Dr. Stefan Frank Großband 25 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 25 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2440 bis 2449 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1229

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 25

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Chinnapong/iStockphoto

ISBN: 978-3-7517-6484-1

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 25

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2440

Du hast mein Herz entflammt

Dr. Stefan Frank 2441

Lass mich nicht allein, Mami!

Dr. Stefan Frank 2442

Eiskalt ausgetrickst

Dr. Stefan Frank 2443

Wiedersehen mit Happy End?

Dr. Stefan Frank 2444

Für ihn will ich der Anker sein

Dr. Stefan Frank 2445

Muss ich sterben, Dr. Frank?

Dr. Stefan Frank 2446

Herz oder Kopf?

Dr. Stefan Frank 2447

Kann ich meinem Arzt vertrauen?

Dr. Stefan Frank 2448

Das hält kein Jahr

Dr. Stefan Frank 2449

Das Baby-Projekt

Guide

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Contents

Du hast mein Herz entflammt

Wie Antonia in einer schweren Situation neuen Lebensmut fand

S eit der Geburt ihrer Zwillinge fühlt sich Antonia von aller Welt verlassen. Ihre Eltern befinden sich auf einer ausgedehnten Reise, und ihr Mann flüchtet sich in die Arbeit. Statt sie wenigstens nach Feierabend mit den Babys zu unterstützen, macht er freiwillig immer öfter Überstunden und bleibt mitunter sogar über Nacht weg. Wenn er sich dann doch mal zu Hause blicken lässt, macht er seiner Frau Vorwürfe, weil die Wohnung zunehmend in einem heillosen Chaos versinkt und Antonia vor Erschöpfung ihren „ehelichen Pflichten“ nicht nachkommen will. Für die kleinen Mädchen interessiert sich der frischgebackene Vater offenbar überhaupt nicht.

Zudem quält sich Antonia mit Selbstvorwürfen. Warum nur fällt es ihr so schwer, eine perfekte Hausfrau, Mutter und Ehefrau zu sein? Liebt sie ihre Kinder womöglich nicht genug?

Mehr und mehr gleitet sie in Depressionen ab, und sie weiß nicht, wie sie in dieser Situation neue Kraft und neue Lebensfreude gewinnen soll.

Erst ihre zufällige Begegnung mit dem attraktiven Benjamin scheint allmählich wieder Licht in ihr Dunkel zu bringen …

Zu Tode erschöpft hob Antonia Trautwein ihren Kopf von der Tischplatte im Esszimmer und lauschte verwirrt nach hinten in die Wohnung. Schrie sich da etwa schon wieder eines ihrer Babys die Lunge aus dem Leib?

Sie hatte die Zwillinge doch gerade erst gefüttert, gewickelt und anschließend nervenaufreibend lange in den Schlaf gewiegt. Da konnte es doch nicht sein, dass sich diese Prozedur schon wieder ankündigte. Gaben die beiden denn niemals Ruhe?

Verzweifelt ließ Antonia ihren Kopf wieder auf die Arme sinken und begann zu schluchzen. Mit ihren langen blonden, im Moment leider völlig strähnigen Haaren, den verquollenen Augen und der zusammengekrümmten Körperhaltung bot die gerade mal fünfundzwanzigjährige Mutter ein Bild heillosen Elends.

Vor knapp drei Monaten hatte sie in einer Klinik am Rande von München zwei gesunden, kräftigen Mädchen – Mila und Lena – das Leben geschenkt. Das hätte eigentlich ein Grund zur Freude sein müssen, aber Antonia fühlte sich ganz und gar nicht so. Genaugenommen empfand sie schon seit dem Zeitpunkt der Entbindung einfach – nichts.

Nur mit Grausen erinnerte sie sich an die schreckliche Nacht der Geburt.

Obwohl als Risikoschwangerschaft eingestuft, hatte man ihr in der Klinik – wohl aufgrund der permanenten Unterbesetzung im Kreißsaal – zunächst eine junge, noch recht unerfahrene Hebamme zur Seite gestellt, die sich in ihrer Schüchternheit nicht getraut hatte, den diensthabenden Gynäkologen lieber einmal mehr als einmal zu wenig aus seinem gemütlichen Bereitschaftsraum zu holen.

Entsprechend hatte man bei Antonia den gestörten Geburtsablauf zu spät bemerkt, und erst, nachdem die werdende Mutter mit ihren Kräften schon vollkommen am Ende gewesen war, hatte man überhastet eine Kaiserschnittgeburt eingeleitet, wobei es vom herbeigerufenen Klinikpersonal niemand für nötig befunden hatte, die junge Mutter auch psychologisch darauf vorzubereiten.

Wie ein Schaf auf der Schlachtbank hatte sich Antonia gefühlt, als sie von den Schwestern wortlos und in höchster Eile für die notwendige Operation hergerichtet worden war. Nicht ein einziges tröstendes Wort war dabei gefallen. Den Eingriff selbst hatte sie in einem seltsamen, völlig gefühllosen Dämmerzustand erlebt.

Anschließend hatte man ihre beiden Babys sofort zu irgendwelchen Untersuchungen gebracht, ohne sie ihr wenigstens kurz einmal gezeigt zu haben, da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass die beiden einen Sauerstoffmangel erlitten hatten.

Und später – nachdem klar gewesen war, dass die Mädchen die Prozedur zum Glück ohne körperlichen Schaden überstanden hatten – hatte man Antonia aus Gründen der Schonung noch eine Weile sediert und ihr die Babys erst am dritten Tag zum ersten Mal in den Arm gelegt.

Dabei wusste man doch nun wahrlich nicht erst seit gestern, dass nach einer Geburt, egal wie traumatisch sie war, Mutter und Kind sofort miteinander in Kontakt gebracht werden mussten, damit sie eine feste Bindung zueinander entwickeln konnten. Es gab inzwischen unzählige Studien, die sich mit den psychischen Schäden beschäftigten, die ein in den ersten Stunden nach der Geburt verhinderter Kontakt zwischen Mutter und Kind nach sich ziehen konnte.

Und diese Schäden, so wusste man inzwischen doch auch, betrafen nicht nur das Baby. Auch die Mütter, denen man in dieser wichtigen Phase ihre Kinder vorenthielt, konnten anschließend oft nur ein gestörtes Bindungsverhältnis zu ihren Babys aufbauen. Außerdem litten sie überdurchschnittlich häufig an den sogenannten Wochenbettdepressionen.

Aber nicht einmal das hatte man bei Antonia richtig erkannt. Sie war zwar aufgrund der Schwere des Eingriffs noch drei Wochen in der Klinik behalten worden, dann aber mit den beiden Babys Knall auf Fall und ohne jeden weiteren psychologischen Beistand als glückliche Mutter nach Hause entlassen worden.

Dabei war Antonia alles andere als glücklich. Die offensichtlich von ihrer überstürzten Ankunft in der Welt immer noch verstörten Zwillinge brüllten Tag und Nacht, und die ebenso verstörte Antonia war mit den beiden hilflosen, aber kraftstrotzenden Energiebündeln von Anfang an heillos überfordert.

Ihr Ehemann Marius war ihr in der ganzen Situation leider überhaupt keine Hilfe, denn der hatte sich nach ein paar kurzen Urlaubstagen eilig und heilfroh wieder in den Polizeidienst verabschiedet.

Antonia hingegen saß nun den ganzen Tag in ihrer schicken Wohnung am Rand der wunderschönen Siedlung Grünwald. Ruhig und idyllisch war es hier, mit einem herrlichen Blick auf den Grünwalder Forst, und nur der gelegentliche Kinderlärm aus dem gegenüberliegenden Waldkindergarten unterbrach die traumhafte Stille.

Alles hätte also perfekt sein können – wenn Antonia nur ein bisschen Unterstützung gehabt hätte! Aber daran war im Moment nicht zu denken, denn auch Antonias Eltern, die in Unterhaching und damit gar nicht so weit entfernt wohnten, waren im Moment unabkömmlich. Ein bisschen hatte Antonia sogar selbst dazu beigetragen.

Ihre Eltern hatten nämlich, nachdem Antonia im vorletzten Jahr geheiratet hatte, ihren Erziehungsauftrag damit als beendet betrachtet und waren von ihrer Tochter in dieser Sichtweise noch bestärkt worden.

Natürlich wollten sie auch weiterhin für ihr einziges und über alles geliebtes Kind da sein, wenn sie gebraucht wurden. Aber Antonias Vater hatte im vorgerückten Alter als Oberstudienrat nun endlich ein Sabbatjahr in Anspruch genommen, worauf er in all den Dienstjahren zuvor immer verzichtet hatte, und war mit seiner Frau schon vor Monaten zu einer ausgedehnten Weltreise aufgebrochen.

Die Reise war lange im Voraus geplant und gebucht gewesen, denn niemand hatte damit gerechnet, dass Antonia ihre Eltern so schnell zu Großeltern machen würde. Immerhin hatte sie erst vor wenigen Jahren ihre Lehre als Finanzkauffrau beendet und gerade eine verantwortungsvollere Position in ihrer Firma übertragen bekommen.

Es gab allerdings noch einen weiteren Grund, weshalb Antonia die Eltern überredet hatte, ihretwegen jetzt nicht extra auf die schon lange geplante Reise zu verzichten: Sie hatte Marius damals gegen den ausdrücklichen Rat ihrer Eltern geheiratet.

Ihr Vater Jeremias Kirchhoff, der Oberstudienrat, und ihre Mutter Gunthild, ausgebildete Psychologin und seit Antonias Geburt Hausfrau, hatten ihre Tochter zeit ihres Lebens sehr liberal erzogen und deshalb schließlich – wenn auch schweren Herzens – in die Hochzeit eingewilligt.

