Drakhall - Tanja Rast - E-Book

Drakhall E-Book

Tanja Rast

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Beschreibung

Epische High Fantasy mit Helden, Schlachten, Magie und einer Romanze, die sich wie ein rotes Seidenband durch die Geschichte zieht und weder drohende Niederlagen noch selbst den Tod fürchtet.

Als Seefürst ist es Drakhalls Aufgabe, das Reich vor der geheimnisvollen Nebelflotte zu beschützen. Doch der Thronfolger hat noch eine alte Rechnung mit ihm offen und nimmt ihn gefangen. Eine Handlung, mit der er aus reinem Eigennutz die Zukunft des gesamten Inselreichs riskiert.
Ausgerechnet die junge Zirys befreit Drakhall. Er erinnert sich gut an sie von einer wundervollen Nacht am Strand - bevor sie mit dem Thronfolger verheiratet wurde. Jetzt erscheint sie ihm an Leib und Seele gebrochen, und Drakhall schwingt sich nicht nur deshalb zu ihrem Beschützer auf, weil sie der Schlüssel zur Macht zu sein scheint … Die Romane können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Drakhall

 

 

 

 

Tanja Rast

 

 

 

 

Inhaltswarnungen

 

Kann Spuren von Erdnüssen enthalten!

 

Es gibt Inhalte, die Betroffene triggern können, das heißt, dass womöglich alte Traumata wieder an die Oberfläche geholt werden. Deswegen habe ich für diese Personen eine Liste mit möglichen Inhaltswarnungen für alle meine Romane zusammengestellt:

 

www.tanja-rast.de/inhaltswarnungen

Inhaltsverzeichnis
1 Der Kriegsprinz
2 Drakhall
3 Flucht auf See
4 Rokivs Schatten
5 Fennland
6 Weslin Hav
7 Feuerland
8 Entscheidungen
9 Königsinsel
10 Nebel und Langschiffe
11 Winkelzüge
12 Töchter und Väter
13 Rückkehr nach Lusias Hav
14 Nebel auf dem Wasser
15 Der Seefürst
16 Zirys

 

Die Autorin

1.

Der Kriegsprinz

 

Die alte Witwe hustete, würgte und schlug sich auf die Brust. Eben noch hatte sie unermüdlich erschreckende Massen an Nahrung in sich geschaufelt und gleichzeitig einen nicht enden wollenden Monolog reinsten Vorwurfs abgesondert, bis ihr offenbar etwas im Halse stecken geblieben war. Vielleicht eine besonders grobe Beleidigung.

Zwei Dienerinnen standen hinter der großen Frau und hieben ihr abwechselnd auf den Rücken. Doch trotz dieser Bemühungen verfärbte sich das Gesicht der Witwe blau. Die Zunge hing ihr aus dem mit halb Zerkautem gefüllten Mund, der Zirys mehr denn je an ein Froschmaul erinnerte.

Zirys selbst saß still auf ihrem Platz, den Löffel mit der Suppe immer noch auf halbem Weg von der Schale zu ihren Lippen. Sie ertappte sich dabei, mit erstaunlich distanzierter Aufmerksamkeit die Vorgänge am Kopf der Tafel zu beobachten. Eigentlich ihr Platz als Gemahlin des Kriegsprinzen, doch das störte die Witwe nicht, die diese Ehrenposition für sich beanspruchte, kaum dass ihr Sohn aus dem Haus gewesen war.

Es herrschte Krieg im Großen Meer. Seit wundervollen fünf Wochen. Die feindlichen Auseinandersetzungen fern von Lusias Hav bedeuteten für Zirys Frieden. Daran hatte bislang auch das überhebliche und anmaßende Gehabe der Witwe nichts ändern können. Und das schien nun zu einem Ende zu kommen. Als würden die Götter doch auf Gebete hören.

Zirys rümpfte die Nase, als die Witwe mit einem finalen Röcheln vornüber in ihren wohlgefüllten Teller fiel. Es klatschte, was an der vielen Sauce liegen musste.

Der halbe Hofstaat sammelte sich rund um die Witwe. Drei kräftige, junge Lakaien schufteten, die umfangreiche Dame aus ihrem Essen und dann in eine aufrechte Sitzposition zu wuchten.

Ratlose Blicke flogen zu Zirys, die nun den Löffel in der Schale versenkte und sich sammelte. Eines war sicher: Die ewigen Sticheleien der Witwe hatten jetzt ein Ende gefunden. Ebenso die Schikanen und das ausgiebige Rülpsen nach einer hastig verschlungenen Mahlzeit. Wenn jetzt noch der Kriegsprinz auf einem Schlachtfeld fiel oder über Bord direkt in den Rachen eines Hais fiel, schien Zirys’ Glück vollkommen.

Sie erhob sich langsam und würdevoll. Wer in diesem Augenblick und vielleicht auch für die Zukunft die Herrin in diesem Palast war, musste unbestritten jedem klar sein.

»Ein Bote, der den Kriegsprinzen vom Dahinscheiden seiner Mutter benachrichtigt«, befahl sie und freute sich, wie ruhig ihre Stimme klang. Niemand konnte den Jubel vernehmen, der in Zirys tobte. »Ruft die Priester, damit sie den Leichnam für die Bestattung abholen, reinigen und vorbereiten.«

Ausdruckslose Gesichter, die sich ihr zuwandten, als würden sie Zirys’ Stimme nun das erste Mal vernehmen. In den Augen von Lakaien, Zofen, Haushofmeister, und wer sich noch alles um die tote Witwe versammelte, lagen Ratlosigkeit und Verwirrung. Zumindest der Haushofmeister behielt anscheinend die Nerven, denn er salutierte und verließ den Speisesaal dann eilig. Es stand zu erwarten, dass er die empfangenen Befehle an niedrigere Untergebene weiterreichen würde, bis ganz am Ende der Hierarchie zwei arme Kerle verbleiben würden, die sich streiten durften, wer von ihnen die Priester und wer den auf Kriegspfaden wandelnden Prinzen benachrichtigen musste.

