Dr. Stefan Frank Großband 26 - Stefan Frank - E-Book

Dr. Stefan Frank Großband 26 E-Book

Stefan Frank

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Beschreibung

10 spannende Arztromane lesen, nur 7 bezahlen!

Dr. Stefan Frank - dieser Name bürgt für Arztromane der Sonderklasse: authentischer Praxis-Alltag, dramatische Operationen, Menschenschicksale um Liebe, Leid und Hoffnung. Dabei ist Dr. Stefan Frank nicht nur praktizierender Arzt und Geburtshelfer, sondern vor allem ein sozial engagierter Mensch. Mit großem Einfühlungsvermögen stellt er die Interessen und Bedürfnisse seiner Patienten stets höher als seine eigenen Wünsche - und das schon seit Jahrzehnten!

Eine eigene TV-Serie, über 2000 veröffentlichte Romane und Taschenbücher in über 11 Sprachen und eine Gesamtauflage von weit über 85 Millionen verkauften Exemplaren sprechen für sich:
Dr. Stefan Frank - Hier sind Sie in guten Händen!

Dieser Sammelband enthält die Folgen 2450 bis 2459 und umfasst ca. 640 Seiten.

Zehn Geschichten, zehn Schicksale, zehn Happy Ends - und pure Lesefreude!

Jetzt herunterladen und sofort eintauchen in die Welt des Dr. Stefan Frank.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 1229

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Stefan Frank
Dr. Stefan Frank Großband 26

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © kupicoo/iStockphoto

ISBN: 978-3-7517-6485-8

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Dr. Stefan Frank Großband 26

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Dr. Stefan Frank 2450

Wo eben noch dein Lachen klang

Dr. Stefan Frank 2451

Tanz mit mir zurück ins Leben

Dr. Stefan Frank 2452

Spieglein, Spieglein an der Wand …

Dr. Stefan Frank 2453

Schockierende Wahrheit

Dr. Stefan Frank 2454

Sehnsucht nach morgen

Dr. Stefan Frank 2455

Nur ein kurzes Leben?

Dr. Stefan Frank 2456

Heirate mich nur zum Schein

Dr. Stefan Frank 2457

Einst waren wir so glücklich

Dr. Stefan Frank 2458

Wasserspaß mit bösen Folgen

Dr. Stefan Frank 2459

Verzweifelt

Guide

Start Reading

Contents

Wo eben noch dein Lachen klang

Ein Bootsausflug endet für die kleine Lucy tragisch

D r. Stefan Frank genießt mit seiner Lebensgefährtin gerade eine romantische Bootstour auf dem Starnberger See, als die beiden plötzlich panische Schreie hören.

„Lucy? O mein Gott! Lucy! Wo bist du?“, gellt es über das Wasser.

Alarmiert schaut sich Dr. Frank um. In ihrer Nähe hechtet ein Mann von seinem kleinen Ruderboot aus mit einem Kopfsprung ins Wasser und taucht einige Sekunden später japsend wieder auf.

„Meine Tochter! Meine dreijährige Tochter! Sie ist … über Bord gefallen“, keucht er verzweifelt in die Richtung von Stefan Frank, der beherzt zu dem Mann schwimmt, um zu helfen.

Doch auf der Wasseroberfläche ist nichts zu sehen außer Kreisen, die sich allmählich ausbreiten.

„Um Gottes willen!“ Der Grünwalder Arzt holt tief Luft und taucht pfeilschnell in die Tiefe. Wie lange ist das kleine Mädchen schon unter Wasser? Und wie sollen sie es in dem trüben Wasser finden? Es beginnt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit …

Bitte, tu mir das nicht an.

Nervös lief Annika vor dem Leuchtturm von Hörnum auf und ab. Das hohe rote Leuchtfeuer mit der weißen Bauchbinde überragte die Insel um gut vierzig Meter. Hier, an der Südspitze von Sylt, wehte ein frischer Wind, der mit dem langen Rock von Annikas Brautkleid spielte und Sand aufwirbelte.

Sie hatte es drinnen nicht mehr ausgehalten. Die Anspannung, ob Thomas noch auftauchen würde oder nicht. Die mitfühlenden Blicke des Standesbeamten, der diskret auf seine Armbanduhr schaute und offenbar abwog, wann wohl das nächste Brautpaar vor der Tür stehen würde. Und das Stechen unter ihrer Haut, das mit jeder Minute stärker wurde.

Annika war aus dem Trauzimmer im siebten Leuchtturmgeschoss geflohen und lief nun eine Spurrille in den Erdboden.

Jetzt, im Sommer, gaben sich die Brautleute am Leuchtturm die Klinke in die Hand. Das sonnige Wetter war wie geschaffen dafür, den Bund fürs Leben zu schließen. Fast schien es, als wollte der Himmel selbst seinen Segen geben … Wenn man denn einen Bräutigam vorzuweisen hatte, der auch auftauchte!

Ein erstickter Laut entfuhr Annika, der halb ein Schluchzen, halb ein Schluckauf war. Sobald sie nervös wurde, bekam sie Schluckauf – und jetzt war sie die personifizierte Nervosität!

Verkrampft schloss sie die Finger um ihren Brautstrauß. Weiße und blassrosa Freesien waren mit unterschiedlichem Grün zu einem bezaubernden Strauß gebunden. Oder es zumindest gewesen. Die ersten Blätter bröselten bereits ab, weil Annika sie so fest umklammert hielt.

Sie zwang sich, den Griff zu lockern, und lächelte matt einer Spaziergängerin zu, die mit einem Terrier an der Leine an ihr vorbeischlenderte. Die Seniorin musterte ihr Brautkleid, dann huschte ein wissendes Lächeln über ihr Gesicht, und sie winkte Annika zu.

Annika erwiderte den Gruß und bemerkte, dass ihre Hand dabei zitterte.

Das hier war angeblich der schönste Tag in ihrem Leben. Warum fühlte es sich an wie eine einzige Katastrophe?

Alles wird gut, sagte sie sich selbst. Thomas verspätet sich nur. Er wird noch auftauchen, und dann werden wir heiraten. Wie es geplant war. Und wie wir es uns immer erträumt haben.

„Verflixt noch mal!“, murmelte sie vor sich hin.

„Falsche Antwort“, tadelte eine helle Stimme. Dorothee wirbelte aus dem Leuchtturm. In ihrem pfirsichfarbenen Kleid sah ihre Freundin aus wie ein heller Sommermorgen. Ihre braunen Haare trug sie hochgesteckt, sodass man den farbigen Salamander sah, der sich über ihre linke Schulter schlängelte. Das Tattoo hatte sie sich selbst zur bestandenen Abschlussprüfung als Krankenpflegerin geschenkt.

Mit ihrem unverwüstlichen Optimismus war Doro die beste Freundin, die man sich wünschen konnte.

Sie zwinkerte Annika zu.

„Falls du schon mal übst, was du dem Standesbeamten antworten willst, solltest du lieber einen neuen Versuch machen.“

„Das wird nicht nötig sein“, prophezeite Annika düster. „Thomas wird nämlich nicht auftauchen.“

„Aber natürlich wird er auftauchen.“

„Nein, wird er nicht.“

„Thomas liebt dich. Ich bin sicher, er wurde nur aufgehalten und wird jeden Augenblick hier eintreffen. Nichts und niemand könnte ihn heute von dir fernhalten.“

„Carola schon.“

„Seine Exfreundin? Das ist nicht dein Ernst?!“

„Er liebt sie immer noch. Das weiß ich jetzt.“

„Du bist ja verrückt! Dich hat er gebeten, ihn zu heiraten, nicht sie.“

„Aber nur, weil sie ihn verlassen hat. Ich hätte es wissen müssen. Für ihn war ich nur ein Notnagel. Thomas kann nicht gut allein sein. Er wurde verlassen, und ich war da. Meine Gegenwart war praktisch für ihn. Mehr nicht.“

„Das ist doch Unsinn.“

„Ist es nicht.“ Nervös zwirbelte Annika eine Strähne ihrer hellblonden Haare zwischen den Fingern. Sie reichten ihr bis zu den Ohrläppchen. „Ich war so blind, Doro. Ich wollte es nicht wahrhaben, dabei gab es jede Menge Anzeichen dafür, was er empfindet. Carola und er haben es immer vermieden, sich anzusehen, wenn sie im selben Raum waren. Bei der Party der Hagenbecks neulich haben sie jeden Blickkontakt gescheut. Das hätte mich stutzig machen müssen.“

„Bestimmt haben sie sich nur unbehaglich gefühlt. Immerhin sind sie Kollegen. Carola ist auch Immobilienmaklerin. Es ist unvermeidlich, dass sie sich ab und zu über den Weg laufen. Vermutlich reden sie nur das Nötigste miteinander.“

„Eben nicht. Sie schweigen sich eisern an, selbst wenn sie nebeneinanderstehen. Als könnte jedes Wort zu viel verraten.“

„Das sieht Thomas aber gar nicht ähnlich.“

„Eben. Normalerweise redet er wie ein Wasserfall. Schweigen ist bei ihm nie ein gutes Zeichen. Letztens auf der Party hat er kaum die Zähne auseinandergebracht.“ Annika schluckte. „Glaub mir: Er hat Carola immer geliebt. Ich war für ihn nur ein Notbehelf.“

„Das ist nicht wahr, Annika.“

„Und warum ist er jetzt nicht hier? Wir wollten vor einer halben Stunde heiraten. Warum taucht er nicht auf?“

„Das weiß ich leider auch nicht. Hast du versucht, ihn anzurufen?“

„Sein Handy ist ausgeschaltet.“ Annika blickte auf ihren Brautstrauß hinunter. „Sieh nur, er verliert schon die ersten Blüten. Das ist ein schlechtes Vorzeichen.“

„Das ist nur ein Zeichen dafür, dass du eine schlechte Floristin erwischt hast.“

Annikas Augen brannten. Sie schaute sich nach allen Seiten um, aber abgesehen von einigen Möwen, die über ihnen in der Luft kreisten, war niemand zu sehen. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.