Nun wollte Antonia den Eltern unbedingt beweisen, dass deren damalige Entscheidung, die Tochter ihren eigenen Weg gehen zu lassen, richtig gewesen war. Und dass sie sich deshalb auch jetzt keine Sorgen zu machen brauchten, nur, weil sich mal eben Nachwuchs eingestellt hatte. Dann würden sie die Zwillinge eben ein paar Monate später als rundum gelungene Wonneproppen bewundern können.

Vorausgesetzt, dass sich die beiden bis dahin nicht die Seele aus dem Leib gebrüllt hatten!

Jetzt klopfte auch noch Antonias grantiger Vermieter Hubertus Hallhuber von unten mit einem Besenstiel gegen die Decke und tat auf diese Weise seinen erklärten Widerwillen gegen das Geschrei kund.

Der alte Herr hatte Antonia vom ersten Tag an gezeigt, was er von dem angekündigten Nachwuchs seiner Mieter hielt, denn seither war er ihr im Treppenhaus nur noch sehr wortkarg begegnet, als hätte sie ihm mit ihrer Schwangerschaft absichtlich eins auswischen wollen.

Seit die Zwillinge da waren, bekam er nicht mal mehr einen knappen Gruß über die Lippen. Dabei machte sein Schäferhund – ein unberechenbarer Zuchtrüde namens Hadewin vom Grauen Steine – mit seinem stundenlangen Gebell jeden Tag mindestens genauso viel Lärm wie drei Zwillingspärchen zusammen.

Mit der Körperhaltung einer uralten Frau drückte sich Antonia mühsam vom Stuhl hoch und schlurfte langsam in Richtung Kinderzimmer, aus dem ihr inzwischen beide Babys lauthals entgegenbrüllten.

***

In der Grünwalder Arztpraxis in der Gartenstraße zog Sprechstundenhilfe Martha Giesecke die Vorhänge vom Wartezimmer beiseite und schaute blinzelnd in die tiefstehende Herbstsonne.

Wieder war ein wunderbarer Oktobertag angebrochen, blau und golden, und wieder einmal war es viel zu warm für diese Jahreszeit. In den letzten Tagen hatte man um die Mittagszeit sogar noch hemdsärmelig im Biergarten sitzen können, was viele Münchner auch ausgiebig getan hatten.

Schwester Martha öffnete ein Fenster und sog die frische klare Luft genussvoll ein.

„Oh, tut det gut“, murmelte sie dabei und schloss für einen Moment die Augen. Obwohl sie schon vor vielen Jahren in der bayrischen Landeshauptstadt eine neue Wahlheimat gefunden hatte, hatte die gebürtige Berlinerin ihrer geliebten Heimatstadt in ihrem Herzen doch immer die Treue gehalten, und das hörte man ihren gelegentlichen dialektalen Einsprengseln noch an.

Das bekam nun auch Dr. Frank zu hören, als er aus dem Obergeschoss der Villa, wo seine großzügig geschnittene Wohnung lag, nach unten in die Praxisräume kam. Schwester Martha drückte ihm die obligatorische morgendliche Tasse Kaffee in die Hand und verzog dabei das Gesicht.

„Haben Sie det gehört, Chef?“, fragte sie. „Gestern Nacht hat schon wieder ein Kindergarten gebrannt. Ick möchte doch wirklich mal wissen, was in den Köpfen von Menschen vorgeht, die sich derart versündigen! Det ist doch einfach …“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf.

Stefan Frank runzelte die Stirn und nickte. Seit einem Dreivierteljahr trieb in Grünwald und Umgebung ein Brandstifter sein Unwesen, der es ausschließlich auf Kindergärten abgesehen zu haben schien. Inzwischen waren im Abstand von mehreren Monaten bereits vier Tagesstätten abgefackelt worden.

Die Menschen in Grünwald waren außer sich, es kursierten die wildesten Gerüchte. Sogar im Münchner Merkur wurde heftig spekuliert. Hatte man es mit einem Verrückten zu tun? War irgendwem der Betreuungsplatz für seinen Sprössling verweigert worden, der sich jetzt dafür rächte? Zündelte hier heimlich ein Feuerwehrmann, um sich beim anschließenden Löschen besonders hervorzutun? Oder war die Übeltäterin gar eine Frau, die keine Kinder bekommen konnte und nun alles zerstörte, was sie an Kinder erinnerte?

Immerhin schien der oder die Schuldige noch einen letzten Rest von Anstand zu besitzen, wenn man es überhaupt so nennen wollte, denn bisher waren bei den mitternächtlichen Brandstiftungen nie Personen zu Schaden gekommen. Das lag natürlich auch daran, dass sich um Mitternacht einfach niemand mehr in den entsprechenden Einrichtungen aufgehalten hatte.

Inzwischen war nun auch die zweite Sprechstundenhilfe, Marie Luise Flanitzer, in der Praxis eingetroffen. Sie arbeitete normalerweise am Empfang, während Martha Giesecke dem Chef vor allem im Behandlungszimmer und im Labor zur Hand ging. Aber wenn es Schwierigkeiten an der Theke gab, half Martha auch dort mal aus.

Die ersten Patienten kamen. Aber irgendetwas stimmte nicht, denn plötzlich war Schwester Marthas Stimme so laut vor der Eingangstür zu vernehmen, dass Stefan Frank in seinem Behandlungszimmer erstaunt aufschaute.

„Also, det geht jetzt aber wirklich zu weit. Wir sind doch hier kein Tierheim. Ick hab es Ihnen schon beim letzten Mal gesagt: Der Hund bleibt draußen!“

Aufgebracht kam Martha zum Doktor ins Behandlungszimmer gelaufen.

„Ick hab dem Herrn Hallhuber nun schon hundertmal erzählt, dass er seinen Hadubrant, oder wie der heißt, zu Hause lassen soll. Jedes Mal bringt er die Töle mit! Die ist doch voller Bazillen! Wir sind hier eine Arztpraxis und keine Hundepension!“

„Wo ist der Hund denn jetzt?“, fragte Stefan Frank.

„Ick hab gesagt, er kann ihn heute noch mal kurz im Garten anbinden. Hinten am Zaun, da ist er nicht im Weg“, erwiderte Martha Giesecke kleinlaut. „Sonst kommen die Patienten doch gar nicht vorbei an dem Biest …“

„Schon gut.“ Stefan Frank seufzte ergeben. „Am besten nehmen wir Herrn Hallhuber gleich dran, dann haben wir es hinter uns. Kommen Sie, bitte?“

Der Arzt winkte dem alten Herrn und führte ihn an der Rezeption vorbei in das Behandlungszimmer, während Martha Giesecke einen genervten Blick mit Marie Luise Flanitzer tauschte. Dann wandte sie sich wieder ihren Laborzetteln zu, während Marie Luise sich die nächste Patientenakte vornahm. Im Garten hörte man den Hund bellen.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür des Sprechzimmers, und der alte Herr kam zusammen mit dem Arzt wieder heraus. Ohne ein Wort ging er an der Theke mit den Sprechstundenhilfen vorbei. Hinter ihm trat Stefan Frank mit hochgezogenen Brauen an die Rezeption und reichte Martha ein Rezept.

„Hier, Schwester Martha, tragen Sie es bitte ein. Eine leichte Schnittwunde. Mit der Gartenschere …“

Martha Giesecke warf einen Blick auf das Rezept.

„Im Leben nicht, Chef“, sagte sie dann mit einem ironischen Unterton. „Mit einer Gartenschere, also, da hätten Sie nicht nur die Salbe hier aufgeschrieben. Jede Wette, dass der wieder selbst an seiner Hand rumgesäbelt hat!“

„Martha, was ist denn mit Ihnen los? So kenne ich Sie ja gar nicht.“

Martha schnaufte. „Merken Sie denn nicht, det der nur Ihre Zeit klaut? Jedes Mal kommt er mit einem anderen Wehwehchen. Der hat sich Sie ausgekiekt, Chef, und Sie hören sich det alles auch noch stundenlang an … ach Mensch!“ Martha winkte resigniert ab.

Stefan Frank zuckte ertappt mit den Schultern. Natürlich war ihm klar, dass die kleine oberflächliche Schnittwunde unmöglich von einer Gartenschere herrühren konnte.

Wahrscheinlich hatte seine Sprechstundenhilfe recht und der alte Herr hatte sich den kleinen Schnitt selbst beigebracht. Tatsächlich kam er überdurchschnittlich häufig in die Praxis, allerdings schienen einige seiner kleineren Verletzungen wirklich echt zu sein.

Wie auch immer, dem Mann fehlte wohl vor allem menschliche Wärme. Und deswegen spielte Stefan Frank das Spiel mit, solange es um nichts Ernstes ging. Ein paar freundliche Worte taten dem alten Herrn gut, und ihm selbst gab sein Verhalten das Gefühl, hier tatsächlich etwas für das Wohlbefinden seines Patienten zu bewirken. Es sprach ja sonst niemand mit dem Mann.

Das war bei dessen grantiger Art allerdings auch nicht wirklich verwunderlich. Sogar die überaus geduldige Martha brachte er ja regelmäßig zur Weißglut.

Stefan Frank seufzte.

„Ach, Schwester Martha, lassen Sie doch einfach ein bisschen professionelle Distanz walten. Und rufen Sie mir bitte den nächsten Patienten herein, ja?“

„Mach ick, Chef. Aber mal ganz unter uns – ohne professionelle Distanz haben Sie mich noch gar nicht erlebt! Tut mir leid, aber ick kann solche Miesepeter nun mal nicht ausstehen. Der hat doch alles, was man zum Leben braucht – sogar Gesundheit! Was ist der denn ständig so griesgrämig? Der könnte es doch noch richtig schön haben auf seine alten Tage. Aber nee!“

Martha Giesecke schüttelte abermals den Kopf und wandte sich dann mit ausgesuchter Höflichkeit dem nächsten Patienten zu.