Es war Zirys gleichgültig. Sie blickte mitleidlos in das aufgedunsene Gesicht der Witwe, das eine der Zofen mit einem Spitzentaschentuch vom anhaftenden Bratensaft zu reinigen versuchte. Und dabei hatte die Mahlzeit so unangenehm begonnen, dachte Zirys und fühlte sich ganz leicht im Kopf.

Schmähungen seitens der Witwe, wie lange Zirys sie, den Prinzen und das ganze Reich noch auf einen Erben warten lassen wollte. Die üblichen Vorwürfe, an die Zirys sich inzwischen eigentlich gewöhnt haben müsste, doch noch immer schmerzte jedes Wort wie ein Schlag.

Zumal die fette Alte sich im Recht befunden hatte. Von der Geburt eines strammen Erben, den ihr Gemahl sich sehnlichst wünschte, lag Zirys Meilen entfernt.

Und da sie schon viel Schande als unfruchtbare Bürde auf sich geworfen sah, tauchte der Gedanke an noch mehr Schmach immer häufiger auf. Einfach davonlaufen, sich nachts aus dem Palast schleichen, über die Mauern entweichen, im Fischerhafen ein Boot stehlen. Die Welt war groß, das Meer weit, der Himmel unendlich. Nur endlich diesem Leben zwischen dem Kriegsprinzen und seiner Mutter entkommen.

Vorbei zumindest der ständige Druck seitens der Witwe. Erstickt nicht nur am gierig in sich hineingestopften Essen, sondern auch an ihren ganzen bösen Worten. Zirys konnte dieses Glück kaum fassen. Sie schritt die Länge des Tisches entlang und ließ die verschreckte Dienerschar hinter sich zurück.

Mit einem Mal erschien Zirys der Palast lichter und freundlicher, das Sonnenlicht klarer. Sie schien über die Bodenfliesen zu schweben. Ihr Herz hämmerte vor Aufregung und Erleichterung.

Vom ersten Tag an, da Rokiv Zirys heim nach Lusias Hav gebracht hatte, war die Witwe als Sinnbild der zänkischen Schwiegermutter erschienen, der nichts und niemand gut genug für den Sohn sein konnte. Und wie bezeichnend, dass Rokiv nach der Hochzeitsnacht wohl sofort zu seiner Mutter gerannt war, um ihr das Leid zu klagen, eine bereits erbrochene Blüte heimgeführt zu haben.

Vielleicht … vielleicht wurde es jetzt auch mit Rokiv einfacher, da seine Mutter nicht mehr lebte. Möglicherweise hatte die Witwe Druck auf ihn ausgeübt mit dem ewigen Fragen nach einem Erben. Das könnte doch wirklich sein, oder? Eventuell entpuppte er sich ohne den alten Drachen im Genick als annehmbarer Ehemann?

Zirys erreichte ihre Gemächer, die nach Rokiv stanken. Nach seinen Füßen und seinem bitteren Schweiß. Nein. Dieser Mann würde sich nicht ändern. Zu viel Freude bereitete es ihm offensichtlich, beim ehelichen Pflichtritual im Bett nur an sich zu denken und dabei zu grinsen, während ihm Schweiß von der Nase tropfte.

Zirys ließ sich auf einen Hocker vor dem kalten Kamin nieder und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf tobte ein Mahlstrom. Vorherrschend Freude und Erleichterung, dass die Witwe tot war. Doch das löste Zirys’ Probleme nicht.

Sie konnte keine Läuterung auf Rokivs Seite erwarten. Je schneller sie das wirklich begriff und als reine Wahrheit anerkannte, desto besser für sie. In diesem Raum, in dem alles nach ihm stank, vermochte sie das vielleicht am besten. Ihr Gatte würde bestimmt traurig sein, dass seine Mutter abgetreten war. Aber wie er sich tröstete, hatte er Zirys ja schon mehrfach bewiesen. Ebenso wie er seine Wut abarbeitete. An der einzigen Person, die niemand vor ihm schützen, die ihm nicht ausweichen konnte.

Doch jetzt fiel zumindest die Überwachung seitens der Witwe weg. Und Rokiv schlug sich mit Seeräubern und anderen Feinden – echt oder eingebildet – seines Königs herum. Der Kriegsprinz Rokiv, der für den König das Inselreich von Lusias Hav hielt. Bestimmt erachtete Rokiv sich für außerordentlich heldenhaft. Ein Grund mehr, jetzt zu handeln, solange Zirys sich nicht in seiner Reichweite befand.

Energisch stand sie auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah sich im Zimmer um. Was brauchte sie? Woher konnte sie die Dinge beschaffen, die sich naturgemäß nicht in ihrem Zimmer befanden? Und wann konnte sie fliehen? Am besten nachts. Doch schien es ihr sinnvoll, schon jetzt alles vorzubereiten, damit sie nach Einbruch der Dunkelheit ohne weitere Verzögerungen aufbrechen konnte.

Zirys’ Herzschlag beschleunigte sich wohlig, und dann spürte sie ein unvertrautes Ziehen im Gesicht. Sie musste die Hand heben und auf ihre Wange, ihre Lippen legen, weil es einfach unglaublich war. Sie lächelte. Zirys brach in Tränen aus, ließ die salzigen Tropfen einfach über ihre Wangen laufen und setzte sich in Bewegung. Keine Zeit zu verlieren, dann heulte sie eben, während sie ihre Sachen packte. Die Diener würden erleichtert sein, Spuren frischer Tränen auf ihrem Gesicht zu sehen. Es würde ihnen normaler erscheinen, wenn Zirys um die grauenhafte Witwe weinte. Freudentränen, nichts anderes.

Die Bewegung tat ihr ebenso gut wie der mit einem Mal fest gefasste Entschluss zu fliehen, bevor Rokiv zurückkehren und jeglichen Fluchtversuch durch seine bloße Anwesenheit vereiteln konnte. Alleine diese Entscheidung schmeckte schon nach Freiheit und Leben.

