Kommissar Guntram Doppelband Band 19 und 20 - Moa Graven - E-Book

Kommissar Guntram Doppelband Band 19 und 20 E-Book

Moa Graven

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Beschreibung

In diesem Doppelband mit Kommissar Guntram sind die Bände 19 "Der Musterschüler" und 20 "Gefangen" enthalten. Band 19 "Der Musterschüler" Zum Inhalt Johannes Bruck ist ein unauffälliger Schüler mit guten Noten und ein begnadeter Schwimmer. Dank ihm schafft es seine Schwimmmannschaft aus Leer bis in die Landesliga. Sein Leben scheint vorbestimmt gut zu verlaufen, der Vater hat ein Baugeschäft, dass er eines Tages übernehmen könnte. Dann der Schock. Nach einer Übernachtung bei seinem Freund kommt er nicht nach Hause, sondern wird tot aufgefunden. Kommissar Guntram ermittelt in dem tragischen Fall, der nach einem Selbstmord aussieht. Aber warum bringt sich ein Junge, dem alle Türen offenstehen, um? Band 20 "Gefangen" Zum Inhalt Helene Brinker aus Uplengen ist in heller Aufregung. Ihr Sohn Hannes ist nicht wie sonst in der Schule erschienen. Sie gerät in Panik und ruft bei der Polizei in Leer an. Eigentlich kein Fall für uns, denkt Guntram. Doch weil gerade nichts anderes anliegt, fahren er und sein Kollege Mathias Sanders nach Remels, um mit der Mutter sprechen. Sogar in der Schule haken sie nach und erfahren, dass Hannes sonst eigentlich immer verlässlich ist, was den Schulbesuch betrifft. Also lassen die Ermittler es erst einmal schleifen. Bis dann etwas passiert, wo sie alarmiert sind. Es ist ein Mord geschehen. Eine Leiche wird im Wald von Hollsand gefunden. Die Taschenbücher erhalten Sie direkt bei der Autorin im Krimishop!

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum
Der Musterschüler
Vorfreude
Der Schock
Tina
Dienststelle Leer
Dienststelle Münster
Im Schwimmbad
Sascha
Die Eltern
In Rhauderfehn
In der Dienststelle Leer
Gedankenspiele
Oliver Bruck
In Münster
Der Schwimmlehrer
In Rhauderfehn
Sascha
Mathias Sanders
Im Schwimmbad
Zuhause
Fortmann und die ganze Wahrheit
Einige Tage später
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
INDISCH angehauchtes Rezept nach Moa Graven
Gefangen
Am Morgen
Verschwunden
Am Abend
Der nächste Tag
Familie Walters
Opa
Rätselhaft
Urlauber
Baby Lena
Im Wald
Über vierzig Jahre zuvor
Tina kommt nach Hause
Todesursache
Zuhause
Ungeliebt
Neue Fragen tauchen auf
Die Befragungen
Familie
Hannes
Die dunklen Mächte
In der Dienststelle
Zuhause
Mein Brief an Sie, liebe Leserin und lieber Leser,
Zur Autorin
Die Kommissar Guntram Krimi-Reihe im Überblick
Die weiteren Krimi-Reihen von Moa Graven im Überblick
LESEPROBE aus meinem Ostfrieslandkrimi „Die Melancholie des süßen Todes“
Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Krimis!

Kommissar Guntram Sammelband 8

Ostfrieslandkrimis

Der Musterschüler

Gefangen

Moa Graven

Moa Graven

Impressum

Kommissar Guntram Sammelband 8 mit den Fällen „Der Musterschüler“ und „Gefangen“

Ostfrieslandkrimi von Moa Graven

Alle Rechte am Werk liegen bei der Autorin

Erschienen im Criminal-kick-Verlag Ostfriesland

Das Krimihaus – 3. Südwieke 128a – 26817 Rhauderfehn

September 2025

Covergestaltung: Moa Graven

Moa Graven ist Ostfriesin und schreibt seit 2013 Krimis. Erst mit fünfzig hat sie die Leidenschaft für das subtile Verbrechen auch für sich entdeckt, als sie einen Fortsetzungskrimi für ein Monatsmagazin schrieb. Seit 2017 lebt die Autorin, die das Landleben und die Natur liebt und ihre Krimis nach wie vor im Eigenverlag veröffentlicht, vom Schreiben.

Der Musterschüler

„Der Musterschüler“ Band 19 aus der Reihe mit Kommissar Guntram

Johannes Bruck ist ein unauffälliger Schüler mit guten Noten und ein begnadeter Schwimmer. Dank ihm schafft es seine Schwimmmannschaft aus Leer bis in die Landesliga. Sein Leben scheint vorbestimmt gut zu verlaufen, der Vater hat ein Baugeschäft, dass er eines Tages übernehmen könnte. Dann der Schock. Nach einer Übernachtung bei seinem Freund kommt er nicht nach Hause, sondern er wird tot aufgefunden. Kommissar Guntram ermittelt in dem tragischen Fall, der auf einen Selbstmord hindeuten könnte. Aber warum bringt sich ein Junge, dem alle Türen offenstehen, um?

Man kann es nicht oft genug sagen,

sei du selbst.

Doch das geht nur,

wenn die anderen es auch zulassen.

Moa Graven

Vorfreude

Natürlich bediente er hier ein Klischee, dachte Guntram, als er Katrin und die Kinder dabei beobachtete, wie sie Kirschen vom Baum im eigenen Garten pflückten. Doch so sah sie wohl aus, die heile Welt, von der viele sprachen und die sich die meisten wünschten. Jeder wollte doch einfach nur glücklich sein. Und ihm war es offenbar gelungen, in diese heile Welt einzutauchen. Er konnte es manchmal gar nicht fassen.

„Oh nein“, sagte Katrin und wischte eifrig mit der Hand über das blauweiße Shirt von Hendrik. „Das geht bestimmt nicht wieder raus. Dabei ist es nagelneu.“

Hendrik war das mit rotem Saft beschmierte Shirt wohl ziemlich egal, denn er kicherte, während Katrin über seine Brust rubbelte.

„Wir kaufen einfach ein neues“, rief Guntram von seinem Gartenstuhl aus, „es ist doch nur ein dummes Shirt.“

Katrin sah zu ihm herüber. „Da seid ihr euch wohl wieder mal einig“, sagte sie tadelnd, während sie lächelte.

„Ich kann schon darauf aufpassen, dass mir so etwas nicht passiert“, sagte Sarah.

„Du bist ja auch ein großes Mädchen“, lobte Guntram und er erhob sich nun aus seinem Stuhl und ging zu seiner Familie herüber. Dann hob er Hendrik in die Höhe, damit er sich noch mehr Kirschen von weiter oben pflücken konnte. Er sah zu Katrin und meinte: „Jetzt ist doch sowieso alles egal.“

Katrin gab sich endgültig geschlagen und griff nun Sarah unter die Arme, um sie auch nach oben zu hieven. Noch gelang es ihr ganz gut, weil ihre Tochter zwar immer größer wurde, aber trotzdem leicht wie eine Feder war. Und dass, obwohl sie wirklich eine gute Esserin war, wie man so schön sagte. Es musste wohl Veranlagung sein, denn auch Katrin war noch niemals übergewichtig gewesen.

Hendrik griff mit seinen beiden kleinen Händen in die Kirschen, stopfte sich selber welche in den Mund und dann schob er auch Guntram eine Kirsche in den Mund.

„Hm“, machte Guntram, „die sind aber wirklich sehr lecker.“

Sarah, animiert durch das Lob des Vaters, machte nun dasselbe bei Katrin.

So ging das eine ganze Weile, bis Hendrik quengelte, weil er wieder nach unten gelassen werden wollte. Er hatte gesehen, dass Whisky, der Hund, ein großes Loch im Garten buddelte, da wollte er unbedingt mitmachen.

Auch Sarah hatte keine Lust mehr auf Kirschen, aber sie folgte nicht ihrem Bruder, sondern sie setzte sich wieder in ihren Liegestuhl, um weiter in einem Buch zu lesen, das sie heute von Katrin bekommen hatte.

„Soll ich uns einen Kaffee machen“, sagte Katrin mit Blick auf die Kinder, „für das Mittagessen ist es eigentlich noch zu früh.“

„Das klingt gut“, sagte Guntram, „ich muss sowieso gleich nochmal in die Dienststelle, um die Übergabe mit Mathias zu machen.“

„Oh, hat er heute seinen ersten Tag?“, fragte Katrin.

Guntram nickte zur Bestätigung.

„Irgendwie ist es komisch, dass er zurückkommt“, meinte Katrin, „fast so, als holte uns die Vergangenheit wieder ein.“

„Hm“, machte Guntram, „mir gefällt das eigentlich ganz gut. Hätte ich selber nicht für möglich gehalten, das gebe ich zu. Aber man muss auch verzeihen können.“

Katrin wollte jetzt doch lieber auf andere Gedanken kommen.