„Das ist wirklich armselig. Als Anwältin vertrete ich Mandanten bei Scheidungen, und selbst schaffe ich es nicht einmal bis vor den Traualtar.“

„Sag so etwas nicht, Annika. Du siehst umwerfend aus. Thomas wäre ein Idiot, wenn er dich sausen lassen würde.“

„Vielleicht hätte ich gewarnt sein müssen. Immerhin war es seine Idee, heimlich zu heiraten. Wir sind extra aus Hamburg hierhergekommen und haben uns in einer Pension eingemietet, ohne unseren Familien etwas davon zu sagen. Ich wollte gern, dass unsere Angehörigen dabei sind, aber er meinte, auf diese Weise wäre es romantischer. Ich glaube, er wollte sich einfach ein Schlupfloch offen lassen und keine unliebsamen Fragen seiner Verwandten anhören müssen, wenn er nicht aufkreuzt.“

„So etwas traue ich ihm eigentlich nicht zu.“

„Ich auch nicht, aber er ist nicht hier. Das sagt einiges aus, nicht?“ Annika ließ die Schultern sinken. Thomas und sie hatten in getrennten Zimmern übernachtet, weil es angeblich Unglück brachte, wenn er sie vor der Zeremonie sah.

Sie wollten sich am Leuchtturm treffen, heiraten und nach den Flitterwochen mit ihren Familien nachfeiern. Nur Dorothee war eingeweiht und ebenfalls nach Hörnum gekommen, um Annika bei den Vorbereitungen und beim Frisieren zu helfen. Alles war bereit, aber ihr Bräutigam kam und kam einfach nicht.

Oder etwa doch?

In der Ferne tauchte ein hoch gewachsener Mann auf. Sein weißes Hemd leuchtete in der Sonne. Das dunkle Jackett trug er an einem Finger über der Schulter. Seine blonden Haare waren von der Sonne gesträhnt und leicht gewellt. Darunter zeichnete sich ein gebräuntes Gesicht ab, das von dunklen Augen dominiert wurde. Thomas!

Annika wagte ein Aufatmen. Er war also doch gekommen! Nun würde alles gut werden. Ihre Freundin hatte recht behalten. Er war einfach nur aufgehalten worden und … Ihre Gedanken stockten, als er näher kam und sie seine ernste Miene bemerkte. Sein Blick war leer, als würde er in einen tiefen Brunnen starren. Nicht glücklich und voller Vorfreude, wie sie es sich für diesen Tag ausgemalt hatte.

Er blieb vor ihr stehen – und schwieg!

Nein!, hämmerte es hinter ihren Schläfen. Nein, das kann er mir nicht antun!

„Thomas?“ Ihre Stimme zitterte hörbar.

Er seufzte und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber noch immer kam kein Wort über seine Lippen. Ein tiefer Atemzug, dann räusperte er sich noch einmal.

„Es tut mir so leid, Annika, aber ich kann dich nicht heiraten“, sagte er mit rauer Stimme.

Das war’s. So wenige Worte konnten ein Glück zerbrechen lassen wie eine Glaskugel. Annika wankte nicht, aber ein Zittern lief durch sie hindurch.

„Warum? Warum jetzt? Warum überhaupt?“

„Ich kann es dir nicht erklären. Ich kann nur wiederholen, dass es mir unendlich leidtut. Ich liebe dich, Annika …“

„Nein, das tust du nicht“, schleuderte sie ihm entgegen, „sonst würdest du mir das hier nicht antun. Wenn du mich wirklich lieben würdest, würdest du dein Versprechen halten und mich nicht so verlassen.“

„Ach, Annika …“ Thomas sah sie traurig an, aber neben dem Kummer bemerkte sie noch etwas anderes in seinem Blick: Entschlossenheit! Er schien sich seiner Sache absolut sicher zu sein – und das brach ihr das Herz.

Es gab keine Hoffnung für sie beide, keine Chance auf eine Versöhnung. Für ihn war das Thema „Heirat“ abgehakt. Das sah sie ihm an.

In ihrem Inneren bildete sich ein Knoten. Sie wollte schreien, toben, auf ihn einschlagen und ihn gleichzeitig beschimpfen und anflehen, sie nicht zu verlassen. Doch sie brachte kein Wort hervor. Nicht einmal bewegen konnte sie sich. Annika stand wie erstarrt da und versuchte, das Unbegreifliche zu begreifen. Wie nur konnte sich die Welt weiterdrehen, wo sie doch gerade in tausend Scherben zerbrochen war?

***

Der Sommer meint es gut an diesem Tag. Auch im mehr als tausend Kilometer vom Nordseestrand entfernten Bayern. Genauer gesagt: am Starnberger See. Eine milde Brise wehte von Südwesten heran und trieb die wenigen weißen Wolken gemächlich über den Himmel. Die klare Luft versprach wieder einen herrlichen Sonnentag. Keines der in dieser Region gefürchteten, schnell aufziehenden Gewitter war zu befürchten.

Dr. Stefan Frank und seine Freundin hatte das sonnige Sommerwetter aus München an den Starnberger See gelockt. Nur eine halbe Stunde Fahrt trennte ihr Zuhause von dem zauberhaften Ausflugsziel.

Als Hausarzt hatte Stefan Frank unter der Woche alle Hände voll zu tun, und auch in der Praxis seiner Freundin herrschte wochentags ein reges Kommen und Gehen. Beide übernahmen an ihren freien Tagen oftmals Notdienste, deshalb war ein gemeinsames freies Wochenende ein kostbares Gut, von dem sie jeden Augenblick genossen.

Aus diesem Grund waren sie schon in aller Frühe losgefahren, hatten sich ein Ruderboot für den ganzen Tag gemietet und trieben nun gemächlich auf dem Gewässer.

Ein leuchtend gelber Sonnenschirm spendete ihnen Schatten. Ein Weidenkorb stand auf dem Boden des Bootes bereit. Darin war alles verstaut, was für ein gemütliches Picknick gebraucht wurde. Sie wollten sich später einen schönen Platz zum Anlegen suchen, sich sonnen und schwimmen.

Einen Tag lang die Seele baumeln lassen, darauf hatte sich Stefan Frank schon lange gefreut. Und das obendrein mit Alexandra, der Frau, der sein Herz gehörte. Das war für ihn der reine Himmel. Die bezaubernde Augenärztin trug ihr Herz auf der Zunge. Das schätzte er ebenso an ihr wie ihre Wärme und Hilfsbereitschaft.

An diesem Tag trug Alexandra ein schulterfreies weißes Sommerkleid mit dünnen Trägern. Es betonte ihre sommerlich gebräunte Haut. Auf ihren braunen Locken saß ein Strohhut, und ihre roten Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. Sie sah reizend aus!

Entspannt hielt sie eine Hand ins Wasser und blickte versonnen auf den Strudel hinab, den sie erzeugte. Stefan Franks Herz wurde weit, als er sie betrachtete. Manchmal konnte er kaum fassen, dass ihr Herz ihm gehörte …

Da richtete sie sich mit einem Mal kerzengerade im Boot auf.

„Schau nur, Stefan, da drüben!“ Sie streckte eine Hand zu dem Kreuz aus, das in Ufernähe aus dem Wasser aufragte.

Er nickte wissend. „An dieser Stelle soll König Ludwig II. ertrunken sein.“

„So heißt es, aber glaubst du diese Theorie etwa, Stefan?“

„Ehrlich gesagt, ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Du allerdings schon, wie mir scheint.“

„Und ob! Der König hat uns so viel Schönes hinterlassen. Nimm nur Schloss Neuschwanstein oder Herrenchiemsee. Diese Bauten überdauern Generationen und ziehen immer wieder Menschen in ihren Bann. Der König hatte nicht verdient, was mit ihm geschehen ist. Im Juni 1886 wurde er durch ein ärztliches Gutachten entmündigt und hierher nach Schloss Berg gebracht. Einen Tag später soll er sich im See ertränkt haben.“

Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Ein ein Meter neunzig großer Mann und exzellenter Schwimmer! Selbst wenn er gewollt hätte, wäre sein Überlebensinstinkt viel zu stark gewesen, als dass es ihm gelungen wäre, sich zu ertränken. Obendrein fand man ihn im kniehohen Wasser treibend. Ich bin davon überzeugt, dass er ermordet wurde.“

„Offiziell war es allerdings ein Selbstmord.“

„Ja, ich weiß, aber wenn du mich fragst, wurden damit nur die wahren Ereignisse vertuscht.“

„Mir scheint, du hast da deine ganz eigene Theorie, Liebes.“

„Ich habe mir nur einiges angelesen. Das Leben von König Ludwig II. fasziniert mich.“

„Das wusste ich gar nicht. Das Thema ist allerdings wirklich interessant. Ich sollte mir dazu wohl etwas anlesen, wenn wir wieder daheim sind.“ Stefan Frank stemmte sich in die Riemen und brachte das Boot weiter hinaus auf den See.

Außer ihnen waren noch andere Ruderboote unterwegs. Auch etliche Jachten sprenkelten das blaue Wasser mit ihren weißen Segeln. Alexandra lehnte sich im Heck zurück und schaute versonnen zu, wie er ruderte. In ihren Augen lag ein Funkeln, das ihm ein Lächeln entlockte.

