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Der neue packende Fall für Joachim Stein, Mona Lu und Hauke in Friesland Die Melancholie des süßen Todes – Frieslandkrimi An einem ganz normalen Tag bei einer Hausbesichtigung in Friederikensiel wird eine Leiche in dem Objekt ausgerechnet von der Kaufinteressentin entdeckt. Die Tote liegt schön zurechtgemacht, als ob sie schliefe, im Bett im ersten Stock. Natürlich hat sich der Termin für das Ehepaar damit erledigt. Die Maklerin Evelyn Großmann alarmiert stattdessen die Polizei. Mona Lu nimmt die Ermittlungen auf. Sie berät sich so wie sonst auch mit Stein in seiner Mühle. Und dann geschieht etwas, womit sie nicht gerechnet hätte. Ein alter Bekannter taucht wieder auf und das wirft sie ziemlich aus der Bahn.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Frieslandkrimi
von
Moa Graven
Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis, die sie in ihrem eigenen Verlag herausbringt. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin vom Schreiben.
Die Melancholie des süßen Todes – Aus der Reihe Joachim Stein in Friesland Band 14
Ostfrieslandkrimi von Moa Graven
Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin
Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland
Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn
März 2024
ISBN 9798327011571 (Taschenbuchausgabe)
Umschlaggestaltung: Moa Graven
Die Melancholie des süßen Todes – Frieslandkrimi
An einem ganz normalen Tag bei einer Hausbesichtigung in Friederikensiel wird eine Leiche in dem Objekt ausgerechnet von der Kaufinteressentin entdeckt. Die Tote liegt schön zurechtgemacht, als ob sie schliefe, im Bett im ersten Stock. Natürlich hat sich der Termin für das Ehepaar damit erledigt. Die Maklerin Evelyn Großmann alarmiert stattdessen die Polizei. Mona Lu nimmt die Ermittlungen auf. Sie berät sich so wie sonst auch mit Stein in seiner Mühle. Und dann geschieht etwas, womit sie nicht gerechnet hätte. Ein alter Bekannter taucht wieder auf und das wirft sie ziemlich aus der Bahn.
Als ich geboren wurde, hat
sich niemand darüber gefreut.
Verdammt. Das passierte immer, wenn Evelyn in Eile war. Und heute Morgen hatte sie so richtig verschlafen. Hastig zog sie den Reißverschluss ihres Rockes wieder auf. Doch es hakte. Also mahnte sie sich, es ruhiger anzugehen. Das neue Kostüm war nämlich verdammt teuer gewesen. Und tatsächlich, nach ein wenig vorsichtigem Hin und Her war der Reißverschluss wieder in seiner ursprünglichen Position und sie zog ihn vorsichtig wieder hoch. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie trotz aller Hetze verdammt gut aussah. Sie zog den Blazer über, schlüpfte in ihre dunkelblauen Pumps und ging in die Küche, um noch einen Kaffee im Stehen zu nehmen. Mehr war heute Morgen nicht drin. Und ihrer Taille tat das auch ganz gut. Sie hatte im letzten Winter nämlich drei Kilo zugenommen gehabt. Die mussten wieder runter. Sie war stolz darauf, auch mit achtunddreißig Jahren noch die Figur wie mit achtzehn zu haben. Das sollte auch so bleiben. Noch ein letzter Blick in den großen Spiegel auf dem Flur, dann schloss sie die Haustür hinter sich und stieg in ihren weißen Wagen, den sie sich erst vor einem Jahr gekauft hatte. Sie liebte diesen V90, der sie sanft über die Straßen trug. Ein Blick auf ihre neue Uhr von Longines versprach ihr, dass sie höchstens mit fünfzehn Minuten Verspätung in Friederikensiel ankommen würde.
Und dann waren es nur neun Minuten gewesen, die sie zu spät kam. Es stand bereits ein Wagen mit Flensburger Kennzeichen dort, als sie in die verschlungene Auffahrt einbog. Das Ehepaar, das sich für die heutige Besichtigung angemeldet hatte, war bereits ausgestiegen und ging neugierig ums Haus herum. Als sie Evelyns Wagen hörten, sahen sie sich neugierig um. Evelyn winkte kurz, dann parkte sie ihren Volvo direkt hinter dem BMW der Kaufinteressenten und stieg aus.
„Hallo“, rief Evelyn den beiden entgegen, „es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Ein Telefonanruf hat mich aufgehalten“, log sie. Das gehörte einfach zum Job. Oder sollte sie etwa sagen, dass sie verschlafen hatte.
„Das ist kein Problem“, erwiderte der Mann und seine Frau nickte dazu, „wir haben uns schon mal auf dem Grundstück umgesehen. Ich hoffe, das war in Ordnung.“
„Natürlich“, bestätigte Evelyn und nun standen die drei zusammen vor dem Haus. „Ich hoffe, Sie haben ein nettes Hotel gefunden.“ Sie wusste ja, dass das Ehepaar aus Flensburg war, und schon am Tag zuvor angereist war.
„Ja, alles bestens“, sagte der Mann, „schon heute Nachmittag fahren wir wieder zurück wegen geschäftlicher Termine.“
Evelyn hatte den Wink verstanden und sie bat die beiden nun, ihr ins Haus zu folgen. Schon, als sie den großen Eingangsbereich mit den hellen Fliesen betraten, spürte sie, dass dieses Haus den beiden gefallen würde. Die Frau bekundete sofort, wie zeitlos elegant hier alles wirkte. Und damit hatte sie wohl recht, denn auch wenn das Haus bereits älteren Datums war, so hatten die letzten Besitzer keine Kosten gescheut, um daraus ein modernes Anwesen zu machen. Dann war die Frau des Hauses plötzlich verstorben, so dass der Eigentümer sich entschlossen hatte, zurück nach Berlin zu ziehen, dorthin, wo auch seine Tochter wohnte. All das erzählte sie den Kunden, während sie weiter ins Haus vordrangen.
Nun standen sie im Wohnzimmer, dessen breite Fensterfront einen Blick in den liebevoll angelegten Garten, der eigentlich eher einem Park glich, gewährte.
„Die ersten Frühblüher strecken schon ihre Köpfe der Sonne entgegen“, begeisterte sich die Frau, die sich bereits hier leben sah. Ein schöneres Haus hatten sie und ihr Mann sich bisher nicht angesehen. Der Umzug nach Friesland wurde wegen des Jobwechsels ihres Ehemannes notwendig, doch es machte ihr nichts aus. Einfach mal raus aus Flensburg, sie hatte genug vom hektischen Trubel einer Großstadt. Und hier auf dem Land, da wirkte alles so ruhig und beschaulich. Sie brauchte das jetzt einfach.
„Ja, der Frühling ist bei uns an der Küste immer besonders schön“, bestätigte Evelyn, die selber im Grunde nicht so naturbegeistert war. Sie lebte in Jever in einer Eigentumswohnung in einem modernen Neubau ganz oben und verfügte dort über eine riesige Terrasse, die sie aber nur selten nutzte. Es mochte an ihrem hellen Teint liegen, der nur wenig Sonne vertrug. Meistens, wenn sie überhaupt mal Zeit zu Hause verbrachte, hielt sie sich im Wohnzimmer auf dem Sofa auf und sah sich mit Begeisterung Serien an.