„Na gut“, sagte sie, „dann mache ich mal den Kaffee. Achtest du auf Hendrik.“

Guntram wandte sich zu seinem Sohn um, der bereits von oben bis unten voller Dreck war, den Whisky ausgebuddelt hatte.

„Er kommt ganz nach dir“, lachte Katrin. Dann ging sie Richtung Haus davon.

Guntram setzte sich wieder in seinen Gartenstuhl und ließ die Sonne in sein Gesicht scheinen. Er schloss für einen Moment die Augen und hörte nur dem Treiben von Hendrik und Whisky zu. Immer wieder kicherte der kleine Kerl und der Hund wühlte sich langsam in eine Art Wahn, so schien es, angespornt durch Hendrik und sein Lachen.

Fast wäre Guntram eingenickt, als plötzlich Sarah an seinen Arm tippte. Er hatte gar nicht gehört, dass sie zu ihm gekommen war.

„Papa?“

Guntram schlug die Augen auf und blinzelte gegen die Sonne.

„Ja, mein Schatz“, sagte er und gähnte kurz.

„Was ist ein Schamane?“ Sarah sah ihn fragend an. In der Hand hielt sie das Buch, in dem sie bis eben gelesen hatte.

„Ein Schamane ... nun ja“, murmelte Guntram, der selber nicht genau wusste, was das eigentlich sein sollte. „Ich denke, das ist so eine Art Wunderdoktor in einer anderen Welt.“

„Ach so.“ Sarah schien damit zufrieden, denn sie ging wieder zu ihrem Gartenstuhl und setzte sich wieder hinein, um weiterzulesen.

Sie wird es mal genauso weit bringen wie ihre Mutter, dachte Guntram. Aber hoffentlich macht sie nicht dieselben Erfahrungen wie sie.

Er hörte, dass Katrin zurück in den Garten kam. Er sah zu ihr hin. Sie trug zwei Kaffeebecher mit sich und auch etwas Saft für die Kinder.

„Warte“, sagte er und kam schnell aus dem Stuhl hoch, „ich helfe dir.“ Guntram ging ihr entgegen und nahm ihr die Getränke für die Kinder ab. Dann brachte er Sarah ihren Saft und den für Hendrik nahm er mit zu seinem Platz, wo Katrin bereits seinen Kaffee auf dem kleinen Tisch abgestellt hatte. „Er wird sich schon melden, wenn er Durst bekommt“, sagte Guntram, als er den Saft, der für Hendrik gedacht war, abstellte.

„Es ist ein herrlicher Tag“, sagte Katrin, „ich freue mich schon sehr auf unseren gemeinsamen Urlaub. Und vor allem darauf, Tina mal wiederzusehen.“

„Ja, das geht mir auch so“, erwiderte Guntram. „Soll ich nachher noch etwas besorgen, wenn ich in Leer bin?“

„Hm, nein, eigentlich haben wir alles. Es sei denn, dir fällt noch etwas ein.“

„In sowas bin ich nicht gut“, sagte Guntram, „aber wenn wir etwas vergessen haben sollten, dann können wir es ja auch in Münster einkaufen.“

„Genau. Also, für die Kinder habe ich alles eingepackt.“

Sie tranken ihren Kaffee und sahen nun gemeinsam den Kindern bei ihren Aktivitäten zu. Hendrik hatte offenbar genug vom Toben, denn er stellte sich auf seine kleinen Beinchen und kam zu seinen Eltern herübergewackelt.

„Den werde ich gleich mal in die Wanne stecken“, sagte Katrin und lachte.

„Das ist auch dringend nötig“, erwiderte Guntram. Dann erhob er sich vom Stuhl. „Ich fahr dann jetzt mal zur Dienststelle. Es wird nicht lange dauern, denke ich.“

Er beugte sich zu Katrin herunter und sie küssten sich kurz zum Abschied.

„Papa“, rief Hendrik, „ich bin schmutzig.“

„Erzähl das lieber deiner Mama“, grinste Guntram und er ging davon.

Als er kurz darauf in den Wagen stieg, hörte er, wie Katrin Hendrik mit einem Lächeln in der Stimme tadelte, wo er sich doch so dreckig gemacht hatte. Und immer wieder kicherte der Kleine, so, als kitzelte sie ihn dabei. Es waren die schönsten Geräusche, die Guntram sich in diesem Moment vorstellen konnte. Und auch er freute sich auf den Urlaub und seine Tochter, die er viel zu selten sah.

Mathias Sanders war schon am frühen Morgen in der Dienststelle in Leer eingetroffen und er war gerade damit beschäftigt, seinen Schreibtisch einzuräumen, als Guntram ins Büro kam.

„He“, sagte Guntram, „schon eingelebt.“

Mathias Sanders drehte sich zur Tür um.

„He, Jochen.“

Sie kamen sich auf halbem Weg entgegen und gaben sich kurz die Hand.

„Willkommen zurück“, sagte Guntram.

Dann setzten sie sich beide jeder an ihren Schreibtisch.

„Liegt etwas Besonderes an?“, fragte Sanders.

„Sommerflaute“, sagte Guntram, „da haben selbst die Verbrecher wohl mal Pause.“

„Mir soll es recht sein“, meinte Sanders, „dann habe ich Zeit, meine neue Wohnung zu renovieren. Wie lange wirst du denn weg sein?“

„Wir haben eine Woche in Münster geplant“, antwortete Guntram, „wir besuchen dort Tina, meine Tochter.“

„Oh, Tina. Dann grüße sie bitte von mir.“

„Klar, mache ich.“

„Wie geht‘s ihr denn so ohne Polizeiarbeit?“

„Ach, ganz gut, denke ich. Sie hat ihre Erfüllung jetzt im sozialen Bereich gefunden. Mir ist das ganz recht. Da hat sie geregelte Arbeitszeiten und so gefährlich wie in unserem Job ist es auch nicht.“

„Das stimmt sicher. Und wenn sie so zufrieden ist, dann ist es doch gut.“

„Tja, also, wenn etwas ist, dann kannst du mich natürlich jederzeit anrufen.“ Guntram tippte auf sein Handy, das er gerade aus der Tasche gezogen hatte, weil es klingelte. Er sah aufs Display. „Das ist Katrin, da sollte ich wohl besser rangehen. Vielleicht soll ich noch etwas einkaufen für den Urlaub, morgen soll es ja losgehen.“

Gut gelaunt nahm er das Gespräch an. Nach einer kurzen Begrüßung verging ihm allerdings das Lachen und sein Gesicht verdunkelte sich.

„Ich bin in zehn Minuten da“, sagte er und beendete das Gespräch und sprang förmlich vom Stuhl hoch.

„Ist etwas passiert?“, fragte Sanders erschrocken.

„Tina“, stieß Guntram aus, „sie liegt im Krankenhaus. Ich muss sofort los.“ Ohne noch etwas Weiteres zu erklären, stürmte er zur Tür, die dann krachend hinter ihm wieder ins Schloss fiel.

Guntram hatte eine rote Ampel beim Südring überfahren und war überhaupt mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen, so dass er mit seinen zehn Minuten, wie er Katrin am Telefon versprochen hatte, gar nicht so falsch lag. Mit quietschenden Reifen fuhr er auf die Auffahrt seines Hauses an der 3. Südwieke in Rhauderfehn, riss die Fahrertür auf und sprang aus dem Wagen. Die Fahrertür stand noch offen, als er ins Haus rannte.

Katrin stand mit gequältem Gesicht in der Küche. Als ihr Mann hereinkam, fielen sie sich in die Arme.

„Die Kinder schlafen“, sagte Katrin, „zum Glück.“

Sie lösten sich wieder voneinander.

„Du weißt, dass ich jetzt direkt nach Münster fahren muss“, sagte Guntram, „ich muss wissen, was mit Tina ist.“

„Das verstehe ich“, antwortete Katrin, „soll ich dir noch etwas für unterwegs zum Essen einpacken.“

„Das ist lieb, aber ich denke nicht, dass ich etwas herunterkriege. Sag mal, wer hat eigentlich hier angerufen? War es das Krankenhaus?“

„Ihr Freund“, sagte Katrin, „ich wusste zunächst auch nicht, wer da am Apparat war. Er heißt Michael Grebe, wenn ich es richtig verstanden habe. Er war auch ziemlich durch den Wind.“

„Okay“, sagte Guntram, nachdem ihm Katrin den Namen der Klinik genannt hatte, wo man Tina versorgte, „ich fahr jetzt direkt los.“

Katrin nickte. Sie wusste, wie es in ihm aussah. Wenn es um seine Kinder ging, dann sah er rot.