***

Die Babys schliefen. Oh himmlische Ruhe!

Antonia hatte die Gardine am Erkerfenster angehoben und schaute hinüber zum Grünwalder Forst. Der Lärm des Waldkindergartens drang nur ganz leise durch das geschlossene Fenster ins Zimmer. Die Sonne schickte mattgoldenes Licht durch die staubigen Scheiben, und ein leichter Wind ließ draußen bunte Blätter durch die Luft tanzen. Laubfall hatte eingesetzt. In weniger als zwei Wochen würden die Bäume kahl sein.

Sie öffnete das Fenster und nahm einen tiefen Atemzug. Die frische Luft war einfach köstlich. Erschöpft hielt sie ihr Gesicht in die milde Sonne.

Auch die kleinen Wichte drüben im Waldkindergarten schienen das wunderbare Herbstwetter noch einmal richtig zu genießen und tobten durch die Büsche, dass es eine wahre Freude war. Sie schienen vor Übermut und Lebenslust fast zu bersten, und die Erzieherinnen waren mittendrin im prallbunten Leben. Antonia kniff die Augen zusammen: War da nicht sogar ein Mann mit von der Partie?

Die junge Mutter seufzte. Wie oft hatten Marius und sie hier am Erkerfenster gestanden, zum Kindergarten hinübergeschaut und sich vorgestellt, wie „ihr Junge“ dort herumtoben würde. Das war, bevor sich herausgestellt hatte, dass Antonia Zwillinge erwartete. Marius hatte dem Gedanken, schon mit neunundzwanzig Vater zu werden, gerade erst etwas abgewinnen können, als die neuerliche Bombe geplatzt war.

Antonia schluckte. Irgendwie hatte die Schwangerschaft alles zum Negativen verändert. Als sie beide vor anderthalb Jahren hier eingezogen waren, war der Waldkindergarten gerade im Bau und an die Zwillinge noch gar nicht zu denken gewesen. Die schöne, allerdings etwas teure Wohnung hatte ihnen damals vor allem wegen ihrer wunderbaren Lage zum Waldrand zugesagt, und deshalb waren sie bereit gewesen, dafür sowohl eine etwas höhere Miete zu zahlen als auch den wunderlichen Vermieter mit seinem verrückten Hund in Kauf zu nehmen.

Antonia verdiente ja nicht schlecht, und Marius war vor Kurzem vom einfachen Kriminalkommissar zum Oberkommissar befördert worden.

Außerdem waren beidseitig noch Eltern da. Gunthild und Jeremias Kirchhoff jedenfalls waren froh gewesen, dass sie nur die Oberhachinger Straße durch den Grünwalder Forst zu nehmen brauchten, wenn sie ihre Tochter samt dem frischangetrauten Schwiegersohn besuchen und beiden hilfreich unter die Arme greifen wollten. Auch wenn sie Marius immer noch nicht sonderlich mochten.

Antonia seufzte. Mit der eigenen Wohnung waren so viele Hoffnungen verbunden gewesen. Da hatte es auch keine große Rolle gespielt, dass ihr Vermieter, der knarzige Herr Hallhuber, sie schon kurz nach ihrem Einzug mit seiner ruppigen Reaktion auf ihre Schwangerschaft ziemlich irritiert hatte.

Dabei lärmte sein Hund doch mindestens genauso laut herum, wie es ein Kind tun würde. Pausenlos lief der Rüde am Gartenzaun entlang und schlug mit seinem unermüdlichen Gekläffe sogar unbedachte Fußgänger auf der Straße in die Flucht.

Antonia und Marius hatten sich anfangs sogar einen Spaß daraus gemacht, dem ständig bellenden Leuteschreck einen neuen Namen zu verpassen. Hagraus, den Schrecklichen hatten sie ihn genannt – eine Kombination aus den ersten Buchstaben seines Zuchtbuchnamens Hadewin vom Grauen Steine .

Jeglicher Humor war Marius allerdings bald abhandengekommen. Hatte er seine Frau am Anfang der Schwangerschaft noch regelmäßig nach Oberhachingen zu den Vorsorgeuntersuchungen begleitet, erinnerte sich Antonia jetzt vor allem daran, wie ihm der Unterkiefer heruntergeklappt war, als die Ärztin dem jungen Paar zu Zwillingen gratuliert hatte.

Auch Antonia war im ersten Moment natürlich mehr geschockt als erfreut gewesen, aber sie hatte sich mit der neuen Situation schnell arrangiert.

Marius jedoch hatte die Nachricht auf seine eigene Weise verarbeitet und fortan nur von „den Jungs“ gesprochen – nun eben einfach in der Mehrzahl. Als sich dann aber bei einer der folgenden Untersuchungen herausgestellt hatte, dass zumindest ein Zwilling ein Mädchen war, hatte er auch diese Strategie nicht mehr aufrechterhalten können.

Zur Geburt war er nicht mit im Kreißsaal gewesen, das hatten weder er noch Antonia gewollt; außerdem wäre er aufgrund der Komplikationen sowieso bald wieder hinausgeschickt worden. Aber natürlich hatten ihm sämtliche Schwestern nach der Geburt zu den „zuckersüßen Madln“ gratuliert und die junge Mutter dabei glühend um ihr Familienglück mit zwei so hübschen Mädchen und einem dermaßen feschen Polizistenvater beneidet.

Wenn die wüssten, dachte Antonia bitter. Zu Hause hatte sich das Familienglück schnell ins Gegenteil verkehrt. Marius war vom ersten Tag an bei der Versorgung der Mädchen ungeduldig gewesen, unleidlich und so gut wie überhaupt keine Hilfe.

Schnell hatte er klargestellt, dass sich Antonia vor allem nachts ganz allein um die beiden zu kümmern hätte, da er als schwerarbeitender Einzelverdiener unbedingt seine Erholung vom harten Polizistenalltag brauchte. Und bereits nach fünf kurzen Urlaubstagen war er wieder vorzeitig in den Polizeidienst zurückgekehrt.

Aber es half ja alles nichts. Seufzend schloss Antonia das Fenster und lauschte nach hinten. Solange die Zwillinge noch schliefen, schaffte sie es vielleicht endlich mal, ihre Haare zu waschen. Jetzt galt es, keine Minute mehr zu verlieren.

***

Angeödet starrte Marius Trautwein, der frischgebackene und kürzlich zum Oberkommissar beförderte Familienvater, im Großraumbüro des Polizeireviers auf den Bildschirm und runzelte die Stirn. Wieder einmal war nichts los, überhaupt nichts, außer einer Menge Papierkram, der zu erledigen war.

Seit Tagen saß er jetzt schon hier und arbeitete Protokolle ab, Dienstbesprechungen, Vernehmungen, Vermisstenanzeigen und anderes mehr. Gab es etwas Langweiligeres?

Er strich sich missmutig über das semmelblonde kurze Haar und fuhr anschließend mit der Hand über einige krumplige Falten in seinem Hemd. Seine hellblauen Augen verengten sich. Mist, die hatte er doch glatt wieder übersehen, als er gestern mit dem Bügeleisen hantiert hatte.

Er kam mit diesen Hausfrauengeräten einfach nicht klar. Leider war ihm Antonia in der Hinsicht momentan überhaupt keine Hilfe, die war ja schon mit den Zwillingen total überfordert!

Sein Blick fiel auf das Foto, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Es war noch im Krankenhaus aufgenommen worden und zeigte Antonia, die Zwillinge und ihn selbst als glückliche Familie arrangiert.

Marius verzog den Mund. Die Klinik hatte das Fotoshooting als einen besonderen Service angeboten und sich das teuer bezahlen lassen. Der Zeitpunkt war clever gewählt, fand Marius, denn kaum eine der hormonbenebelten Mütter verzichtete doch so kurz nach der Geburt in ihrem Glücksrausch auf ein erstes Abbild der feierlich inszenierten Familienidylle.

Familienidylle, ha! Seit Antonia mit den Zwillingen wieder zu Hause war, stand seine Welt auf dem Kopf. Hatte er vor anderthalb Jahren noch eine hübsche, junge, sportlich schlanke, beruflich erfolgreiche und auch im Bett ganz passable Frau geheiratet, so hatte sich die Situation inzwischen absolut ins Gegenteil verkehrt.

Schon bei der Ankündigung der Schwangerschaft hatte ihm Böses geschwant, obwohl Antonia seine Bedenken nach kurzer Zeit noch einmal hatte zerstreuen können. Aber eigentlich hatte er vor seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr überhaupt nicht vorgehabt, auch nur einen Gedanken an Kinder zu verschwenden. Und nun waren es gleich Zwillinge geworden, und Mädchen noch dazu!

Marius stieß verärgert die Luft aus. Seit Antonia mit den beiden Schreihälsen wieder zu Hause war, kriegte sie überhaupt nichts mehr auf die Reihe! Wenn er abends nach Hause kam, war weder die Wohnung aufgeräumt noch das Essen bereitet, von gebügelter Wäsche ganz zu schweigen. Überall lagen Babysachen herum, Windeln, Fläschchen, Schnuller, und er konnte von Glück sagen, wenn die Zwillinge mal nicht um die Wette brüllten. Dazwischen Antonia mit ihren strähnigen Haaren, dem hilflosen Blick und den ständig verquollenen Augen. Meine Güte, das konnte doch alles nicht so schwer sein!

Außerdem: Antonia sah nicht nur aus wie das heulende Elend, sie benahm sich auch so. Ständig schlich sie mit hängenden Schultern, ungekämmten Haaren und in fleckigen T-Shirts durch die Wohnung oder saß auf dem Sofa und starrte Löcher in die Luft.