„Gefällt dir, was du siehst?“, fragte er neckend.

„Sogar sehr.“

„Das freut mich.“ Er ließ die Ruder los, beugte sich vor und rückte den Sonnenschirm sorgsam so zurecht, dass sie weiterhin im Schatten saß. Zwei Enten flogen quakend über ihr Boot hinweg und verschwanden irgendwo über dem Festland. Die Sonne hatte sogar schon so früh am Tag allerhand Kraft und brannte vom Himmel. Später würden die Temperaturen vermutlich wieder unerträglich sein.

„Unglaublich, diese Hitze, nicht wahr?“, seufzte Alexandra. „Seit Tagen geht das schon so. Hier auf dem Wasser ist es angenehm, aber daheim ist das Haus dermaßen aufgeheizt, dass einem nachts sogar ein Laken als Zudecke zu viel wird. Ich glaube, ich habe letzte Nacht sogar auf Suaheli geträumt.“

„Auf Suaheli? Oha! Vielleicht ist das ein Zeichen.“

„Ja, dass es zu heiß ist.“ Sie blies die Wangen auf und ließ die Luft entweichen.

„Entweder das, oder wünschst dir unbewusst eine Reise nach Afrika.“

„Bring mich nur nicht auf so etwas, Stefan.“ Ihre Augen leuchteten auf. „Ich würde zu gern einmal den Kruger-Nationalpark sehen. Riesige Herden von Antilopen und Elefanten, Giraffen und majestätische Löwen … Oh, wie herrlich das wäre!“

„Warum nehmen wir uns das eigentlich nicht einmal vor?“

„Ist das dein Ernst?“

„Aber ja. Wir könnten schauen, dass wir beide unseren Urlaub zur selben Zeit einplanen. Das wird nicht ganz leicht, aber es ist machbar.“

„Oh, Stefan! Das würde mir gefallen!“

„Mir auch“, gab er versonnen zurück. Ein Urlaub auf dem afrikanischen Kontinent, all die neuen Eindrücke und Erfahrungen mit Alexandra teilen, ja, das stellte er sich wunderbar vor. Natürlich kannte er die schier endlosen Weiten der Savanne aus dem Fernsehen, aber sie einmal selbst zu erleben, war doch noch etwas anderes. „Sobald wir daheim sind, schaue ich mich im Internet nach Reiseanbietern um.“

„Einverstanden.“ Alexandra strahlte ihn an. Da konnte er nicht anders: Er sicherte die Ruder, verließ seinen Platz in der Bootsmitte, setzte sich zu ihr ins Heck und legte die Arme um sie.

„Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“, raunte er.

„Ja, aber das gehört zu den Dingen, die ich nicht oft genug hören kann.“ Ein Lächeln schwang in ihrer Stimme mit.

Während der See mit sachtem Plätschern gegen den Bootsrumpf schlug, zog Stefan Frank seine Liebste noch näher an sich und küsste sie. Sie wurde weich in seinen Armen, schmiegte sich an ihn und erwiderte seinen Kuss so innig, dass er alles um sich herum vergaß.

Stefan Frank strich Alexandra über die Wange und den sensiblen Schwung ihres Halses. Zärtlich folgten seine Lippen dem Pfad seiner Hände, hauchten zärtliche Küsse auf ihre weiche Haut …

… bis etwas ganz in ihrer Nähe hörbar platschte. Nur einen Wimpernschlag später zerriss ein Aufschrei die morgendliche Stille am See.

„Lucy? O mein Gott! Lucy! Wo bist du?“

Dr. Frank sah sich alarmiert um.

Ein Mann sprang in einem Ruderboot rund fünfzig Meter näher am Ufer auf und blickte hektisch ins Wasser. Er war um die dreißig und hielt einen Fotoapparat in den Händen, den er nun jedoch fallen ließ, als hätte er sich daran verbrannt. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, sodass das Wasserfahrzeug gefährlich ins Wanken geriet.

„Lucyyyy!“, brüllte er.

Keine Reaktion. Auf der Wasseroberfläche waren lediglich Kreise zu sehen, die sich allmählich ausbreiteten und abflauten.

Der Fremde hechtete mit einem Kopfsprung ins Wasser.

„Dort drüben hat es ein Unglück gegeben!“ Stefan Frank war mit zwei Sätzen wieder auf der Ruderbank und brachte sein Boot näher an das andere heran.

„Was hast du denn vor, Stefan?“

„Ich muss beim Suchen helfen.“ Er streifte seine Schuhe von den Füßen und sprang kopfüber in den See. Das Wasser war so kalt, dass sich sekundenlang alles in ihm verkrampfte. Er riss die Augen auf, während er tauchte. Grün. Um ihn herum war alles grün. Über ihm tanzte das Sonnenlicht auf der schimmernden Wasseroberfläche. Unter ihm gähnte die dunkle Tiefe.

Der Starnberger See war zwar lediglich der fünftgrößte See seines Heimatlandes, aber gleichzeitig der zweitwasserreichste, weil er so tief war. Was hier einmal verloren ging, wurde so schnell nicht wiedergefunden!

Zu seiner Rechten bemerkte er eine dunkle Silhouette. Der Unbekannte tauchte und drehte sich dabei um die eigene Achse. Stefan Frank ahnte nichts Gutes. Die Gesuchte war verschwunden! Seine Lungen brannten und bettelten um Sauerstoff. Er musste auftauchen. Neben ihm schoss der Unbekannte japsend aus dem Wasser, hustete und spuckte.

„Was ist passiert?“, rief Stefan Frank ihm zu.

„Meine Tochter! Meine dreijährige Tochter! Sie ist … über Bord gefallen.“

„Um Gottes willen!“ Stefan Frank holte noch einmal tief Luft, dann tauchte er pfeilschnell unter Wasser. Er sank weiter und entdeckte plötzlich vor sich eine kleine Gestalt, die reglos tiefer und tiefer sank. Ihr rot-weiß-kariertes Kleidchen bauschte sich um sie wie ein Fächer. Kräftig mit den Beinen austretend, schnellte er ihr nach, bekam einen winzigen Arm zu fassen und umschloss ihn mit festem Griff. Er schlang einen Arm um das reglose Kind und brachte es mit kräftigen Beinbewegungen an die Oberfläche. Ein prüfender Blick – und ihm wurde angst und bange.

Das kleine Mädchen hatte das Bewusstsein verloren!

„Lucy!“ Die Stimme des Vaters gellte neben ihm und überschlug sich beinahe. Halb wahnsinnig vor Angst riss er die Augen auf und starrte auf das reglose Kind.

Stefan Frank überschlug in Gedanken seine Optionen. Lucy an Bord seines Bootes zu hieven, würde Zeit kosten und seine Möglichkeiten einschränken. Das Ufer war nah. An Land konnte er mit der Wiederbelebung beginnen und auf ein Rettungsfahrzeug warten. Entschlossen zog er das Kind mit sich zum Ufer, bettete es behutsam aufs Gras und tastete nach seinen Vitalfunktionen.

Nichts. Kein Puls. Keine Regung. Sie atmete nicht! Wasser rann über ihr rundes Gesicht. Ihre Haare waren zu winzigen Rattenschwänzchen gebunden, aus denen nun kleine Rinnsale ins Gras flossen.

Stefan Frank platzierte seinen einen Handballen in der Mitte ihres Brustkorbs, setzte den anderen Handballen darauf und beugte sich vor, um mit gestreckten Armen zu pumpen. Es war ein Drahtseilakt, genügend Druck auszuüben, um das Kinderherz zu massieren, aber nicht so viel, dass ihre Rippen brechen würden. Dreißig Mal presste er ihren Brustkorb zusammen, dann überstreckte er behutsam ihren Nacken, vergewisserte sich, dass ihre Atemwege frei waren, und blies seinen Atem in ihren Mund.

Pumpen. Beatmen. Pumpen. Beatmen.

Die Minuten dehnten sich dahin, ohne dass sich eine Reaktion zeigte. Die kleine Lucy kam nicht zu sich. Ihre Lider blieben geschlossen. Die Lippen waren bläulich verfärbt und verrieten, dass ihrem Körper der Sauerstoff fehlte.

„Komm schon, Spatzerl“, drängte er. „Du musst atmen. Atmen!“

Hinter ihm schob Alexandra knirschend das Ruderboot an Land.

„Ich habe den Notdienst alarmiert“, berichtete sie. „Ein Rettungswagen ist auf dem Weg hierher. Er sollte in weniger als zehn Minuten hier sein.“

„Danke dir.“ Sein Atem kam keuchend. Schweiß rann ihm vor Anstrengung über Stirn und Rücken, aber er ließ nicht nach.

Lucys Vater stand wie gelähmt daneben. Das Gesicht bleich wie der Tod, der seine Klauen nach dem kleinen Mädchen ausstreckte.

„Komm schon, Kleines, du musst atmen.“ Stefan Frank stemmte sich auf die Brust des Kindes, presste wieder und wieder … neunundzwanzig, dreißig. Atemspende. Eins, zwei, drei … Er arbeitete wie eine Maschine.

„Stefan …“ Alexandra klang gepresst, mahnte, dass die Reanimation bereits zu lange dauerte. Als ob er das nicht selber wüsste! Aufgeben kam jedoch nicht infrage. Er konnte die Kleine doch nicht sterben lassen! Nein, er machte weiter. Seine Gedanken kreiselten darum, dass er durchhalten musste. Er würde die kleine Lucy nicht aufgeben.