„Das Wohnzimmer ist wirklich angenehm von der Aufteilung“, meinte nun der Mann und er drehte sich dabei einmal um die eigene Achse. „Man könnte hier sogar ein Klavier vor dem Fenster aufstellen. Was denkst du, Schatz?“
„Hm“, machte sie, die mit ganz anderen Gedanken beschäftigt war. Sie sah sich bereits im Garten wühlen. Endlich mal wieder was mit den eigenen Händen erschaffen. Sicher, sie mochte ihren Job als Mediengestalterin. Doch der zwang sie auch dazu, ständig vor dem PC zu sitzen. „Vielleicht auch ein kleiner Schreibtisch“, meinte sie dann, „du weißt ja, dass ich überwiegend von zuhause aus arbeite. Und dort vor dem Fenster wirkt das Licht so schön, aber nicht aufdringlich.“
Klavier oder Schreibtisch, dachte Evelyn. Sie würden sich entscheiden müssen. Und vor allem mussten sie jetzt weiterkommen, da die nächsten Interessenten bereits in einer Stunde vor der Tür stehen würden. Nun ärgerte es sie doch, dass sie verschlafen hatte. Das durfte nicht noch einmal passieren. Sie konnte ja das Ehepaar jetzt nicht deswegen durchs Haus scheuchen, schließlich wollte sie es verkaufen. Und das funktionierte nur, wenn man den Kunden das Gefühl gab, willkommen zu sein und etwas ganz Besonderes zu erleben. Das ging nicht mit der Peitsche.
„Gleich gegenüber auf dem Flur ist die Küche“, sagte sie deshalb, um die Besichtigung voranzutreiben. „Sie ist ebenso lichtdurchflutet und modern.“
„Na dann“, sagte der Mann und er folgte Evelyn auf den Flur.
Seine Frau blieb noch im Wohnzimmer vor dem Fenster stehen. Die Küche interessierte sie nur am Rande. Sie kochte nicht gerne und sie war froh, dass ihr Mann dafür einen Faible hatte. Oft brachte er aber auch etwas mit, wenn es bei ihm länger gedauert hatte. Aber an den Wochenenden, da stand er stundenlang in der Küche und kochte die ausgefallensten Gerichte. Dazu tranken sie dann gerne Champagner und erlesene Weine. Ach ja, sie hatte es schon gut getroffen. Und draußen auf der Terrasse, stellte sie sich nun vor, da würden gemütliche Möbel stehen, in die sie sich nach der Gartenarbeit fläzte. Das Leben konnte so schön sein.
Als sie ebenso auf den Flur ging, da hörte sie, wie ihr Mann die technischen Details der Küche mit der Maklerin besprach. Nein, darauf hatte sie eigentlich keine Lust. Also stieg sie die geschwungene schöne Treppe nach oben und ging wie auf Wolken über den dicken Teppich weiter. Ein Duft von Oleander schwang ihr entgegen, als sie die erste Tür öffnete. Vermutlich ein Schlafzimmer. Fahles Licht drang heraus, da vor den Fenstern offenbar weiche Tücher hingen. Sie brauchte einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dann schaltete sie das Deckenlicht an. Und im nächsten Moment schrie sie aus vollem Leibe.
Ihr Mann, der sich gerade heruntergebeugt hatte, um in den Backofen zu sehen, kam wieder hoch. Dann rannte er auf den Flur.
„Schatz“, rief er und sah nach oben. „Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?“
Schnell stieg er die Stufen nach oben, gefolgt von Evelyn, die gar nicht verstand, was eigentlich los war.
Die Frau stand im Schlafzimmer und wirkte wie paralysiert, als ihr Mann bei ihr ankam. Er sah etwas, was er nicht verstand. Da lag jemand im Bett. Eine Frau. Und das war noch nicht alles. Sie wirkte zwar, als ob sie schliefe und doch wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Niemand lag einfach so da und regte sich nicht, wenn Menschen ins Zimmer kamen.
„Was ist denn passiert?“, fragte Evelyn, die noch keine freie Sicht auf die Szene hatte, die die Frau so erschrocken haben konnte.
„Da liegt jemand“, sagte der Mann, „ich glaube, sie ist tot.“ Er legte einen Arm um seine Frau. „Wir sollten jetzt gehen, Liebling.“ Vorsichtig versuchte er, sie aus ihrer Schockstarre zu befreien und Richtung Tür zu bewegen. „Und Sie rufen jetzt wohl besser die Polizei, denke ich“, meinte er in Richtung Evelyn, die nun ebenso konsterniert dastand und auf das Bett starrte. Sie wusste, dass dieses Ehepaar ganz sicher nicht zum Kauf der Immobilie bereit sein würde. Dann hörte sie unten bereits die Tür zuschlagen. Ein Motor sprang an. Sie wollten wohl nur noch weg.
Evelyn straffte die Schultern und griff nach ihrem Handy. Den nächsten Hausinteressenten musste der Termin abgesagt werden. Natürlich waren diese bereits auf dem Weg gewesen und sie legte die ganze Wärme ihrer Stimme in ihr Bedauern, als sie um Verständnis bat und versprach, sich wegen eines neuen Termins umgehend zu melden.
Danach wählte sie die Nummer der Polizei.
„Sie gehen wohl nicht oft zum Arzt“, sagte der Mann mit den buschigen Brauen im weißen Kittel. „In der Akte steht, dass es das letzte Mal vor über zehn Jahren der Fall gewesen ist.“ Mit gekräuselter Stirn sah er vom Blatt auf und zum Bett.
„Ich traue Ärzten nicht“, murmelte Stein. Mehr hatte er dazu eigentlich nicht zu sagen. Und nein, er fühlte sich nicht wohl hier. Alles roch so fremd. So anders. Er wollte nur noch zurück in seine Mühle. Doch ihm war klar, dass sich dieser Wunsch sicher nicht erfüllte, wenn er sich hier gegen die Ärzteschaft auflehnte. Also ruderte er nun zurück, als der Chefarzt diese Bemerkung nicht als Scherz auffasste. Was sie im Grunde ja auch nicht gewesen war. „Was haben die Untersuchungen denn ergeben?“
„Nun“, sagte der Arzt, „Sie hatten vermutlich eine Lebensmittelvergiftung.“
„Vermutlich? Lebensmittelvergiftung?“, wiederholte Stein ungläubig. „Das kann eigentlich nicht sein, ich esse nur Bio und das meiste koche ich selber.“
„Das hört sich doch sehr gesund an. Womöglich war eines der Lebensmittel trotzdem verdorben. Vielleicht der Fisch.“
Auf gar keinen Fall, dachte Stein. Gerade beim Fisch achtete er immer auf die nötigen Hygiene- und Haltbarkeitsvorschriften. Doch egal. So, wie die Sache lag, konnte er jetzt wohl raus, da sein Leben nur vorübergehend bedroht worden war.
„Man sollte ja nie zu sicher sein“, sagte Stein jetzt, um dem Mediziner das Gefühl zu geben, dass er obsiegt hatte. Auch wenn er nicht genau hatte sagen können, was nun eigentlich wirklich losgewesen war, da sich nichts Konkretes nachweisen ließ. „Dann kann ich jetzt wohl entlassen werden, oder?“
„Im Prinzip ja“, erwiderte der Arzt.
„Im Prinzip?“
„Nun, Sie haben ein gewisses Alter erreicht, in dem ein Großteil der Bevölkerung Krankheiten entwickelt, die durchaus ernsthafte Folgen haben können. Wir könnten Sie noch zur Beobachtung hierbehalten für alle Fälle und weitere Untersuchungen durchführen.“
„So ist das aber nicht bei mir“, sagte Stein. „Ich lebe gesund und habe nichts.“
„Woher wissen Sie das? Sie gehen ja nie zu Vorsorgeuntersuchungen“, gab der Mediziner zurück. Dabei schürzte er seine Lippen.
