kost arbeitete, war nicht die Version des amerikanischen Traums, den die meisten hatten. Aber Sarah Beth war frei. Freier als alle, die sie kannte. Die paar unangenehmen Nächte, während derer sie auf einem Walmart-Parkplatz geschlafen hatte oder ein Planet-Fitness-WC geputzt hatte, waren ein kleiner Preis für diese Freiheit.

Wenn es ums Trampen ging, war es allerdings immer ein wenig wie ein Hochseilakt. Wie viel Make-up sollte sie tragen? Wie sauber sollte sie aussehen? Wenn sie einerseits zu herausgeputzt war, dann hielten oft die ganz falsche Art von Fahrern an, um sie mitzunehmen. Sie hatte allerdings ein Bauchgefühl für diesen Typ von Männern.

Wenn sie andererseits alle Körperpflege ausfallen ließ, dann wollte sie niemand in seinem Auto haben.

Sara Beth hob die Hand und strich sich ihr lockiges, braunes Haar hinter die Ohren, während sie ihr Lächeln übte. Man hatte ihr schon mehr als einmal gesagt, dass sie ein sehr hübsches Lächeln hatte.

Sie blickte zurück über den Highway, ihre Schulter schmerzte noch immer und es fröstelte sie. Sie rutschte ein wenig an den Straßenrand hinüber und ihr linkes Bein ließ sie dabei ihr Gesicht verziehen, sodass sie ihr Gewicht verlagerte und sich in eine etwas bequemere Standposition zog.

Sie sah den Pick-up-Truck, bevor sie ihn hörte.

Zuerst sein helles Scheinwerferlicht, das zu weit vom Boden entfernt war, um von einem Auto zu stammen. Eine Sekunde später erschien der Pick-up-Truck auf der Straße, das Scheinwerferlicht sank und sie bemerkte die große, blaue Fahrerkabine und das Flachbett dahinter.

Schnell strich sie ihr Haar erneut aus dem Gesicht und riskierte dieses Mal ein Lächeln voller Zähne – wie jemand, der im Theater zu Gunsten des Publikums hinten im Saal die Schauspielerei übertreibt – und hob ihren Daumen in die Luft.

Der Magen drehte sich ihr um und ihr Lächeln begann zu verschwinden, als der Pick-up-Truck kein Anzeichen machte, seine Fahrt zu verlangsamen. Er fuhr immer schneller auf sie zu …

Plötzlich kreischten die Bremsen auf.

Das Scheinwerferlicht verdunkelte sich und das riesige Fahrzeug kam nur ein paar Schritte vor Sarah Beth zu einem plötzlichen Halt. Sie schluckte und starrte den Ort an, wo das Fahrzeug angehalten hatte.

Eine Hand winkte durch das offene Fenster, gestikulierte zu ihr. Kein Geräusch, keine Worte – es war nur ein einzelnes Winken.

Sarah Beth lehnte sich nach vorn und spähte zu dem Gesicht in der Fahrerkabine hinauf. „Fährst du nach Seattle?“, rief sie.

Wieder gab es keine hörbare Antwort. Nur ein schnelles Handzeichen mit einem erhobenen Daumen und ein weiteres Winken der Hand, als wäre sie ein Vogel, der im Schein des Mondlichtes mit den Flügeln schlägt.

Sarah Beth zögerte, sie starrte zu dem Pick-up hinauf und schluckte. Eine Sekunde später verschwand die winkende Hand wieder im Pick-up-Truck und ein einzelnes Post-it flatterte aus dem Fenster.

Sarah Beth blickte jetzt noch zweifelnder. Sie bückte sich zögerlich, behielt dabei den Pick-up-Truck fest im Blick, doch ihre Finger suchten nach dem Notizzettel.

Sie hatte kein Kritzeln gehört und die Buchstaben standen in Tinte auf dem Zettel, als wäre die Notiz vielleicht schon zuvor geschrieben worden. War der Fahrer stumm?

Sarah Beth hob den Zettel auf und las die einfache Anweisung: Spring rein! gefolgt von einem Smiley-Gesicht. Sarah Beth blickte unbehaglich nach oben und hielt die Notiz zwischen ihren Fingerspitzen. Sie machte jetzt ein knisterndes Geräusch; geradeso, wie das Laub an der Betonabsperrung. Es wurde immer kälter und dunkler.

Die Straßen waren verlassener als sie es sich vorgestellt hatte.

Außerdem lächelte der Lastwagenfahrer jetzt auch, zeigte ein freundliches Gesicht aus seinem Fenster. Vielleicht nicht stumm, aber ein wenig dämlich? Sarah Beth konnte mit dämlich umgehen. Sie zog es sogar vor. Menschen, die zu viel nachdachten, machten ihr Angst.

„Danke“, sagte sie, nickte und zerknitterte die Notiz, bevor sie den Zettel wieder in ihre Tasche steckte. „Ehrlich, du kannst mich überall in der Stadt absetzen.“

Sie ging auf die Beifahrerseite zu und stieg ein. Sie behielt den Rucksack in der Nähe ihrer Füße, falls sie eine eilige Flucht antreten müsste.

„Ich bin Sarah Beth“, sagte sie, und erwartete keine Antwort. „Schön, dich kennenzulernen! Vielen Dank. Du hast mich da echt gerettet.“

Der Fahrer lächelte immer noch unter einer Baseballmütze mit einem tief heruntergezogenen Schild, das Schatten über seine Gesichtszüge fallen ließ. Der Pick-up-Truck war überraschend sauber und roch schwach nach Lufterfrischer.

Aus irgendeinem Grund veranlasste dies Sarah Beth, sich ein wenig zu entspannen. Ihr Kopf strich jetzt gegen die Kopflehne, als der Pick-up-Truck wieder ansprang und weiterfuhr. Die Scheinwerfer leuchteten weiterhin schwach, als sie ihre Fahrt beschleunigten und über den Highway auf die Stadt zufuhren.