Zirys warf einen Mantelsack auf das Bett und ging dann so ruhig und methodisch wie möglich ihre Kleidung durch, was sie davon während einer Flucht tatsächlich gebrauchen könnte. Dünne Seide, viel Spitze. Kein Wunder, hatte doch Rokiv all das ausgesucht. Protzig und größtenteils halb durchsichtig.

Zirys atmete tief durch und öffnete dann Rokivs Wäschetruhen. Kniehosen aus festem Tuch, einfache Leinenhemden. Und überall dazwischen Samtmäntel und ähnlicher Firlefanz, ohne den jemand von königlichem Blut scheinbar nicht überleben konnte. Aber Zirys fand auch einen Soldatenmantel aus kräftigem, rotem Wollstoff. Die Farbe war bedauerlich, aber dick und warm schien dieses Kleidungsstück.

Ein zweites Paar Schuhe, Leibwäsche und ein dicker Schal, die Metallbüchse mit Feuerstein und Zunder vom Kaminsims, Kerzen.

Zirys atmete tief durch. Noch hatte sie Platz im Mantelsack. Probeweise schnürte sie das Gepäckstück zu. Auch das dicke Leinen und vor allem die Lederbesätze rochen nach Rokiv. Kein Wunder, stammte dies doch aus seinen Beständen. Zirys selbst besaß überhaupt keine Gepäckstücke, da ihr Gatte nicht vorgesehen hatte, sie jemals verreisen zu lassen. Ihr Platz befand sich im Palast, und nach seinem Willen sollte sie ihn niemals verlassen.

Hatte der Kerl sich geirrt! Im Hafen lagen Fischerboote, und eines davon plante Zirys, heute Nacht zu stehlen. Auch ihre Heimat Cathinn Hav lag auf einer Insel. Sie konnte schwimmen, segeln und notfalls auch rudern. Dinge, die sie als Inselbewohnerin von Kindesbeinen an gelernt hatte.

Bedauerlicherweise war der Weg nach Cathinn Hav ihr versperrt. Niemals konnte sie dorthin zurückkehren, denn es würde der erste Ort sein, an dem Rokiv nach ihr suchte. Bestimmt nicht, um sein irregeleitetes Weib wieder heimzuführen, sondern um sie kalt lächelnd zu erwürgen, wie sie es hatte wagen können, sich ihm zu widersetzen.

Doch das war nicht der einzige Grund, der Zirys aus ihrer Heimat fernhielt. Vielmehr würde ihre Familie sie keinesfalls wieder aufnehmen, denn durch Heimkehr und vor allem Flucht vor ihrem Ehemann würde Zirys ihren Angehörigen Schande bereiten, die unauslöschbar als schwarzes Mal auf der Familie liegen würde. Ihr Vater wäre genaugenommen verpflichtet, sie selbst umzubringen – oder sie eilig an Rokiv auszuhändigen, falls er sich nicht überwinden könnte, seine Tochter zu töten.

Nun, es gab andere Reiche im Großen Meer. Bunte Städte, landwirtschaftliche Siedlungen, Handelshäfen. Alles war besser, als das Leben in Lusias Hav an Rokivs Seite auch nur einen weiteren Tag auf sich zu nehmen. Und Zirys machte sich klar, dass sie nicht auf das Ableben des Kriegsprinzen im Kampfeinsatz hoffen durfte. Das wäre dumm, und ganz bestimmt stand er eine Stunde später vor ihr und gaffte ihr auf die Brüste, bevor er ihr die Kleidung vom Leib riss. Sehr viel weiser, diese Rückkehr nicht abzuwarten und das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Gedanke, der ihr leichte Schwindelgefühle bereitete, aber sie biss die Zähne fest zusammen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, sie konnte und musste das schaffen.

Und wenn sie schon einmal dabei war, sich Rokivs Hass zuzuziehen, konnte sie auch den letzten Schritt gehen. Entschlossen klappte sie seine zweite Truhe auf und starrte einen Moment lang benommen auf die Waffen und Rüstungsteile, die sich darin befanden. Der Geruch vom Öl wallte Zirys entgegen. Sie brauchte Kraft, um sich zu überwinden, nicht gleich furchtsam wieder den Deckel zuzuschlagen. Sie benötigte eine Waffe. Einen Dolch, selbst wenn sie ihn nur zum Ausnehmen von Fischen benutzen würde. Aber ohne Waffe ging sie nicht von hier fort, so einfach war das. Sie mochte furchtsam und verzweifelt sein, aber dumm nicht.

Schließlich ergriff sie auf das Geratewohl einen recht kleinen Dolch in schlichter schwarzer Lederscheide, klappte den Truhendeckel hastig zu und verstaute ihren Schatz im Mantelsack.

Ihr war beinahe übel vor Anspannung und Wagemut. Noch während sie vor dem Gepäckstück kniete, fragte sie sich, ob sie ihre Flucht wirklich bewältigen konnte. Nicht wegen des Segelns, sondern weil Zirys Angst hatte, im entscheidenden Moment einfach ohnmächtig zu werden oder zitternd in einem Winkel zu hocken und sich nicht weiter zu wagen.

Sie ballte die Hände zu Fäusten, bis die Nägel schmerzhaft in die Handflächen bissen, rief sich mühelos Rokivs verschwitztes Gesicht mit dem fiesen Lächeln in Erinnerung.

Dann erst nahm sie wahr, dass draußen auf dem Palasthof ungewohnter Lärm herrschte, der sogar bis zum Schlafzimmer herauf brandete. Nervös blickte sie zum Fenster, verschnürte mit zitternden Fingern den Mantelsack, raffte Hose, Hemd und Mantel zusammen und legte diese Kleidungsstücke auf ihr Marschgepäck, bevor sie sich auf weichen Knien erhob und zum Fenster eilte.