Und dann noch die Sache mit der Milch: Da Antonia die Zwillinge im Krankenhaus erst so spät in die Arme bekommen hatte, hatte das Stillen nicht geklappt. Statt nun aber auf Fertigmilch umzusteigen, wie Marius es der Einfachheit halber angeraten hatte, war sie der Meinung, den Zwillingen zur gedeihlichen Entwicklung die eigene Muttermilch nicht vorenthalten zu dürfen. Dazu hätten ihr auch die Kinderärzte geraten. Nun pumpte sie ihre Milch regelmäßig ab.

Marius war einmal zufällig dazugekommen. Wussten die Ärzte eigentlich, welchen Anblick sie den Ehemännern da zumuteten? Herrgott, wie sollte man da noch Lust auf seine eigene Frau kriegen! Obwohl, in dieser Hinsicht lief im Moment ja sowieso nichts mehr. Antonia wich seinen zunehmend drängenderen Annäherungsversuchen ohnehin immer aus. Als ob ein Mann drei Monate nach der Geburt nicht endlich mal wieder ein Recht auf seine Frau gehabt hätte!

Gott, wie hatte sich seine Welt nur in so kurzer Zeit dermaßen verändern können!

Das Schlimmste war, dass seine Kollegen ganz genau zu wissen schienen, wie es bei ihm zu Hause aussah. Klar, einige von denen hatten ja selbst schon Kinder und wussten sicherlich, wie der Hase anschließend lief. Warum nur hatte ihn niemand vorgewarnt? Stattdessen kamen jetzt von allen Seiten spitze Bemerkungen über seine drei Grazien zu Hause, den Weiberhaushalt und was nicht sonst noch alles!

Marius kam gar nicht auf die Idee, dass seine Kollegen es in all ihrer Raubeinigkeit einfach nur nett meinen könnten.

Und Saskia machte bei alldem auch noch mit! Saskia Stachleitner, die neue sechsundzwanzigjährige Kollegin, die vor Kurzem von Nürnberg nach München gekommen war, war in Marius’ Augen noch viel mehr als nur eine ziemlich heiße Braut – schlank, blond und mit Beinen bis in den Himmel.

Eine richtig coole Polizistin war sie, knallhart, super selbstbewusst und kein bisschen auf den Mund gefallen. Noch dazu extrem karrierebewusst; wenn man nicht höllisch aufpasste, würde die eines Tages noch an allen Männern hier vorbeiziehen.

Die Tür ging auf und der „Boss“, Kriminalhauptkommissar Martin Drechsler, stampfte in den Raum.

„Dienstbesprechung, mitkommen!“ Damit war er schon wieder draußen. Marius tauschte einen fragenden Blick mit seinen Kollegen, stand auf und ging mit ihnen hinaus. Draußen stand der Boss in der Tür zum Konferenzraum und winkte sie hinein.

„Aufgepasst“, sagte er, als sich alle gesetzt hatten, und schaltete das Smartboard ein. „Es geht um die Brandstiftungen in Grünwald und Umgebung. Uns ist endlich eine Sonderkommission bewilligt worden, man will langsam mal Ergebnisse sehen.“ Er sah in die Runde, strich sich mit der Hand über sein spärliches Haar und schnaufte unzufrieden. „Wir haben uns ja leider bisher auch nicht gerade mit Fahndungserfolgen hervorgetan.“

Im Raum kam Unruhe auf.

„Ruhe! Fakt ist, dass wir endlich mal liefern müssen.“ Er schaute auf die anwesenden Polizisten. „Und dazu haben wir vorübergehend mehr Kapazitäten bewilligt bekommen. Das heißt, ab morgen werden sich vier Leute mit dem Fall beschäftigen können.“

Er sah auf einen Zettel in seiner Hand.

„Also, folgende Kollegen berufe ich in die Soko Feuerteufel : Alberdinger, Fichtner, Stachleitner. Und als Sokoleiter: Kriminaloberkommissar Trautwein. Da es bis jetzt nur Sachschaden gegeben hat, habe ich beschlossen, auch den jungen Kollegen mal eine Chance zu geben.“

Er schaute in Marius’ Richtung.

„Ich hoffe, dass Sie das jetzt nicht so langweilig finden werden wie den regulären Polizeidienst!“

Marius wurde rot.

Der Boss grunzte.

„Das ist Ihre Chance, Trautwein. Aber wenn Sie mir noch einmal so einen gelangweilten Anblick bieten wie in den letzten Tagen, sind Sie ganz schnell wieder weg vom Fenster, verstanden? Vergeigen Sie es also nicht.“

Markus nickte. „Werde ich bestimmt nicht“, versprach er und strich sein Hemd glatt.

„Gut.“ Hauptkommissar Drechsler nickte. „Dann gibt es jetzt noch ein Briefing für die ganze Abteilung, damit wir alle auf demselben Stand sind, und ab morgen können Sie vier sich drüben im kleinen Konferenzraum Ihr Büro einrichten. Klar?“

Damit steckte er einen USB-Stick an die Konsole des Smartboards und rief die erste Folie auf.

Eine Stunde später, als sie alle wieder an ihre normalen Arbeitsplätze zurückgekehrt waren, strich Saskia Stachleitner um Marius’ Schreibtisch.

„Uiiiih, was für ein Aufstieg, Herr Kriminaloberkommissar Trautwein“, raunte sie und sah ihn mit ihren schmalen katzengrünen Augen an. „Sind Sie da etwa gerade mein unmittelbarer Vorgesetzter geworden? Wie aufregend! Was halten Sie denn von einer dezenten Lagebesprechung nach Dienstschluss?“

Marius schaute auf und räusperte sich.

„Kollegin Stachleitner, ähm, haben Sie denn … schon erste Ideen, die Sie präsentieren könnten?“

Saskia lehnte am Schreibtisch und schob sich katzenhaft näher an Marius heran.

„Och, so diese und jene. Mir fiele da schon was Präsentables ein.“

Marius schluckte und fuhr mit der Hand über seine Krawatte.

„Ah ja. Und wo sollte diese … ähm … Lagebesprechung stattfinden?“ Er fühlte, wie sich ein Gefühl der Aufregung in ihm auszubreiten begann.

Saskia Stachleitner strich mit einem Finger langsam über die Oberkante von Marius’ Flachbildschirm, wobei sie ihm herausfordernd in die Augen sah. Dann zog sie ihre Nase kraus und zuckte mit den Schultern.

„Also, für den Anfang täte es auch eine Bar.“ Nun strich ihr Finger über das Foto von Antonia und den Zwillingen. „Falls Sie überhaupt noch wissen, was das ist: eine Bar. Und was man da so alles anstellen kann. Die Lage betreffend, meine ich.“

Mit einem kurzen Stoß ihrer perfekt manikürten Finger schnippte sie den Bilderrahmen um.

***

Als Marius an diesem Abend spät und ziemlich angeheitert nach Hause kam, saß Antonia im Dunkeln. Die Zwillinge schliefen offenbar, denn in der Wohnung herrschte eine gespenstische Stille.

Polternd ließ Marius seine Tasche im Flur fallen und trat ins Wohnzimmer.

„Was machst du denn hier?“, fragte er und schaltete das Licht ein.

„Marius.“ Antonia hob ihm das verweinte Gesicht entgegen. „Ich glaube, ich schaffe das alles nicht.“

„Wie? Was schaffst du nicht?“

„Das alles hier. Die Zwillinge. Die Wohnung. Das Leben. Einfach alles.“

Marius stöhnte innerlich auf. Gab es in letzter Zeit überhaupt noch ein anderes Thema?

„Wieso?“, entgegnete er genervt. „Die beiden schlafen doch gerade, da hättest du doch, zum Beispiel, schon mal ein bisschen aufräumen können.“ Missmutig schaute er sich um. „Wie das hier wieder aussieht! Du musst dir einfach die Zeit besser einteilen. Oder soll ich das etwa auch noch machen, wenn ich von der Arbeit komme? Was treibst du denn den ganzen Tag?“

Antonia schaute ihn entgeistert an.

„Was ich den ganzen Tag lang treibe? Ich kümmere mich um unsere Kinder.“

„Ja, aber doch nicht den ganzen Tag! Die schlafen doch die meiste Zeit.“

Antonia lachte freudlos auf und schüttelte den Kopf.

„Du hast keine Ahnung, Marius! Aber du bist ja auch nie da, wenn es brenzlig wird. Lena und Mila haben immer noch keinen richtigen Rhythmus gefunden, ich weiß auch nicht, warum. Kaum ist eine eingeschlafen, wacht die andere auf. Und am schlimmsten ist es, wenn beide zugleich wach sind. Dann weiß ich einfach nicht, was ich zuerst machen soll. Ich kann mich doch nicht zerteilen.“

„Verstehe ich nicht.“ Marius runzelte die Stirn. „Andere Mütter schaffen das doch auch.“

Antonia schluchzte auf.

„Das ist es ja … Ich weiß nicht, wie andere Mütter das machen. Ich bin doch nicht die einzige Frau, die Zwillinge hat. Aber irgendwie scheint bei mir alles falsch zu laufen.“

Weinkrämpfe begannen sie zu schütteln.

„Ich glaube … ich bin unfähig als Mutter, ich … ich glaube … möglicherweise liebe ich sie einfach nicht genug“, flüsterte sie unter Tränen. „Vielleicht, weil ich anfangs nur auf ein Baby eingestellt war, nicht auf zwei. Ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist.“

Auf Marius’ Stirn bildete sich eine Zornesfalte. Weshalb nur machte Antonia aus allem so ein Problem? Warum konnte sie nicht einfach mal tough sein und die Dinge anpacken? Was sollte denn das jetzt wieder, sie liebe die Zwillinge nicht genug? Das war doch das reinste Affentheater!