Der Fahrer redete nicht, bewegte sich nicht und versuchte nicht, irgendetwas von ihr zu verlangen – weder finanziell, noch körperlich oder anderweitig. Dies versprach anscheinend, eine der angenehmeren Fahrten per Anhalter zu werden.

Sarah Beth warf ihrem zeitweiligen Chauffeur einen Blick von der Seite zu. Eine Sekunde später zog sie die Stirn in Falten, als sie eine dünne Narbe um das Handgelenk des Typen bemerkte, direkt unter seinem Jackenärmel.

„Alles in Ordnung, Mister?“, fragte sie.

Ein weiteres Zeichen mit dem Daumen. Sie wunderte sich, ob die Narbe sich vielleicht bis hoch zum Hals des Mannes zog. Vielleicht konnte er gar nicht sprechen. Der Gedanke ließ sie erschauern und einen Hauch von Mitleid spüren, während der Pick-up-Truck über die alte Straße rumpelte. Sie blickte wieder in die Nacht hinaus, sah sich die Bäume an, die an ihr vorbeizogen. Hin und wieder warf sie ihrem vermeintlichen Retter durch die Rückspiegel einen verstohlenen Blick zu, um ihn im Auge zu behalten.

Ein Mädchen konnte im einsamen Nordwesten nie vorsichtig genug sein.

Während sie darüber sinnierte, bremste der Pick-up-Truck plötzlich und bog auf eine Abfahrt unter einem hellen, gelben Schild ab.

„Hey Mister“, sagte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen, „das ist aber nicht die Abfahrt.“

Der Fahrer antwortete nicht; er saß da wie ein Roboter, war ans Steuer gefesselt und starrte nach vorn.

„Mister“, sagte Sarah Beth jetzt lauter. „Bitte, hey – wohin fahren wir?“

Jetzt wurde ihr plötzlich doch mulmig zumute und sie spürte, wie Angst sich in ihr breitmachte. Die Abfahrt führte zu einem schon lange brachen Feld. Der Staub und Matsch flog um sie auf, während die Reifen rumpelten und sprangen und die beiden Insassen des Pick-up-Trucks schnell weg vom Highway brachten.

Sarah Beths Herz begann zu rasen; sie rutschte auf die Tür zu, um etwas Abstand zwischen sich und den Fahrer zu bringen. „Mister!“, sagte sie. „Wohin fahren wir?“

Der Fahrer ignorierte sie weiter und fuhr jetzt eher noch schneller die alte Farmstraße das unbestellte Feld entlang. Unter dem düsteren Himmel schien der öde Boden und der Staub der grauen Landschaft fast wie ein riesiges, frisches Grab.

„Hey!“, protestierte Sarah Beth jetzt, während ihr vor Angst aller Benimm verlorenging. „Lass mich raus! Ich meine es ernst – lass mich sofort aussteigen!“ Ihre Finger krallten sich um den Türöffner, obwohl sie immer noch fuhren.

Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie riss an dem Ding, ihre Finger verhakten sich im kühlen Metall, ihre Knöchel rieben gegen raues Plastik. Der Öffner bewegte sich zwar, aber die Tür blieb verschlossen.

„Lass mich raus!“, schrie sie jetzt. Sie versuchte, das Fenster herunterzulassen. Ebenfalls verschlossen.

Plötzlich begann der Pick-up-Truck mit demselben rüttelnden Kratzgeräusch, das er schon auf dem Highway gemacht hatte, seine Fahrt zu verlangsamen. Staub wurde überall um sie herum aufgewirbelt.

Der Fahrer hielt an und Sarah Beth schrie, als seine Hand auf sie zukam. Eine Hand, die einen dicken Arbeitshandschuh trug. Aber die Hand schlug sie nicht und schien auch keine Waffe zu halten. Stattdessen gab der Fahrer ihr einen weiteren Notizzettel, während der Staub auf dem brachen alten Feld um sie herum sich wieder legte.

Sie starrte den Zettel keuchend an. „Ich weiß nicht, was du hier spielst –“, begann sie mit zitternder Stimme zu sagen.

Aber die Hand in dem Handschuh hielt ihr den Zettel einfach nur beharrlicher hin.

Sarah Beth nahm ihn mit zitternden Fingern an, auch wenn sie es nur tat, um etwas zu tun zu haben. Sie blickte hinunter, atmete schwer und behielt den Fahrer weiterhin im Auge. Warum hatte er den Highway verlassen? Was taten sie hier? Nichts Gutes – zweifellos. Es kam nie etwas Gutes bei solchen Dingen heraus. Sie hatte Geschichten gehört … furchtbare Geschichten.

Dennoch las sie den Zettel. Und ihr sank das Herz in den Magen. Drei Sätze, obwohl sie einen Moment brauchte, um sie im Dunkeln zu entziffern. Als ob er ihre Schwierigkeiten bemerkte, griff der Fahrer nach oben und schaltete das Kabinenlicht ein.

Sarah Beth las:

Renne. Ich gebe dir zehn Sekunden Vorsprung. Dann werde ich dir die Kehle durchtrennen.

Ihr Herz fühlte sich an, als wäre es für einen Augenblick stehengeblieben. Eine weiteres Smiley-Gesicht war oben auf diese Notiz gemalt, genau wie auf der anderen. Auch dieses Mal hatte sie nicht bemerkt, wie der Fahrer etwas geschrieben hatte, was womöglich darauf hinwies, dass er die Klebezettel schon vorbereitet gehabt hatte.

Renne.

Ihre Hand zitterte immer noch, aber sie blickte auf und aus der Windschutzscheibe. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie weigerte sich jetzt, noch einmal den Fahrer anzusehen. Es hatte keinen Sinn, ihn noch zu ermutigen.