„Bitte, helfen Sie ihr“, flehte ihr Vater. Er sank neben seinem Kind auf die Knie und ballte die Hände zu Fäusten, als könnte er damit das Schicksal selbst besiegen. „Bitte …“

In der Ferne kündigte ein Martinshorn den Rettungswagen an. Die Sirene wurde lauter, aber auch dieser Lärm brachte das Kind nicht zu sich. Verzweiflung erfasste Stefan Frank. Die kleine Lucy sprach nicht auf seine Bemühungen an. Alle Versuche, sie wiederzubeleben, schienen wirkungslos zu sein!

Dieser Tag, der so wunderbar begonnen hatte, drohte ein einziger Albtraum zu werden!

***

Vor Annikas Fenster flatterten Möwen kreischend durch die Luft. Eine milde Brise blähte die Gardine, und das Rauschen der Wellen drang herein. Bei ihrer Anreise hatte die junge Anwältin geglaubt, einen der schönsten Orte auf dieser Welt vor sich zu sehen. Jetzt schenkte sie der herrlichen Aussicht nicht einmal mehr einen Blick.

Nachdem ihr Verlobter ihre Trauung abgesagt hatte, war sie in ihre Pension zurückgekehrt, hatte sich das Brautkleid vom Körper gerissen und Zuflucht in ihrem Bett gesucht. Mehrmals hatte jemand an ihre Tür geklopft, aber sie hatte weder geantwortet noch geöffnet. Sie wollte, nein, sie konnte jetzt niemanden sehen!

Die Sonne schien so warm herein, dass sie selbst in ihrer hauchdünnen Seidenunterwäsche schwitzte. Annika hatte ein Faible für Unterwäsche aus Seide. Sie mochte das kühle, glatte Gefühl von Luxus auf ihrer Haut und besaß nicht viel, dafür aber ausgesuchte Wäsche. Jetzt achtete sie auch darauf nicht.

Wieder klopfte jemand von draußen.

„Annika?“ Dorothee pochte noch einmal. „Ich bin es. Lass mich rein, bitte.“

Annika machte eine abwehrende Bewegung mit dem Kinn, auch wenn die Besucherin das draußen nicht sehen konnte.

„Ich möchte nur wissen, ob es dir gut geht. Wir müssen nicht reden. Bitte, Annika.“

„Ich … ich kann nicht …“ Ein Schluchzen riss ihr die Worte von den Lippen.

„Ach, Anni …“

„Bitte, jetzt nicht.“

„Also schön. Ich verstehe dich ja.“ Dorothee seufzte hörbar. „Ich bleibe in der Nähe. Komm rüber zu mir, wenn dir danach ist, ja?“ Sekundenlang blieb es draußen still, dann entfernten sich leichte Schritte.

Annika hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie die Freundin fortschickte, die ihr doch nur helfen wollte, aber alles in ihr fühlte sich wund und aufgerieben an. Sie war jetzt nicht in Lage, über das zu reden, was geschehen war. Es fühlte sich so unwirklich an!

Vor wenigen Stunden noch hatte die Zukunft hell und verheißungsvoll vor ihr gelegen. Thomas und sie hatten heiraten und eine Familie gründen wollen. Sie hatten sich ein Heim schaffen wollen. Und jetzt? Jetzt war all das hinfällig. Thomas liebte sie nicht. Vielleicht hatte er es eine Weile selbst geglaubt, eventuell hatte er es sich sogar gewünscht, sie zu lieben, aber das tat er nicht.

Er trug eine andere Frau im Herzen. Die Frau, die er schon lange vor ihr geliebt und offenbar nie vergessen hatte: seine Kollegin Carola. Das war eine bittere Pille, die Annika schlucken musste.

Auf dem Nachttisch stand das gerahmte Foto von Thomas und ihr. Sie verreiste nie, ohne es mitzunehmen. Bisher war es ihr immer ein Trost gewesen, wenn sie ohne ihren Schatz war. Jetzt ertrug sie den Anblick ihrer strahlenden Gesichter nicht mehr. Sie stieß das Foto so heftig um, dass es vom Nachttisch fiel und auf den Dielenboden prallte. Das Glas zerbrach.

Ein ersticktes Schluchzen entfuhr ihr.

Sie blickte auf ihren Verlobungsring. Der schmale Reif war aus Weißgold und mit einem tropfenförmigen Lapislazuli besetzt. Er erinnert mich an deine Augen , hatte Thomas geraunt, als er ihn ihr angesteckt hatte, und an einen geheimnisvollen Nachthimmel. Ich möchte so viele Tage mit dir verbringen, wie es Sterne gibt.

Damals war sie so glücklich gewesen. So … Oh, verflixt noch mal! Heiße Tränen brachen sich Bahn, und ihre Trauer schüttelte sie regelrecht durch. Annika nahm den Ring ab und legte ihn auf den Nachttisch. Dann rollte sie sich auf dem Bett zusammen wie ein tödlich verwundetes Tier und presste eine Faust vor den Mund, um einen Schrei zurückzuhalten.

Thomas hat mich nur benutzt. Ich sollte ihm helfen, Carola zu vergessen. Womöglich war ihm das nicht einmal bewusst, aber so war es.

Das Mobiltelefon auf ihrem Nachttisch vibrierte.

Ein Anruf für sie.

Annika wedelte matt mit einer Hand. Sie wollte jetzt nicht reden, aber das Brummen riss nicht ab.

Widerstrebend nahm sie das Telefon, um es abzuschalten, stockte jedoch mitten in der Bewegung.

Lukas , stand auf dem Display.

Wie seltsam! Weshalb rief ihr Schwager denn bei ihr an? Normalerweise war es Stefanie, die sich meldete. Lukas hatte als Tischler meist viel zu viel zu tun, um sich Zeit für eine Plauderei zu nehmen.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.

War daheim womöglich etwas passiert? Warum sonst sollte ihr Schwager mitten am Vormittag bei ihr anrufen?

Annika zögerte noch kurz, dann hob sie das Telefon ans Ohr und meldete sich.

„Pfister hier.“

„Annika?“, stieß ihr Schwager atemlos hervor. „Gott sei Dank, dass ich dich erreiche. Hör zu, kannst du in die Waldner-Klinik kommen? Am besten jetzt gleich?“

„Ich … Was ist denn passiert? Ist etwas mit Stefanie?“

„N-nein …“ Sekundenlang blieb es still im Hörer. Die Worte schienen in der Kehle des Anrufers zu klemmen wie Fischgräten. „Es ist Lucy“, stöhnte er dann und klang so entsetzt, dass sie sich erschrocken aufsetzte. Lucy war ihre Nichte. Ein süßer Wirbelwind von drei Jahren, der von den Eltern geliebt und von der Tante vergöttert wurde.

Lucy hatte eine Tierhaar-Allergie, genau wie Annika, und durfte kein eigenes Haustier haben. Dabei liebte sie Tiere heiß und innig. Im Lauf der Jahre hatte sich ihr Kinderzimmer in einen Plüschtier-Zoo verwandelt …

„Was ist denn mit Lucy, Lukas?“

„Wir waren zusammen am Starnberger See. Es war so ein herrlicher Morgen. Ich habe uns ein Ruderboot gemietet und bin mit ihr rausgerudert. Dann habe ich ein paar Fotos gemacht. Der See lag so herrlich ruhig im Morgenlicht. Die Stimmung war einmalig. Aber dann … dann habe ich auf einmal das Platschen gehört, und Lucy war weg!“

Pures Grauen ließ die Stimme ihres Schwagers heiser klingen.

„Sie ist aus dem Boot gefallen. Vielleicht wollte sie nach Fischen schauen. Oder mit dem Wasser spielen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls war sie auf einmal nicht mehr da. Ich bin ihr nachgesprungen, aber ich konnte sie nicht finden. Dann kam ein Paar dazu. Der Mann ist ebenfalls getaucht. Er hat Lucy gefunden und an Land gebracht, aber sie … sie ist nicht aufgewacht.“

O Gott! Annika wollte etwas sagen, aber sie brachte keinen Laut hervor. Ihre Hand umklammerte das Telefon so fest, dass sie schon befürchtete, es würde unter ihren Fingern brechen.

„Es ist meine Schuld“, stöhnte ihr Schwager. „Ich habe nicht aufgepasst. Lucy saß ganz friedlich vorn im Boot, ich schwöre es, aber plötzlich … plötzlich war sie weg!“

„Oh Lukas!“

„Dr. Frank hat gekämpft. Es ist ihm schließlich gelungen, sie wiederzubeleben, aber sie war so lange weg. Ich weiß nicht, was werden soll. Sie haben sie in die Waldner-Klinik gebracht. Ausgeflogen. Mit einem Hubschrauber. Angeblich gibt es hier einen Spezialisten, der sie behandeln kann, aber ich weiß nicht … ich …“ Er stockte und stöhnte wieder.

Annika verstand. Wenn das Gehirn ihrer kleinen Nichte zu lange ohne Sauerstoff gewesen war, würde nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war.

„Wo …“ Sie kämpfte um Fassung. „Wo ist Stefanie? Warum war sie denn nicht bei euch?“

„Weil sie krank ist. Ein Magenvirus. Sie ist so schlapp, dass sie kaum stehen kann. Sie wollte, dass wir trotzdem einen schönen Tag haben, und hat uns an den See geschickt. Ich wünschte, ich hätte nicht auf sie gehört. Wäre ich doch nur bei ihr geblieben, dann wäre noch alles gut!“

Annika zitterte am ganzen Leib. Alles in ihr schrie nach Lucy. Die süße Dreijährige kämpfte gerade um ihr Leben – und sie war über eintausend Kilometer weit entfernt!