„Fahr vorsichtig“, sagte sie noch, als er schon auf dem Weg zur Tür war, nachdem sie sich noch einmal in den Arm genommen hatten. Vielleicht hatte er es auch gar nicht mehr gehört.

Der Schock

Britta Bruck wunderte sich um die Mittagszeit herum das erste Mal, dass ihr Sohn Johannes noch nicht zuhause war. Am gestrigen Abend hatte er bei seinem Schulfreund übernachtet. Aber in der Regel war er dann am nächsten Tag spätestens zum Essen wieder zurück, wenn er Schulschluss hatte. Und heute war Dienstag, also hatte er schon um halb eins frei gehabt.

Sie ging davon aus, dass er sich noch mit anderen Schülern verquatscht hatte und gleich kommen würde. Sie wusch sich die Hände in der Spüle nach dem Kartoffelschälen ab und dann setzte sie den Topf auf den Herd. Das Gemüse schmorte vor sich hin und es gab auch Frikadellen dazu. Auch die waren bereits in der Pfanne. Das war immer der Moment, wo Britta Bruck sich die Zeit nahm, um ein wenig in ihrer Frauenzeitschrift zu blättern. Es lohnte sich nicht, für die nächste halbe Stunde noch mit einer anderen Hausarbeit zu beginnen. Schließlich musste sie ja auch auf das Gemüse und die Frikadellen achten. Und die Kartoffeln, bis sie hochgekocht waren.

Also setzte sie sich an den Küchentisch und blätterte in ihrer Zeitschrift herum. Sie fand es immer wieder spannend, neue Gerichte auszuprobieren. Und jetzt las sie ein Rezept, bei dem Blumenkohl eine große Rolle spielte. Aber nicht so, wie man ihn gemeinhin als Beilage für das Sonntagsessen kannte. Interessiert las Britta sich das Gericht durch und machte sich gedanklich schon ein paar Notizen für ihren nächsten Einkaufszettel. Da kochte das Wasser mit den Kartoffeln über, weil sie diese ganz vergessen hatte. Schnell sprang sie hoch, ging zum Herd und hob den Deckel kurz an. Dann stellte sie den Ofen herunter und setzte sich wieder an den Küchentisch, nachdem sie die Zeitschaltuhr auf zwanzig Minuten gestellt hatte.

Ihr Blick wanderte zur Küchenuhr. Also, dachte sie, jetzt könnte Johannes aber wirklich mal nach Hause kommen. Gleich ist das Essen fertig. Und sie wusste, dass Oliver, ihr Mann, es gar nicht mochte, wenn der Sohn erschien, wenn sie mit dem Essen bereits angefangen hatten.

Sie legte die Zeitschrift beiseite, weil sie jetzt, wo sie ein wenig verärgert war, den Spaß am Blumenkohl verloren hatte. Stattdessen ging sie nun zur Spülmaschine, die eben durch ein Piepen signalisiert hatte, dass der Waschgang beendet war. Also räumte sie das saubere Geschirr in die Schränke. Dann war das wenigstens schon mal erledigt.

Bald darauf hörte sie die Tür im Flur. Na endlich, dachte sie, weil sie davon ausging, dass es Johannes war. Doch dann war es ihr Mann Oliver, der den Kopf kurz in die Küche steckte.

„Du bist schon da?“, fragte Britta.

„Ja, ein Kundengespräch ist auf den Nachmittag verschoben worden. Ich mache mich kurz frisch.“

„Ist gut, wir können auch gleich essen.“

Wieder sah Britta zur Küchenuhr. So ein Verhalten passte eigentlich gar nicht zu Johannes. Und sie wusste genau, welches Gespräch sie und Oliver am Tisch ohne ihren Sohn wieder führen würden. Die Zeitschaltuhr am Ofen piepte, die Kartoffeln mussten jetzt gar sein. Es hilft ja nichts, dachte Britta und sie griff zum Geschirrtuch, um sie abzugießen. Dann stellte sie alles auf den Tisch.

Im nächsten Moment kam auch Oliver ins Esszimmer, der seinen Anzug wie immer für die Mittagspause in legere Kleidung getauscht hatte.

„Ist Johannes noch nicht zurück?“, fragte er, als er auf den leeren Stuhl seines Sohnes sah, bevor er sich an den Tisch setzte.

„Nein, bisher nicht“, antwortete Britta und sie setzte sich ebenfalls.

„Aber er wollte doch nur für eine Nacht bei seinem Schulfreund bleiben, oder?“

„Ja, das stimmt. Sicher kommt er gleich ...“.

Britta sah verstohlen auf das Gedeck für Johannes. Sie hätte in diesem Moment nicht sagen können, warum, aber in diesem Augenblick machte sie sich das erste Mal irgendwie Sorgen um ihren Sohn. Er war sonst immer so zuverlässig. Hoffentlich war ihm nichts passiert. Doch Oliver gegenüber äußerte sie ihre Bedenken nicht.

„Na dann, guten Appetit“, sagte Oliver, der heute sichtlich gut gelaunt zu sein schien.

„Guten Appetit“, erwiderte Britta. „Wie war es denn so im Geschäft?“

Sie wusste, wie gerne Oliver über seine guten Geschäftsabschlüsse erzählte. Und heute war wieder so ein Tag, wo er zwei Neubauten an Land gezogen hatte. In aller Ausführlichkeit erzählte er seiner Frau beim Essen von den Standorten und dem Umfang der Investitionen, die er zunächst würde vorstrecken müssen. Für ihr Unternehmen sei das aber kein Problem, sie stünden wegen der rosigen Auftragslage so gut da wie nie.

Britta hörte geduldig zu und stimmte an den richtigen Stellen in seine Euphorie mit ein. Immer wieder sah sie verstohlen zur Küchenuhr. Mittlerweile war es fast halb drei geworden. Als sie und Oliver mit dem Essen fertig waren, setzte sie einen Kaffee an, so, wie sie es immer tat. Ihr Mann ging bereits in den Wintergarten, wo er sich nach dem Essen gerne für einen Moment auf die Couch legte.

Britta räumte den Tisch ab, gab das benutzte Geschirr in die Spülmaschine und den unbenutzten Teller von Johannes stellte sie mit skeptischem Blick zurück in den Schrank. Er war ihr einziges Kind. Sie konnte ihm nie lange böse sein. Sie nahm sich vor, es gleich mal auf seinem Handy zu versuchen, wenn sie mit Oliver den Kaffee getrunken hatte und er sich danach wieder auf den Weg in die Firma gemacht hatte.

„Ich wünsche dir viel Erfolg bei dem Kundengespräch“, sagte Britta zu ihrem Mann, als dieser sich wieder seinen Anzug angezogen hatte, um in die Firma zu fahren.

„Danke, Liebes“, erwiderte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Wenn alles gut läuft, dann feiern wir später ein bisschen.“

„Ja, das machen wir“, bestätigte sie. Sie sah ihm nach, bis er im Wagen saß und losfuhr, bevor sie die Haustür wieder schloss.

Britta war zurück in den Wintergarten gegangen, wo ihr Handy lag. Nun nahm sie es an sich, um Johannes anzurufen. Er nahm nicht ab. Sie sprach ihm eine Nachricht auf die Mailbox, dass er sich doch bitte bei ihr melden möge, wenn er das abgehört hätte.

Versonnen sah sie in den Garten, das Handy hielt sie immer noch in der Hand. Es war so ein schöner sonniger Tag, dachte sie, als sie zum Pool blickte. Wir nutzen ihn eigentlich viel zu selten. Und erst da fiel ihr etwas auf. Es lag etwas auf einer der Sonnenliegen auf der Terrasse. Vielleicht ein Handtuch, das Johannes dort vergessen hatte, als er das letzte Mal den Pool benutzt hatte.

Sie stand auf und öffnete die Terrassentür, um nach draußen zu gehen und das Handtuch zu holen. Sie wollte heute sowieso noch die Waschmaschine anstellen.

Vom Nachbarhaus kam Musik. Das war bestimmt die Tochter, die ihre Anlage nach der Schule immer aufdrehte, um runterzukommen, wie sie sagte. Oliver ärgerte sich immer über den Lärm, wenn er zuhause war. Doch zum Glück war er ja schon wieder in die Firma gefahren.

Britta hatte den Liegestuhl erreicht. Es war tatsächlich ein Handtuch. Sie nahm es an sich, um damit wieder ins Haus zu gehen. Da fiel ihr noch etwas auf. Es war etwas im Wasser. Ganz unten am Boden. Die Sonne, die mit der Wasseroberfläche spielte, ließ es zu, dass sie trotzdem etwas sehen konnte. Nur genau erkennen konnte sie es nicht. Deshalb ging Britta nun ganz nah an die Kante des Pools heran. Im nächsten Moment wurde sie starr vor Schreck. Da unten war ein Mensch. Nun konnte sie es ganz deutlich sehen. Sie taumelte kurz zurück, ihre Knie sackten ihr weg. Das war Johannes. Sie hatte ihm schon so oft dabei zugesehen, wenn er im Pool trainierte. Sie kannte jede seiner Bewegungen im Wasser. Sie war so stolz auf ihn. Er war der beste Schwimmer der Mannschaft. Aber wieso saß er da unten am Grund des Pools und bewegte sich nicht. Ihr Hirn wollte es jetzt einfach noch nicht wahrhaben, was ihre Augen sahen. Johannes saß da unten und rührte sich nicht. Das Wasser um ihn herum war still. Ganz still.