„Ich – bitte“, sagte sie flehend. „Bitte.“

Dann hörte sie zum ersten Mal die Stimme des Fahrers. Es war eine tiefe, heisere, schmerzverzerrte Stimme.

„Eins … Zwei …“

Die Schlösser klickten.

„Mister, bitte!“, flehte Sarah Beth. „Lassen Sie mich einfach nur gehen! Ich werde es keinem erzählen – ehrlich! Bitte!“

„Drei … Vier …“

Sie fluchte, griff nach dem Öffner, schnappte sich ihren Rucksack. Zu ihrer Erleichterung klickte die Tür auf. Dann landete Sarah Beth wackelig und keuchend auf unebenem, matschigen Boden. Sie begann loszurennen, hastete weg vom Pick-up und der Stelle, an der er gehalten hatte.

Dann werde ich dir die Kehle durchtrennen.

Sie erschauderte. Ein Vorsprung. Welch krankes Spiel auch immer dieser Perverse spielte, sie hatte einen Vorsprung. Sie konnte aber nicht auf der Straße bleiben. Wenn sie das tun würde, dann würde der Psychopath sie einfach überfahren. Weg von der Straße. Durch die Bäume. Los! Los!

Sarah Beths Herz hämmerte wild in ihrer Brust.

„Zehn!“, rief die Stimme hinter ihr. Sie war jetzt klarer, weniger heiser als zuvor. Fast so, als wäre sie erregt.

Sarah Beth taumelte durch die ersten Reihen von Bäumen, die an das Feld grenzten. Sie stolperte über eine Wurzel, aber rannte weiter, bewegte sich in der Dunkelheit voran und versuchte, durch das Gestrüpp und die tiefhängenden Äste in der Finsternis zu steuern. Die einzige Lichtquelle war das schwache Leuchten der Scheinwerfer des Pick-up-Trucks hinter ihr.

Dann vernahm sie ein klickendes Geräusch. Die Lichter schalteten sich ab.

Sie hörte, wie die Tür des Pick-up-Trucks zugeworfen wurde und wie schnelle Schritte die Verfolgung aufnahmen.

Ihr Adrenalin schoss wild in die Höhe. Schluchzend und keuchend prallte sie mit einem schmerzhaften Schlag gegen einen Baum.

„Bitte!“, flehte sie. „Bitte!“ Aber niemand hörte ihre Schreie. Sie halfen dem Fahrer wahrscheinlich nur, sie zu finden.

Sie stolperte durch die Dunkelheit, ihre Schulter streifte gegen raue Baumrinde, ihr Kopf prallte an einem Ast ab. Scharfe, kantige Zweige kratzten gegen ihre Wangen. Ihre Finger fühlten sich taub an, wo sie die Riemen ihres Rucksacks hielten.

Sie hielt einen Moment inne, um zu Atem zu kommen und versuchte, sich in der Finsternis ihren Weg durch das fast unsichtbare Unterholz zu planen.

Hinter ihr war das Geräusch der Verfolgung verklungen.

Sarah Beth atmete leise aus, blickte nach rechts und nach links … Kein Zeichen. Überhaupt kein Licht. Sie konnte kaum ihre Hand vor ihren Augen erkennen.

Aus welcher Richtung war sie gekommen? Wo war der Pick-up-Truck? Wenn sie vielleicht umkehrte …

Ja. Sie könnte vielleicht zum Fahrzeug zurückgelangen und wegrennen. Wenigstens würde sie den Weg zurück zum Highway kennen.

Mit rasendem Adrenalin und zitternden Gliedmaßen begann sie umzudrehen, schlich jetzt in einer kreisförmigen Bewegung durch die Bäume und tat ihr Bestes, um leise aufzutreten.

Für einen Augenblick dachte sie, sie hätte in der Dunkelheit ein Geräusch gehört.

Sarah Beth hielt inne, lehnte eine Schulter gegen einen Baum und drückte sich an ihn, wenn auch nur, um die tröstende Unterstützung von etwas Hartem gegen ihren Rücken zu spüren. Keuchend blickte sie sich um, blinzelte schnell und versuchte verzweifelt, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie erblickte Schatten, Umrisse von Formen … aber nicht viel mehr.

Sie wollte um Hilfe rufen. Aber wer würde sie hören? Nur der Fahrer.

Also schluckte sie ihren Schrei hinunter, atmete jetzt oberflächlicher und lauschte … Sie lauschte nur.

Und dann erklang hinter ihr ein sanftes Flüstern einer Stimme in ihrem Ohr, scheinbar direkt vom Baum selbst. Dieselbe heisere, schmerzvolle Stimme. „Das ist nichts Persönliches, meine Liebe. Ich habe dich gewarnt.“

Sarah Beth schrie und versuchte, sich umzudrehen. Aber eine starke Hand riss hart an ihrem Haar, riss sie zurück und ihre Wange prallte gegen die raue Baumrinde. Dann stach etwas Scharfes gegen ihre Kehle. Ein plötzlicher, brennender Schmerz, der Versuch eines Schreis, aber kein Ton erklang.

Der letzte Gedanke, den Sarah Beth hatte, während sie zu Boden stürzte und verblutete, war wie leise der Fahrer sich im Wald bewegt hatte. Sie hatte nicht einmal gehört, wie er sich wie ein Gespenst in der Nacht hinter ihr angeschlichen hatte.

KAPITEL ZWEI

Die weiten, blassen Augen eines Kindes spähten hinauf zu der Schere …

„Komm her, Hilda“, murmelte die Stimme in dem dunklen Keller. „Komm jetzt her.“

Das Kind hyperventilierte, zitterte und stand in Kleidung da, die so staubig und schmutzig wie der Keller selbst war. Ihre Augen schauten an dem Mann mit der Schere vorbei zu der Treppe hinter ihm. Betonstufen führten hinauf zu einer verschlossenen Metalltür.