Wenn er da an Saskia dachte, die war ein ganz anderes Kaliber. Die nahm sich, was sie wollte, der stellte sich niemand in den Weg. Vor allem heulte sie nicht die ganze Zeit rum, statt endlich ihren Hintern hochzukriegen! Mit Zwillingen, ach was, sogar mit Vierlingen wäre Saskia spielend fertig geworden.

Marius atmete genervt aus.

„Komm“, sagte er dann. „Lass uns ins Schlafzimmer gehen. Da kommst du automatisch auf andere Gedanken, das garantiere ich dir.“ Er grinste anzüglich, während ihm eine weitere Erinnerung an seine sexy Kollegin durch das Gedächtnis huschte.

Saskia hatte ihm vorhin in der Bar ganz schön eingeheizt, alle Wetter! Die wusste wirklich, wie man einen Mann scharfmachte. Aber dann hatte sie ihn einfach an der Theke sitzen lassen, und er konnte jetzt zusehen, wie er den Druck wieder loswurde, den sie so raffiniert aufgebaut hatte. Marius schnaufte. Heftig packte er Antonia am Arm und versuchte, sie vom Sofa zu ziehen. Aber Antonia widersetzte sich.

„Was ist denn jetzt wieder?“ Die Zornesfalte auf Marius’ Stirn vertiefte sich. „Darf ich in diesem Leben überhaupt noch mal irgendwann mit dir ins Bett? Oder bin ich jetzt bis in alle Ewigkeit zum Eunuchendasein verdammt?“

„Marius!“ Antonia starrte ihn an, als könne sie nicht glauben, was er da gesagt hatte. Wie konnte er nur so grob sein! Noch nie hatte er sich dermaßen verletzend geäußert, auch wenn sein Verhalten in der letzten Zeit sehr zu wünschen übrig gelassen hatte.

„Schon gut!“ Marius ließ von ihr ab. „Du bist mal wieder zu müde, ich habe verstanden.“ Resigniert kletterte er vom Sofa. „Ich geh duschen. Was bleibt mir anderes übrig …“

In diesem Moment begann eins der Babys im Nebenzimmer zu schreien.

„Na toll!“ Marius drehte sich genervt zum Schlafzimmer um. „Ich schlafe heute im Gästezimmer. Wenigstens nachts brauche ich meine Ruhe, ich kann mich nämlich tagsüber nicht einfach so mal ausruhen!“

Er hielt kurz inne, als sei ihm eben noch etwas eingefallen.

„Ach ja, falls dich meine Arbeit überhaupt noch interessiert: Ich bin heute zum Sokoleiter ernannt worden. Wegen dieser Brandstiftungen, du weißt schon. Das heißt allerdings, dass es ab jetzt auch mal etwas später werden kann. Lagebesprechungen und so.“

Damit ging er ins Bad und ließ Antonia allein im Wohnzimmer zurück.

***

Pünktlich zum November änderte sich das Wetter. Noch immer war es zu warm für die Jahreszeit, aber nun hatte Regen eingesetzt – ein schier endloser Nieselregen, der aus einem endlos grauen Himmel fiel. Das bunte Laub von den Bäumen war ebenso verschwunden wie die fröhlichen Kinder vom Spielplatz des Waldkindergartens. Die Straßen waren nass, grau, trist und leer.

Im Waldkindergarten spielte sich das Leben jetzt vornehmlich in den Gruppenräumen ab. Hier war es trocken, warm und gemütlich, es gab weiche Leinenkissen auf hellen Holzfußböden, bunte Bilder an den Wänden sowie Schränke, Schubladen und Aufbewahrungsboxen aus Naturholz, in denen all das Spielzeug verstaut war, dass die Kinder unter Anleitung ihrer Erzieherinnen in den vergangenen Monaten aus den verschiedensten Waldmaterialien gebastelt hatten.

Insgesamt gab es sechs Gruppen im Waldkindergarten, aber schon jetzt platzte die Tagesstätte aus allen Nähten, weil überdurchschnittlich viele Eltern die längere Anfahrt gern in Kauf nahmen, um ihre Kinder hier betreuen zu lassen. Wer das Glück gehabt hatte, für seinen Sprössling einen Platz zu ergattern, der gab ihn nicht wieder her, sondern setzte im Gegenteil alles daran, auch das Geschwisterkind noch im Waldkindergarten unterzubringen.

Viele Eltern hatten sich auch in verschiedenen Gruppen zum weiteren Ausbau von Gruppenräumen und angrenzenden Spielflächen organisiert, zum Einkauf ökologischer Nahrungsmittel oder zur Planung spannender Aktivitäten, die ebenfalls häufig mit den Themen Ökologie, Umwelt und Naturschutz zu tun hatten.

Das alles hatte natürlich seinen Preis, und so besuchten hauptsächlich Kinder von bessergestellten Familien den Waldkindergarten, obwohl die Leiterin der Tagesstätte, Dorothea Raschke, alles daransetzte, auch eine gewisse Quote von Kindern aus nicht so wohlhabenden Familien aufzunehmen, welche dann eine besondere finanzielle Förderung erfuhren.

Der gute Ruf der Tagesstätte gründete aber auch darauf, dass die Erzieher allesamt über eine fundierte pädagogische Ausbildung sowie über diverse Zusatzqualifikationen im medizinischen oder psychologischen Bereich verfügten. Hierdurch herrschte sowohl bei den Eltern als auch beim Personal eine hohe Zufriedenheit, was sich günstig auf die Arbeitsatmosphäre und damit auf die Ausgeglichenheit der Kinder auswirkte.

Auch Benjamin Bruckner war mit seiner Arbeit im Waldkindergarten mehr als zufrieden. Vor vier Jahren hatte der damals Sechsundzwanzigjährige seine Arbeit als Sozialpädagoge beim Jugendamt an den Nagel gehängt, weil er die zahllosen Fälle von Kindesmissbrauch und –misshandlung nicht mehr ausgehalten hatte, mit denen er dort Tag für Tag konfrontiert worden war.

Er hatte die neuerliche Ausbildung zum Erzieher für Kindertagesstätten und die damit verbundenen finanziellen Einbußen gern in Kauf genommen, denn schon während dieser Ausbildung hatte sein berufliches Engagement begonnen, sich in einer neuen Währung auszuzahlen, und diese Währung hieß Arbeitszufriedenheit.

Als einer der wenigen männlichen Betreuer, die diesen Berufsweg eingeschlagen hatten, war er von Dorothea Raschke auch sofort eingestellt worden, und das wiederum hatte sich für den Kindergarten ausgezahlt, denn Benjamin Bruckner war ein fleißiger, zuvorkommender und überaus sympathischer Mitarbeiter, der sowohl bei den Kindern als auch bei seinen Kolleginnen sehr gut ankam.

Auch die meisten Eltern mochten den freundlichen Erzieher, der eine angenehme Abwechslung zur vorwiegend weiblichen Energie bot, die hier ansonsten vorherrschte. Und war er in ihren Augen vor allem für Abenteuer und Action zuständig, so bot sich den Kindern während der täglichen Betreuungszeiten auch genügend Gelegenheit, die weiche und fürsorgliche Seite ihres Erziehers kennenzulernen.

Außerdem stellte der attraktive Kindergärtner mit seinen braunen Augen, der sonnengebräunten Haut und den schwarzen, zum Pferdschwanz gebundenen Haaren für viele der jüngeren Mütter eine willkommene Gelegenheit dar, die eigene Attraktivität mal wieder auf vollkommen harmlose Weise auf die Probe zu stellen. Von einigen der Frauen wurde Benjamin teilweise recht heftig angeflirtet.

Das war eine neue Erfahrung für den mittlerweile Dreißigjährigen, der es auf seiner vorherigen Arbeitsstelle häufig mit wütenden, aggressiven, manchmal völlig gleichgültigen, teilweise kriminellen, aber im besten Fall einfach überforderten Eltern zu tun gehabt hatte, denen sein freundliches und zuvorkommendes Wesen jedenfalls meist vollkommen egal gewesen war.

Dennoch bewahrte er bei all den harmlosen Flirtereien im Kindergarten immer einen kühlen Kopf und achtete genauestens auf die Einhaltung einer höflich-freundlichen Distanz. Besonders vorsichtig war er, wenn ihm die entsprechenden Avancen von alleinstehenden Frauen entgegengebracht wurden; in diesen Fällen setzte er ihnen jedes Mal sofort auf eine sehr freundliche Art unmissverständliche Grenzen.

Allerdings passierten ihm solcherlei Situationen nicht nur mit alleinstehenden Müttern – auch einige der verheirateten Frauen hatten offenbar Gefallen an dem attraktiven Kindergärtner gefunden. Eine von ihnen war Verena Rahnefeld, nach eigener Aussage glücklich verheiratet, deren vierjährige Tochter Isabelle den Waldkindergarten seit einem halben Jahr besuchte.

Verena Rahnefeld war einunddreißig Jahre alt und eine attraktive, hochgewachsene Blondine, deren dunkle Augenbrauen dem aufmerksamen Betrachter allerdings verrieten, dass das Blond ihrer Haare nicht echt sein konnte.

Stets sehr modisch und sehr teuer gekleidet, ließ sie ihr Gegenüber durch die Wahl ihrer täglich wechselnden Schmuckstücke keinen Augenblick im Zweifel darüber, dass sie neben einer gehörigen Portion Sexappeal auch über eine ansehnliche Menge Geld verfügte.

Eben betrat sie in einem teuren Mantel mit pelzbesetzter Kapuze die Tagesstätte und schüttelte sich einige Regentropfen aus dem Haar, während sie die Kapuze abstreifte.