„Darüber kann ich ja mal nachdenken“, erwiderte Stein mit zusammengepressten Zähnen. „Aber nun würde ich gerne gehen, wenn nichts weiter dagegenspricht.“
„Es ist natürlich Ihre Entscheidung, Herr Stein. Ich werde der Schwester Bescheid geben“, antwortete der Arzt, der erkannt hatte, dass er hier nicht weiterkommen würde. Es gab diese störrischen Menschen, die alles besser wussten. Dazu war der Patient ja auch noch Psychologe. Und irgendwann, da kamen diese Menschen dann doch reumütig in eine Praxis, um nach Hilfe zu suchen. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Krankenzimmer.
„Und?“, fragte Mona Lu, die draußen auf dem Flur während der Chefvisite gewartet hatte. Sie war keine Angehörige, also durfte sie nicht dabei sein.
Stein hatte bereits die Beine aus dem Bett gedreht und murmelte: „Ich gehe jetzt nach Hause.“
„Du kannst gehen?“, fragte sie überrascht. Und auch irgendwie erleichtert. Als sie Stein bewusstlos in der Mühle gefunden hatte an diesem Morgen, da war ihr fast das Herz stehengeblieben vor Schreck.
Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern öffnete den Kleiderschrank, um seine Sachen herauszuholen. Das machte sie ganz nervös, weil sie nicht wusste, was eigentlich los gewesen war. Und doch spürte sie, wie es ihr ums Herz wieder freier wurde. Stein würde nicht sterben. Es war wohl kein Herzinfarkt gewesen. Sie sah ihm jetzt beim Ankleiden zu und war einfach nur froh darüber, dass alles noch einmal so glimpflich abgelaufen war.
„Angeblich war es eine Lebensmittelvergiftung“, sagte er nun, als er direkt vor ihr stand und seinen dunkelblauen Pullover überstreifte.
„Lebensmittelvergiftung?“, wiederholte sie und war genauso irritiert darüber wie er selber vorhin, als der Arzt ihm diese Nachricht eröffnete. „Wie kann das sein? Und wieso habe ich dann keine Symptome?“
Am Abend zuvor hatte er für sie beide in der Mühle gekocht gehabt und ihr ging es blendend.
„Eben“, sagte er, „das ist überhaupt nicht möglich. Aber mir ist es auch egal, was los war. Hauptsache, ich komme hier wieder raus.“
Er nahm den Rest seiner wenigen Habseligkeiten wie Jacke, Geldbörse und Handy an sich und gemeinsam verließen sie die Klinik.
Im Wagen sah Mona Lu dann auf ihr Handy, bevor sie losfuhr. Drei verpasste Anrufe aus der Dienststelle.
„Da muss ich kurz zurückrufen“, erklärte sie mit Blick aufs Display. Sie drückte die entsprechende Taste und wartete ab. Es dauerte nicht lange, da ging jemand ran. Mona Lu meldete sich und fragte nach dem Anlass der Anrufe. Dann hörte sie einen Moment zu und sagte schließlich: „Okay, ich bin gleich vor Ort.“ Dann drückte sie das Gespräch wieder weg und sah zu Stein. „Tut mir leid, ich kann dich nicht zur Mühle fahren, ich muss nach Friederikensiel.“
„Ach ja? Was ist denn da los?“, fragte er interessiert.
„Es gibt da eine Tote in einem leerstehenden Haus“, erwiderte sie.
„Oh, da könnte ich doch mitkommen“, sagte er und diese Begeisterung war wohl dem guten Gefühl geschuldet, nicht mehr im Krankenbett zu liegen.
„Bist du sicher?“, hakte Mona Lu nach. Sie fand es seltsam, wo er doch sonst nie zu den Tatorten mitkam.
„Ja, auf jeden Fall“, bestätigte er.
Sie fuhr los und gab ihm die Informationen, die sie eben bereits erhalten hatte.
Evelyn war vor die Tür gegangen, weil sie es alleine mit der Toten im Haus nicht mehr ausgehalten hatte. Das war ja eine schöne Bescherung. Wer würde denn so ein Haus noch kaufen wollen. Und dann die Frage, wann überhaupt. Diese schöne alte Villa würde nun zum Tatort erklärt werden und vermutlich solange für den Verkauf gesperrt werden, bis man wusste, wer der Täter war. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Hier wäre ihr nämlich eine überaus üppige Prämie sicher, wenn sie einen Käufer fand. Sie konnte das Geld gut gebrauchen, denn sie hatte sich erst vor wenigen Wochen eine neue Wohnzimmereinrichtung gegönnt. Möbel, in denen man saß, als umarmten sie einen. Das hatte seinen Preis gehabt.
Sie zog eine Zigarette aus der schmalen weißen Schachtel und zündete sie an. Gleich würde die Polizei hier sein. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Kunden von eben einfach gehen zu lassen. Schließlich hatte die Frau das Opfer entdeckt. Ihre Aussage konnte wichtig sein. Sie selber hatte eigentlich gar nichts gesehen, wenn sie ehrlich war. Es war ihr nicht gerade leichtgefallen, zum Bett zu sehen. So ein Bild wollte sie nicht im Kopf haben.
Dann sah sie einen Wagen die Auffahrt hochfahren. Sie ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus, bevor sie sie wieder aufhob und in eine weitere leere Schachtel zurücksteckte. Es machte keinen guten Eindruck auf Kaufinteressenten, wenn Kippen vor dem Haus herumlagen. Und die Polizei würde daraus sicher auch noch ein Beweismittel herleiten. Das musste ja nicht sein.
Es stiegen eine Frau und ein Mann aus. Besonders er machte einen interessanten Eindruck auf Evelyn.
„Hallo“, sagte Mona Lu und sie stellte sich und Stein als ihren Kollegen vor, auch wenn das grenzwertig war, denn er arbeitete nicht für ihre Dienststelle. „Sie haben das Opfer gefunden?“
„Oh, nein, so war das nicht“, entgegnete Evelyn, „ich bin die Maklerin und ich hatte hier heute einen Besichtigungstermin mit potenziellen Kaufinteressenten. Ein Ehepaar aus Flensburg. Und die Frau, sie hat die Tote entdeckt, als sie sich im Schlafzimmer umsehen wollte.“
Mona Lu sah sich um. „Und wo ist diese Frau jetzt?“
„Also, ja ... sie ist mit ihrem Mann aus dem Haus gegangen nach dem Schock. Sie sind sofort losgefahren. Aber ich kann mir denken, dass Sie ihre Aussage benötigen. Ich kann Ihnen die Kontaktdaten geben.“
„Okay“, sagte Mona Lu, die zwar Verständnis für den fluchtartigen Aufbruch hatte, doch es war schon wichtig, was die Zeugin zu sagen hatte. „Können Sie mich bitte zum Opfer führen.“
„Ja, sicher“, erwiderte Evelyn und ging voraus. „Es tut mir wirklich leid, aber ich sah keine Möglichkeit, das Ehepaar aufzuhalten.“ Sie reichte Mona Lu einen schnell im Gehen bekritzelten Zettel.
Mona Lu sah darauf. „Schon gut. Ich habe ja die Adresse und die Telefonnummer des Hotels“, beschwichtigte Mona Lu, „ich werde gleich dort anrufen.“
Dann standen sie und Stein, der ihr praktisch lautlos gefolgt war, im Schlafzimmer und sahen auf das Bett. Es war eine junge Frau, höchstens um die dreißig, die dort lag, als schliefe sie nur.
„Ein Hauch von Oleander“, sagte Stein und er hielt seine Nase höher.