Ihr Blick raste zurück zu ihrem Vater … zurück zu dem einzelnen, stumpfen Metallschlüssel, der von seinem Hals baumelte.

Sie schluckte einmal, hörte die leisen Jammerklänge ihrer Geschwister hinter ihr, die auf ihren Schlafdecken auf dem kalten Betonboden lagen.

„Komm her, Hilda“, wiederholte die Stimme eindringlich. „Ich werde es nicht noch einmal wiederholen. Ich werde dir nur das Haar schneiden. Versprochen.“

Das Kind stand steif da und war bereit zu fliehen wie ein Hase. Ihr Vater keuchte schon schwer und stützte sich mit einer Hand am Ende des Geländers ab. Dünner Schweiß stand ihm auf der Stirn und er starrte ihr in die Augen. Sie konnte die Wut riechen, sie in jeder seiner zuckenden Bewegungen spüren. Sie sah, wie die Rage in ihm still vor sich hin brodelte.

Sie war weggerannt, sobald er die Schere in die Hand genommen hatte … Sie war schnell um die staubigen, herabgekommenen Möbel gerannt, während er versucht hatte, sie zu fangen. Sie war unter den alten Eichentisch gesprungen, der für „Familienessen“ gedacht war. Sie war gerannt und hatte dabei sogar einen Stuhl umgeworfen. Im selben Augenblick da sie das splitternde Krachen vernommen hatte, hatte sie gewusst, dass sie dafür bezahlen würde. Unter all ihren Geschwistern war sie dennoch diejenige, die am meisten rannte, um vor dem Unvermeidlichen zu fliehen.

„Nur mein Haar?“, flüsterte sie mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme.

„Ja, Hilda. Warum musst du das hier so schwer machen? Komm her. Schau mal, sieh doch – nur ein wenig Haareschneiden. Renn nicht mehr weg, Hilda, sonst muss ich dir wehtun.“

Das Kind starrte ihren Vater an und zuckte zusammen. Seine verschiedenfarbigen Augen blitzten hinunter zu ihr – eines war blau, das andere braun und beide waren voller Rage. Sie wusste, dass er wahrscheinlich log. Das tat er oft. Je netter sein Tonfall, je sanfter er war, desto wahrscheinlicher war es, dass sich Unehrlichkeit dahinter verbarg.

Aber welche Wahl blieb ihr schon? Wenn sie weiter versuchte, ihn zu vermeiden, dann würde ihr Vater letztendlich eines ihrer älteren Geschwister rufen. Die müssten sie dann festhalten und er würde die Schere sowieso verwenden.

Sie seufzte leise und resigniert, aber trat dann hervor und auf den unteren Treppenabsatz zu, wo ihr Vater stand.

Er stürzte sich mit einem Siegesschrei auf sie und sein Gesicht verzog sich jetzt zu purem Zorn. Seine Hand riss an ihrem kleinen Arm, zog sie nach vorn. Die Schere zuckte nach unten.

Nur dein Haar.

Natürlich hatte er gelogen. Er log immer …

Ilse Becks Augen öffneten sich plötzlich und konzentrierten sich auf die Patientin, die ihr gegenüber auf der gemütlichen Couch saß. Die Erinnerungen der zehn Jahre alten Hilda Mueller wurden nun von den Gedanken der zweiunddreißigjährigen Ilse Beck ersetzt. Ilse starrte ihre Patientin einen Augenblick mit großen Augen an – jene Augen, die für die Erinnerungsübung ebenfalls geschlossen waren. Ilse schluckte, ballte langsam eine Faust, während die andere hinauf zu ihrem Ohr griff … Dort fehlte ein Teil des Ohrläppchens, dessen Wunde seit langem vernarbt war. Eine Wunde, die vor über zwanzig Jahren zustande gekommen war.

Die Erinnerung ließ sie erschaudern, ihre Finger betasteten ihre Wange mit der geheilten Narbe. Während die Stille anhielt, wiederholte sie die Worte in ihren Gedanken: Lindholm. Braunes Haar. Blaue Augen. Zweitausendachtzehn. Vier Opfer. Freigelassen. Zwanghaftes Verhalten … Langsam ließ sie ihren Blick auf der Patientin vor sich ruhen; sie zwang sich dazu, sich zu beruhigen, blickte über die Schulter der Patientin durch die Glastüren zum Garten, wo der graue See von großen Häusern und grünen Bäumen umrandet war.

Für einen Moment bemerkte sie, dass ihr Herzschlag sich beruhigte, während sie auf das wogende, kühle Gewässer unter dem dunklen Himmel starrte. Einatmen, ausatmen, langsam. Der Geruch des Wassers und die kühle Luft, die durch das Moskitonetz eindrang, wehten über ihre Wangen. Sie blickte hinab auf ihre Kleidung – ein Rollkragenpullover und Jogginghosen. Ausreichend für die Arbeit. Den Patienten schien es nie etwas auszumachen. Außerdem fanden viele die entspannte Atmosphäre ihrer Heimpraxis am See und ihr gelassenes Auftreten beruhigend.

Dann murmelte ihre Patientin mit weiterhin geschlossenen Augen: „Es tut mir leid, Dr. Beck, aber ich glaube nicht, dass das hier funktioniert.“

Ilses Aufmerksamkeit wurde wieder auf die Patientin gelenkt; sie konzentrierte sich messerscharf. Die Frau hatte ihr blondes Haar zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden und zwei herzförmige Ohrringe umrahmten ihr freundliches Gesicht.

Ilses eigenes Haar war eher schwarz als braun. Sie griff hinauf und zupfte ihren Pony zurecht. Während die meisten Frauen ihren Pony hinter ihr Ohr stecken, strich sie ihn jedoch nach vorn und versteckte dabei das fehlende Ohrläppchen und den Großteil der Narbe.