Dann schrie Britta das erste Mal klagend auf, als hätte man ihr einen Arm ausgerissen. Sie stand nur da, sah nach unten in den Pool und schrie.

Nebenan ging die Musik aus. Jemand kam nach draußen gelaufen und rief nach Britta. Ob alles in Ordnung sei.

Britta schrie immer weiter.

Jemand kam jetzt herübergelaufen. Sah in den Pool. Und schrie jetzt auch auf.

Dann griffen Arme nach Britta, um sie vom Pool wegzuziehen.

Beide stolperten kurz, fingen sich aber wieder. Britta wimmerte nun in den Armen ihres Nachbarn. Die Tochter, die immer so laut Musik hörte, war in einiger Entfernung stehengeblieben, um erst einmal abzuwarten. Doch nun kam sie auch rüber auf das Grundstück.

„Du musst die Polizei rufen“, sagte ihr Vater, „und einen Notarzt. Ich kümmere mich um Britta.“

Das Mädchen verstand den Ernst der Lage, sah kurz zum Pool, drehte sich schnell wieder weg, weil sie es einfach nicht wahrhaben wollte. Dann sah sie wieder hin. Das war Johannes, da gab es keinen Zweifel. Schnell rannte sie zurück nach nebenan und griff zum Telefon.

Man hatte Britta ein Beruhigungsmittel gespritzt und sie saß teilnahmslos auf dem Sofa im Wintergarten und sah den anderen dabei zu, wie sie sich am Pool zu schaffen machten. Da waren viel zu viele Leute, dachte sie. Was machen die denn da alle. Johannes ist doch tot. Niemand kann ihn mehr retten. Dass das Nachbarmädchen neben ihr saß, um auf sie acht zu geben, worum ihr Vater sie gebeten hatte, das bekam Britta gar nicht richtig mit.

Draußen liefen Männer in weißen Anzügen, andere in normaler Straßenkleidung. Jemand trug sogar einen Taucheranzug und ging nun ins Wasser, tauchte unter. Dann kurz darauf kam er wieder nach oben, trug etwas mit sich. Einen Menschen. Johannes. Die, die draußen standen, sahen betreten dabei zu, wie man den Jungen auf den Rasen legte.

Das ist nicht echt, dachte Britta, als sie den leblosen Körper sah, um den jetzt alle herumstanden. Das ist nur ein schlechter Film, den ich sehe. Bestimmt kommt Johannes gleich nach Hause und dann werden alle erkennen, dass sie sich gewaltig geirrt haben.

Doch Johannes kam nicht mehr zurück.

Es kam ein weiterer Mann über den Rasen gelaufen.

„He, Mathias“, sagte Piepwitz zu Mathias Sanders, „schön, dass du wieder da bist.“

Die beiden gaben sich kurz die Hand.

„Dank“, sagte Sanders, „ich bin auch froh, wieder in Leer zu sein.“

Dann begann die Arbeit für Piepwitz. Er streifte sich seine Handschuhe über und nahm den Leichnam des Jungen in Augenschein.

„Keine äußeren Verletzungen“, stellte er dann nach einer kurzen Weile fest. „Vermutlich ist er ertrunken. Aber weshalb trug er die Gewichte um seine Hüften?“

„Das machen Sportler so“, erklärte Mathias Sanders, „um zu trainieren, wie lange sie unter Wasser bleiben können.“

„Aha“, machte Piepwitz, „dann hat er es wohl nicht mehr geschafft, die Dinger zu öffnen.“

„Sieht so aus“, meinte Sanders, „aber warum nicht? Ob er es einfach übertrieben hat und bewusstlos geworden ist?“

„Das wäre denkbar“, erwiderte Piepwitz, „junge Menschen reizen gerne alles bis an die Grenzen aus.“

„Und wenn es Absicht war?“, schob Sanders nach.

„Du meinst, er wollte sich umbringen“, erwiderte Piepwitz. „Hm, dann hat er einen ziemlich makabren Humor gehabt, wenn du mich fragst. Es war ja klar, das ihn seine Eltern hier finden werden.“

„Die Mutter sitzt im Wintergarten und ist fix und fertig“, sagte Sanders. „Vermutlich kann ich sie erst morgen befragen.“

„Mein Gott“, machte Piepwitz, „so schlimm können Probleme doch gar nicht sein, dass sich junge Menschen deshalb das Leben nehmen. Aber wo ist eigentlich Guntram?“

„Der hat Urlaub. Beziehungsweise, der ist wohl heute ins Wasser gefallen. Er hat einen Anruf erhalten, dass Tina im Krankenhaus liegt. Er ist sofort los nach Münster gefahren.“

„Tina? Was ist denn passiert?“

„Das weiß ich im Moment leider auch nicht“, sagte Sanders, „ging alles ziemlich schnell vorhin.“

„Okay. Naja, dann werde ich den Jungen mal in Oldenburg näher unter die Lupe nehmen“, meinte Piepwitz und gab den Kollegen ein Zeichen, dass man die Leiche nun abtransportieren könnte. Desto eher, desto besser, dachte er mit Blick zum Wintergarten.

Die Spurensicherung war noch im Garten beschäftigt und Mathias Sanders entschied sich dann doch dafür, jetzt gleich mit der Mutter zu sprechen. Deshalb lief er über das Grundstück hin zum Wintergarten, wo die Terrassentür noch offenstand.

„Sanders, Polizei Leer“, stellte er sich vor.

Der Blick von Britta Bruck blieb leer. Das junge Mädchen sah ihn aus verweinten Augen an.

„Wenn es möglich ist, dann möchte ich Ihrer Mutter gerne ein paar Fragen stellen“, sagte Sanders.

„Oh“, sagte das Mädchen, „das ist nicht meine Mutter, ich wohne nebenan. Ich habe mich nur um Britta gekümmert, weil ... ist das wirklich Johannes?“ Sie sah zum Pool.

„Davon gehen wir im Moment aus“, erwiderte Sanders. Dann wandte er sich Britta zu.

„Frau Bruck, hören Sie mich?“

Keine Reaktion.

„Man hat ihr etwas zur Beruhigung gegeben“, erklärte das Mädchen.

„Verstehe“, sagte Sanders. „Und hast du etwas gesehen?“

Sie schüttelte mit dem Kopf.

„Ich war auf meinem Zimmer und habe Musik gehört. Und dann habe ich jemanden schreien hören. Als ich zum Fenster ging, da sah ich Frau Bruck am Pool stehen. Sie hat geschrien.“

„Und was geschah dann?“

„Mein Vater lief in den Garten, er musste das Schreien auch gehört haben. Er lief zu Frau Bruck herüber. Ich bin dann auch nach unten gegangen, um zu sehen, ob ich helfen kann.“

„Okay“, sagte Sanders, „aber vorher ist dir also nichts Ungewöhnliches beim Pool hier aufgefallen? Vielleicht gestern Abend oder so?“

Sie dachte kurz nach, dann schüttelte sie mit dem Kopf.

Ein Geräusch auf dem Flur. Beide sahen jetzt zur Tür. Ein Mann kam herein.

„Wo ist meine Frau?“, fragte er und ging aufgeregt zum Sofa, wo er Britta sitzen sah. Er griff nach ihrer Schulter. Sie schrie auf.

„Oliver“, klagte sie, „endlich bist du da.“

Es war das erste Mal, dass sie wirklich wach erschien.

„Herr Bruck?“, fragte Sanders an den Mann gewandt, der ihn jetzt ansah. „Mein Name ist Sanders, ich bin von der Polizei in Leer.“

„Wo ist Johannes?“, fragte Oliver Bruck, ohne auf die Frage von Sanders einzugehen.

„Wer hat sie informiert?“, fragte Sanders.

„Der Nachbar hat mich angerufen“, erwiderte Bruck. „Was ist hier passiert?“ Er tätschelte immer noch Brittas Schulter.

„Im Moment können wir es noch nicht genau sagen“, erwiderte Sanders. „Man hat Ihren Sohn leblos im Pool gefunden. So wie es im Moment aussieht, scheint er ertrunken zu sein.“

Oliver Brucks Blick ging nach draußen. Dorthin, wo die Polizei ihre Arbeit machte. Er ging nun weiter ans Fenster.