Soldaten, Knechte, Bedienstete und Wachhabende aus dem Palast, einfache Bürger und Händler waren zusammengeströmt. Und obwohl die Kunde vom Tod der Witwe die Runde gemacht haben musste, wirkten diese Menschen alles andere als niedergeschlagen. Zirys starrte verwirrt. Nicht ein einziger von denen konnte ahnen, was für ein Aas die alte Frau gewesen war! Keiner von denen konnte es wagen, in Lusias Hav den Tod der Prinzenmutter zu feiern, selbst wenn Knechte und Mägde vielleicht errieten, welche Bürde aus der Stadt gerissen worden war.

Zirys wischte sich Schweiß von der Stirn. Nein, dieser Tumult konnte nur eines bedeuten. Sie beugte sich weiter vor.

Soldaten in Sechserreihen, bunte Wimpel an den Speeren. Einige der Männer mit Blumenkränzen geschmückt. Staubig sahen die Kerle aus, als wären sie vom großen Kriegshafen bis hierher marschiert. Saubere Kolonnen, flatternde Mäntel.

Rokivs Soldaten. Der Krieg schien vorbei. Die Wochen des Friedens für Zirys endeten.

Sie atmete zitternd ein. Ein furchtbarer Tag, der ein wenig Sonnenschein durch den Tod der Witwe erhalten hatte. Und nun Rokivs Rückkehr. Es war nicht gerecht. Irgendwo musste ein Gott sich jetzt gerade vor trunkenem Lachen auf die Oberschenkel klopfen, dass er die kleine Zirys so schön an der Nase herumgeführt hatte. Bastard!

Immer noch starrte sie auf die marschierenden Kolonnen. Keine Spur von Rokiv. Götter, konnte es sein? Hoffnung stahl sich auf leisen, federleichten Pfoten in Zirys’ Brust und verbarg sich unter dunkler Angst.

Doch wenn Rokiv gefallen wäre, würde niemand jubeln, keine Blumenkränze Speere und Helme krönen. Unmöglich!

Hinter den geschmückten Soldaten kam ein Sklavenzug in Sicht. Die erbeuteten Gegner, die Gefangenen aus geschliffenen Dörfern. So viele.

Zirys starrte betroffen auf die traurige Masse geschlagener Menschen, die sich in Ketten die steile Straße zum Palast herauf schleppten. Entweder plante Rokiv – oder ein Stellvertreter, falls er doch gefallen sein sollte – einen großen Sklavenmarkt am nächsten Morgen, oder diese Menge ihrer Freiheit beraubten Menschen wanderte geschlossen in die Kerker unterhalb des Palasts. Welches Ende dieser Gefangenen harrte, vermochte Zirys sich nicht auszumalen. Ja, sie hatte von den Wolfsgruben gehört, von den Belustigungen, denen man hier in Lusias Hav nachging. Gesehen hatte sie noch nichts davon mit eigenen Augen, da Rokiv sie nicht einmal aus dem Palast gelangen ließ.

Spähend ließ sie den Blick schweifen, beugte sich noch weiter über das Sims, bis sie auf Zehenspitzen stand. Müsste Rokiv nicht an der Spitze seiner Männer in die innere Stadt des Palasts kommen? Stolzgeschwellt, dass er – besser gesagt: seine Männer – gesiegt hatte?

»Was für ein anregender Anblick. So will ein heimkehrender Held begrüßt werden. Willst du da stehen bleiben? Mir wäre es recht, und du kannst dich ja am Fensterrahmen festhalten, wenn die Stöße dir mal wieder zu hart werden, kleine Prinzessin.« Eine Stimme wie Öl auf dem Wasser, wie Seide, in deren Stofffalten sich eiserne Dornen verbargen.

Mit einem entsetzten Keuchen wirbelte Zirys herum.

Da stand er. Nestelte schon an den seitlichen Verschnürungen seines Brustpanzers, um die Rüstung abzulegen. Das Grinsen auf dem Gesicht wirkte wölfisch, fehlte nur die zwischen den Lippen hervor baumelnde Zunge.

»Deine … deine Mutter …«, brachte Zirys hervor und hoffte, dass diese Todeskunde ihn ernüchtern würde.

»Ja, schon gehört. Zu Tode gefressen. War über kurz oder lang zu erwarten gewesen.« Er ließ den Panzer zu Boden fallen und zerrte den Gürtel auf. »Zieh die Röcke hoch, dreh dich um und halt dich am Fensterstock fest. Die Leute sollen sehen, wie ein siegreicher Kriegsprinz vom liebenden Weibchen belohnt wird.« So viel Zuneigung in der Stimme wie ein Hai, der pfeilschnell auf einen Schwimmer zuhielt.

Eine vollkommen fremde Stimme erklang im Zimmer. Eine, die Zirys noch nie gehört hatte. Ein einziges Wort, eine einzelne Silbe. »Nein.« Erst als Zirys den Mund zuklappte, wurde ihr klar, dass sie selbst dieses verhängnisvolle Wort gesprochen hatte.

Rokivs Augen verengten sich zu schmalen, glitzernden Schlitzen. Das Lächeln blieb starr auf seinen Lippen hängen. »Dafür sollte ich dir den Gürtel durch das Gesicht ziehen. Aber ich bin guter Laune und habe mit dem heutigen Tag Besseres vor, als dir die Zähne aus dem Maul zu schlagen. Röcke hoch, umdrehen. Sofort. Und sei froh und dankbar, wenn nur ich dich nehme. Ich kann meine Hauptmänner hereinrufen, die alle seit Monaten auf deine Brüste starren und sich ausmalen, dich zum Schreien zu bringen. Bei einem solchen Überfluss an Saft wirst doch wohl selbst du schwanger werden, oder?«

»Wage es nicht, Schwein.« Zirys spürte Eiseskälte in ihren Magen rieseln, als sie auch diese Worte sprach, obwohl sie genau wusste … nein, noch nicht einmal wusste, was ihr das einbringen würde. Aber ein wilder Teil von ihr wollte Rokiv vor Wut erbleichen sehen. Fassungslos vor Erstaunen wollte sie den Bastard vor sich haben.