„Das ist schon in Ordnung, Samantha“, erwiderte sie sanft. „Wir können etwas anderes versuchen.“

Die blonde Frau öffnete die Augen. „Einfach nur Sam, bitte.“

Ilse hielt eine Hand entschuldigend hoch. „Sam, in Ordnung. Ich weiß, dass dies erst unsere erste Sitzung ist, Sam, aber ich hoffe, dass Sie wissen: Ich bin hier, um zu helfen.“

„Ich weiß … Es – es ist nur …“ Sams Stimme hielt inne, etwas klang scharf darin. Ihre Augen wandten sich zur Tür. Für einen Augenblick sah es fast so aus, als würde sie gleich darauf zustürzen.

„Sie bestimmen, in welchem Tempo wir voranschreiten“, sagte Ilse mit einer sanften, beruhigenden Stimme. „Das ist Ihre Entscheidung. Sie haben die Kontrolle darüber.“

Sam stützte sich auf ihrem Sessel ab, ihre Finger krallten sich in die Lehnen, aber sie schien sich ein wenig zu beruhigen. „Er verfolgt mich“, flüsterte sie. „Ich weiß es. Ich erfinde das nicht.“

Ilse sprach weiter in ihrem beruhigenden Tonfall. „Die Erinnerungsübung wird uns helfen. Das verspreche ich. Möchten Sie es noch einmal versuchen?“

Samantha hielt einen Moment inne und biss sich auf die Lippe. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Pupillen geweitet – Entsetzen bestimmte jeden Zentimeter ihrer Körperhaltung. Sie schüttelte kaum merkbar ihren Kopf, blickte noch einmal zur Glastür des Wintergartens, die zum Flur und zum Ausgang führte.

Ilse löste ihre verschränkten Arme und legte sie sanft auf die Lehnen ihres Sessels. Eine offene Körperhaltung; das galt als subtile, aber physische Kommunikation. Sie strich mit dem Daumen an ihrem Ohr vorbei, schob ihr Haar wieder vor. Sie trug ihr dunkles langes Haar gern offen. Keine Haarreifen oder Gummibänder, außer wenn sie im Fitness-Studio trainierte.

Ihre Gesichtszüge waren sehr feminin, aber sie gab sich nicht sonderlich Mühe, sie anzupreisen. Eine Himmelfahrtsnase und große, grüne Augen ließen sie auf natürliche, unaufdringliche Weise hübsch aussehen. Ilse bevorzugte Sweatshirts, Rollkragenpullis, Trainingshosen und Sandalen. Sie trug kein Make-up, obwohl sie ein großer Fan von Sauberkeit und Körperpflege war. Sie hatte keine Piercings und nur eine einzelne Tätowierung um ihr Handgelenk. Sie blickte darauf hinunter und rieb am langen Ärmel ihres Pullovers. Die Tätowierung war unter dem Bündchen geradeso sichtbar und wand sich um ihr Handgelenk wie eine Handschelle oder eine Fessel. Dort waren die Worte eingraviert:

Nimm jeden Gedanken gefangen …

Ihre neue Patientin, Sam, lehnte sich zurück, verzog dabei die Miene und verschränkte nun ihrerseits die Arme. Eine abwehrende, verhaltene Körperhaltung. Es war schließlich erst ihre erste Sitzung. Samantha Wright war ihr von einem Kollegen überwiesen worden. Aufgrund der wenigen Informationen, die Ilse über sie erhalten hatte, wusste sie, dass Sam genau die Art von Fall war, auf die sie sich spezialisiert hatte.

Aber bisher schien es, als würde Samantha zögern, sich zu öffnen.

Ilse überdachte dies einen Moment lang, sah sich die abwehrende Körperhaltung ihrer Patientin an – ihre verschränkten Arme, ihre aufeinander gepressten Lippen. Die Lider, die selbst geschlossen flackerten; die misstrauischen Blicke aus dem Fenster und auf die Tür. Ilse dachte über den Grund für dieses Verhalten nach und ihre Gedanken fielen ihr genauso schnell wie der Text eines alten Liedes ein: Nicht-integriertes emotionales Trauma. Paranoia? Vielleicht. Minimale angeborene und Umfeld-Schutzfaktoren. Psychosomatische Angst, die sich in reserviertem Verhalten äußert.

Ilse stand langsam auf und ging hinüber zu dem Schreibtisch, der unter einem der offenen Fenster stand. Sie öffnete das Fenster demonstrativ ein wenig weiter. Dann setzte sie sich wieder und machte es sich im Stuhl am Schreibtisch bequem.

Das Fenster war irrelevant, aber diese neue Sitzposition bedeutete, dass sie jetzt ein wenig weiter voneinander entfernt waren und Ilse nun, genau wie Sam, ebenfalls in Richtung See saß und ihr nicht mehr gegenüber. Eine nicht-konfrontative Körperhaltung, welche die Notwendigkeit für Schutz und Abwehr vermindert. Ilse wurde still, atmete langsam ein und aus, wartete, erlaubte es Sam, zuerst zu sprechen.

Kontrolle. Man muss dem Patienten die Kontrolle über die Sitzung geben. Kontrolle über ihre Aufmerksamkeit. Kontrolle über das Tempo des Gesprächs.

Kleine Methoden, aber alle von ihnen waren dazu konzipiert, dem Patienten zu helfen, sich zu entspannen, und es Ilse zu erlauben, zu helfen.

„Ich – ich bin nicht verrückt“, murmelte Sam.

Ilse blickte auf, aber nicht herüber, obwohl sie dennoch ihre Patientin am Rand des Blickfelds im Auge hatte. Direkter Blickkontakt konnte als eine Drohung aufgefasst werden. Sie konzentrierte ihren Blick auf das Fenster, starrte hinaus auf den See. Ilse sagte immer noch nichts.