„Ist er das, da unter dem weißen Laken?“, fragte er.

„Ja“, sagte Sanders, „wären Sie in der Lage, Ihren Sohn zu identifizieren?“

„Natürlich“, erwiderte Oliver Bruck und er ging zur Terrassentür hinaus.

Mathias Sanders folgte ihm.

„Er ist der Vater“, sagte Sanders zu Piepwitz, der bereits seine Sache zusammenpackte.

„Verstehe“, entgegnete Piepwitz. Er beugte sich herunter und legte das Gesicht des toten Jungen frei.

Stumm stand Oliver Bruck in der Nachmittagssonne und sah auf den Leichnam seines Sohnes herab. Er war gefasst und hatte die Hände ineinander gefaltet.

„Das ist Johannes“, sagte er nun. Dann wandte er sich direkt zu Sanders um. „Ertrunken, sagen Sie?“

„Das können wir noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen“, entgegnete Sanders, „Ihr Sohn wird noch in der Gerichtsmedizin untersucht werden.“

„Er kann nicht ertrunken sein“, sagte Oliver Bruck, „er war ein ausgezeichneter Schwimmer und in der Leistungsmannschaft des Schwimmbads hier in Leer. Er hat zig Pokale für sein Team geholt. Erzählen Sie mir nicht, dass mein Sohn ertrunken ist.“

„Er trug Gewichte um seine Hüften, als wir ihn aus dem Wasser geholt haben“, fuhr Sanders fort.

„Ja, so hat er immer trainiert um auszutesten, wie lange er es unter Wasser aushält“, bestätigte Bruck.

„Vielleicht ist er bewusstlos geworden und hat es dann nicht mehr geschafft, die Gewichte zu lösen“, meinte Sanders.

„Aber warum war er überhaupt hier?“, sagte Bruck, „er ist doch gestern Abend zu seinem Schulfreund gegangen, um dort zu übernachten. Ich verstehe gar nicht, warum er im Pool war.“

„Wie heißt der Schulfreund?“, fragte Sanders, „wir werden ihn natürlich befragen müssen.“

„Christian Müller“, antwortete Bruck, „er wohnt in der Beethovenstraße hier in leer. Ich denke, es ist die Hausnummer 19 aber genau weiß ich das nicht.“

„Das finden wir heraus“, sagte Sanders. „Wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?“

„Gestern Mittag beim Essen“, kam es prompt von Bruck. „Da hat er gesagt, dass er die Nacht über bei Christian bleiben wird. Deshalb verstehe ich ja auch nicht, warum er jetzt ...“. Seine Stimme versagte für einen Moment und er schien die Kraft zu verlieren, sich noch weiter gegen die aufkommende Trauer zu wehren.

„Lassen Sie uns wieder reingehen“, schlug Sanders vor.

Bruck nickte und so gingen sie nebeneinander her zurück in den Wintergarten.

„Kann ich jetzt gehen?“, fragte das Nachbarmädchen.

„Ja, natürlich“, antwortete Oliver Bruck, „ich werde mich jetzt um Britta kümmern. Vielen dank, dass du hier warst.“

Das Mädchen lächelte kurz, dann verließ sie den Wintergarten durch die Terrassentür und lief über den Rasen wieder nach nebenan zurück.

Oliver Bruck setzte sich zu seiner Frau aufs Sofa und sie lagen sich schluchzend in den Armen.

Draußen wurde Johannes in einen Zinksarg gelegt, damit man ihn in die Gerichtsmedizin überführen konnte.

„Ich würde mir gerne das Zimmer von Johannes ansehen“, sagte Sanders, Oliver Bruck sah auf.

„Es ist das Zimmer gleich oben auf der linken Seite.“

Mathias Sanders ging auf den Flur und dann die Treppe nach oben.

Das Zimmer von Johannes war in Meeresblau gestrichen und überall an den Wänden hingen Fotos, die ihn beim Schwimmen zeigten oder wie er mit seiner Mannschaft einen Pokalsieg feierte. Er schien wirklich für das Hobby gelebt zu haben. Und warum sollte ausgerechnet jemand, der im Wasser zuhause zu sein schien, im hauseigenen Pool ertrinken, fragte sich Sanders, als er die Bilder auf sich wirken ließ. Er hatte es bisher vermieden, das Wort Selbstmord gegenüber den Eltern zu erwähnen. Doch auch das war eine mögliche Ursache dafür, dass Johannes nun tot war.

Tina

Guntram hatte seinen Wagen über die Autobahn gepeitscht ohne Rücksicht auf Verluste. Und nun stürmte er in die Klinik, sah sich kurz um, bis er die Anmeldung entdeckte und ging dort mit schnellen Schritten hinüber.

„Jochen Guntram“, sagte er außer Atem, „meine Tochter Tina liegt hier. Sie wurde überfallen. Ich muss sofort zu ihr.“

„Moment“, sagte die Angestellte und blickte auf ihren Bildschirm. „Sie wurde heute eingeliefert, richtig?“

„Ja“, brummte Guntram. Er lehnte sich auf den Tresen. Am liebsten hätte er selber nachgesehen, wo er Tina fand.

„Und Sie sind der Vater, sagen Sie?“ Sie blickte ihn mit großen blauen Augen an.

„Ja, verdammt nochmal. Ich will jetzt sofort wissen, wo meine Tochter ist, sonst ...“. Sein Gesicht lief rot an.

„Sorry, aber ich muss das fragen“, entschuldigte sich die Angestellte, die nun keinen Zweifel mehr hatte, hier einen kurz vor dem Durchdrehen befindlichen besorgten Vater vor sich zu haben. Er wirkte fix und fertig. „Sie ist auf Station drei“, sagte sie, „im Moment ist sie aber im OP, so dass Sie nicht zu ihr können. Sie finden die Station, wenn Sie sich hier unten links halten und den Fahrstuhl nehmen.“

„Danke“, sagte Guntram und er marschierte auch schon los.

Es dauerte ihm zu lange, bis der Fahrstuhl kam, also ging er über die Treppen nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Dann riss er eine Tür auf, die zu Station drei führte. Suchend sah er sich um. Da war ein Wartebereich, der bis auf einen jungen Mann ganz leer war. Guntram steuerte auf ihn zu.

„Sind Sie wegen Tina Guntram hier?“, fragte er.

Der junge Mann sah ihn verdutzt an. Dann wurde ihm klar, wer da vor ihm stand.

„Sind Sie Tinas Vater?“

„Richtig“, antwortete Guntram. Er ließ sich auf einen Besucherstuhl sinken und legte die Hände auf die Oberschenkel. „Wie geht es Tina?“

„Das weiß ich leider nicht“, antwortete er mit einem Bedauern, „ich heiße übrigens Sascha.“

„Hm“, machte Guntram, „Sie sind also Tinas Freund?“

„Ja, das stimmt.“

„Was genau ist eigentlich passiert? Meine Frau sagte mir, dass Tina überfallen worden ist. Haben Sie bei uns angerufen?“

Sascha nickte. „Da Sie uns ja morgen besuchen kommen wollten, dachte ich, Sie sollten Bescheid wissen.“

„Wir müssen in jedem Fall Bescheid wissen“, knurrte Guntram. Er hätte nicht sagen können warum, aber er mochte Sascha irgendwie nicht.

„Ja, natürlich“, gab Sascha zu.

„Was ist denn jetzt genau passiert?“, wiederholte Guntram, dem das Warten noch nie gelegen hatte.

„Das weiß ich nicht genau“, sagte Sascha, „Tina war gestern Abend mit ein paar Freundinnen aus.“

„Und weiter?“ Muss man dem denn alles aus der Nase ziehen, ärgerte sich Guntram.

„Sie kam nicht nach Hause“, fuhr Sascha fort.

„Aha“, machte Guntram etwas zu laut, so dass seine Stimme den großen Raum erfüllte, „und da hast du dir keine Sorgen gemacht?“

„Doch, natürlich. Ich habe bei ihr angerufen, aber es nahm niemand ab.“

„Okay, ist ja auch völlig natürlich, dass du dich dann einfach schlafen gelegt hast, oder wie?“

„Was hätte ich denn machen sollen?“

„Na, vielleicht nach deiner Freundin suchen“, schlug Guntram mit einem höhnischen Lachen vor, „oder macht man das heutzutage nicht mehr so.“

„Sicher. Aber Sie sollten wissen, dass es nicht das erste Mal gewesen wäre, dass Tina bei einer Freundin bleibt, wenn es später geworden ist. Deshalb habe ich gedacht, dass das schon in Ordnung ist.“

„Wie? Sie ist öfter weggeblieben? Und dann hat sie nicht mal angerufen?“

Sascha fühlte sich in die Enge getrieben. Der Mann vor ihm war mindestens anderthalb Köpfe größer als er und er flößte ihm mit seiner Art, wie er die Fragen stellte, Angst ein.