„Puh, was für ein Wetter!“, stöhnte sie und bedachte Benjamin, der die Kinder seiner Gruppe wie gewohnt im Eingangsbereich der Tagesstätte in Empfang nahm, mit einem koketten Blick. „Würden Sie mir wohl kurz aus dem Mantel helfen?“

„Gern.“ Vorsichtig griff Benjamin zu und hielt das teure Stück in die Höhe, während Verena Rahnefeld sich langsam daraus befreite. Unter dem Mantel trug sie, dem ungemütlichen Wetter zum Trotz, eine Bluse mit weit ausgeschnittenem Dekolleté. Benjamin wandte die Augen ab.

„Na, Isabelle“, sagte er stattdessen zu der Tochter, die bislang bewegungslos neben ihrer Mutter gestanden hatte und ihm nun auffordernd die Arme entgegenstreckte. „Soll ich dir auch aus dem Anorak helfen? Oder kannst du das schon allein? Du bist doch jetzt eine große Schwester!“

Das stimmte, denn seit einigen Monaten hatte Verena Rahnefeld ein zweites Kind, Annabelle. Meist ließ sie die Kleine aber zu Hause bei ihrem Kindermädchen, wenn sie Isabelle zur Tagesstätte brachte, denn das gab ihr die Gelegenheit, hin und wieder einige Flirtversuche anzubringen, ohne dass ihr das Baby dabei mit seinen eigenen Bedürfnissen dazwischenfunkte.

Auch heute sah es nicht so aus, als wollte Verena Rahnefeld den Kindergarten gleich wieder verlassen.

„Was kann man denn bei diesem scheußlichen Wetter überhaupt mit den Kindern unternehmen?“, wunderte sie sich und sah Benjamin, der immer noch ihren Mantel hielt, fragend an. „Das stelle ich mir ja sehr anstrengend vor, die ganze Bande hier in Schach zu halten, wenn man zum Austoben nicht mal mehr ins Freie kann. Da ist bestimmt der ganze Mann gefordert.“ Ein charmantes Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Ach, na ja.“ Benjamin lächelte etwas schief zurück. „Es gibt natürlich auch bei diesem Wetter genügend Beschäftigungsmöglichkeiten. Schauen Sie, dort hinten liegen Materialien, aus denen wir gerade neue Möbel basteln. Von den größeren Kindern versuchen sich im Moment mehrere als Tischler. Das hier vorn werden zum Beispiel Kindersitze aus Baumstämmen. Und Isabelle hat gestern angefangen, Eichhörnchen auf die Tischdecken zu drucken, die wir heute zuschneiden und umnähen wollen. Ich könnte Ihnen auch noch mehr zeigen …“

„Tatsächlich?“, fragte Verena Rahnefeld interessiert und wandte sich zu ihrer kleinen Tochter um. „Isabelle, Schätzchen, Mami würde sich die kleinen Eichhörnchen gern mal anschauen. Bringst du mir mal so eine bedruckte Tischdecke?“ Das Kind drehte sich gehorsam um und lief zum Gruppenraum, um das Verlangte zu holen.

Verena Rahnefeld ergriff ihre Chance.

„Und Sie?“, fragte sie, während sie sich langsam wieder zu Benjamin zurückdrehte. Siegessicher lächelte sie ihn an, als sie seinen abermaligen schnellen Blick auf ihr Dekolleté bemerkte. „Wenn die Stühle dann gebaut und die Tischdecken alle genäht sind? Wie wäre es, wenn ich Ihnen dann auch mal was Interessantes zeigen könnte? Vielleicht bei einem Kaffee bei mir zu Hause? Um … sagen wir … sechzehn Uhr?“

„Da arbeite ich leider noch, Frau Rahnefeld, aber danke für das Angebot.“ Benjamin räusperte sich. „Allerdings bin ich sicher, dass Ihr Mann es auch gern annehmen würde.“ Mit einem bedauernden Ausdruck hielt er ihr den Mantel entgegen und versuchte dabei, an ihrem beeindruckenden Dekolleté vorbeizusehen, was ihm leider nicht ganz gelang.

Verena Rahnefeld zog einen Schmollmund.

„Der arbeitet da leider auch noch. Aber danke für den Hinweis!“ Mit vorgeschobener Unterlippe nahm sie ihm den Mantel ab und schaute Benjamin mit einem schmachtenden Blick tief in die Augen. „Tja … dann vielleicht ein andermal?“

In diesem Moment kam Isabelle mit dem verlangten Stück Stoff aus dem Gruppenraum zurück. Verena Rahnefeld beugte sich zu ihrer Tochter herunter, wobei sie Benjamin abermals einen großzügigen Blick in ihren Ausschnitt gewährte.

„Das hast du ganz toll gemacht, Schätzchen. Mami ist sehr stolz auf dich.“ Sie gab ihrer Tochter einen Kuss, wobei sie Benjamin erwartungsvoll von unten herauf anschaute. „Na, immer noch kein Interesse …?“

Benjamin schüttelte leicht den Kopf.

„Ich glaube, ich muss jetzt auch langsam mal wieder zu den anderen Kindern zurück.“

Damit legte er Isabelle eine Hand auf die Schulter und ging mit ihr in Richtung Gruppenraum, während Verena Rahnefeld sichtlich angesäuert die Tagesstätte verließ.

***

Hierbei wurde sie von Antonia beobachtet, die wie so oft in den letzten Tagen regungslos am Erkerfenster des Wohnzimmers lehnte und mit trübem Blick hinaus in den Regen starrte.

Wie sehr sich ihre Welt doch verändert hatte! Antonia schluckte, während ihr große Tränen über die Wangen liefen.

Früher hatte sie beim Blick aus diesem Fenster immer das genaue Gegenteil von dem empfunden, was sie jetzt fühlte. Eine große Verheißung von Liebe und Familienglück hatte damals in der Luft gelegen. Jetzt allerdings schmeckte und roch alles nur noch nach Traurigkeit und Depression.

Der Regen fegte Wasserböen durch die Straßen.

Eigentlich hätte Antonia heute einkaufen müssen, aber das war bei dem Wetter unmöglich. Zumal Marius das Auto wieder einmal zum Dienst mitgenommen hatte.

Auch das war inzwischen ein häufiger Streitpunkt zwischen ihnen, denn neuerdings nutzte Marius den Wagen fast jeden Tag für seine Fahrt zur Arbeit.

Natürlich war es umständlich, mit dem Bus zum Polizeirevier zu fahren und dabei umsteigen zu müssen, das war Antonia schon klar. Aber auch sie selbst konnte nun keine größeren Besorgungen mehr machen, denn ohne das Auto war sie ja schon innerhalb Grünwalds total aufgeschmissen.

Und mit einem sperrigen Zwillingskinderwagen die öffentlichen Verkehrsmittel bis in die Stadt zu benutzen, war eine Zumutung. Das konnte nur jemand vorschlagen, der es selbst noch nie getan hatte.

Deshalb erledigte Antonia in letzter Zeit nur noch das, was sich in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung besorgen ließ. Allerdings verkleinerte sich auf diese Weise ihr Handlungsradius noch mehr.

Sie seufzte. Mittlerweile herrschte in ihrem Inneren genau dieselbe Weltuntergangsstimmung wie draußen. Vor allem das stundenlange Alleinsein den ganzen Tag über tat ihr gar nicht gut. Noch dazu, wo Marius nun auch abends oft erst spät nach Hause kam, denn tatsächlich hatte sich die Zahl seiner Meetings sprunghaft erhöht, seit er die Soko Feuerteufel leitete, genau, wie er es angekündigt hatte.

Insgesamt schien ihm die neue Leitungsposition aber sehr gut zu tun, denn häufig war er gerade an diesen Abenden besonders guter Stimmung, wenn er schließlich nach Hause kam. Ja, oftmals glühte er dann geradezu vor Aktivität und Tatendrang, und nicht einmal das Geschrei von Mila und Lena konnte ihm in diesen Fällen die gute Laune verhageln.

Deshalb war Antonia seiner neuen Tätigkeit im Grunde dankbar, und sie gönnte sie ihm von Herzen, selbst wenn die neue Position bedeutete, dass sie nun noch länger allein in der Wohnung herumsaß. Was an solchen Tagen wie heute, wo der Regen schon seit dem frühen Morgen unablässig gegen die Fensterscheiben trommelte, besonders schwer war.

Mit einer resignierten Bewegung wischte sich Antonia die Tränen aus dem Gesicht und wandte sich zum Kinderzimmer um, aus dem schon wieder ohrenbetäubendes Gebrüll drang.

***

Tatsächlich schien der Regen überhaupt nicht wieder aufhören zu wollen.

Auch auf der Polizeidienststelle begann er langsam auf die Stimmung der Beamten abzufärben, dabei herrschte im kleinen Konferenzraum sowieso schon eine ziemlich trübe Atmosphäre, denn trotz der gewährten Sondermittel war die Soko Feuerteufel noch keinen Schritt weitergekommen.

Missmutig starrte Marius auf das vor ihm liegende Protokoll, das bislang nicht den klitzekleinsten Fahndungserfolg auswies. Wenigstens hatte sich in den letzten Tagen kein weiterer Brand ereignet, was freilich aber auch bedeutete, dass seither nichts Relevantes mehr zu den schon mehrfach gesichteten Akten hinzugekommen war.