„Ach ja?“, entgegnete Mona Lu, die davon noch nichts mitbekommen hatte. Olfaktorisch war er ihr überlegen. Wie in vielen anderen Dingen leider auch.
„Und etwas Orange“, fügte er hinzu. „Vielleicht ist es das Bukett, das auf dem Nachttisch liegt.“ Er ging dorthin und beugte sich herunter. Er nahm einen tiefen Zug direkt darüber auf. „Ja, einfach betörend. Jetzt ist auch noch Sandelholz im Spiel und Lemongras.“
Mona Lu war neben ihn getreten.
„Sie hat Puder im Gesicht“, stellte sie fest. „Das lässt ihr Gesicht wie aus Porzellan erscheinen.“
„Dazu die Fingernägel“, ergänzte Stein und wies darauf. „Zartes Rosa.“
„Und es sieht nicht so aus, als ob sie damit jemals in ein Wasserbad gegriffen hätte“, meinte Mona Lu, nachdem sie sich die Nägel näher mit dem Licht ihres Handys angesehen hatte.
„Der Täter hat sie für ihren großen Auftritt zurechtgemacht“, sagte Stein.
„Also will er uns etwas damit sagen?“, fragte Mona Lu.
„Entweder das“, meinte er, „oder aber er hat sie so sehr geliebt, dass er sie nicht der Grausamkeit überlassen wollte, die ein Tod oft mit sich bringt.“
„Stimmt, grausam wirkt ihr Anblick nun wirklich nicht. Sogar die Wimpern sind getuscht, der Mund ist blutrot.“
Sie hörten, wie Evelyn die Stufen nach unten ging. Dann wurde die Haustür geöffnet.
„Das müssen die Kollegen von der Spurensicherung sein“, sagte Mona Lu, „besser, wir verlassen jetzt den Tatort, bevor sie uns rausschmeißen.“
Sie machte noch ein paar Fotos mit ihrem Handy von dem Opfer, dann gingen sie und Stein nach unten. Dort zogen die Kollegen gerade die Schützlinge über ihre Schuhe und einer sah grimmig auf Mona Lus Füße. Es war doch immer dasselbe mit diesen Ermittlern, mochte er denken.
Mona Lu und Stein gingen nach draußen vor die Tür, wo auch Evelyn mit verschränkten Armen stand. Sie rauchte wieder. Und dieses Mal ließ sie die Zigarette weiterbrennen. Draußen durfte man schließlich noch rauchen.
„Wann waren Sie das letzte Mal in diesem Haus, bevor der heutige Besichtigungstermin stattfand?“, fragte Mona Lu nach.
„Oh, warten Sie“, sagte Evelyn und blies Rauch in die Luft, „das war vorgestern. Ja, genau, vorgestern.“
„Für einen Besichtigungstermin?“
„Ja, richtig. Eine Frau aus Köln. Eine Künstlerin. Sie hat sich sofort in das Haus verliebt. Vielleicht kauft sie es. Aber wenn sie davon hört, was hier jetzt los ist, bin ich mir nicht mehr sicher.“
Das war Mona Lu herzlich egal, denn ihr Job war ein anderer.
„Und zu dem Zeitpunkt gab es noch keine Leiche im Schlafzimmer“, konstatierte sie eher für sich.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Evelyn. Sie sah zu Stein, der die Hände tief in seiner Jeans vergraben hatte. Er war ein schöner Mann. Groß, schlank, dunkle Haare und ein geheimnisvoller Blick. Sie würde nur zu gerne einen Rotwein mit ihm trinken und in ihren neuen Möbeln mit ihm versinken.
„Schon gut“, sagte Mona Lu, der es nicht entgangen war, wie der Blick der Maklerin an Stein klebte. „Ich habe ja Ihre Kontaktdaten. Für eine Aussage kommen Sie bitte morgen Vormittag in die Dienststelle, wenn Sie es einrichten können.“
„Dann kann ich jetzt gehen?“, fragte Evelyn nach.
Mona Lu bestätigte es und die Maklerin ging zu ihrem Wagen. Dann drehte sie sich noch einmal um.
„Was ist denn mit den Schlüsseln?“, fragte sie.
„Die nehme ich an mich“, erwiderte Mona Lu, „Sie erhalten sie zurück, sobald wir hier mit der Untersuchung fertig sind.“
Evelyn fragte nicht, wann das sein würde. Noch eine Enttäuschung an diesem Tag, die hätte sie nicht verkraften können. Und jetzt konnte sie eine andere Besichtigung, die am Nachmittag in einem anderen Ort stattfinden würde, vorbereiten. Vorher noch ein Besuch in einem Café, das war das, was sie jetzt brauchte.
Kurz, nachdem Evelyns weißer Wagen auf die Straße eingebogen war, kam ein anderes Fahrzeug die Auffahrt hochgefahren.
„Das ist der Gerichtsmediziner“, sagte Mona Lu.
Stein kannte den Mann namentlich schon aus vielen Ermittlungen mit Mona Lu, die sie zusammen in der Mühle durchgeführt hatten. Aber persönlich begegnete er dem Mann jetzt zum ersten Mal. Und eigentlich musste das auch gar nicht sein.
„Ich geh mal ums Haus“, sagte er und war auch schon verschwunden.
Mona Lu stand kurz darauf mit dem Gerichtsmediziner vor dem Bett, in dem das Opfer lag.
„Hm“, machte er und sagte, „sie ist so schön zurechtgemacht, da mag man ja gar nicht stören.“
So hatte Mona Lu es noch nicht betrachtet gehabt. Aber er hatte recht. Sie war schön anzusehen. Absurd, wenn man wusste, dass sie doch tot war. Selbst das Bett war makellos und ohne Falten über sie gelegt worden. Darauf lagen ihre Hände ineinander verschlungen und die Spitzen des weißen Nachthemdes breiteten sich um ihre Handgelenke fast aristokratisch wirkend fein aus.
„Aber es hilft wohl nichts“, meinte er dann und warf Mona Lu einen Blick zu, der alles bedeuten konnte. Vielleicht machte er seinen Job auch einfach schon zu lange und dachte über ein Ende nach.
Er begann damit, der Toten die Augenlider anzuheben. Keine erweiterten Pupillen in den großen blauen Murmeln, die selbst im Tod ihre Leuchtkraft noch nicht verloren hatten. Ein Blick auf die Hände, schmal mit langen Fingern. Keine Verletzungen, die auf eine Abwehr hinweisen könnten. Der blutrote Mund, pudrig geschminkt. Sanft fuhr er mit seinem Handschuh darüber, bevor er ihr die Lippen vorsichtig auseinanderzog.
„Sie hat etwas auf der Zunge“, sagte er und wandte sich wieder Mona Lu zu. Neugierig warf sie einen Blick hinein.
„Was könnte das sein?“, fragte sie.
„Vielleicht könntest du mal mit deinem Handy hineinleuchten“, bat er, „ich möchte den Gegenstand nur ungern hier herausnehmen, das mache ich lieber, wenn sie bei mir auf dem Tisch liegt.“
Mona Lu nahm ihr Handy und machte das Licht an. Sie leuchtete in den Mundraum des Opfers. Sie konnte nicht so viel sehen wie er. Es war etwas Weißes, soviel erkannte sie aber.
„Eine Praline“, sagte er, „jemand hat ihr eine Praline in den Mund geschoben. Und zwar, nachdem sie bereits tot war, denn diese scheint keine Spuren von Bewegungen im Mund zu zeigen, soweit ich es erkennen kann. Nur die Lasur ist ein wenig von der Feuchtigkeit aufgelöst worden. Aber sonst ...“.