„Nicht immer“, sagte Sascha.

Guntram stand schon wieder der Schaum vorm Mund, doch er konnte sich gerade noch beherrschen, weil er eine Schwester über den Flur laufen sah.

„Ich weiß jetzt aber immer noch nicht, was eigentlich passiert ist“, presste er zwischen den Zähnen hervor und schenkte der jungen Frau dabei ein kurzes Lächeln, als sie auf ihrer Höhe ankam und stehenblieb.

„Sie sind die Angehörigen von Tina Guntram?“, fragte sie.

Sascha nickte und Guntram sagte:

„Ich bin ihr Vater. Das ist nur ihr Freund.“

Die Schwester sah fragend von einem zum anderen. Es war klar, dass sie die miese Stimmung, die zwischen den beiden Männern herrschte, spürte.

„Tina wird noch operiert, aber ich soll von ihrem Arzt ausrichten, dass sie über den Berg ist. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie können sicher bald zu ihr, Herr Guntram.“

„Danke“, erwiderte er und sackte wie ein Häufchen Elend in sich zusammen. Er war den Tränen nahe. War das nicht alles, was zählte, dass es seinem kleinen Mädchen gutging. „Ich werde hier warten, bis ich zu ihr kann.“

„Natürlich“, sagte die Schwester, „sobald Tina stabil ist, werde ich Ihnen Bescheid sagen.“ Sie ging wieder davon.

Guntram vergrub sein Gesicht in den Händen und wischte ein paar Tränen weg. Plötzlich tat es ihm leid, dass er so unfreundlich zu Sascha gewesen war.

„Du kannst natürlich mitkommen“, sagte er zu dem jungen Mann.

„Danke“, erwiderte Sascha. „Und was genau passiert ist, das weiß ich wirklich nicht. Ein Spaziergänger hat sie im Dickicht im Park gefunden.“

„Mein Gott, sie wurde überfallen“, raunte Guntram. Das konnte er immer noch nicht ganz fassen.

Bevor Sascha etwas dazu sagen konnte, kamen harte Schritte über den Flur, die auf sie zusteuerten. Beide sahen in die Richtung, eine Frau in schwarzer Lederjacke kam um die Ecke und sah sie an.

„Sie sind der Vater vom Opfer, nehme ich an“, sagte sie, als sie die beiden Männer erreicht hatte.

„Und Sie sind?“, raunte Guntram.

„Mein Name ist Doro Sommer, ich ermittle in dem Überfall auf Ihre Tochter.“

„Oh“, sagte Guntram, „dann sind wir wohl Kollegen. Ich bin Polizist in Leer. Was wissen Sie denn bisher?“

„Nicht sehr viel“, gab sie zu, „wir haben bisher nur die Aussage der Zeugin, die Ihre Tochter gefunden hat. Das war am späten Vormittag, als sie ihren Hund ausführte. Er muss die Witterung aufgenommen haben. Er hat die Frau direkt zu Ihrer Tochter geführt. Ich hatte gehofft, dass ich ihr jetzt ein paar Fragen stellen könnte wegen des Überfalls. Soweit wir wissen, wurde sie geschlagen.“

Guntram zuckte zurück.

„Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss“, sagte Doro Sommer.

„Schon gut“, sagte Guntram, „ich bin ja auch daran interessiert, dass die Sache aufgeklärt wird.“

Doro Sommer setzte sich auf einen Stuhl gegenüber und schlug die Beine übereinander.

„Wir wissen noch nicht, ob es sich um einen Raubüberfall handelt, doch wir gehen davon aus. Sie hatte keine Tasche oder Ausweispapiere bei sich. Auch kein Handy. Als man sie fand, war sie bewusstlos.“

„Dann ist der Täter sehr brutal gewesen“, sagte Guntram, „es ging ihm nicht nur um ein paar Wertsachen.“

„Vielleicht hat der Angreifer Ihre Tochter gekannt“, schlug Doro Sommer vor, „wissen Sie, ob Tina Feinde hatte?“

Guntram sah zu Sascha.

„Ich weiß es nicht“, stotterte der junge Mann. Doch er ahnte im selben Moment, warum Guntram ihn derart feindselig ansah. „Sie denken doch nicht etwa, dass ich etwas damit zu tun habe“, stieß er aus, „warum sollte ich Tina so etwas antun?“

„Sag du es mir“, raunte Guntram.

„Sie sind der Ehemann von Tina?“, wandte sich Doro Sommer nun an Sascha.

„Ich bin ihr Freund“, antwortete er, „aber wir wollen heiraten.“

„Pah“, stieß Guntram aus. „Das werden wir ja noch sehen. Ein Mann, der sich einen Dreck darum schert, wenn die Freundin nicht nach Hause kommt und der sich selig schlafen legt.“

„Das hilft uns hier im Moment wirklich nicht weiter, Herr Guntram“, mischte sich Doro Sommer ein.

„Ja, entschuldigen Sie“, erwiderte Guntram, „aber es wundert mich schon, dass dieser junge Mann hier keinen Finger krumm gemacht hat, als seine Freundin gestern Abend nicht nach Hause kam.“

Doro Sommer sah zu Sascha.

„Stimmt das?“, fragte sie.

„Ich habe eben schon mal gesagt, dass es nicht das erste Mal gewesen wäre, dass Tina nach einem Abend mit ihren Freundinnen nicht nach Hause kommt, wenn es spät geworden ist.“

„Okay“, sagte Doro Sommer, „aber dann, am heutigen Morgen, wäre es da nicht üblich gewesen, dass sie wenigstens dann nach Hause kommt.“

„Schon“, gab Sascha zu, „aber was hätte ich denn machen sollen. Ich habe ja bei ihr angerufen. Die Nummer der Freundinnen habe ich nicht. Da konnte ich doch nichts anderes machen als abwarten.“

Was für ein Weichei, dachte Guntram. Er würde jeden Zentimeter in Rhauderfehn umgraben, wenn Katrin nicht nach Hause käme. Hatte sich die Welt wirklich so verändert. War er zu alt, um zu verstehen, dass die jungen Menschen heutzutage einander völlig gleichgültig waren.

„Will noch jemand Kaffee?“, fragte Sascha, weil er einfach mal hier wegmusste.

Doro Sommer lehnte ab, Guntram nahm einen nur mit Zucker. Sascha ging auf den nächsten Flur, wo ein Automat stand.

„Sie mögen ihn wohl nicht sonderlich“, stellte Doro Sommer fest, als sie mit Guntram alleine war.

„Ich kenne ihn überhaupt nicht“, sagte Guntram, „ich sehe ihn heute zum ersten Mal.“

„Dann sehen Sie Ihre Tochter nicht so oft?“

„Nicht oft genug, denke ich. Aber Sie wissen ja, wie das in unserem Job ist. Außerdem habe ich eine Familie mit zwei kleinen Kindern.“

Das hätte Doro Sommer jetzt nicht vermutet bei seinem Anblick. Auf sie wirkte er fahrig und alt. Das konnte natürlich auch an der Sorge um seine Tochter liegen. Angst veränderte einen Menschen.

„Schon gut“, sagte sie, „mit Ihrer Familie haben Sie mir sogar einiges voraus. Ich bin Anfang vierzig und war noch nie verheiratet. Das ist der Job, da gebe ich Ihnen recht. Man bekommt den Kopf nie richtig frei.“

„Nein, das ist wohl so“, stimmte er zu. „Tina war auch bei der Polizei, aber das ist schon eine Weile her. Sie hat mit mir zusammen in Leer gearbeitet und wollte auch Kommissarin werden.“

„Aber?“

„Naja, während einer Fortbildung in Hannover hatte sie einen schweren Verkehrsunfall, den sie fast nicht überlebt hätte. Seitdem ist sie körperlich eingeschränkt und sie wollte nicht nur im Innendienst arbeiten. Deshalb hat sie einen ganz neuen Weg eingeschlagen, die soziale Schiene.“

„Das war sicher nicht leicht.“

Guntram zog die Schultern hoch. „Das Leben im Allgemeinen ist nicht leicht.“

„Wir werden denjenigen finden, der Ihrer Tochter das angetan hat“, sagte sie.

„Ganz sicher“, stimmte er zu.

Sascha kam mit dem Kaffee zurück und er reichte Guntram einen Becher.

„Danke“, sagte Guntram.

Sascha setzte sich wieder an seinen Platz. Es trat diese Stille ein, die einen zur Ruhe kommen ließ, damit man wieder ein wenig durchatmen konnte. Das Telefon von Doro Sommer klingelte und sie zog ihr Handy aus der Jackentasche.

„Da muss ich rangehen“, sagte sie und stand auf, um ein paar Schritte zu gehen, bevor sie annahm.