„Dr. Doblander ist Kinderneurologe“, fuhr ihr Schwager mit rauer Stimme fort. „Es heißt, er hätte schon einige Wunder vollbracht, aber ich weiß nicht, was er noch für Lucy tun kann. Sie war viel zu lange ohne Sauerstoff. Wer weiß, welches Martyrium nun vor ihr liegt. Vielleicht wäre es besser, sie einfach gehen zu lassen.“

„So darfst du nicht sprechen. Wo Leben ist, ist Hoffnung.“

„Was denn für eine Hoffnung?“, fuhr er auf. „Soll ich mir etwa wünschen, dass mein Kind ein Leben als Pflegefall führt?“

„Das steht noch nicht fest, Lukas.“

„Doch, Annika, wir müssen den Dingen ins Auge blicken. Lucys Gehirn war minutenlang ohne Sauerstoff. Nach zwei Minuten werden die ersten Hirnzellen geschädigt. Nach fünf Minuten gibt es kein Zurück mehr. Das habe ich gelesen. Ich kann mir ausrechnen, was meinem Kind bevorsteht.“ Verzweiflung troff von seinen Worten wie Blut von einem gerissenen Wildtier.

Annika richtete sich auf.

„Ich komme zu euch, Lukas. Ich fahre gleich los.“

„Das ist gut. Ich bin froh, dass du kommst. Wann kannst du ungefähr hier sein?“

„Momentan bin ich auf Sylt.“ Annika überschlug in Gedanken die Fahrzeit. „In zwölf Stunden bin ich da. Spätestens.“

„Zwölf … Moment mal! Was machst du denn auf Sylt? Warum bist du nicht daheim in Hamburg?“

„Das ist eine längere Geschichte. Ich erzähle sie euch, wenn ich da bin.“ Annikas Gewissen versetzte ihr einen Stich. Sie hatte ihrer Familie nichts von ihren heimlichen Hochzeitsplänen erzählt. Am Telefon konnte sie das nicht nachholen. Nein, das musste sie persönlich machen. „Ich fahre sofort los“, versprach sie. „Wir sehen uns spätestens in zwölf Stunden!“

„Fahr bitte vorsichtig.“ Ihr Schwager schluckte hörbar. „Ein Unglück in unserer Familie ist mehr als genug.“

***

Annika fühlte sich wie zerschlagen.

Mehrere Staus und Baustellen hatten sie aufgehalten. Sie erreichte München erst weit nach Mitternacht. Ihre Nichte lag in der Waldner-Klinik, einem modernen weißen Gebäude am Englischen Garten. Der Parkplatz war gut gefüllt. Am Taxistand links vom Klinikeingang warteten vier Fahrzeuge.

Eine Glastür führte ins Innere des Hauptgebäudes.

Annika stellte ihr Auto auf dem Parkplatz ab und eilte mit langen Schritten in die Klinik. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, erst nach Hause zu fahren. Ihr Gepäck ließ sie im Kofferraum zurück. Falls jemand die Klappe aufbrechen und ihr Brautkleid stehlen sollte, würde sie wenigstens nicht mehr ständig an ihre geplatzte Hochzeit erinnert werden …

Im Eingangsbereich saß ein Pförtner und blätterte in einer Zeitschrift. Stirnrunzelnd blickte er hoch, als er Annikas Schritte auf dem Steinfußboden wahrnahm. Flüchtig streifte sein Blick ihre Gestalt. Anscheinend wog er ab, ob sie als Notfall oder Besucherin kam.

„Zur Notaufnahme geht es dort entlang.“ Er deutete mit einer Hand zu einer hohen Milchglastür auf der rechten Seite der Halle.

„Ich möchte zu meiner Nichte. Lucy Pendl. Sie ist drei Jahre alt und wurde heute Vormittag nach einem Bootsunglück eingeliefert. Können Sie mir sagen, wo sie liegt?“

„Das könnte ich, aber das wird Ihnen nichts nutzen, junge Frau.“

„Wie meinen Sie das?“ Annika blinzelte verwirrt. Nach mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen war sie zu erschöpft für Ratespiele.

„Besuchszeit ist erst wieder in …“ Er stockte und spähte auf die große runde Uhr über den Wartestühlen. „In sieben Stunden. Vorher sind keine Besucher erlaubt.“

„Bitte, ich bin die halbe Nacht durchgefahren, um meine Nichte zu sehen. Ich werde bestimmt nicht stören, das verspreche ich Ihnen. Ich möchte nur wissen, wie es ihr geht.“

„Tut mir leid. Nichts zu machen. Nachts dürfen keine Besucher auf die Stationen.“ Er sah sie so tadelnd über den Rand seiner Lesebrille hinweg an, als wollte er ausdrücken, dass sie sich das auch selbst hätte zusammenreimen können.

Annika hatte schon befürchtet, dass man sie nicht ohne Weiteres zu Lucy lassen würde, allerdings hatte sie nicht erwartet, so rigoros abgewiesen zu werden. Sie strich sich über die von Kummer und Schlaflosigkeit brennenden Augen.

„Ich werde hier nicht weggehen, bis ich meine Nichte gesehen habe.“

Der Pförtner hob die Schultern und ließ sie wieder sinken, als wäre es ihm einerlei, ob sie seinen Nachtdienst mit ihm teilte.

„Kaffee gibt es da drüben.“ Er deutete zu einem Automaten in der Ecke, der leise vor sich hin summte. Dann beugte er sich wieder über seine Lektüre.

Aber Annika war nicht bereit, sich abwimmeln zu lassen.

„Bitte, es steht schlecht um Lucy. Sie war minutenlang unter Wasser“, wisperte sie. „Ich möchte sie doch nur sehen.“

Ihr Gegenüber ließ die Zeitschrift sinken. Nun blitzte echtes Mitgefühl in seinen Augen auf.

„Das tut mir wirklich leid. Ich wünsche Ihrer Nichte, dass sie sich wieder erholt. Allerdings darf ich keine Ausnahmen machen. Die Patienten brauchen Ruhe. Wo kämen wir denn hin, wenn ich mitten in der Nacht Hinz und Kunz hereinlassen würde, nur, weil es ihnen zeitlich gerade passt?“

Annika biss sich auf die Lippen.

„Das verstehe ich ja, aber ich habe solche Angst um Lucy. Bitte, lassen Sie mich zu ihr.“

„Das darf ich nicht. Und selbst wenn ich beide Augen zudrücke, würde die Stationsschwester Sie im Handumdrehen wieder hinauskomplimentieren. Ihre Nichte ist hier in den allerbesten Händen, das können Sie mir glauben. Momentan könnten Sie ohnehin nichts für sie tun. Kommen Sie später wieder, wenn Besuchszeit ist, dann dürfen Sie sie sehen.“

Annika spürte, dass sie bei ihm auf Granit biss. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als plötzlich die Türen aufgestoßen wurden und zwei Männer hereintaumelten. Beide stützten sich gegenseitig. Sie bluteten aus Wunden an Kopf und Händen. Einer der beiden murmelte etwas von einem Autounfall.

Der Pförtner sprang auf und eilte ihnen zu Hilfe. Er stützte einen der Verletzten und bugsierte ihn hinüber zur Notaufnahme. Dabei achtete er nicht weiter auf Annika.

Jetzt oder nie!

Sie erkannte ihre Chance und nutzte sie. Wie der Blitz war sie am Fahrstuhl und drückte hektisch auf den Rufknopf. Die Türen schwangen vor ihr auf, sie trat ein und studierte die Beschriftung neben den Etagenknöpfen.

3. Stock: Kinderstation.

Dort musste Lucy sein!

Entschlossen drückte Annika auf die 3, und die Lifttüren glitten lautlos zu. Wenig später verließ sie den Fahrstuhl und sah einen halbdunklen Korridor vor sich. Aus einem Zimmer drang heller Lichtschein. Vermutlich hielten sich die Nachtschwestern dort auf.

Der Geruch nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten verstärkte das flaue Gefühl in ihrem Magen. Annika wandte sich nach links und studierte die Namensschilder neben den Türen. Diesmal hatte sie Glück. Gleich auf dem zweiten Schild stand Lucy Pendl . Volltreffer!

Annika drückte leise die Klinke hinunter, um ihre Nichte zu stören. Doch schon beim Eintreten erkannte sie, dass das nicht nötig gewesen wäre. Lucy war unter all den medizinischen Apparaten, Schläuchen und Drähten kaum zu sehen. Sie versank beinahe in dem viel zu großen Kinderbett. Eine Maschine überwachte Lucys Herzschlag. Eine andere versorgte sie zischend und pumpend mit Sauerstoff.

Wie blass sie war!

Ein Sessel stand neben dem Bett, aber er war leer. Niemand von ihrer Familie hielt sich hier auf. Das wunderte Annika. Sie sank in den Sessel nieder und wagte kaum, die kleine Hand ihrer Nichte zu nehmen, die so verloren auf der weißen Zudecke lag.

„Ach, Lucy, was machst du nur für Sachen?“, flüsterte sie erstickt.

Ihre Lider waren bläulich verfärbt und geschlossen. Schlief sie nur? Oder lag sie im Koma? Bevor Annika darüber nachdenken konnte, wurde die Tür geöffnet. Ein weiß gekleideter Arzt kam herein. Das Namensschild an seinem Kittel wies ihn als Dr. Marcel Doblander aus. Der Spezialist, von dem ihr Schwager gesprochen hatte! Er schien alles andere als erfreut zu sein, Annika hier zu sehen, denn sein Gesicht verdüsterte sich bei ihrem Anblick.

„Was machen Sie denn hier?“ Er kniff die Brauen zusammen und musterte Annika misstrauisch.

„Mein Name ist Annika Pfistl. Ich bin Lucys Tante. Ich war auf Sylt, als ich von dem Unglück erfuhr, und bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“

„Sie müssen gehen. Auf der Stelle.“

„Ich möchte doch nur …“

„Raus hier, aber schnell, ehe ich die Sicherheit rufe und Sie rauswerfen lasse.“

„Na hören Sie mal!“ Empört funkelte sie ihn an.