»Wie konntest du es wagen, jemanden unter deine Röcke zu lassen, bevor ich dich zu mir nahm! Ich habe eine Armee, du Hure. Und ich schwöre, jeder meiner Männer wird zum Zuge kommen, wenn du nicht auf der Stelle parierst!«

Leere Drohungen, flüsterte ein kleiner Teil ihres Verstandes. Nie im Leben würde er jemand anderen an sie heranlassen, er wollte doch einen Erben und nicht einen Bastard an dessen Stelle. Inmitten des zu Eis erstarrten Hirns raunte dieser winzige Funken Wärme weise Worte, die Zirys nur noch mehr zittern ließen. Wieder der Hinweis, dass sie nicht als Jungfrau unter ihm zu liegen gekommen war. Immer wieder das.

Zirys’ Blick flog zur Seite zum Mantelsack, in dessen verschnürter Hülle der Dolch lag.

Rokiv war Soldat genug, dass er dies bemerkte. Er starrte auf die unförmige Gepäckrolle und zog den Gürtel mit einem unheilvollen Schnalzen aus den Schlaufen. »So ist das also. Da verreckt meine arme, liebe Mutter, und die kleine Prinzessin denkt, sie kann still und heimlich verschwinden.«

Er flog vor. Ein gedrungener, muskelschwerer Mann. Der Gürtel pfiff durch die Luft, und Zirys überraschte sich selbst, dass sie auf direkten Kollisionskurs ging, Rokiv die Schulter in den Magen rammte, bevor der Gürtel auf ihren Hintern und die Rückseite eines Oberschenkels klatschte.

Brennender Schmerz fraß sich durch die Haut in die Muskeln. Doch Rokiv war aus dem Gleichgewicht geraten, und Zirys sprang leichtfüßig an ihm vorbei, als er zu Boden ging. Ganz klar konnte sie die Tür sehen. Wie mit schwarzer Kohle an die Wand gemalt. Alles andere verkam zu einem verschwommenen Hintergrund, der aus buntem Flirren und Angstschweiß bestand.

Wie eine kochend heiße Stahlklammer schloss seine Hand sich um Zirys’ Knöchel. Ein Ruck, der bis zur Hüfte herauf schmerzte, und auch Zirys stürzte auf den dicken Teppich, fing ihren Fall gerade noch mit den Händen ab und zog das freie Bein in einer krampfartigen Bewegung an.

Ihr Atem flog in harten, flachen Stößen, tat bei jedem Luftholen weh, als würde sie zerstoßenes Glas in ihre Lungen ziehen. Keine Angst mehr, begriff sie. Sie würde sterben. Er würde sie umbringen. Sie wimmerte leise vor Entsetzen über die Klarheit dieser Erkenntnis, und etwas in ihr zerriss mit einem ohrenbetäubenden Geräusch wie tausendfaches Flügelschlagen von Tauben. Das Wimmern erstarb.

»Auch gut. Dann werde ich das hier auf dem Teppich machen, Hure. Bis du rohes Fleisch bist, das schwöre ich dir. Bis du endlich schwanger bist. Dich kriege ich zahm!« Er zog sich vorwärts.

Zirys’ Herz hämmerte in Kehle, Schläfen und Brust, ließ ihr kaum noch Platz zum Atmen. Schweiß tränkte das dünne Seidenkleid.

Sie schrie halb erstickt auf und rammte den freien Fuß in das grinsende Wolfsgesicht. Holte Schwung, trat noch einmal zu, während Rokiv ihr fast den Knöchel brach, weil er sie so fest hielt.

Sein Grinsen verschwand. Das erste Mal seit dem Ritual vor dem Priester aus seinem Gesicht gewischt. Nein, das zweite Mal. Zirys entsann sich seiner wutverzerrten Fratze in der Hochzeitsnacht, als er entdeckte, dass sie keine Jungfrau mehr war. Vier Wochen lang hatte sie sich nicht aus ihren Gemächern wagen dürfen, weil ihr Gesicht grün und blau angeschwollen gewesen war, ein Auge geschlossen dank Fausthieb, die Unterlippe aufgeplatzt …

Zirys schrie erneut, dieses Mal mit mehr Kraft – und doch leise, um selbst jetzt niemanden auf diesen Kampf aufmerksam zu machen. Ein Fauchen, das in ihrer verkrampften Lunge Platz für mehr Atem machte. Zirys’ Ferse krachte auf Rokivs Nase, und durch die dünne Schuhsohle spürte sie, wie etwas in seinem Gesicht zerbrach, sich verschob und nachgab.

Er spuckte Blut und einen Zahn aus, keuchte – mehr vor Wut denn Schmerz, dachte sie. Sie hämmerte ihm die Ferse noch einmal auf das rote, geplatzte Ding, das einst seine Nase gewesen war.

Für einen Moment spannte die Hand um Zirys’ Knöchel sich schmerzhaft an, schien sich in ihr Fleisch graben und die Knochen zermahlen zu wollen. Dann lockerten die Finger sich, wurden weich wie Pudding. Der Kopf fiel mit einem leisen Knall auf den Teppich.

Stille.

Hektisch strampelte Zirys sich aus dem Griff frei, ertrug nicht einen Herzschlag länger das Gefühl von Rokivs Haut auf ihrer. Sein Schweiß schien sich bis in die Muskeln und Knochen hindurch zu ätzen.

Sie kroch rückwärts wie eine Krabbe von ihrem Ehemann fort, stützte sich mit zitternden Händen auf, schob ihren Hintern mit wilden, unkontrollierten Beinbewegungen über den Teppich, bis sie mit dem Rücken gegen ihre Kleidertruhe stieß.

Keuchend verharrte sie, fühlte sich wie ein gefangenes Tier und war sich vollkommen sicher, dass Rokiv gleich den Kopf heben, sich fluchend hochstemmen und auf Rache sinnend wie ein wildes Tier auf sie stürzen würde.

Ein Schluchzen zitterte in Zirys Kehle. Ihre Beine fühlten sich kalt, fremd und weich an, unfähig, auch nur einen Schritt zur Rettung zu tun.