„Es tut mir leid, dass ich so ein Versager bin“, sagte Sascha, „ich hätte nach Tina suchen müssen.“

Ja, hättest du, dachte Guntram grimmig. Doch er verkniff sich einen entsprechenden Kommentar. Und er gab zu, dass er nichts über die Beziehung zwischen Tina und diesem komischen Vogel wusste. Und das nagte an ihm. Was wusste er eigentlich über sein Kind, sein kleines Mädchen. Wie oft hatten sie sich in den letzten Jahren gesehen. Immer wieder hatte er sich vorgenommen gehabt, mal nach Münster zu fahren. Und dann war sie es gewesen, die nach Rhauderfehn gekommen war, wenn es ihre Arbeit erlaubte.

„Wichtig ist doch, dass es ihr soweit gut geht“, sagte Guntram. „Alles andere wird sich finden.“

Doro Sommer war mit ihrem Gespräch fertig und kam zurück zu den beiden. Und hinter ihr tauchte ein Mann in Weiß auf.

Guntram sprang hoch, weil er wusste, dass es nur der behandelnde Arzt sein konnte.

„Wie geht es meiner Tochter, Doktor?“

Der Mediziner blieb vor den dreien stehen und faltete die Hände vor dem Bauch.

„Tina ist tapfer und sie hat das Schlimmste jetzt überstanden“, sagte er, „wir verlegen sie gerade auf ein Zimmer, so dass sie bald zu ihr können.“

„Gott sei Dank“, stieß Guntram aus und schon wieder kamen ihm Tränen hoch.

„Das Kind hat sie leider verloren, das tut mir sehr leid“, sagte der Arzt.

Guntram machte große Augen.

„Tina war schwanger?“, fragte er ungläubig. Davon hatte er bisher nichts gehört. Sein Blick wanderte zu Sascha, so, als dächte er, das kann doch nicht sein, dass der ein Kind gezeugt hat.

„Wir wollten es euch an diesem Wochenende sagen“, sagte Sascha, dem sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. „Es sollte eine Überraschung werden.“

Der Arzt verstand, dass hier noch einige offene Fragen im Raum standen. Er versprach, dass gleich eine Schwester Bescheid sagen würde, sobald man Tina auf ihrem Zimmer besuchen konnte. Dann entfernte er sich wieder von der Gruppe.

Guntram setzte sich wieder hin und auch Sascha ging auf seinen Platz zurück. Doro Sommer stand unentschlossen da und sah zu Guntram.

„Sie können ruhig gehen“, sagte er, weil er ihre unausgesprochene Frage verstand. „Ich weiß ja, was ich meine Tochter gleich fragen muss.“

„Okay“, sagte sie erleichtert, „ich hätte da noch etwas anderes zu erledigen. In etwa einer Stunde könnte ich zurück sein.“

Guntram nickte zur Bestätigung. Dann ging sie davon.

Nun saßen die beiden Männer, Vater und Freund, schweigend nebeneinander. Es schien so, als gebe es nichts mehr, was sie sich zu sagen hätten. Guntram wurmte es, dass er so sauer auf den jungen Mann war, der ihm im Grunde genommen doch gar nichts getan hatte. Lag es vielleicht daran, dass er sich seine Tochter genommen hatte, ohne ihn zu fragen. Er wusste ja auch nicht, was für eine Art Mann er sich für seine Tochter gewünscht hatte. Aber auf jeden Fall keinen, der seelenruhig schlief, während seine Freundin draußen verprügelt wurde. So handelte man als Mann nach seiner Ansicht einfach nicht. Doch er wusste auch, dass er sich zusammenreißen musste, um Tinas Willen. Sie sah offenbar etwas in Sascha, dass Guntram völlig fremd blieb. Irgendwann senkte Guntram sein Kinn zur Brust und schloss die Augen. Er war soweit zur Ruhe gekommen, dass er kurz vorm Einnicken war, als endlich eine Schwester kam und ihnen sagte, dass sie nun auf Tinas Zimmer gehen könnten. Aber höchstens zehn Minuten, mahnte sie, als sie vorausging, um sie dorthin zu führen.

Guntram hielt den Atem an, als die Schwester dann die Tür zu Tinas Krankenzimmer aufschob. Er war auf alles gefasst, doch das, was er dann erblickte, ließ ihn doch für einen Augenblick taumeln. Tinas ganzer Kopf war bandagiert und auch ihre linke Hand bis zum Ellenbogen hinauf. Ihr Gesicht war blass und sie hatte die Augen geschlossen.

„Tina“, stieß er aus und eilte zu ihrem Bett.

Da schlug sie die Augen auf.

„Papa“, flüsterte sie.

Guntram konnte nicht mehr dagegen ankämpfen, es rannen Tränen über sein Gesicht, als er nach ihrer rechten Hand griff und diese ganz fest in seine nahm.

„Was hat man dir nur angetan“, raunte er, „mein kleines Mädchen, es tut mir so leid, dass ich dir nicht helfen konnte.“

Sascha stand betreten wirkend am Bettende und sagte nichts. Er war sich nicht sicher, ob Tina ihn überhaupt sehen konnte aus ihrer Perspektive.

„Papa“, sagte Tina wieder, „du musst nicht weinen. Mir geht es bald wieder gut.“

Guntram wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht.

„Weißt du noch, was gestern passiert ist?“, fragte er nun nüchterner klingend, „wir werden denjenigen finden, der dir das angetan hat.“

Tina zog die Stirn hoch, sie sah ihrem Vater in die Augen.

„Ich weiß nicht“, sagte sie mit blasser Stimme, „ich war mit meinen Freundinnen unterwegs. Und dann ...“. Sie brach ab.

„Schon gut“, sagte Guntram und tätschelte ihre Hand, „du kannst dir ruhig Zeit lassen. Wichtig ist im Moment, dass du dich ausruhst und wieder ganz gesund wirst.“

„Ich wollte nach Hause gehen“, fuhr Tina jetzt beherzt fort, „wir hatten uns zusammen ein Taxi genommen, um Geld zu sparen und ich wurde als Vorletzte abgesetzt in der Nähe meiner Wohnung. Das letzte Stück ging ich zu Fuß durch den Park. Es war alles ruhig, doch plötzlich hat mich jemand von hinten gepackt und zu Boden gerissen.“ Sie stoppte und sah zum Fenster. „Ich konnte mich nicht gegen ihn wehren, er war sehr stark. Ich habe gefragt, was er will und ich hatte Angst, dass er mich ...“.

Guntram wusste, was sie sagen wollte, aber nicht aussprechen konnte.

„Schon gut“, sagte er, „der Angreifer hat dein Handy und deine Tasche mitgenommen. Also hatte er es wohl auf Wertsachen abgesehen. Er war also groß und stark, sagst du?“

„Ja.“ Tina sah ihren Vater nun wieder an. „Es ging alles ganz schnell, er hat mich getreten und geschlagen, aber warum, ich hätte ihm das Handy und das bisschen Geld, was ich bei mir hatte, doch freiwillig gegeben.“

„Ich weiß, mein Schatz.“ Guntram strich ihr nun über die Stirn.

Es klopfte an die Tür. Doro Sommer steckte ihren Kopf herein.

„Kommen Sie“, sagte Guntram, „für ein paar Fragen ist sicher noch Zeit. Aber gleich muss sich meine Tochter ausruhen.“

„Natürlich“, sagte Doro Sommer und kam zum Krankenbett. Sie stellte ähnliche Fragen wie Guntram eben und Tina beantwortete alles noch einmal. „Ich warte auf dem Flur“, sagte Doro Sommer, als sie fertig war.

„Sascha“, sagte Tina, die ihn erst jetzt entdeckt zu haben schien.

Der junge Mann kam um das Bett herum und beugte sich zu Tina herunter.

„Es tut mir so leid“, jammerte er und küsste sie auf die Stirn, „ich hätte bei dir sein sollen.“

Tina sagte dazu nichts, sondern legte nur ihren gesunden Arm um ihn. Ja, genauso hatte Guntram sich die Beziehung vorgestellt. Er war ein Weichei und Tina musste ihn selbst schwerverletzt noch trösten.

Dienststelle Leer

Als Sanders wieder in der Dienststelle eintraf, wurde er von Katrin überrascht. Er hatte sie zunächst gar nicht am Schreibtisch von Guntram sitzen sehen.

„He, Katrin“, sagte er.

„Hallo, Mathias“, entgegnete Katrin und ging ihm entgegen und sie umarmten sich kurz. „Schön, dass du wieder da bist.“

„Danke, das tut wirklich gut zu hören“, sagte Sanders, „und es gibt eine neue Sache, an der ich jetzt arbeite. Es wurde ein Schüler tot in dem Pool der Eltern aufgefunden. Ich komme gerade daher.“ Er schilderte ihr die Gesamtsituation.