„Könnte ein Gift darin gewesen sein?“, fragte Mona Lu, die darin einen Grund für den Tod herbeizuführen versuchte.
„Das denke ich nicht“, erwiderte er, „wie gesagt, sie hat sie ja nicht zerkaut. Sie scheint noch ganz zu sein.“
„Ach so, ja. Stimmt.“
Der Gerichtsmediziner stellte sich wieder aufrecht hin und rieb sich über den Rücken. Dann zog er die Bettdecke vorsichtig zurück, um sich auch den restlichen Körper der Frau anzusehen. Mona Lu schrak ein wenig zurück, weil der Kontrast zu dem Schönen von eben einfach zu groß war. Das schöne weiße Nachthemd, es war im Bereich des Unterleibs blutgetränkt. So, wie auch das Oberbett auf der Innenseite und das Laken unter ihr.
„Ich denke, da haben wir die Todesursache“, sagte der Gerichtsmediziner lakonisch.
Mit spitzen Fingern hob er das Nachthemd vorsichtig an. Sie trug Unterwäsche, zum Glück. Doch die großen Wunden, die ihrem Bauch zugefügt worden waren, waren deutlich zu erkennen. Mehrere Stiche und Schnitte, offenbar wahllos platziert und ausgeführt.
„Wieso hat sie sich nicht gewehrt?“, fragte Mona Lu mit fast flüsternder Stimme. „War sie betäubt?“
„Etwas anderes kann ich mir eigentlich nicht vorstellen“, erwiderte er, „jedenfalls hoffe ich für sie, dass sie nicht bei Bewusstsein gewesen ist, als ihr das angetan wurde.“
Sie ließen die Tote in einen Zinksarg legen, man brachte sie nun nach Oldenburg.
Mona Lu hatte viele Fotos vom Opfer gemacht und in der Dienststelle ausgedruckt. Während sie das getan hatte, hatte Stein im Wagen gewartet. Soweit wollte er dann doch nicht gehen, und sie dorthin zu begleiten.
Nun lagen die Fotos ausgebreitet auf dem Tisch in der Mühle und die beiden betrachteten sie schweigend. Beeindruckt von der Schönheit des Tatorts, wie Stein es formuliert hatte und von der Grausamkeit, die sich unter der Bettdecke dann offenbart hatte.
„Wie kann ein Mensch so etwas machen?“, fragte Mona Lu in die Stille hinein, „ich meine, wie kann man ein Opfer, das man zuvor noch bestialisch abgeschlachtet hat, nur kurze Zeit spät so schön präsentieren?“
„Das ist nicht das Werk eines intakten Geistes“, meinte Stein lakonisch klingend. „Vielleicht haben wir es sogar mit einem Serientäter zu tun. Darauf deutet einiges hin, angefangen vom Arrangement bis eben zu dem Widerspruch, den du gerade formuliert hast.“
„Ein Serientäter in Friederikensiel, das hat mir gerade noch gefehlt“, stöhnte Mona Lu. „Wo werden wir das nächste Opfer finden? In Hooksiel? Schillig? Mir graut jetzt schon davor.“
„Vielleicht solltest du dich einfach an die Maklerin halten, falls der Täter beschlossen hat, die Opfer immer in Betten leerstehender Häuser zu platzieren“, schlug er vor.
Wenn das komisch sein sollte, so konnte Mona Lu in diesem Moment nicht darüber lachen. Und sein ernster Blick erklärte ihr dann, dass es so gemeint wie gesagt gewesen war.
„Sie kommt morgen früh, um ihre Aussage zu machen“, sagte Mona Lu, „ich werde sie bitten, bei jeder Besichtigung vorher einen Blick ins Schlafzimmer zu werfen.“
„Das wird ihr den Job nicht gerade leichter machen“, meinte Stein. „Ich denke, ich werde mich gleich mal an den PC setzen und nach ähnlichen Mustern bei Morden an jungen Frauen suchen“, sagte er.
„Eine gute Idee“, stimmte sie zu. „Und ich mache mich auf den Weg in die Dienststelle. Mal gucken, was es Neues gibt.“ Sie stand auf und zog ihre Jacke über.
„Das sollte kein Rauswurf sein“, sagte Stein, „ich könnte uns noch einen Tee kochen, wenn du magst.“
„Nein, schon gut. Ich trinke einen Kaffee in der Dienststelle. Soll ich später noch einmal reinsehen?“
„Sicher“, gab er zurück und klappte seinen Laptop auf. „Ich koche uns was Schönes.“
„Hauptsache, du landest morgen nicht wieder im Krankenhaus“, erwiderte sie und lächelte.
Nachdenklich sah Stein zur Tür, als sie gegangen war. Im Grunde hatte er das Thema Krankenhaus schon wieder aus seinen Gedanken verbannt gehabt. Doch jetzt, wo sie es sagte, kam er wieder ins Grübeln. Er sah sich im Raum um. Hier war nichts, das verdorben aussah. Weder das Gemüse auf der Anrichte, das für den Abend bestimmt war. Noch der Käse unter der großen Glocke, wo er sich hin und wieder ein Stückchen abschnitt, wenn er Lust darauf hatte. Nein, er war nicht nachlässig, was seine Lebensmittel betraf. Trotzdem stand er nun auf und öffnete den Kühlschrank. Hafermilch. Da musste man lange warten, bis diese schimmelig wurde. Schnittkäse fürs Brot, Butter in einer Dose, ein Glas mit Gemüsesud, das er immer selber herstellte für seine Eintöpfe und Joghurt, der noch nicht abgelaufen war. Und dann das Schwarzbrot, das er immer Kühlschrank lagerte. Er sah sich alles genauestens an, aber nirgendwo gab es etwas zu beanstanden, was die Haltbarkeit betraf. Der Arzt muss sich irren, dachte er, es kann keine Lebensmittelvergiftung gewesen sein. Und genau diese Erkenntnis, sie machte ihm plötzlich Angst. War er vielleicht doch schwerkrank und die ersten Symptome zeigten sich durch die Ohnmacht, die ihn ergriffen hatte, bevor Mona Lu ihn hier am Morgen gefunden hatte. Es stimmte schon, er war nicht mehr der Jüngste. Allerdings hatte er keinen Bauch, ernährte sich gesund und ausreichend Bewegung bekam er auch, wenn er nachts durch die Gegend streifte. Außerdem fühlte er sich auch nicht schlapp, hatte nie Herzrasen, noch war ihm übel. Und doch musste es einen Grund dafür geben, dass er einfach umgekippt war. Er rieb sich über die Stirn. Mit dem Kopf war er gegen die Tischkante gestoßen, als er zu Boden gegangen war. Es war nur eine leichte Verletzung, die mit einem Pflaster versorgt worden war.
Stein setzte sich nachdenklich wieder an seinen Platz zurück und sah auf die Bilder vom Opfer. So ein Glück hatte sie leider nicht gehabt. Jemand hatte sie bestialisch ermordet. Es steckte viel Wut in dieser Tat. Das war nicht im Affekt passiert, sondern genauso gewollt. Und hinterher hatte der Täter alles wieder rückgängig gemacht, indem er sie wie einen schlafenden Engel unter der Bettdecke drapierte. Konnte er selber nicht mehr hinsehen. Es nicht mehr ertragen, was er dort angerichtet hatte. Es musste sich um einen kranken Geist handeln, erinnerte er sich, zu Mona Lu gesagt zu haben. Eine tiefe Störung musste ihn durchfahren haben. Schon in Kindertagen. In dieser Zeit wurden die Grundsteine für künftige Serienkiller gelegt.