Durch Entsetzen und Erschöpfung zu Boden gezwungen, harrte Zirys aus und wartete auf das Unvermeidliche.

Draußen rauschte immer noch Jubel. Niemand schien sich daran zu stören, dass ausgerechnet der Kriegsprinz der Prozession des Sieges fernblieb. Wie eine feuchte Decke brandete das Hochgeschrei aus Hunderten von Kehlen bis zu Zirys und hielt sie auf dem Boden fest.

Sie hatte das Gefühl, dass ihre Augäpfel eintrockneten. Jede Bewegung, jedes kleine Flackern zur Seite, zu Rokivs großen Händen, zurück zu seinem Kopf, vermittelte Zirys den Eindruck, dass ihre Augenhöhlen mit Sand ausgepudert worden waren.

Rokiv regte sich nicht.

Nach einer Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, kam Zirys zu der überraschenden Erkenntnis, dass er sich überhaupt nicht rührte. Wie lange konnte ein mordlüsterner Ehemann die Luft anhalten?

In ihrer Not hielt Zirys selbst die Luft an. Dreimal.

»Rokiv?«

Keine Bewegung, kein Laut.

Zitternd stemmte Zirys sich auf die Seite, dann auf Hände und Knie und kroch auf den stillen Mann mitten auf dem Teppich zu.

Die Fransen vor seinem Mund hatten sich mit Blut vollgesogen. Zirys entsann sich des ausgeschlagenen Zahns, den Rokiv ausgespuckt hatte. Dafür würde er ihr jeden einzelnen ihrer Zähne ausgerissen haben …

Sie sah nur ein Auge. Und das glotzte merkwürdig schief zur nicht mehr vorhandenen Nasenspitze.

»Rokiv?« Sie traute sich nicht, ihn anzufassen. Bestimmt würde er dann nach ihr greifen … Sie atmete tief durch. Das war Unsinn. Rokiv sah wirklich nicht so aus, als würde er überhaupt jemals wieder etwas machen.

Sie streckte die Hand aus, einen einzelnen Finger und stupste Rokiv eine eiskalte Fingerkuppe auf das Ohr.

Nichts.

Ein winziger Teil von ihr, jener, der bei allen Schmähungen und Drohungen seitens Rokiv versucht hatte, sich über dem Toben der Panik bemerkbar zu machen, hatte gewusst, dass keine Reaktion erfolgen würde.

Zirys stupste vorsichtshalber noch einmal. Dann nahm sie ihren letzten verbliebenen Mut zusammen. Den Großteil hatte sie damit verbraucht, sich Rokiv zum ersten Mal zu verweigern.

Die Hand zitterte, die Zirys nach Rokivs Schulter ausstreckte, um den Dahingestreckten nicht eben sanft zu schütteln. Immer noch nichts. Sie tastete an seinem Hals nach der Stelle, wo ihm immer die Ader schwoll, wenn er zornig war oder kurz vor seinem Höhepunkt stand. Weiches Fleisch, beinahe wabbelig wie eine Qualle. Kein Herzschlag.

Zirys versuchte, Rokiv auf den Rücken zu drehen, scheiterte an seiner schieren, weichen Masse. Als besäße der Kerl nicht einen einzigen Knochen mehr im Leib. Sie setzte sich schließlich auf den Hintern, stemmte die Füße gegen Rokivs Seite und stützte sich auf den Ellenbogen ab, um Kraft ihrer Beine den großen Kerl herumzuwälzen.

Mittlerweile war sie sich beinahe sicher, ihn in ihrer wilden, panikdiktierten Gegenwehr umgebracht zu haben. Ein furchtbarer Gedanke, der wie ein eisiges Leichentuch versuchte, Zirys einzuhüllen und jeden klaren Gedanken zu ersticken.

Trotzdem tastete sie ein zweites Mal nach Rokivs Herzschlag, dieses Mal in der kleinen Mulde, wo die Schlüsselbeine zusammentrafen. Sehr darum bemüht, nicht in sein blutiges Gesicht zu sehen. Trotzdem fiel ihr auf, dass dort alles ein wenig verschoben wirkte.

Auch in der Drosselgrube herrschte absolute Stille. Zirys atmete erschrocken tief ein, dann blickte sie fahrig um sich, nahm wieder den Jubel von draußen wahr. Irgendwann würden Rokivs Generale ihren Prinzen gerne zurückhaben wollen. Spätestens zum großen Bankett. Oder die Priester würden an die Zimmertür hämmern, da sie die Witwe für die Beisetzung vorbereitet hatten. Denn der musste der Sohn doch beiwohnen.

Und dann? Zirys stünde als Mörderin da, und welches Schicksal ihr dann drohte, konnte sie nicht einmal in der momentanen Abgeschiedenheit ihres Zimmer halbwegs erfassen.

Der Blick wanderte zurück zu Rokiv. Dann zum breiten Bett, das auf stabilen Pfosten stand und im Augenblick noch mehr als der tote Kriegsprinz das Symbol für Schmerz und Gemeinheit darstellte.

Mit einer zitternden Hand wischte Zirys sich schweißfeuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Und fasste einen Entschluss, der ihr noch schwerwiegender erschien als jener, in dieser Nacht zu fliehen. Rokivs Tod untermauerte diese erste Entscheidung, doch dafür musste der Kriegsprinz verschwinden. Sicher würde man ihn in einem oder zwei Tagen finden. Spätestens nach einer Woche, wenn der Leichnam zu stinken begann.

Zirys zwinkerte Tränen fort. Das hatte sie nicht gewollt. Er hatte sie nur endlich loslassen sollen! Wirklich nicht mehr. Ja, sie hatte gehofft, dass Rokiv auf dem Schlachtfeld blieb, weil sie solche Angst vor ihm gehabt hatte. Nein, immer noch hatte, selbst jetzt, da er still auf dem Teppich lag und sein Dasein ausgehaucht hatte.