„Hört sich tatsächlich nach Selbstmord an“, meinte Katrin nachdenklich. „Ein so guter Schwimmer wird nicht plötzlich ohnmächtig und schafft es nicht mehr nach oben. Es sei denn, er hätte einen starken Herzfehler. Aber dann wäre er nicht so ein guter Schwimmer.“

„Genau, das denke ich auch. Den Eltern gegenüber habe ich mich mit dieser Theorie allerdings noch etwas zurückgehalten, ich warte lieber die Obduktion von Piepwitz ab. Gibt es einen besonderen Grund, dass du hier bist?“

„Ich wollte nur mal hallo sagen“, erwiderte Katrin gut gelaunt. „Und Jochen hat angerufen. Tina geht es soweit ganz gut, allerdings wurde sie bei einem Überfall im Park auf dem Nachhauseweg angegriffen und übel zugerichtet.“

„Dann bleibt er sicher noch eine Weile in Münster.“

„Kann sein. Aber wie wir ihn kennen, wird er nicht lockerlassen, bis er den Kerl geschnappt hat.“

„Wahrscheinlich bringt er ihn um“, frotzelte Sanders.

„Davon gehe ich auch aus. Aber ich würde ihn verstehen, wenn es um das eigene Kind geht. Hast du auch Kinder?“

„Ja, aber ich sehe sie nicht oft. Bin geschieden.“

„Tut mir leid.“

„Tja, so ist das wohl, wenn man Polizist ist. Sag mal, soll ich uns einen Kaffee holen?“

Katrin sah auf ihre Uhr. „Hm, klingt verlockend, aber danke, ich fahre lieber wieder zurück, Sarah kommt bald aus der Schule. Ein Kindermädchen passt auf Hendrik auf, die möchte ich auch nicht überstrapazieren. Im Moment nimmt er wirklich alles auseinander, was er in die Finger bekommt.“ Sie rollte mit den Augen.

„Verstehe ich. He, ich freue mich wirklich für dich und Jochen, dass ihr doch noch die Kurve gekriegt habt. Ihr seid ein tolles Paar.“

„Danke“, sagte Katrin und erhob sich. „Du kannst gerne mal bei uns zuhause auf einen Kaffee vorbeikommen, wenn du magst.“ Sie nannte ihm ihre Handynummer, damit er vorher anrufen konnte.

Dann machte sie sich auf den Weg.

Sanders blieb nachdenklich an seinem Schreibtisch zurück. Er beneidete seine beiden Kollegen um alles, was sie hatten. Doch das im positiven Sinne. Es grämte ihn nicht mehr, dass er wieder alleine lebte. Irgendwann würde auch er bestimmt eine Frau kennenlernen, die ihn verstand. Nur seine Kinder, die vermisste er schon sehr. Hin und wieder telefonierte er mit seinem Sohn, seine Tochter wollte nicht mit ihm sprechen. Vermutlich wurde sie von ihrer Mutter entsprechend informiert, wie wenig Verlass auf ihn war. Als ihre Ehe zu Ende ging, da war es richtig böse zwischen ihnen beiden geworden. Sie hatten sich Dinge an den Kopf geknallt, die man nicht mehr rückgängig machen und auch nicht vergessen konnte.

Jetzt reicht es aber mit Trübsal blasen, schimpfte er mit sich selber. Nun sollte ich mich langsam mal an die Arbeit machen. Er ging zu seinem Wagen, um zu dem Haus des Schulfreundes von Johannes Bruck zu fahren. Er war gespannt darauf, was dieser zu berichten hatte.

Im Hause von Christian Müller war man bereits darüber informiert, dass Johannes Bruck tot war. Christians Mutter öffnete die Tür und ließ Sanders herein.

„Er ist oben auf seinem Zimmer“, sagte sie, „die Nachricht von Johannes tot hat ihn völlig aus der Bahn geworfen.“

„Das kann ich nachvollziehen“, sagte Sanders teilnahmsvoll, „denken Sie, dass ich ihm trotzdem ein paar Fragen stellen kann.“

„Sicher, ich werde ihn holen. Nehmen Sie bitte im Wohnzimmer Platz.“ Sie zeigte in den Raum, bei dem die Tür offen stand. Dann stieg sie die Stufen empor.

Sanders ging ins Wohnzimmer, bei dem man an jedem Möbelstück die Wohlhabenheit der Hausbesitzer ablesen konnte. Schwere Ledersessel, Marmortische und selbst ein Klavier vor dem Fenster. Beim Blick in den Garten eine große gepflasterte Terrasse mit geschmackvollen Möbeln.

Die Mutter kam mit Christian zurück ins Wohnzimmer. Sanders drehte sich zu den beiden um.

„Hallo, Christian“, sagte er, „ich untersuche den Tod deines Schulfreundes und ich möchte dir gerne ein paar Fragen stellen, wenn das in Ordnung ist.“

„Klar“, sagte Christian. Er setzte sich in einen Sessel.

„Bitte“, bot die Mutter an, „nehmen Sie doch Platz.“

Sie selber setzte sich ins Sofa, während Sanders einen Sessel wählte.

„Die Eltern von Johannes haben ausgesagt, dass er am gestrigen Abend hier bei dir übernachten wollte“, richtete sich Sanders an Christian. „Ist es so gewesen?“

Christian sah zu seiner Mutter. Dann wieder zu Sanders.

„Er wollte hier übernachten“, sagte er dann.

„Wollte?“, wiederholte Sanders, „soll das bedeuten, dass er nicht hier war?“

Christian sah wieder zu seiner Mutter, so, als ob er sich von ihr die Erlaubnis für eine Antwort abholen müsste. Da er erst fünfzehn war, gab es aber keine andere Möglichkeit, um ihn alleine zu befragen.

„Johannes hat nicht hier übernachtet“, antwortete dann die Mutter für ihren Sohn.

Das fand Sanders in höchstem Maße interessant, dass sich gleich zu Beginn einer Untersuchung solche Widersprüche auftaten. Und ihm kam der Gedanke, dass es nicht einmal Selbstmord gewesen sein musste. Vielleicht war Johannes auch ermordet worden. Er belog seine Eltern über seine Pläne. Das ließ tief blicken.

„Christian, weißt du denn, wo Johannes stattdessen gewesen ist, wenn er nicht hier bei dir war? Denn zuhause war er nicht, soviel steht fest.“

Christians Blick wanderte wieder zu seiner Mutter und so langsam ging Sanders das gehörig auf die Nerven. Sie schien eine ziemliche Macht über ihren Sohn zu haben, dass er derart von ihrer Zustimmung abhängig war.

„Nein“, sagte er dann, als er wieder zu Sanders sah, „das weiß ich nicht.“

„Aber grundsätzlich war es schon so, dass er hier bei dir übernachten wollte“, hakte Sanders nach und Christian nickte. „Wann haben sich seine Pläne denn geändert?“

„In der Schule“, antwortete Christian. „Eigentlich wollten wir gestern Abend zusammen den neuen Film mit John Wick gucken, doch nach Schulschluss sagte er mir dann, dass er etwas anderes vorhätte.“

„Aber er hat nicht gesagt, worum es ging?“

„Nein.“

„Das hat dich doch bestimmt geärgert, oder?“

„Ach, so schlimm war das auch nun wieder nicht. Ich habe mir den Film dann alleine angesehen. War ziemlich cool.“

„Okay“, sagte Sanders, dann wandte er sich an die Mutter. „Frau Müller, ist Ihre Familie mit der der Brucks näher bekannt?“

„Naja, wir kennen uns durch die Kinder“, antwortete sie, „aber eher nur flüchtig. Es hat sich auf ein paar kurze Gespräche hier und da beschränkt. Weiteren privaten Kontakt an den Wochenenden oder so hatten wir nicht. Dafür ist mein Mann auch viel zu eingespannt. Er ist Arzt am Klinikum, wissen Sie. Da ist er für jedes freie Wochenende, dass er mit uns alleine verbringen kann, dankbar.“

„Christian“, sagte Sanders und sah wieder den Jungen an, „bist du auch ein Schwimmer, so wie Johannes.“

Christian schüttelte mit dem Kopf. „Nein, daraus mache ich mir nichts“, sagte er, „ich spiele lieber Playstation.“

Also nicht Klavier, dachte Sanders und sein Blick wanderte wieder zu dem Instrument, das die Eltern sicher in der Hoffnung angeschafft hatten, einen kleinen Beethoven großzuziehen. Stattdessen wuchs nun ein Zocker heran.

„Hast du denn vielleicht irgendeine Vermutung, mit wem sich Johannes stattdessen am gestrigen Abend getroffen haben könnte? Gab es jemanden, mit dem er auch viel Zeit verbracht hat, so, wie mit dir? Hatte er vielleicht eine Freundin, von der seine Eltern nichts wissen?“