Sam zuckte zusammen, atmete zitternd ein und ihr Atem rasselte in ihrer Kehle wie ein Keuchen. „Ich – ich hasse es, dass ich mich nicht erinnern kann.“ Für einen Augenblick brach ihre Stimme, aber dann versteckte sie es in einem Husten und ließ nun stattdessen ihren Zorn zum Vorschein kommen. „Ich war damals nicht älter als sieben oder vielleicht acht –“

Ilse blinzelte jetzt und ihre eigenen Erinnerungen kamen augenblicklich wieder hoch. Sie drückte einen Finger gegen ihr verstümmeltes Ohr, aber nahm die Hand dann wieder herunter. Jetzt konzentrierte sie sich auf ihre Patientin. Auf Samanthas Gefühle. Samanthas Vergangenheit war in der Stunde, die sie reserviert hatten, wichtiger.

„Das ist sehr jung. Erst sieben oder acht“, murmelte Ilse und spiegelte die Worte einfach nur wider. Sie spielte allerdings damit eine Rolle: Sie wiederholte den Gedanken laut, um weitere Gedanken anzuregen.

„Ich habe mein ganzes Leben in Seattle gelebt“, murmelte Sam leise. Sie blickte jetzt Ilse an, beobachtete die andere Frau für einen Augenblick. „Es gibt mehr Serienmörder pro Kopf im pazifischen Nordwesten als sonst wo. Wussten Sie das?“

Ilse hatte das gewusst und sie legte ihre Stirn in Falten. Gerade heute Morgen hatte sie im Radio gehört, dass eine Leiche in der Nähe eines alten Pfads im Wald bei Seattle gefunden worden war. Vielleicht ein weiterer Serienmörder?

Nimm jeden Gedanken gefangen … Sie schüttelte ihren Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt über einen Killer den Kopf zu zerbrechen. Ihre Patientin brauchte Ilses volle Aufmerksamkeit. Serienmörder oder nicht, Ilses Beruf war es nicht, sich um die toten Opfer von Mördern zu kümmern. Sie spezialisierte sich vielmehr auf jene, die von den Killern am Leben gelassen worden waren; egal, ob das absichtlich oder aus Versehen geschehen war.

„Ich schlafe nicht gern“, sagte Samantha. „Träumen mag ich auch nicht. Ich sehe ihn dort. Ich sehe ihn immer dort. Ich erinnere mich nicht daran, was er getan hat … warum ich es geschafft habe zu fliehen.“ Sie zitterte, schüttelte ihren Kopf. „Das ist alles so fürchterlich.“

Überlebensschuld-Syndrom? PTBS ganz offensichtlich. Ilse sinnierte einen Moment lang über beides.

„Und diese Erinnerungen“, fragte Ilse und blickte sie jetzt an, „die begannen in Träumen wieder hochzukommen?“

„Ja. Ja, furchtbare Träume. Blutige Träume.“ Samantha wimmerte, zog an den Ärmeln ihres Sweatshirts und schüttelte den Kopf. „Meine Mutter spricht nicht darüber – sie lügt manchmal sogar. Aber sie erschrickt immer und wird ganz still, wenn ich sie danach frage.“

„Wenn Sie sie wonach fragen, Sam?“

Die Frau schüttelte ihren Kopf, starrte auf mit weit aufgerissenen Augen auf den See ohne zu blinzeln. Sie fixierte ihren Blick darauf, als ob sie etwas in der Ferne sehen würde. „Die Entführung“, murmelte sie. „Wie er mich gestohlen hat …“

„Sie waren noch ein Kind?“

„Sieben, glaube ich. Wie schon gesagt, meine Mutter lügt diesbezüglich.“ Sam wandte sich scharf an Ilse und starrte sie an. „Ich bin nicht verrückt!“

„Ich glaube nicht, dass Sie das sind.“

„Nein, wirklich, ich bin es nicht! Meine Mutter will nicht, dass ich darüber nachdenke. Sie will so tun, als wäre es nie geschehen … Aber jetzt … jetzt erinnere ich mich …“, schrie Samantha. Sie schluckte und blinzelte plötzlich, um nicht zu weinen.

Ilse war mit der nächsten Frage vorsichtig. War sie zu stark, dann könnte sie PTBS hervorrufen, aber war sie zu schwach, dann würde sie überhaupt nicht helfen. „Und Sie erinnern sich nicht daran, wie er aussah?“

Sam erstarrte einen Moment, als wäre sie auf ihrem Platz angewurzelt: Ihre Arme waren bewegungslos, ihre Finger lagen steif auf den Kissen der Couch. „Ich versuche es“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich versuche es …“ Sie blickte hinüber, starrte Ilse an. „Aber nein. Ich erinnere mich nicht daran. Es sind nur flüchtige Einblicke und Schnappschüsse …“

Ilse lächelte auf eine tröstende, traurige Weise. Sie sagte: „Ich helfe Ihnen gern dabei, sich zu erinnern, wenn Sie das möchten.“

Aber die Frau blinzelte und legte jetzt die Stirn in Falten. „Mich erinnern? Ich – nein, Dr. Beck, deswegen bin ich nicht hier. Zumindest nicht nur.“

Ilse konnte ihre Verwirrung nicht verstecken, doch drückte sich gelinde aus. „Oh?“

„Ich bin hier“, sagte sie, wobei ihre Stimme lauter und heller wurde. Angst und Nervosität färbten ihren Tonfall, als sie fortfuhr: „Weil er immer noch auf freiem Fuß ist!“

„Der Serienkiller, der Sie entführt hat?“

„Ja! Er ist immer noch auf freiem Fuß. Und er hat es wieder auf mich abgesehen! Ich weiß es. Ich kann es spüren.“ Die Brise wehte gegen das Fenster und bewegte leicht die knarzende Scheibe. Es hätte aber genauso gut ein Schuss sein können, weil Sam wie wild herumwirbelte, keuchte und den sich schaukelnden Fensterrahmen anstarrte.