„Leute, so geht das nicht weiter. Irgendeine Spur muss es doch geben“, stöhnte er und senkte den Kopf wieder über die Materialien. Er stand unter großem Druck, denn natürlich hatte er die mahnenden Worte seines Vorgesetzten nicht vergessen. Forschend überlas er die Zwischenberichte ein weiteres Mal. „Vielleicht haben wir ja doch irgendwas übersehen.“

Sein Kollege Heintje schaute herüber. Eigentlich hieß Heintje Thomas, wurde aber von allen nur nach dem niederländischen Kinderstar genannt, weil er einmal auf einer Betriebsfeier – nach etlichen Gläsern Alkohol mit entsprechend quäkender Kinderstimme – dessen legendären Erfolgshit Mama zum Besten gegeben hatte.

Da er seinen Kollegen den lästigen Rufnamen nicht wieder austreiben konnte, machte er seither notgedrungen das Beste daraus, indem er bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten Zeilen aus der Sechzigerjahre-Schnulze zitierte und auf diese Weise immer wieder für Lacher sorgte. Auch eben wollte er den Mund öffnen, fing sich aber einen bitterbösen Blick von Marius ein und schluckte seine Antwort schnell herunter.

Der zweite Kollege im Bunde war Ansgar, von allen nur Arni genannt, da er seinen Lebensmittelpunkt vor langer Zeit ins Fitnessstudio verlegt hatte. Allerdings übertrieb er das Training maßlos und hatte inzwischen Muskelpakete angesetzt, die sogar die seines großen Vorbilds Arnold Schwarzenegger in den Schatten stellten.

Seit einiger Zeit bewegte er sich, als wäre er der Terminator höchstpersönlich und könnte vor lauter Kraft kaum noch laufen, womit er sich regelmäßig ironische Kommentare von seinen Kollegen einfing.

Marius rieb sich genervt das Gesicht.

„Ich verstehe das einfach nicht! Was hat der für ein Motiv? Lasst uns das doch noch mal durchgehen. Kindergärten … Heintje, sag mal, wann würdest du einen Kindergarten anzünden?“

Der so direkt Angesprochene blinzelte überrascht.

„Ähm … also vielleicht, wenn ich sturzbesoffenen von einer Party kommen würde. Einfach so aus Spaß …“

Marius schüttelte den Kopf.

„Haben wir schon ausgeschlossen. Dann hätte es die Folgezündeleien nicht gegeben. Da ist ein Muster dahinter.“

„Vielleicht ist es ja auch eine versteckte Beziehungstat. Irgendwer rächt sich stellvertretend an seiner Verflossenen …“, versuchte Heintje einen neuen Ansatz.

Marius runzelte zweifelnd die Stirn.

„Warum geht ihr Männer eigentlich immer davon aus, dass der Täter ein Mann ist?“, fragte Saskia Stachleitner, die bis jetzt still an ihrem Computer gesessen hatte, und erhob sich. Sie ging zu Marius hinüber, dem eine plötzliche Röte das Gesicht verfärbte, und setzte sich auf seinen Schreibtisch. Mit ihren katzengrünen Augen funkelte sie ihn ironisch an.

„Tun wir doch gar nicht“, versuchte Marius sich zu verteidigen. „Aber du musst zugeben, dass Frauen nicht so … so …“

„Nicht so was?“, fragte Saskia und verzog spöttisch den Mund. „Forsch sind?“

Marius errötete noch mehr.

„Komm schon, du weißt, wie ich das meine. Ein Mann ist nun mal wahrscheinlicher als Täter.“

„Wieso? Kinder sind doch das klassische Frauenthema“, widersprach Saskia und schaute provozierend. „Wenn es in einer Ehe um Kinder geht, dann hat doch meist die Frau die Hosen an, oder sehe ich da was falsch?“

Heintje und Arni grinsten.

„Ja, was?“, giftete Marius sie an. „Ist es bei euch etwa anders?“

Er hätte Stein auf Bein schwören können, dass Saskia die Bemerkung eben nur gemacht hatte, um ihn versteckt zu provozieren. Nun amüsierten sich seine Kollegen wieder mal auf seine Kosten, dabei ging es bei denen zu Hause doch keinen Deut besser zu.

Warum rannte Arni denn jede freie Minute ins Studio und huldigte seinem Fitnesswahn? Doch bestimmt nicht, weil sein Familienleben so atemberaubend toll war! Marius schnaubte wütend.

„He, nun komm mal wieder runter“, sagte Heintje beschwichtigend und versuchte ein kooperatives Lächeln. „Wir haben nicht dich gemeint. Jedenfalls nicht dein Dreigestirn “, sagte er mit einem schrägen Blick auf Saskia.

Er stand ebenfalls auf und klopfte Marius beschwichtigend auf die Schulter, wobei er verdächtig nahe an Saskia vorbeistreifte. Die lächelte amüsiert und schaute Marius mit hochgezogenen Brauen an.

Marius biss sich auf die Lippen. Saskia hatte recht, so ging es nicht weiter. Sowohl zu Hause als auch hier auf der Dienststelle; in beiden Fällen musste er endlich mal klarstellen, wer die Hosen anhatte.

„Okay“, sagte er und schnippte mit den Fingern. „Heintje und Arni, ihr nehmt euch die Akten noch mal gründlich vor. Ich möchte jeden – aber auch wirklich jeden! – Hinweis auf irgendwelche Gemeinsamkeiten aufgelistet haben. Und wenn es das Inventar der Kellerräume ist. Dazu Ferienzeiten, Gruppengrößen, Namen aller Mitarbeiter.“

Seine Stimme wurde lauter.

„Untersucht die Familienstände der Erzieherinnen und die Namenslisten aller Kinder auf Doppelungen. Und zwar bis auf fünf Jahre zurück. Vielleicht gibt es ja Geschwisterpaare, die getrennt in verschiedenen Tagesstätten betreut wurden. Vielleicht haben sich die Eltern während der Kindergartenzeit ihrer Sprösslinge scheiden lassen und dann lief irgendwas aus dem Ruder.“

Seine Augen begannen zu funkeln.

„Genau! Vielleicht gab es ja einen Vater, der was mit einer Erzieherin hatte, solange sein Kind in den entsprechenden Kindergarten ging.“

„Oder umgekehrt“, warf Saskia ein.

„Was?“

„Oder umgekehrt. Vielleicht ist eine Frau auf einen attraktiven Kindergärtner abgefahren.“

Arni wiegte zweifelnd den Kopf.

„Ein attraktiver Kindergärtner? Nicht gerade wahrscheinlich, oder kennst du einen? Wenn ich mich nicht irre, ist Erzieherin ein Frauenberuf. Deshalb heißt es ja auch Erzieher in. “

Saskia blieb unbeeindruckt.

„Mein Gott, Arni, in welchem Jahrhundert lebst du denn? Ja, zufällig kenne ich einen. Mit Betonung auf attraktiv !“

Marius merkte auf. Wer war das, den Saskia da kannte? Ihm missfiel, wie sie eben das Wort attraktiv ausgesprochen hatte, auch wenn sie Arni damit nur hatte ärgern wollen. Dem schien die Bemerkung auch aufgestoßen zu sein, denn er warf Saskia, die immer noch auf Marius’ Schreibtisch saß und sich inzwischen noch ein Stück näher an ihn herangeschoben hatte, einen ärgerlichen Blick zu.

„Ach, tatsächlich? Du scheinst ja eine Menge Männer zu kennen, Kollegin Stachleitner“, sagte Arni gedehnt und schaute sie dabei herausfordernd an. Saskia schaute kühl zurück.

„Das gehört zu meinem Job, Kollege Fichtner. Schließlich muss ich informiert sein.“

„Ach ja? Worüber denn? Über Aufstiegschancen? Oder über Hochschlafoptionen?“

„Hallo? Könnt ihr euch mal bitte wieder auf die Aufgabe konzentrieren?“ Marius hieb mit der Faust auf den Tisch. „Ich glaube, es hackt!“

Sein Ton war hart, denn er fühlte, dass er mit dem, was Arni da gerade gesagt hatte, Gefahr lief, seine Autorität als Chef zu verlieren. Dabei wusste der Kollege wahrscheinlich nicht mal, wie nahe er mit seiner Bemerkung an der Wahrheit vorbeigeschrammt war.

Tatsächlich waren die „Lagebesprechungen“, zu denen sich Marius und Saskia in Bars und Kneipen trafen, vor Kurzem in eine neue, brandheiße Phase eingetreten. Die magische Schwelle war dabei aber noch nicht überschritten worden.

Marius lächelte in sich hinein. Saskia war wirklich etwas ganz Besonderes. Natürlich ging es ihr bei diesen heimlichen Treffen nicht um Aufstiegsmöglichkeiten, das war doch klar. Sie hatte ganz einfach Interesse an ihm entwickelt, genauso wie er an ihr.

Einmal waren sie abends sogar zusammen im Kino gewesen, und dabei hatte die erotische Spannung zwischen ihnen einen Grad erreicht, bei dem Marius unablässig prickelnde Schauer aus purer Gänsehaut über den Körper gelaufen waren. Kaum hatte er sich noch beherrschen können.

Mittlerweile vermochte er ihren Reizen auch hier am Arbeitsplatz kaum noch zu widerstehen. Schon wie sie jetzt wieder vor ihm auf dem Tisch saß!

Unter gar keinen Umständen durfte er sich deshalb jetzt in ihren Augen als Schwächling zeigen. Er fühlte, dass sie beide kurz davor standen, auch noch über die letzte Grenze zu gehen. Vermutlich hatte sie ihn, bevor sie etwas mit ihm anfing, in den letzten Tagen nur noch einmal richtig checken wollen. Und offensichtlich war das Ergebnis zu seinen Gunsten ausgefallen.

Genau deshalb durfte er sich jetzt keinen Schnitzer erlauben, denn Saskia – so viel war mittlerweile klar – stand nur auf starke Typen. Auf richtig starke Typen. So wie er selbst seit Kurzem nur noch auf richtig coole Polizistinnen stand.

Marius räusperte sich und schob seinen Stuhl zurück.