Sie wischte die letzten Tränen fort, zog die Nase hoch und machte sich dann daran, den schweren Mann auf das Bett zuzurollen. Auf die gleiche Weise, wie sie ihn herumgedreht hatte, weil sie einfach zu klein und schwach war, um die Arbeit anders zu bewerkstelligen.

Schweißgebadet zog Zirys sich am Bettpfosten auf die Beine, als sie Rokiv endlich unter dem Bett verstaut hatte. Es war ja nicht für lange. Er würde eine anständige und pompöse Beisetzung erhalten. Im großen Tempel unter den kalten Marmorplatten neben seinen Eltern. Rokiv würde gesalbt und in seine besten Kleider gehüllt werden.

Keinerlei solche Fürsorge hatte Zirys zu erwarten, sollte sie noch in Lusias Hav sein, wenn der Leichnam entdeckt wurde.

Ihr war schwindelig von der Anstrengung und den Nachwirkungen der Ängste, die sie ausgestanden hatte. Einen Moment lang ließ sie sich auf der Bettkante nieder, blickte auf ihren geschundenen Knöchel, der glutrot leuchtete und sich an den Rändern des Blutergusses bereits violett verfärbte.

Doch die rachsüchtig unter dem Bett hervorschießende Hand des Gatten blieb aus. Es würde dauernd, bis Zirys sich an den Gedanken gewöhnte. Doch begriffen hatte sie es: Rokiv stellte keine Gefahr mehr dar. Zumindest keine Direkte.

Zirys musste diesen Tag im Palast überleben, damit sie sich nach Einbruch der Dunkelheit davonschleichen konnte. Sie brauchte Vorräte, zumindest eine Wasserflasche, etwas Salz und einen Laib Brot.

Ihr Blick flackerte zum Mantelsack, zur bereitgelegten Männerkleidung. Eine ernstliche Tarnung würde dies nicht darstellen. Aber vielleicht zumindest auf den ersten Blick verschleiern, wer da in Kniehosen – die ihr wohl bis zu den Fesseln hinab reichen würden – und Leinenhemd schwer an seinem Gepäck schleppte.

Draußen immer noch Lärm, der mit einem Mal schrill anstieg. Als wäre etwas geschehen. Oder auch nur Begeisterung, Zirys konnte es nicht sagen.

Mühsam stemmte sie sich hoch und ging zum ersten Mal seit Rokivs Angriff aufrecht und auf ihren zwei Beinen durch das Zimmer. Es schmatzte leise, als sie versehentlich auf die nass geblutete Stelle des Teppichs trat. Mit einem leisen Stöhnen beeilte Zirys sich, auf sauberes Terrain und schließlich zum Fenster zu gelangen.

Von hier konnte sie die Hauptstraße einsehen und hatte ebenso freien Blick auf einen Teil der Palastgärten, deren hohe Umfassungsmauer das erste Hindernis auf der nächtlichen Flucht darstellen würde. Im Augenblick stand das Tor zur Straße offen, und zwei Ochsen zogen einen vergitterten Wagen auf den sauberen Kiesweg. Darin … mindestens ein Mensch, der sich klein in der Mitte des Käfigs zusammengekauert hatte. Den Boden des Käfigs bedeckten Unrat und fauliges Gemüse. Selbst an den Gitterstäben haftete vergammeltes Obst. Der Mensch sah nicht viel besser aus.

Der Karren kam zum Stillstand, das Tor in der Gartenmauer wurde geschlossen, die Ochsen ausgespannt und davongeführt. Auf der Straße und in der Stadt ging die Feier weiter – ungeachtet des Tods der Witwe, der jedem Bürger bekannt sein sollte. Niemand da draußen ahnte, dass Rokiv ebenso entseelt unter dem Bett lag. Auf dem er sonst so ausdauernd, häufig und heftig seine junge Braut in die Matratzen rammelte. Zirys schluckte hart, um Brechreiz zu unterdrücken. Eine frische Träne rann über ihre Wange.

 

Dämmerung zog auf, während Zirys am Fenster verharrte, tief die klare Luft aus den Gärten und vom Meer her atmete.

Freudenfeuer flammten in der Stadt jenseits der Mauern auf.

Es klopfte an der Tür.

Zirys richtete sich gerade auf und stieß sich vom Fensterstock ab. Ihr Rücken schmerzte vor Anspannung, doch sie eilte erstaunlich rasch zu ihrer Truhe, zerrte einen spitzenbesetzten Umhang und einen Schal hervor, legte beides in fieberhafter Eile an und ging zur Tür, um zu öffnen.

Bemüht riss Zirys die Augen weit auf und versuchte, noch kleiner und jünger auszusehen.

Ein Hauptmann auf dem Flur. Wenigstens kein General. Das war schon eine Menge wert. Hinter dem Mann drei Soldaten, die unverkennbar schon nach Wein rochen. Die Siegesfeier war in vollem Gange, schien es Zirys.

Der Hauptmann deutete einen knappen Salut an. »Gebieterin, die Generalität würde sich freuen, den Kriegsprinzen in ihrer Mitte zu begrüßen.«

Zirys blickte mit allen Zeichen von Verblüffung zu dem Hauptmann auf, zwinkerte und antwortete leise: »Aber mein Herr und Gemahl ist doch gar nicht mehr hier.«

»Wann ist er gegangen? Und wohin, Gebieterin?«

Sie runzelte die Stirn, als würde sie scharf über die Antworten zu diesen beiden Fragen nachdenken. »Es war noch hell. Entschuldige, ich habe geschlafen.«

»Wohin, Gebieterin? Sagte der Kriegsprinz dir das?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte er das?«

Der Mann rollte mit den Augen, trat von der Tür zurück, und Zirys schloss diese nach einem Augenreiben und erneutem Zwinkern.

Deutlich vernahm sie auf der anderen Seite des Holzes die Worte, die der Hauptmann einem seiner Männer – oder allen drei – mitteilte: »Götter, ist das Weib dumm.« Leises Gelächter, gedämpft durch die Tür.