Ilse griff sanft hoch und steckte ein Buch unter das Fenster, damit es sich nicht mehr bewegte. Langsame, vorsichtige Bewegungen. „Sie glauben, dass er es wieder auf Sie abgesehen hat? Nach all den Jahren?“

Ilse sah, wie ihre eigenen Erinnerungen wieder hochkamen … Mehr als zwei Jahrzehnte waren seit der Szene im Keller vergangen. Fast zwei Jahrzehnte seitdem sie ihn gesehen hatte. Sie fröstelte, doch sie biss die Zähne aufeinander und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf Samantha zu richten.

„Ich bin nicht verrückt“, wiederholte ihre Patientin. „Ich kann … kann es spüren. Jemand hat mich letzte Woche im Supermarkt beobachtet. Das hätte er sein können. Ich weiß es nicht – ich bin fortgelaufen.“

„Sie glauben also, dass er es wieder auf Sie abgesehen hat?“

Die Frau nickte. „Ja, Dr. Beck. Ich weiß es! Ich bin nicht in Sicherheit. Ich brauche Ihre Hilfe. Um mich daran zu erinnern, wie er aussieht – nicht nur einfach wegen des Erinnerns“, schluckte sie, „sondern damit ich mich beschützen kann. Damit die Polizei ihn fangen kann. Ich weiß, dass er Leute umgebracht hat. Ich weiß nur nicht, wie viele oder wen.“

„Oder, wie er ausgesehen hat?“

Samantha zitterte und antwortete nicht, sondern hielt einen Moment inne, um sich die Ellenbogen zu reiben. Sie sah verloren und erschöpft aus, wie ein Hase, der im Stall zittert. Ilses Herz rührte sich vor Mitgefühl, aber gleichzeitig schwirrten ihr selbst aufgewühlte Gedanken durch den Kopf.

Sollte sie die Polizei rufen? Hatte Samantha wahnhafte Störungen? Die Angst schien echt. Die Träume … die quälenden, wiederkehrenden Gedanken schienen wahrscheinlich.

Aber die lügende Mutter? Die unkonkreten Details? Bei verdrängten Erinnerungen schon möglich. Sogar wahrscheinlich. Ilse blickte hinauf zur Uhr. 9:58 Uhr. Sie starrte den zweiten Zeiger an, beobachtete ihn dabei, wie er vorbeitickte. Die Sitzung war um 10:00 Uhr zu Ende. Ilse fühlte, wie ein leichtes Unwohlsein sich in ihrer Magengegend breitmachte und starrte weiter den zweiten Zeiger an. 9:59 Uhr. Sie zuckte bei der Nummer zusammen und spürte, wie ihre Finger bebten. Ilse hasste ungenaue Nummern – Wie sie da so in der Luft hingen, als wären sie unbeantwortete Fragen. Man musste präzise mit der Zeit umgehen. Ungenauigkeit erzeugte Angstgefühle und Angstgefühle beeinträchtigten Exzellenz.

Sie konnte Samanthas Angst spüren, konnte ihre Niedergeschlagenheit spüren. Es wäre vielleicht am besten, die Sitzung zu beenden.

Aber es war erst 9:59 Uhr. Ungenau.

Die Sitzung endete um 10:00 Uhr.

Also wartete sie still und beobachtete den zweiten Zeiger wie ein Athlet, der auf den Schuss der Startpistole wartete. Ilse schluckte, leckte sich mit der Zunge über die Lippe, atmete langsam und oberflächlich.

Dann tickte der zweite Zeiger an der Zwölf vorbei.

Genau zehn Uhr.

„Leider ist uns jetzt die Zeit ausgegangen“, sagte Ilse und atmete bei den Worten erleichtert auf. Terminpläne mussten eingehalten werden. Zeit war wichtig. Präzision war wichtig.

Samantha schien erleichtert über die Aussage und sprang auf die Beine, rieb und dehnte die Hände vor sich und nickte dankbar. „Danke, Dr. Beck“, sagte sie leise. „Ich – es tut mir leid, dass ich nicht hilfreicher sein kann. Ich – ich weiß … einfach nur, dass er es auf mich abgesehen hat. Ich kann es spüren. Ich brauche Ihre Hilfe.“ Ihre nächsten Worte klangen gezwungen und verzweifelt. „Bitte.“

Ilse stand ebenfalls auf und legte dabei einen tröstenden, versöhnlichen Gesichtsausdruck auf. Sie berührte ihre Patientin nicht, sondern fuhr mit der Hand am Ellenbogen der Frau mit einem beruhigenden Tätscheln vorbei, ohne sie tatsächlich zu berühren. „Sie müssen sich für nichts entschuldigen, Sam“, sagte Ilse sanft. Sie zeigte mit der Hand auf die Tür und nickte dabei. Genau zehn Uhr. Doch sie hatte keine Zeit zum Warten, da sie selbst um halb elf einen Termin hatte. Sie würde zu spät kommen, wenn sie sich nicht beeilte. Allerdings war dieser Fall gleichzeitig herzzerreißend und faszinierend. Sie konnte einen Anflug von Mitgefühl für diese Frau spüren. Gleichzeitig hatte sie eine ungute Vorahnung. Sie fühlte sich auch aufgewühlt …

So viele von Samanthas unzusammenhängenden, entfernten Erinnerungen riefen Ilse ihre eigene Vergangenheit wieder ins Gedächtnis … ihre eigene Familie … ihren eigenen Vater.

Sie schauderte, als ihre Patientin an ihr vorbeischritt, den Pullover eng um sich zog, ihre Schultern vornüber fielen und sie ihren Kopf in einer Geste der Niederlage hängen ließ.