„Nein, hören Sie einmal. Wie kommen Sie dazu, sich hier mitten in der Nacht hereinzuschleichen? Noch dazu in ein Intensivzimmer?“

„Ich habe Lucy nicht gestört. Ich wollte nur nach ihr sehen.“

„Aber doch nicht um drei Uhr morgens!“

„Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Sie hätten anrufen und um eine Auskunft bitten können. Oder zur Besuchszeit kommen können. Es war unverantwortlich, sich hier hereinzuschleichen. Wer hat Sie überhaupt hereingelassen?“

„Niemand. Der Pförtner war abgelenkt, deshalb konnte ich hereinhuschen.“

Der Arzt schüttelte tadelnd den Kopf. Er war attraktiv, wenn man von seiner finsteren Miene absah. Dunkle Haare rahmten sein markantes Gesicht ein. Ein Bartschatten an seinem Kinn verriet, dass auch hinter ihm ein langer Tag lag. War er womöglich gar nicht heimgefahren, um zur Stelle zu sein, wenn Lucy ihn braucht? Annikas innere Abwehr schmolz.

Von ihm konnte man das jedoch nicht behaupten. Er stemmte die Hände in die Hüften und stand vor ihr wie ein lebendig gewordener Wegweiser, der nur in eine einzige Richtung zeigte: nach draußen!

„Auf der Station gibt es Regeln“, erklärte er. „Diese Regeln dienen einzig und allein dem Wohl unserer Patienten. Wenn Sie sie verletzen, schaden Sie den Kranken hier in der Klinik.“

„Ich …“ Annika verließen plötzlich alle Kräfte.

Dieser Tag hatte der schönste in ihrem Leben werden sollen, aber er hatte sich zu einem einzigen Albtraum entwickelt. Ihre Schultern sanken nach unten. Sie wollte nicht weinen. Er sollte nicht glauben, sie würde an sein Mitleid appellieren. Doch die Tränen quollen ungehindert aus ihren Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

„Ich möchte doch nur helfen. Lucy ist meine Nichte. Bitte …“

Etwas im Gesicht des Neurologen wurde weicher.

„Sie machen sich Sorgen, das ist verständlich. Aber Sie helfen Ihrer Nichte nicht, wenn Sie nachts heimlich hier eindringen.“

„Kann ich nicht irgendetwas tun? Was auch immer. Ich möchte ihr helfen.“

„Momentan können wir leider nur abwarten. Lucys Gehirn war minutenlang ohne Sauerstoff. Sie liegt im Koma, und es lässt sich unmöglich sagen, wann sie wieder aufwacht und in welchem Zustand sie dann sein wird.“

„Können Sie denn gar nichts tun?“

„Im Augenblick nicht. Nein.“

Annika zuckte zusammen.

„Aber Sie sind Neurologe. Das hat mir mein Schwager erzählt. Sie müssen doch etwas unternehmen können.“

„Wir überwachen den Zustand Ihrer Nichte. Sobald sich etwas tut, werden wir entsprechend reagieren.“

Die Worte des Arztes klangen hohl in ihren Ohren.

„Sie müssen jetzt gehen“, sagte er mit Nachdruck. „Wir rufen Ihre Familie an, sobald sich etwas tut. Darauf haben Sie mein Wort.“

Annika spürte, dass er ihr nicht erlauben würde, länger zu verweilen, deshalb beugte sie sich vor und gab ihrer Nichte einen Kuss auf die Stirn. Dann wandte sie sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

Dr. Doblander hatte sich Lucy zugewandt und schaute sie so besorgt an, dass nicht zu übersehen war, wie sehr er um die Dreijährige bangte. Das nahm Annika schlagartig für ihn ein – feuerte ihre Angst um ihre Nichte jedoch noch weiter an.

Beklommen verließ sie das Krankenhaus, in der Eingangshalle das empörte Nach-Luft-Schnappen des Pförtners überhörend, als sie aus dem Fahrstuhl trat. Sie wankte zum Parkplatz, stieg in ihr Auto und war froh, dass es nicht mehr weit bis zum Haus ihrer Familie war. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten. Trauer, Erschöpfung und ein Wirrwarr aus Emotionen zehrten an ihr.

Zehn Minuten später tauchte die hübsche weiße Villa ihrer Eltern vor ihr auf. Ihre Schwester und ihr Schwager bewohnten mit Lucy die Einliegerwohnung, und im Anbau war die Tischlerei ihres Schwagers untergebracht. Mehrere Stapel Holz lagerten im Hof, als Annika ihr Auto abstellte und ihre Reisetasche aus dem Kofferraum nahm.

Sie war nicht überrascht, dass sämtliche Fenster im Haus hell erleuchtet waren. Vermutlich konnte niemand von ihrer Familie in dieser Nacht auch nur ein Auge zutun. Sie nahm ihre Tasche fester und schloss die Haustür auf.

Dabei wappnete sie sich innerlich gegen den Ansturm an Fragen, der sicherlich kommen würde, sobald sie ihrer Familie von ihren heimlichen Hochzeitsplänen erzählen würde – und von deren Scheitern …

***

„… vergessen Sie bitte Ihre Überweisung nicht, Herr Wanner.“ Dr. Frank begleitete seinen Patienten aus dem Sprechzimmer und drückte ihm das Formular in die Hand.

Der Pensionär faltete es sorgsam und steckte es in seine Tasche.

„Vielen Dank, dass Sie mir den Termin bei der Augenärztin besorgt haben, Herr Doktor. Ich habe mir schon die Finger wundtelefoniert, aber niemand wollte mich drannehmen. Überall hieß es: ‚Wir nehmen keine neuen Patienten auf.‘ Oder: ‚Rufen Sie in einem Dreivierteljahr wieder an.‘ Dabei sehe ich jetzt alles wie durch einen Schleier, nicht erst in neun Monaten.“ Die Stirn von Albin Wanner legte sich in Falten.

„Frau Dr. Schubert nimmt Sie nachher gleich mit dran.“

„Darüber bin ich froh. Noch einmal möchte ich nicht im Dunkeln die Treppe hinunterfallen, weil ich die oberste Stufe übersehe. Wer weiß, ob ich beim nächsten Mal wieder mit einem verstauchten Handgelenk davonkommen würde.“ Der Rentner winkte mit seiner gesunden Hand ab, bedankte sich und stülpte seine Mütze auf die grauen Haare, ehe er humpelnd die Praxis verließ.

Stefan Frank wandte sich an seine Sprechstundenhilfe.

„Haben Sie ein Taxi für Herrn Wanner gerufen, Schwester Martha?“

„Freilich. Det steht schon unten“, erwiderte sie in breitem Berlinerisch, das auch nach den vielen Jahren, die sie nun bereits in München lebte, immer noch durchkam. „Der Fahrer ist angewiesen, Herrn Wanner zur Augenarztpraxis zu fahren.“

„Vielen Dank, Martha. Sie sind wirklich ein Schatz.“

„So was geht bei mir runter wie Stracciatella-Eis.“ Sie zwinkerte ihm vergnügt zu. „Der arme Herr Wanner sah wirklich schlimm aus nach seinem Treppensturz.“

„Zum Glück ist er mit Schrammen und einer Verstauchung davongekommen. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. Alexandra hat mir versprochen, ihn heute zwischen ihren Terminen mit einzuschieben und zu schauen, was sie für ihn tun kann.“

„Det ist gut.“ Schwester Martha fächelte sich mit einer Mappe Luft zu. Sie trug lediglich einen kurzärmeligen weißen Kittel; trotzdem schwitzte sie sichtlich. „Diese Hitze ist kaum auszuhalten. Dabei fängt der Sommer gerade erst an.“

„Wofür sind eigentlich diese Unmengen von Früchten gedacht?“ Er deutete auf einen Korb mit leuchtend gelben Zitronen. „Soll das eine zarte Anspielung sein, dass Sie bei mir öfters in eine saure Zitrone beißen müssen?“

Seine Sprechstundenhilfe lachte.

„Machen Sie sich da mal keene Sorgen, Chef. Die sind für Limonade. Sehr erfrischend bei dieser Hitze.“

„Dann bin ich ja beruhigt. Wartet noch jemand nebenan?“

„Nein, für heute Vormittag sind wir durch. Allerdings ist noch eine Bitte für einen Hausbesuch hereingekommen. Wollen Sie sich die einmal ansehen?“ Sie deutete auf die Mappe, die auf dem Empfangstresen bereitlag.

Er sah sie durch und war sofort alarmiert. Lukas Pendl hatte für seine Frau Stefanie angerufen. Als er ihren Namen las, wurde er sofort an die dramatischen Ereignisse am Starnberger See erinnert. Am vergangenen Tag war ihre kleine Tochter ins Wasser gefallen und seitdem nicht mehr zu sich gekommen. Es stand schlecht um die Dreijährige. Verdammt schlecht sogar.

Offenbar war nun auch noch ihre Mutter krank geworden.

Akute Magenbeschwerden und Ohnmacht , hatte Schwester Martha nach dem Anruf auf einem Zettel notiert und diesen an die Mappe geheftet.

„Ich fahre am besten sofort zu den Pendls und schaue nach Lucys Mutter“, beschloss er. Er holte seine Tasche, wünschte seiner Sprechstundenhilfe eine angenehme Mittagspause und machte sich auf den Weg zum Haus seiner Patientin.