„Also, dann wäre alles klar. Morgen früh habe ich brauchbare Ergebnisse auf dem Tisch!“

Er bedachte Heintje und Arni noch einmal mit einem strengen Blick und wandte sich dann an Saskia.

„Und wir, Kollegin Stachleitner, werden jetzt noch mal zu den Tagesstätten rausfahren. Damals wurde schließlich nicht mit allen Angestellten gesprochen. Vielleicht haben die Kollegen ja doch irgendwas übersehen.“

Er schob sich in die Höhe und nickte Saskia zu.

„Kommst du?“

***

Die Internetverbindung war hergestellt. Antonia saß vor ihrem Laptop und sprach mit den Eltern. Dabei bediente sie sich eines Internetportals, das das Telefonieren mit Bildanzeige erlaubte. Wann immer es ging, nutzten Kirchhoffs diese Möglichkeit, um ihre Enkelchen wenigstens auf diese Weise einmal zu Gesicht zu kriegen.

Draußen war es bereits dunkel. Die Zwillinge lagen neben Antonia auf dem Sofa, und – oh Wunder! –, sie waren ruhig, obwohl sie nicht schliefen.

Beide nuckelten abwechseln an ihren Babyrasseln oder an ihren Daumen und schauten dabei mit großen Augen auf das leuchtende Display. Sie hatten gut zugelegt und sahen wohlgenährt aus, rosig, satt und rundum zufrieden. Richtige Wonneproppen waren sie. Und umwerfend süß.

Das jedenfalls fanden Kirchhoffs am anderen Ende der Leitung. Vor allem Antonias Mutter geriet vor Entzücken wieder einmal ganz aus dem Häuschen. Am liebsten hätte sie die Weltreise abgebrochen und wäre sofort zu ihrer Tochter und den Enkelkindern nach München zurückgekehrt.

Wobei Antonia anscheinend auch ohne ihre Hilfe wunderbar klarkam. Sie sah zwar etwas blass aus, und ihre Haare wirkten im fahlen Licht des Displays auch etwas strähnig, aber insgesamt schien es ihr gut zu gehen. Gerade berichtete sie, was sie in der letzten Woche alles mit den Zwillingen unternommen hatte.

Und wie rührend sich Marius – trotz seiner verantwortungsvollen Position – um seine kleinen Töchter kümmerte! Antonia überschlug sich geradezu, als sie ihren Eltern jetzt begeistert aufzählte, wie sehr Marius sie bei allem unterstützte.

Gunthild und Jeremias Kirchhoff schauten einander verwundert an. Hatten sie sich damals so in ihrem Schwiegersohn getäuscht? Er schien seine familiären Pflichten ja wirklich ernst zu nehmen. Dabei hatten sie doch bis vor Kurzem noch den Eindruck gehabt, dass er vor allem beruflich einen unbändigen Ehrgeiz an den Tag legte.

Aber so, wie er sich jetzt um seine Babys kümmerte, das war wirklich bewundernswert. Und nebenher schob er auch noch Überstunden für das Geldsäckel seiner Familie!

Gunthild, die ehemalige Therapeutin, zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war sie wirklich schon zu lange aus ihrem Beruf heraus, jedenfalls hatte ihr sonst recht zuverlässiger sechster Sinn sie diesmal gründlich in die Irre geführt.

Schade nur, dass die Internetverbindung nicht sehr stabil war. Antonias Stimme klang plötzlich schwach und weit entfernt. Dann fiel auch noch das Bild aus. Jeremias Kirchhoff seufzte. Gerade gelang es ihm noch, einen schönen Gruß an die Tochter und den abwesenden Vater ins Mikrofon zu rufen, dann brach die Verbindung endgültig zusammen.

Na ja, jedenfalls konnten sie jetzt ihre nächste Reiseetappe ganz entspannt antreten: zu Hause war alles in Ordnung. Ihre wunderbare Tochter bewältigte den Babyalltag mit Bravour.

***

Erschöpft klappte Antonia den Laptop zu. Das Gespräch hatte sie mal wieder die letzte Kraft gekostet.

Es war unglaublich schwer, den Eltern bei jedem Anruf ein X für ein U vorzumachen. Schließlich war Antonias Mutter ausgebildete Psychologin und konnte normalerweise die kleinste Regung im Gesicht ihrer Tochter interpretieren. Glücklicherweise hatte ihr während des Videotelefonats der Anblick der Enkelchen den aufmerksamen Blick auf die Tochter verstellt.

Nicht umsonst hatte Antonia den Laptop so platziert, dass die Kamera die ganze Zeit auch Milas und Lenas zufriedene Gesichter eingefangen hatte.

Und mit Papa war es noch schlimmer. Der gutmütige Oberstudienrat glaubte sowieso bedingungslos alles, was ihm seine einzige, abgöttisch geliebte Tochter erzählte; nie im Leben wäre er darauf gekommen, dass sie ihn ausgerechnet im Hinblick auf ihre Ehe so belog.

Dabei spielte Antonia ihren Eltern dieses Theater nun schon eine ganze Weile vor. Genau genommen seit die Zwillingsschwangerschaft in ihre letzte Phase getreten war.

Antonia konnte und wollte sich nämlich nicht eingestehen, dass Gunthild und Jeremias mit ihrer Meinung über Marius damals vermutlich richtiggelegen hatten. Schließlich hatte sie ihn immer wieder mit Händen und Füßen gegen ihre Eltern verteidigt. Nicht nur einmal waren sie dabei heftig aneinandergeraten.

Bitterböse Worte waren gefallen, und Antonia wusste, dass sie mit ihrem damaligen Verhalten vor allem ihren Papa sehr enttäuscht hatte.

Den Eltern jetzt einzugestehen, dass sie womöglich doch recht gehabt hatten, als sie ihr die Hochzeit hatten ausreden wollen, war für Antonia ein Ding der Unmöglichkeit. Denn das hätte ja auch bedeutet, dass all ihre Pläne, Wünsche und Träume hinsichtlich einer perfekten Familie sich wie Seifenschaum auflösten.

Nein, das konnte Antonia nicht. So schnell wollte sie nicht aufgeben; noch bestand Hoffnung, dass sich alles wieder zum Guten wendete.

Löste nicht die Ankunft des ersten Kindes in vielen Partnerschaften ernsthafte Probleme aus? Überall hörte man doch, dass ein Baby die Beziehung der Eltern zunächst einmal gründlich auf den Kopf stellte. Umso mehr musste das gelten, wenn man von heute auf morgen für zwei Kinder verantwortlich war.

Und bekanntlich taten sich ja Väter mit den veränderten Gegebenheiten zu Hause besonders schwer. Bestimmt würde sich Marius bald an die neue Situation gewöhnen. Er hatte es schließlich doppelt schwer, da ihn seine Leitungsposition auf der Arbeit zusätzlich stark in Anspruch nahm. Inzwischen kam er keinen Tag mehr pünktlich nach Hause.

Antonia hatte schon seit geraumer Zeit kein tiefergehendes Gespräch mehr mit ihrem Mann geführt, weil der mittlerweile fast jeden Abend wie ein Stein ins Bett fiel und sofort einschlief. Der Austausch fehlte ihr sehr.

Vielleicht wäre es ja besser gewesen, das Telefonat mit den Eltern vorhin doch noch ein wenig mehr in die Länge zu ziehen.

Der Kontakt war nämlich mitnichten einfach so abgebrochen. Vielmehr hatte Antonia zuerst ein Stückchen Stoff auf das Mikro gelegt, um ein Schwächerwerden der Verbindung zu simulieren, dann hatte sie die Kamera ausgeschaltet, damit bei den Eltern nur noch undeutliche Gesprächsfetzen ankamen, und schließlich hatte sie die Verbindung ganz gekappt, weil sie ihre eigenen Lügengeschichten keine Sekunde länger mehr ertragen hatte.

Es war so jämmerlich, wie sie sich verhielt. Aber anders konnte sie es im Moment einfach nicht.

Schon wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Antriebslos griff Antonia nach dem kleinen Stück Stoff, das noch im Laptop klemmte, und fuhr sich damit über das Gesicht. Die Haut auf den Wangen brannte schon vom Salz der vielen Tränen.

Hoffentlich kam Marius wenigstens heute nicht ganz so spät nach Hause. Antonia brauchte dringend jemanden zum Reden. Vor allem brauchte sie jemanden, der sie endlich mal wieder in den Arm nahm.

***

Darauf wartete sie allerdings vergeblich. Marius dachte überhaupt nicht daran, pünktlich zu seiner Familie zurückzukehren.

Stattdessen saß er nach dem Besuch der Kindertagesstätten wieder einmal mit seiner charmanten Kollegin in einer Kneipe. Heute jedoch schien sich der Abend nicht wie üblich zu entwickeln, denn bereits nach einer knappen Stunde wollte Saskia nach Hause. Anscheinend ging es ihr nicht besonders gut.

Marius ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Angesichts der Vertrautheit, die mittlerweile zwischen ihnen entstanden war, hatte er zwar Hoffnung gehegt, Saskia heute endlich etwas näherzukommen, aber auch jetzt, wo sich die Gelegenheit erneut in Schall und Rauch aufzulösen drohte, blieb er freundlich und geduldig.

Allerdings, wie wäre es, wenn er sie noch nach Hause begleitete? Das Auto hatte er dabei. Das war zwar nur eine geringe Chance, aber die konnte er immerhin nutzen, um sein Image als besonders aufmerksamer Kollege noch ein wenig aufzupolieren. Und möglicherweise ließ sich dabei ja doch noch etwas mehr herausholen. Er musste sich lediglich einen guten Grund einfallen lassen, warum er dann noch mit in ihre Wohnung kommen wollte.