„Ich will Sie keine ganze Woche warten lassen“, sagte Ilse, blinzelte und folgte ihrer Patientin zur Haustür. „Wie wäre es also mit morgen? Um dieselbe Zeit?“

Samanthas Gesichtsausdruck war plötzlich voller Dankbarkeit und Erleichterung. Sie hielt in der Tür inne; ihre Hand lag auf dem Messingknauf. Sie schluckte und nickte dann einmal. „Danke. Wirklich. Vielen Dank. In Ordnung, Dr. Beck. Morgen.“

„Bis dann.“

Die Schultern der Frau schienen noch weiter vornüber zu fallen, während sie aus der Tür trat und sich unter dem grauen Himmel Seattles hinausbewegte. Sie schlang ihre Arme eng um sich und ging dann auf den Jeep zu, den sie in der Kiesauffahrt geparkt hatte.

Ilse beobachtete die Frau dabei, wie sie ging, und stützte sich mit einer Hand an der Tür ab. Sie verzog das Gesicht, als sie wieder an ihre eigenen Erinnerungen dachte, die langsam in ihr hochkamen, an die Oberfläche strudelten. Während sie Samantha dabei beobachtete, wie sie in ihren Jeep einstieg, konnte Ilse bereits das Zucken auf ihrem Handrücken spüren. Sie legte nun die Stirn in Falten und murmelte dann: „Bundy. Braunes Haar. Braune Augen. Zweiundvierzig. Dreißig Opfer. Vierundzwanzigster November. Sechsundvierzig.“ Sie zählte die Worte schnell und präzise auf. „Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Möglicherweise multiple Persönlichkeitsstörung.“ Dann wiederholte sie alles von vorn. Während sie das tat, wurde ihre Atmung langsam wieder ruhiger und sie begann, sich zu beruhigen.

Der Jeep fuhr aus der Auffahrt, wirbelte Staub auf, als er die Straße erreichte, und entfernte sich dann entlang des sich windenden Waldpfads, weg vom Haus am See.

„Dahmer. Blondes Haar. Vierundneunzig. Siebzehn Opfer. Einundzwanzigster Mai“, zitierte sie auswendig die Beschreibung. „Schizotypische Persönlichkeitsstörung. Borderline-Persönlichkeitsstörung. Psychotische Störung.“

Auch wenn dieses Aufsagen eher morbide war, so half es ihr doch, die Nerven zu beruhigen. Es half ihr, sich zu konzentrieren. Und Samantha brauchte Ilses Konzentration – ihre gesamte Konzentration. War die Frau wahnhaft? Oder hatte sie recht? Hatte es ein Serienmörder wirklich erneut auf sie abgesehen? Wenn sie die Wahrheit sagte, wie hatte sie es dann vor all den Jahren als Kind geschafft, ihm zu entkommen?

Wie bist du geflohen, hallte eine leise Stimme in ihrem Kopf wider. Ilse erschauderte erneut und schloss die Tür zu ihrem Zuhause mit einem Klick.

Sie spürte ein nervöses Kribbeln und ging schneller. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie zu spät zu ihrem Termin kommen.

KAPITEL DREI

Ilse ging zurück zur Küche, hielt einen Moment neben ihrem holzbefeuerten Herd inne. Das schwache Aroma von Zimt und Preiselbeeren waberte aus dem Ofen. Das Knuspermüsli, das sie die Nacht zuvor zubereitet hatte und zum Abkühlen draußen gelassen hatte, duftete fast perfekt.

Sie hatte jetzt aber keine Zeit, um sich darum zu kümmern. Sie ließ die Ofentür geschlossen und hielt neben einem Trinkglas im Geschirrständer inne. Sie blickte das Ding düster an und war sich sicher, dass sie es am Abend zuvor schon abgewaschen hatte. Aber jetzt, da sie es genauer ansah, hätte sie schwören können, dass sie den Hauch eines Fingerabdrucks gesehen hatte, der die Außenseite verschmierte.

Sie würde zu spät zu ihrem Termin kommen. Aber trotzdem …

Sie nahm die Tasse und ging zur Spüle. Seife, Wasser, spülen. Noch zweimal. Sie starrte das Glas an und hielt es über die Spüle.

Dann wusch sie es erneut, nur um auf Nummer sicher zu gehen, bevor sie es vorsichtig auf dem Geschirrständer wieder ablegte und sich die Hände am Geschirrtuch abtrocknete. Sie nahm ihre Schlüssel und ihr Portemonnaie von der Theke und ging dann durch das Wohnzimmer zur Eingangstür. Sie verschloss sie, prüfte ein zweites Mal die Schlösser, dann noch ein drittes Mal und ging schließlich zur Auffahrt.

Sie fuhr nichts angehend so Hübsches wie einen Jeep. Aber ihr Toyota Avalon war hübsch genug für sie. Sie nannte ihn das Boot, weil die Fahrerkabine so groß war und er falsche Holzverkleidungen um das Armaturenbrett hatte.

Nachdem sie das Boot rückwärts aus der Auffahrt gesteuert hatte, lenkte sie es über einen Feldweg, der von alten Kiefern umsäumt war, bevor sie beschleunigte. Sie ließ ihr Fenster genau halb herunter und spielte etwas mit den Schaltern, um sicherzustellen, dass die Scheibe perfekt den Rahmen in zwei Teile trennte. Dann wagte sie es, sich ein wenig zu entspannen, den Duft des Seewassers und den Geruch der Kiefernnadeln und der Erde einzuatmen.

In der Ferne sah sie durch die Bäume, wie sich graue Wolken über die Kleinstadt Three Lakes zogen. Ein paar Tankstellen, ein paar Supermärkte und zwei Diners versorgten die Stadt. Obwohl ganze Teile der Stadt am See lebten, waren die Einwohner von Three Lakes nicht erpicht darauf, Touristen anzuziehen. Der Hauseigentümerverein der Seegemeinde hatte sogar Regeln gegen Airbnbs.

Der düstere Himmel bezeugte, wie das Boot entlang des mit Kiefernadeln übersäten Pfads zog, während Ilse über die kurvigen Straßen fuhr. Regentropfen begannen im Stakkato gegen ihre Windschutzscheibe zu prasseln.