Stefanie Pendl öffnete ihm auf sein Klingeln die Tür. Die Dreißigjährige war kaum wiederzuerkennen: Ihr Gesicht war hochrot, sie glühte vor Fieber! Außerdem lief sie verkrümmt und presste eine Hand auf ihre rechte Bauchhälfte. Ihre blonden Haare waren achtlos hinter die Ohren geklemmt. Sie klammerte sich an den Rahmen der Tür, als wäre es ihr letzter Halt.

„Herr Doktor? Was machen Sie denn hier? Hat mein Mann Sie etwa gerufen? Das sollte er doch nicht.“

„Guten Tag, Frau Pendl. Ich weiß nicht, ob Ihr Mann mit oder ohne Ihr Wissen um den Hausbesuch gebeten hat, aber nun bin ich schon einmal hier. Ich würde gern nach Ihnen sehen.“

„Ich bin gerade auf dem Sprung. Muss in die Klinik. Zu meiner Kleinen.“ Tränen glitzerten in ihren Augen, die gerötet und geschwollen waren. „Lucy braucht mich doch!“

„Wo ist Ihr Mann, Frau Pendl?“

„Bei Lucy. Meine Eltern auch. Sie wollten mich heute daheim lassen, aber ich muss zu meinem Kind!“ Die Stimme der Mutter überschlug sich beinahe. Außerdem zitterte sie am ganzen Leib. Aus Furcht? Oder waren es Fieberschauer? Stefan Frank war sich nicht sicher. „Möchten Sie hereinkommen, Herr Doktor?“, fragte sie leise.

„Gern.“ Er folgte ihr ins Wohnzimmer und bemerkte, wie verkrümmt sie lief. „Haben Sie Schmerzen?“

„Mein Bauch tut weh …“ Sie winkte ab. „Ist sicherlich nur ein Magenvirus.“

„Wie lange fühlen Sie sich schon nicht gut?“

„Seit ein paar Tagen. Anfangs hatte ich keinen Appetit mehr, dann kam die Übelkeit dazu. Und die Bauchschmerzen. Die sind schlimm, aber ich halte es schon aus. Ich trinke viel Kamillentee. Es ist nichts. Wirklich nicht. Mein Mann hätte Sie nicht herbemühen dürfen.“

„Wo genau tut es Ihnen denn weh, Frau Pendl?“

„Zuerst war es hier.“ Sie zeigte auf ihre Körpermitte. „Aber dann ist der Schmerz weiter nach rechts gewandert.“

„Hm.“ Dr. Frank rieb sich das Kinn. „Das hört sich nicht nach einer Magenverstimmung oder einem Virus an. Würden Sie sich bitte einmal hinlegen?“

„Jetzt? Aber ich muss doch los!“ Sie sah ihn abweisend an.

„Es dauert wirklich nur ein paar Minuten.“

„Also gut, aber dann muss ich los.“ Widerstrebend streckte sie sich auf der Couch aus und schob ihre Bluse hoch.

Er wollte ihren Leib abtasten, aber er hatte sie kaum berührt, als sie bereits vor Schmerzen aufschrie. Er nickte.

„Es ist, wie ich es befürchtet habe. Sie haben keine Magenverstimmung, Frau Pendl, sondern eine akute Blinddarmentzündung. Er scheint kurz vor einem Durchbruch zu stehen.“

„Der Blinddarm?“ Lebhaft schüttelte sie den Kopf – und stieß im nächsten Augenblick ein leises Stöhnen aus. „Autsch! Aber ich darf jetzt nicht krank werden. Lucy braucht mich doch. Bitte, Herr Doktor, können Sie mir etwas spritzen oder verschreiben, was die Schmerzen lindert? Ich muss zu meinem Kind. Bitte.“ Sie wimmerte leise, als sie sich wiederaufrichtete.

„Bleiben Sie liegen“, bat er ernst. „Ich werde einen Rettungswagen rufen, der Sie in die Klinik bringt. Wenn ich recht vermute, müssen Sie unverzüglich operiert werden.“

„Operiert? Aber das geht nicht! Lucy …“

„Sie ist in den allerbesten Händen. Das verspreche ich Ihnen.“

„Aber … ich muss zu ihr!“ Tränen rannen der jungen Floristin über die Wangen.

In diesem Augenblick klappte die Haustür. Schritte polterten im Flur, dann kam Annika Pfister herein.

Die junge Anwältin schaute erschrocken zwischen Dr. Frank und ihrer Schwester hin und her. Vor ihrem Umzug nach Hamburg war Stefan Frank auch ihr Hausarzt gewesen. Er hatte sie über viele Jahre betreut und miterlebt, wie sie ihr Studium abgeschlossen hatte, sich verliebt hatte und fortgezogen war. An diesem Tag erkannte er sie jedoch kaum wieder. Blass und übernächtigt sah sie aus.

„Dr. Frank!“ Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Guten Tag.“

„Annika. Wie geht es Ihnen?“

„Ich mache mir Sorgen um meine Nichte. Lucy ist noch so klein …“ Sie schluckte und sah ihre Schwester an. „Geht es dir besser?“

Stefanie Pendl schüttelte mit fest zusammengepressten Lippen den Kopf.

„Dr. Frank schickt mich ins Krankenhaus. Er befürchtet, dass mein Blinddarm muckt.“

„Der Blinddarm? Daher kommen die Schmerzen also?“

„Ich fürchte, ja.“ Stefan Frank zog sein Telefon hervor und forderte in der Zentrale einen Rettungswagen an. Er machte es dringend. Wenn er richtig vermutete und der Blinddarm seiner Patientin kurz vor dem Durchbruch stand, war zu befürchten, dass sich Eiter in ihre Bauchhöhle entleeren würde. Und wenn das geschah, würde sich ihr Zustand weiter verschlechtern. Dann waren schwere Komplikationen zu befürchten!

„Bleiben Sie eine Weile hier in München, Annika?“, erkundigte er sich.

„Ja, wahrscheinlich schon.“ Sie fasste sich an den Hals. „Nach Hamburg zieht mich momentan nichts zurück. Außerdem möchte ich in Lucys Nähe sein.“

„Das verstehe ich gut.“

„Eigentlich wollte ich heiraten, aber die Trauung ist geplatzt. Nun weiß ich gar nicht mehr, wo ich hingehöre.“

„Das tut mir sehr leid.“

„Danke.“ Annika zupfte beklommen an ihrem Gürtel.

Stefan Frank wandte sich wieder seiner Patientin zu. Sie wand sich vor Schmerzen, deshalb beschloss er, ihr ein Schmerzmittel zu injizieren. Das würde die Tests in der Klinik zwar beeinflussen, aber er wollte sie nicht unnötig leiden lassen. Bei ihren Symptomen gab es ohnehin kaum einen Zweifel an der Diagnose.

„Gleich werden Sie sich besser fühlen“, versprach er ihr.

Sie schien ihn gar nicht zu hören. Fiebrig blickte sie hoch.

„Lucy“, wisperte sie. „Bitte, ich muss zu meinem Kind!“

„Das geht jetzt nicht. Sie müssen unbedingt behandelt werden.“

„Aber meine Kleine … sie braucht mich!“

„Ich werde mit in die Klinik fahren und bei Lucy wachen“, warf Annika ein. „Ich passe auf sie auf, bis du zu ihr kannst. Das verspreche ich dir.“

„Wirklich? Das ist gut. Lukas … er muss arbeiten und kann erst abends wieder bei ihr sein. Vielleicht spürt sie es, wenn jemand bei ihr ist und …“ Erstickte Schluchzer rissen der Kranken die Worte von den Lippen. Sie stöhnte leise.

Annika sah Dr. Frank bittend an.

„Ich würde Lucy gern helfen. Gibt es etwas, was ich für sie tun kann?“

„Momentan? Nicht viel, fürchte ich. Sprechen Sie mit ihr. Lassen Sie sie spüren, dass Sie bei ihr sind und sie lieb haben.“

„Glauben Sie denn, sie wird mich hören?“

„Das hoffe ich. Das hoffe ich sehr.“

***

„ Hoch oben im Baumwipfel hörte der kleine Specht seine Geschwister im Nest miteinander zanken. Sie hatten noch gar nicht bemerkt, dass er aus dem Nest gefallen war. Seine Eltern waren unterwegs, um Futter zu suchen. Was sollte er nun tun? Der kleine Specht flatterte. Er wollte zurück in sein Nest, aber seine Flügel waren zu klein. Er konnte noch nicht fliegen. Auf einmal bemerkte er eine Bewegung im Unterholz. Auf leisen Sohlen streifte eine Wildkatze durch die Büsche! Der kleine Specht spähte unsicher zu ihr hinüber. Ob sie ihm helfen würde, zurück in sein Nest zu gelangen?“

Annika hielt beim Erzählen inne und betrachtete ihre Nichte. Lucy sah so friedlich aus! Als würde sie schlafen. Doch der Schein trog: Die Dreijährige lag noch immer im Koma, und niemand konnte sagen, wann sie wieder aufwachen würde.

Annika hielt die kleine Hand ihrer Nichte so behutsam zwischen ihren Fingern, als wäre sie zerbrechlich. Dabei stellte sie sich vor, wie sie etwas von ihrer Kraft über die Berührung zu dem verletzten Kind übertrug. Verzweifelt wünschte sie sich, das wäre möglich und sie könnte ihrer Nichte helfen.

„Wir lieben dich, Lucy“, sagte sie leise. „Bitte, komm zurück zu uns.“ Plötzlich nahm sie hinter sich ein Rascheln wahr. Dr. Doblander kam herein. Ein Stethoskop ragte aus der Tasche seines Kittels. Auf seinen Wangen lagen Schatten, als hätte er ebenso wenig geschlafen wie sie selbst. Annika versteifte sich. Würde er sie wieder rauswerfen?