Er wandte sich jetzt wieder seinem Laptop zu, um nach ähnlich gelagerten Fällen zu recherchieren.
Mona Lu hatte sich einen Kaffee aus dem Automaten in der Dienststelle geholt, weil sie keine Lust hatte, sich selber einen im Büro anzusetzen. Nun bereute sie es, als sie den ersten Schluck trank. Bitter und irgendwie säuerlich. Und doch konnte sie sich nicht aufraffen, selber einen zu kochen. Sie fuhr ihren PC hoch in der Hoffnung, dass es schon Berichte von den Kollegen gab. Aus der Gerichtsmedizin gab es natürlich noch nichts. Aber die Spurensicherung hatte ihre ersten Eindrücke übermittelt. Demnach hatte das Opfer auf einem dicken Vlies im Bett gelegen, das den größten Anteil des Blutes, das aus ihrem Bauch entwichen war, aufgesogen hatte. Sonst wäre vermutlich auch die Matratze noch mehr getränkt gewesen, was der Täter wohl vermeiden wollte, dachte Mona Lu, als sie das las. Er richtet eine große Schweinerei an und will sie dann ungeschehen machen, nicht sichtbar für andere, ging es ihr durch den Sinn. Seit wann waren Serienkiller so umsichtig. Ihr war das jedenfalls neu. Es konnte eigentlich nichts damit zu tun haben, dass er seine Spuren verwischen wollte. Der von vielen Messerstichen durchlöcherte Bauch des Opfers, er blieb ja als stummer Zeuge zurück. Das Vlies hatten sie und der Gerichtsmediziner nicht sehen können, weil es unter dem Laken gelegen hatte. Der Täter hat also das komplette Bett bezogen, dachte sie. So viel Mühe hatte er sich gemacht, obwohl es um einiges einfacher gewesen wäre, die Frau zu ermorden und einfach ins Meer zu werfen. Doch das war ihm wohl nicht genug gewesen. Da hatte Stein schon recht, der Täter wollte etwas mitteilen. Er wollte ihr etwas mitteilen. Denn die Polizei war es ja in der Regel, die sich mit solchen Botschaften zu beschäftigen hatte.
Sie rieb sich über die Stirn. Vom miesen Kaffee war ihr ganz schlecht geworden. Sie hatte ja nicht einmal gefrühstückt heute Morgen, weil sie Stein ins Krankenhaus bringen musste. Das rächte sich nun. Sie zog die Schubladen ihres Schreibtisches auf, in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden. Schließlich riss sie das Papier eines Schokoriegels auf. Das war besser als gar nichts.
Es war schon spät geworden, stellte sie fest, als sie bald darauf auf ihr Handy sah. Niemand hatte angerufen. Aber bis sie erneut zur Mühle fahren konnte, wo Stein für sie kochen würde, war es noch eine ganze Stunde Zeit, die sie überbrücken musste. Sie wusste, dass er sicher nicht böse gewesen wäre, wäre sie jetzt bereits bei ihm aufgetaucht. Aber auf der anderen Seite brauchte er auch seine Ruhe, wenn ein Gericht gelingen sollte.
Also wandte sie sich wieder ihrem PC zu und scrollte sich durch die Meldungen des Tages. Und natürlich hatte auch die hiesige Tageszeitung den Mord in Friederikensiel bereits online aufgegriffen. Mona Lu las sich durch, was dort geschrieben worden war. Ein erster kurzer Bericht, dem ein ausführlicher folgen sollte, las sie. Und dann stockte ihr plötzlich der Atem, als sie darauf stieß, wer diesen Bericht verfasst hatte. Hauke. Ihr Hauke. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Ihr Puls stolperte sich hoch. War er etwa wieder hier in Wangerland. Nein, das konnte doch nicht sein. Er war nach Hamburg gegangen, hatte geheiratet und war Vater geworden. Das war das Letzte gewesen, was sie sich auf Facebook über ihn angesehen hatte. Danach hatte sie ihn blockiert, damit er nicht wieder aufploppte mit all seinem Glück, das von jedem Foto in die Welt strahlte. Sie wollte Hauke vergessen. Aus ihrem Leben und ihrem Gedächtnis streichen. Und jetzt das. War er jetzt wirklich wieder hier. Sie schloss ihren Mund, der trocken geworden war, und schluckte hart. Wenn er wirklich wieder hier war, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich wieder an sie wandte, weil er etwas über den Fall schreiben wollte. Sie wusste nicht, ob sie das überstehen würde. Denn es war, so hatte sie in den letzten Monaten festgestellt, doch ganz schön hart gewesen, den Mann zu vergessen, der sie einst so geliebt hatte. Und irgendwie hatte sie ihn ja auch sehr gemocht. Was reichlich untertrieben war, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Alles mit anderen Männern, was danach gewesen war, hatte nichts ergeben. Und Runner, der streunende Hund, der ihr zum besten Freund geworden war, war weg. Eines Abends, als sie nach Hause gekommen und ihn rausgelassen hatte, da war er nicht wieder zurückgekehrt. Sie hatte nach ihm gesucht, tagelang. Bis ihre Stimme nicht mehr rufen konnte vor Schmerz. All das kam jetzt wieder in ihr hoch. Sie musste hier raus. Mit jemandem reden. Also fuhr sie direkt zur Mühle.
Stein stand gerade am Herd und gab dem Gemüseauflauf den letzten Schliff mit ein paar Käsebröckchen, als Mona Lu hereinkam. Er drehte sich zu ihr um.
„He, schön, dass du schon da bist“, sagte er, „das Essen ist gerade fertig geworden. Dann muss ich den Auflauf nicht mehr in den Backofen zum Warmhalten schieben.“
„He“, entgegnete sie und zog ihre Jacke aus. Sie ließ sie achtlos auf den Boden neben dem Sofa gleiten und setzte sich. Hier konnte sie nichts mehr tun, denn der Tisch war schon gedeckt. Auch ein Weißwein stand geöffnet da.
Stein stellte den Auflauf auf das Holzbrett auf dem Tisch. Dann holte er noch das geschnittene Brot und setzte sich zu Mona Lu. Sie hatte den Wein bereits eingeschenkt und sie stießen an.
„Gibt es etwas Neues?“, fragte er gutgelaunt. Denn auch er war auf etwas Interessantes gestoßen im Netz.
„Hm ...“, machte sie nur.
Er tat ihr etwas von dem Auflauf auf. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das spürte er deutlich.
„Du wirkst etwas neben der Spur“, sagte er, „ist etwas passiert?“
Nun konnte sie ihre Gefühle nicht mehr länger unterdrücken, als er sie so intensiv ansah.
„Er ist wieder da“, flüsterte sie.
„Wer?“, fragte er, weil er glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. „Wer ist wieder da?“
„Hauke“, schluchzte sie.
Das allerdings verschlug auch ihm die Sprache.
„Bist du sicher?“, fragte er.
Sie nickte. „Der Onlineartikel über den Mord, er ist von ihm.“
„Aber das bedeutet ja nicht, dass er wieder hier ist“, gab er zu bedenken, „online findet man ja vieles.“
Mona Lu atmete einmal tief durch. Warum brachte es sie nur so aus der Fassung, wenn es um Hauke ging. Und was dachte Stein jetzt von ihr. Dass sie albern war. Vielleicht stimmte es sogar.