Ein entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen“, begann er. „Ich habe Sie in der vergangenen Nacht ziemlich schroff behandelt. Das ist mir im Nachhinein klar geworden. Sie hatten Angst um Ihre Nichte. Das hätte ich berücksichtigen müssen. Bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung an.“

Seine Worte überraschten sie. Er war durchaus im Recht gewesen, als er sie der Station verwiesen hatte. Immerhin war es tatsächlich mitten in der Nacht gewesen.

„Ich muss mich auch entschuldigen, weil ich mich hier einfach hereingeschlichen habe“, gab sie zerknirscht zurück. „Ich war wegen Lucy in Panik und konnte nicht klar denken.“

„Das verstehe ich gut. Frieden?“ Er streckte ihr seine rechte Hand hin.

„Frieden.“ Sie schlug ein. Die Berührung durchfuhr sie wie ein leichter Stromschlag. Ihre Hand begann zu kribbeln. Die Empfindung setzte sich über ihren Arm fort und erfasste schließlich ihren ganzen Körper. Es war keineswegs unangenehm. Nur unerwartet. Als würde etwas in Gang gesetzt … Die braunen Augen des Arztes verdunkelten sich. Empfand er dasselbe wie sie?

Hastig löste sie den Griff und holte tief Luft. Mir fehlt einfach nur Schlaf, redete sie sich ein. Das eben, das hatte nichts zu bedeuten. Ich bin müde. Das ist alles. Ich fühle mich nicht von ihm angezogen. Nicht vom Arzt meiner Nichte. Und nicht gerade jetzt, wo ich, wenn alles wie geplant gelaufen wäre, mit meinem Ehemann in den Flitterwochen wäre … Sie schluckte.

„Was war das für eine Geschichte?“, erkundigte er sich. „Die Sie Lucy eben erzählt haben, meine ich.“

„Ich habe mir ein Abenteuer ausgedacht.“

„Von einem kleinen Specht, der aus dem Nest gefallen ist?“

Annika nickte. „So ähnlich ergeht es Lucy jetzt. Sie ist fern von daheim und umgeben von Gefahren, von denen wir vielleicht noch gar nichts wissen.“

„Und wie geht die Geschichte aus? Schafft es der kleine Specht zurück in sein Nest? Sie lassen doch nicht etwa zu, dass er von der Wildkatze aufgefressen wird, oder?“

„Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie es weitergeht. Ich denke mir aus, was passiert, während ich es erzähle. Ich habe mir schon als Kind gern Storys ausgedacht und meine Freunde damit auf dem Schulhof genervt. Oder unterhalten. Je nachdem, wen man fragt.“ Sie lächelte schief.

„Das ist eine Begabung. Ich habe leider nicht das kleinste Quäntchen Fantasie. Für mich war es eine Qual, wenn ich in der Schule einen Aufsatz schreiben oder ein Bild malen musste. Ich habe lieber geforscht.“ Er stemmte eine Hand in seine Kitteltasche. „Wie geht es Ihrer Schwester?“

„Stefanie hat die Operation ganz gut überstanden.“ Annika erschauerte, als sie daran dachte, wie knapp es gewesen war. „Ihr Arzt sagt, der Blinddarm wäre kurz vor dem Durchbruch gewesen. Noch ein paar Stunden länger und es wäre schlimm ausgegangen.“

„Dann hat Ihr Hausarzt die richtige Diagnose zur rechten Zeit gestellt.“

„Zum Glück ja. Mein Schwager ist bei ihr. Lukas ist am Boden zerstört. Er will bei Lucy sein, sich aber auch um seine Frau kümmern. Außerdem hat er in seiner Tischlerei eine Menge Arbeit, die zu einem bestimmten Termin fertig werden muss.“

„Manchmal kommt alles auf einmal, nicht wahr?“

„Da sagen Sie was.“ Annika strich sich über die Stirn. Dabei zitterte ihre Hand.

Der Neurologe zog eine Braue hoch.

„Sagen Sie, haben Sie heute schon etwas gegessen?“

„Nur ein paar Liter Kaffee.“ Annika dachte daran, dass sie am vergangenen Tag nach ihrer verpatzten Hochzeit ebenfalls keinen Bissen hinunterbekommen hatte. Ihr Magen war komplett leer.

„Es geht schon auf den Abend zu. Sie müssen etwas essen, Frau Pfister, sonst kippen Sie uns noch um. Dann belegt Ihre Familie bald alle Betten hier in der Klinik. Das wollen Sie doch nicht, oder?“

Er zwinkerte ihr zu, aber der Ernst in seinen Augen verriet, dass er sich Sorgen um sie machte.

„Es gibt eine Cafeteria in der Klinik. Heute haben sie eine annehmbare Kartoffelsuppe im Angebot. Und als Nachtisch frische Erdbeeren mit Schlagsahne. Holen Sie sich davon etwas.“

„Ist das eine ärztliche Anordnung?“, fragte sie mit einem schwachen Lächeln.

„Nehmen Sie es als Rat eines Freundes.“

Seine Worte wärmten ihr Inneres, als würde ein Sonnenstrahl auf hart gefrorenen Boden treffen. Etwas tief in ihr schien aufzubrechen. Sekundenlang empfand sie nicht den quälenden Schmerz, der sie seit dem vergangenen Tag begleitete, sondern Zuversicht, als wäre die Zukunft nicht mehr so düster.

„In Ordnung“, wisperte sie. „Sie haben recht, ich sollte wirklich etwas essen.“

„Das denke ich auch.“

Widerstrebend ließ sie Lucys kleine Hand los. Dabei forschte sie im Gesicht der Dreijährigen nach einer Reaktion, aber Lucy gab nicht zu erkennen, ob sie überhaupt etwas bemerkte.

Schweren Herzens verließ Annika das Krankenzimmer.

Ihre Beine fühlten sich steif und taub an nach den langen Stunden, die sie am Bett ihrer Nichte gesessen hatte, und ihre Augen brannten. Eine Zeit lang waren ihre Eltern da gewesen und hatten am Bett ihrer kranken Enkelin gewacht, bis sie wieder heimgefahren waren.

Von Thomas hatte Annika nichts gehört, aber das erwartete sie auch nicht. Er hatte einen scharfen Schnitt gemacht und sich von ihr getrennt. Sie hatte ihm am vergangenen Tag auf die Mailbox gesprochen, was geschehen war, aber er hatte nicht darauf reagiert. Anscheinend betrachtete er ihre Familie nicht mehr als seine.

Annika schluckte. Ich werde noch einmal nach Stefanie schauen. Danach besorge ich mir etwas zu essen, nahm sie sich vor. Sie eilte die Treppe hinunter und durch den Flur der chirurgischen Station zu dem Zimmer, in dem ihre Schwester aufgenommen worden war.

Sie hatte die Hand noch auf der Klinke, als sie von drinnen erregte Stimmen hörte.

„… das kannst du nicht machen, Lukas!“

„Was bleibt mir denn anderes übrig? Ich kann mich doch nicht zerteilen!“

„Aber sie ist unser Kind!“

„Glaubst du etwa, das weiß ich nicht?“

„Warum gehst du dann nicht zu ihr?“

„Weil ich nichts für sie tun kann.“

„Dir ist deine Arbeit wichtiger als unser Kind!“

„Wenn du das glaubst, kann ich dir auch nicht helfen!“ Schritte polterten. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen, und Lukas schob sich schnaubend an Annika vorbei. Mit langen Schritten strebte er davon und war wenig später nicht mehr zu sehen.

Bestürzt schaute Annika ihm nach. Dann betrat sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ihre Schwester saß aufrecht im Bett und machte Anstalten, aufzustehen. Dabei war sie so bleich wie das Laken.

„Um Himmels willen, was hast du denn vor?“ Annika eilte zu ihr hinüber.

„Ich muss zu meinem Kind.“ Mit fest zusammengepressten Lippen angelte Stefanie ihren weißen Bademantel vom Stuhl. „Ich muss zu Lucy!“

„Du wurdest gerade erst operiert. Auf keinen Fall darfst du jetzt aufstehen.“

„Aber ich …“ Stefanie hielt inne und verzog das Gesicht. Ein Stöhnen entfuhr ihr. „Oohh, auuu.“ Sie hielt sich den Bauch.

Annika wurde es himmelangst.

„Leg dich wieder hin, ehe die OP-Naht aufbricht. Rasch!“

„Aber Lucy …“ Tränen rollten der Frischoperierten über die Wangen.

„Ich war gerade bei ihr. Ihr Zustand ist unverändert. Sie liegt im tiefen Schlaf. Und vielleicht ist das gut so. Vielleicht nimmt sich ihr Körper die Auszeit, die sie jetzt braucht, um sich zu erholen.“

„Lukas ist heimgefahren. Er besucht sie nicht noch einmal.“ Stefanie schluchzte erstickt. „Er tut so, als wäre unser Kind schon tot!“

„Das macht er bestimmt nicht.“

„Warum geht er dann nicht zu ihr?“

„Vielleicht ist es für ihn zu schmerzlich, sie so daliegen zu sehen.“

„Aber Lucy braucht uns jetzt. Sie …“ Verzweifelt schlug sich Stefanie beide Hände vor das Gesicht und brach in Tränen aus.

Annika setzte sich zu ihr auf das Bett und legte die Arme um sie. Dabei murmelte sie leise, tröstende Worte, über die sie nicht lange nachdachte. Sie flossen einfach aus ihrem Herzen über ihre Lippen. Ihr eigener Kummer schien mit einem Mal unbedeutend zu sein. Nur ihre kleine Nichte zählte noch – und die Frage, wie es mit Lucy weitergehen würde.