„Unsere Tageszeitung hat einen kurzen Bericht über den Mord veröffentlicht“, sagte sie mit fester Stimme. „Es ist Haukes Signatur.“
„Wow“, machte Stein. Er selber hatte ja nie Probleme mit Hauke gehabt. Im Gegenteil, er war ihm zu einem vertrauten Freund geworden in der Zeit, wo sie drei zusammen in seiner Mühle ermittelt hatten. Er fehlte ihm zwar nicht unbedingt, aber wenn er wieder da war, sollte es ihm auch recht sein. Aber wieso reagierte sie dermaßen emotional, ja, im Grunde war sie völlig apathisch. „Du solltest etwas essen“, sagte er.
Sie fing an, den Auflauf mit ihrer Gabel zu bearbeiten, und schob sich etwas in den Mund. Hatte sie vorhin noch einen enormen Hunger gehabt, das war jetzt vorbei. Ihr Magen wirkte wie zugeschnürt.
„Ich wollte uns den Abend nicht verderben“, sagte sie reumütig.
„Schon okay. Ich frage mich nur, wieso dich diese Tatsache, dass Hauke wieder hier arbeitet, so mitnimmt.“
„Ich weiß es auch nicht. Es war wohl ein Schock für mich. Ich dachte, ich sehe ihn nie wieder.“
Aha, dachte er. Also war es ihr doch wohl nicht so leicht gefallen ohne ihn. Die Signale, die sie versendete, zeichneten eine deutliche Sprache. Sie war noch lange nicht über Hauke hinweg, auch wenn sie sich immer so cool gab, wenn es um ihn ging. Doch, so dachte er nun, es war schon Ewigkeiten her, dass sie überhaupt über Hauke gesprochen hatten. Jetzt im Nachhinein wurde ihm klar, dass sie ihn nicht vergessen, sondern den Gedanken an ihn nur verdrängt hatte.
„Also, ich bin da auf etwas gestoßen bei meiner Recherche“, sagte er nun, um sie auf andere Gedanken zu bringen. „Es ist schon länger her, da hat es einen Mord in Frankfurt gegeben. Eine Frau in den Vierzigern wurde von ihrer eigenen Tochter umgebracht. Man fand sie zurechtgemacht in ihrem Bett. Es war ihr mit einem Messer in den Bauch gestochen worden, sie ist verblutet.“
Mona Lu zeigte keinerlei Reaktion auf diese für ihn sensationelle Entdeckung.
„Hallo?“, sagte er, „noch da?“
„Wie?“, stieß sie ertappt aus, „entschuldige, ich ...“.
„Schon gut“, sagte er und wiederholte noch einmal, was er eben gesagt hatte.
„Also ein Serienkiller“, sagte sie.
„Dann wohl ein Nachahmer“, entgegnete er, „denn die Tochter, die ihre Mutter getötet hatte, wurde in die geschlossene Psychiatrie überwiesen. Ich weiß das, weil ich der damals zuständige Psychologe war, der sie begutachtet hat. Damals habe ich noch nicht für die Polizei gearbeitet.“
„Was sagst du da?“ Nun war sie endlich wieder bei der Sache. „Du hattest mit dem Mord an der Frau zu tun?“
„Ja, allerdings. Ich weiß auch nicht, warum ich mich nicht gleich daran erinnert habe, als ich die Fotos von unserem Opfer gesehen habe. Ich werde wohl vergesslich.“ Wieder musste er an die mahnenden Worte des Arztes denken.
„Irgendwie komme ich da jetzt noch nicht ganz mit“, sagte sie, „wann war das, als der Mord damals geschah?“
„Das ist über zwanzig Jahre her“, sagte Stein.
Damals hatte eine Achtjährige ihre Mutter offenbar im Schlaf überrascht und bestialisch mit einem Küchenmesser in ihrem Bett zugerichtet. Die Mutter war verblutet, weil sie recht schnell bewusstlos geworden war. Das Überraschungsmoment war wohl zu groß gewesen. Die Nachbarn hatten sich am nächsten Morgen gewundert, dass der Wagen der Frau noch vor der Tür stand, denn sonst brachte sie um diese Zeit immer ihre Tochter zur Schule. Dann wurden sie unruhig, als der Wagen auch eine Stunde später immer noch nicht bewegt worden war und zudem die Jalousien noch nicht aufgezogen waren. Da die Nachbarin einen Schlüssel für das Haus hatte, hatte sie nachgesehen.
„Sie fand die Tochter ans Bett ihrer Mutter gelehnt. Blutüberströmt, das Messer hielt sie noch in der Hand. Du kannst dir sicher vorstellen, was danach los war.“
„Wie furchtbar muss das für die Nachbarin gewesen sein“, sagte Mona Lu, „und wieso hat die Tochter das getan? Wo war der Vater?“
„Die Frau lebte alleine mit ihrer Tochter, nachdem der Vater sie verlassen hatte. Sie hielt sich über mehrere Jobs über Wasser. Die Tochter hat seit der Tat nie wieder ein Wort gesprochen. Ich wurde damals als Gutachter hinzugezogen. Auch mir gelang es nicht, ihr Schweigen zu brechen. Natürlich konnte man sie als Kind nicht in ein Gefängnis bringen, also gab ich die Empfehlung, sie in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen.“
„Hm“, machte Mona Lu, „aber das achtjährige Mädchen hat die Leiche nicht so drapiert, wie unser Opfer. Denkst du wirklich, dass es da Parallelen gibt? Einen Nachahmer? Und weshalb nach so langer Zeit?“
„Tja, das sind viele Fragen, die nach einer Antwort suchen“, erwiderte er.
„Vielleicht der Vater des Mädchens, der durchgedreht ist, nachdem was seiner Frau durch die eigene Tochter angetan worden war“, schlug Mona Lu vor.
„Dann hat er aber ziemlich lange gebraucht.“
„Auch wieder wahr.“
„Du bist dir nicht sicher, dass die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben, habe ich recht?“
„Nein, ehrlich gesagt sehe ich das noch nicht“, gab Mona Lu zu. Sie wollte nur seinen Enthusiasmus nicht abwürgen, wenn sie ehrlich war.
„Du hast sicher recht. Ich bin eben nur darauf gestoßen im Netz, das ist alles. Aber ansonsten fand ich keine Fälle, wo das Opfer genauso hinterlassen wurde.“
„Ich werde alles noch einmal durchdenken“, versprach sie, „man sollte keine mögliche Spur außer Acht lassen.“
Sie aßen weiter, tranken Wein und Mona Lu gewöhnte sich so langsam auch an den Gedanken, dass Hauke zurückgekehrt war, ohne gleich in Panik zu verfallen.
Mona Lu war zeitig in die Dienststelle gefahren, um sich auf die Befragung von Evelyn Großmann vorzubereiten. Der Abend gestern mit Stein hatte wirklich einige Fragen aufgeworfen. Wer hatte einen Schlüssel zum Haus, wo man das Opfer fand, denn es gab keine Einbruchsspuren. Wem gehört das Haus überhaupt. Denn auch die Eigentümer konnten etwas mit dem Mord zu tun haben.
Dann, als der Termin näher rückte, hatte sie Kaffee gekocht. Dieses Mal wollte sie keinen aus dem Automaten trinken. Während sie wartete, wie der Kaffee durchlief, hatte sie wieder Zeit, an Hauke zu denken. Stein war genauso überrascht gewesen wie sie, dass er wieder hier war. Aber natürlich hatte es ihn persönlich nicht so umgehauen wie sie. Mona Lu hatte in der Nacht sogar von Hauke geträumt. Nun musste sie an die Zeit zurückdenken, wo sie noch in den Anfängen ihrer Beziehung gewesen waren. Sie hatten viel Spaß gehabt, was hauptsächlich daran lag, dass Hauke spontan war und ihm immer eine dumme Bemerkung zu allem einfiel. Das fand sie zunächst erfrischend, weil sie so ernst war. Doch mit der Zeit, da waren ihr seine Sprüche auch irgendwie immer mehr auf die Nerven gegangen. Es hatte Trennungen gegeben, dann rauften sie sich wieder zusammen. Und irgendwann, da konnte er wohl einfach nicht mehr, er wollte sie sogar heiraten und er hatte ihr einen Ring gekauft. Sie wollte ja, aber sie konnte ihn einfach nicht heiraten, etwas in ihr sträubte sich. Und dann war er gegangen, um sich selber zu retten. Die Frau, mit der er auf Facebook abgelichtet war, sie war ein ganz anderer Typ als sie. Blond, vollbusig. Blaue Augen, so wie ein Himmel an einem Sommertag. Aber wieso war er jetzt wieder hier.
Die Kaffeemaschine röchelte und riss sie aus ihren Gedanken. Dann klopfte es auch schon an ihre Bürotür und Evelyn Großmann kam herein.
„Kaffee?“, fragte Mona Lu.
„Ja, gerne“, erwiderte sie.
Dann saßen sie zusammen am Besuchertisch.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte Mona Lu.
Evelyn zog die Schultern hoch. „Geht so.“
„Ich müsste Ihnen noch ein paar Fragen zu dem Haus stellen“, begann Mona Lu mit der Befragung, „es wurde nicht eingebrochen, also muss der Mörder einen Schlüssel zum Haus gehabt haben. Wissen Sie, wer über einen Schlüssel zum Haus verfügt?“
Evelyn rieb über ihren Kaffeebecher. „Naja, ich habe einen und die Besitzer natürlich auch noch.“
„Wem gehört das Haus?“
„Es gehörte einem Ehepaar, das sich liebevoll um die Restaurierung gekümmert hat. Dann ist sie gestorben und er wolle nicht mehr alleine hierbleiben. Er ist zu seiner Tochter nach Berlin gezogen. Ich kann Ihnen seine Telefonnummer geben, wenn Sie möchten.“
„Das wäre gut“, erwiderte Mona Lu. Sie machte sich Notizen. Dann sah sie wieder auf. „Der Schlüssel, über den Sie verfügen, haben darauf noch andere Personen Zugriff?“
„Sicher. Er hängt im Büro, wenn ich nicht gerade eine Besichtigung durchführe. Ich habe eine Angestellte, die sich um den Papierkram kümmert, der bei einem Hausverkauf so anfällt. Und dann natürlich die Onlineportale, wo die Häuser präsentiert werden.“
Mona Lu notierte sich auch den Namen der Angestellten. „Ich würde Ihre Angestellte gerne sprechen“, sagte sie.
„Sie können jederzeit ins Büro gehen“, antwortete Evelyn, „sie arbeitet von halb neun bis siebzehn Uhr und ist durchgehend vor Ort. Das Büro ist in Jever.“
„In Jever, okay“, sagte Mona Lu und Evelyn gab ihr die Adresse. „Sie wohnen auch dort, ich meine, in Jever?“
„Ja, das ist richtig. Mir gehört dort eine Eigentumswohnung, die ich vor einigen Jahren gekauft habe.“
Mona Lu nahm nun den Hefter von ihrem Tisch, in dem die Fotos vom Opfer waren. Sie erklärte Evelyn, dass es notwendig war, dass sie sich die Bilder ansah, um zu prüfen, ob sie die Frau kannte. Denn bisher war noch unklar, um wen es sich bei dem Opfer handelte.
„Wow“, sagte Evelyn, als sie sich die Bilder ansah, auf dem das Opfer ganz nah herangezoomt worden war. Man sah eigentlich nur ihr Gesicht, den schönen Porzellanteint und die dichten langen Wimpern. „Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment die Augen aufschlagen.“
Schön wär’s, dachte Mona Lu. „Kennen Sie sie?“
Evelyn schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich habe sie noch nie zuvor gesehen.“
Das wäre ja auch zu schön um wahr zu sein gewesen, dachte Mona Lu. Sie hatte nichts anderes erwartet.
„Können Sie sich jemanden denken, der zu dieser Tat fähig gewesen wäre? Vielleicht jemand, dem Sie das Haus gezeigt haben?“
„Auf gar keinen Fall“, kam es spontan von Evelyn zurück.
„Ich verstehe, dass Sie so reagieren“, sagte Mona Lu, „aber trotzdem, denken Sie bitte noch einmal intensiv darüber nach, wer alles mit dem Haus in Kontakt gekommen ist. Vielleicht Handwerker, Fotografen. Wer macht eigentlich die Fotos für den Online-Auftritt?“
„Sie haben recht“, sagte Evelyn, „daran habe ich nicht gedacht. Der Fotograf, den ich immer beauftrage, die Immobilien ins rechte Licht zu rücken, heißt Michael Wegener. Alle nennen ihn Mike. Er wohnt auch in Jever.“ Sie gab Mona Lu auch seine Kontaktdaten.
„Sonst noch jemand?“, fragte sie dann.
Evelyn dachte angestrengt nach, das sah man ihr an. „Nein, ich denke nicht“, sagte sie dann, „die frischen Blumen für den Küchentisch, die bringe ich immer selber mit. Es macht einfach einen wohnlicheren Eindruck, wenn Blumen auf dem Tisch stehen.“
„Was ist mit dem Bett?“, fragte Mona Lu, „war die Bettwäsche dieselbe, die sie sahen, als der Mord noch nicht geschehen war?“ Sie schob eine Aufnahme, die den Raum mit dem Bett zeigte, zu Evelyn rüber.
„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht“, erwiderte diese, „ich gehe in so viele Häuser, das kann ich nicht mit Gewissheit sagen, welche Bettwäsche aufgezogen war. Denken Sie, der Täter hat das Bett neu bezogen?“
„Dazu kann ich im Moment leider nichts sagen“, entgegnete Mona Lu.
Dann ging die Bürotür auf und ein Kollege sah herein. Er bat Mona Lu, kurz vor die Tür zu kommen.
„Was gibt es?“, fragte sie, als sie draußen war.
„Wir wissen jetzt, wer die Tote ist“, erwiderte der Kollege, „sie war in unserer Datenbank.“
„Eine Kriminelle?“
„Ja, könnte man sagen. Sie hat als Achtjährige ihre Mutter ermordet. Das ist schon über zwanzig Jahre her.“
Diese Nachricht traf Mona Lu wie ein Schlag ins Gesicht. „Bist du sicher?“, hakte sie nach, während tausend Dinge durch ihren Kopf rasten. Hatte Stein nicht gesagt, sie wäre in der Psychiatrie eingesperrt. Wieso lag sie dann ausgerechnet hier in einem Bett in Friederikensiel.
„Ja, absolut“, antwortete der Kollege, „die Fingerabdrücke lügen nicht. Bei dem Opfer handelt es sich eindeutig um Nadja Kolenberg aus Frankfurt. Ich habe dir alle Daten dazu per Mail rübergeschickt. Ich dachte, du solltest das wissen, deshalb habe ich das Verhör unterbrochen.“
„Danke, das war richtig“, sagte Mona Lu. Mit Evelyn war sie im Grunde ja sowieso fertig. Sie ging wieder ins Büro. „Sagt Ihnen der Name Nadja Kolenberg etwas?“, fragte sie, obwohl ihr klar war, dass dem nicht so war.
„Nadja ... wie war das nochmal?“, fragte Evelyn nach.
„Kolenberg. Nadja Kolenberg.“
„Nein, der Name sagt mir nichts. Ist sie das?“ Evelyn deutete auf das Foto mit dem Gesicht der Toten.