Zirys atmete auf. Für den Augenblick war sie in Sicherheit und vor einer Entdeckung gefeit. Doch nun musste sie handeln. Die Feierlichkeiten konnten ihr die benötigte Deckung verschaffen. Dumm nur, dass in den Palastküchen reger Betrieb herrschen würde.

Ob das Küchenpersonal sie erkennen würde? Besser, kein Risiko einzugehen. Sie eilte zum Mantelsack, zerrte sich Umhang, Schal und Seidenkleid vom Körper und schlüpfte in Hose und Hemd, legte den Soldatenmantel an und blickte noch einmal zum Bett. Dann ließ sie sich auf die Knie hinab und kroch halb zu Rokivs stiller Gestalt unter das Möbel.

Er war schon kühler, fühlte sich nicht mehr ganz so weich an. Zirys tastete nach seiner rechten Hand, suchte den Ringfinger und spürte schließlich das kalte Metall des Siegels. Behutsam streifte sie den Ring von Rokivs Hand, kroch wieder unter dem Bett hervor und schob sich das Schmuckstück mit den prinzlichen Insignien auf den Daumen. Selbst da saß der Ring noch locker. Sobald sie mehr Zeit hatte, würde sie den Ring am Mantelkragen festbinden. Oder aus einer Schnur eine Halskette damit verfertigen, sodass sie den Ring unter dem Hemd verbergen konnte. Doch jetzt spürte Zirys drängende Eile.

Jeder würde auf den Beinen sein, aber bis Ruhe einkehrte, konnte sie nicht warten. Freudenfeuer, betrunkene Feiern um bratendes Nutzvieh, angetrunkene Soldaten. Die beste Gelegenheit, um in der Masse unterzutauchen, betete Zirys.

Sie schulterte den Mantelsack und hoffte, dass sie auf dem Fest noch an Vorräte gelangen konnte. Oder … oder es musste eben ohne gehen!

Sie schlich zur Tür und lauschte an ihr. Stille auf dem Flur. Zirys atmete tief durch und zog die Tür einen winzigen Spaltbreit auf, spähte hinaus und seufzte erleichtert. Lautlos huschte sie aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür behutsam hinter sich. Es fühlte sich wie ein Schlussstrich unter anderthalb Jahren Tyrannei und Schmerz an. Obwohl Zirys sich vor jedem Schritt fürchtete, empfand sie eine kleine Genugtuung über ihre Flucht. Das Herz hämmerte ihr ganz oben in der Kehle, und ihre Hände waren schweißnass.

Die Siegesfeier fand in der Stadt und in der großen Halle statt, sagte sie sich. Die Gärten lagen verlassen. Also zuerst dorthin, um durch das Portal oder eine der kleinen Pforten zu entwischen.

Bedauerlicherweise zitterten Zirys’ Knie vor Angst, sodass sie sehr langsam vorwärtskam. Hinter jeder Biegung des Flurs erwartete sie einen Wächter, doch lag dieser Teil des Palasts in absoluter Stille da. So leise war es, dass Zirys ihren eigenen Herzschlag in den Ohren dröhnen hörte.

Sie erreichte unangefochten die große Treppe am Ende des Gangs, die nach zwei Etagen in eine Halle münden würde, von wo aus Flügeltüren den Weg in den Garten freigaben.

Die schrecklichsten zwei Stockwerke in Zirys’ Leben. Sie hangelte sich regelrecht am Handlauf nach unten, verharrte immer wieder bebend und lauschend und wusste, dass sie als reines Nervenbündel den Garten erreichen würde – falls ihr niemand in den Weg trat.

Es half alles nichts. Ihre Angst lähmte sie beinahe, und die Pausen, die Zirys zum Lauschen einlegte, zogen sich bedrohlich in die Länge. Als sie endlich das Erdgeschoss erreichte, zitterte sie am ganzen Körper, das Hemd klebte an ihrem Rücken fest, und das Gewicht des Mantelsacks drohte, sie einfach zu Boden zu drücken.

In der Halle vernahm sie leise Überreste der Siegesfeier. Musik, betrunkenes Grölen, Gelächter. Der Duft von gebratenem Fleisch und das Aroma von Wein wehten bis hierher.

Mit beinahe letzter Kraft drückte Zirys die Klinke der Gartentür hinab, dann die Pforte auf und wurde von milder Nachtluft empfangen, die nach Rauch und Ausgelassenheit schmeckte. Der Himmel leuchtete rot und golden von den vielen Feuern in der Stadt.

Einen Moment lehnte Zirys sich gegen die Palastmauer, sah sich im Garten um und fürchtete die ganze Zeit, dass jemand sie anrufen würde, dass sich etwas zwischen Büschen und Blumenbeeten bewegen würde. Doch der Kiesweg lag beinahe leer vor ihr. Denn dort stand der Gitterwagen. Keine Wachen bei ihm, offenkundig war der Gefangene bereits fortgeschafft worden.

Zirys sammelte sich, wischte sich erneut Schweiß von der Stirn und schlich geduckt los, den Riemen des Mantelsacks so fest umklammert, dass die Hand wehtat.

Eine Hecke stellte einen Sichtschutz dar, sodass Zirys zwischen dem Grün und dem Gitterwagen hindurch huschen konnte. Oder es zumindest versuchte.

2.

Drakhall

 

Eine Stimme erklang, die Zirys’ Puls beschleunigte, ihre Atmung stocken ließ und die Beine nun endgültig in weiches Gelee verwandelte.

»Bitte … Wasser.«

Eine Stimme aus der Vergangenheit, als das Meer in kleinen Wellen am Strand ausgelaufen war. Der Geruch von frischem, sauberem Schweiß, Wein im heißen Atem, Sterne am Himmel.

Zirys erstarrte an Ort und Stelle, wandte ganz langsam wie auf sandigen Lagern den Kopf und stierte die nur schemenhaft auszumachende Gestalt im Gitterwagen an.

Er musste es sein.

Götter! Warum er? Warum hier? Warum jetzt?

»Bitte.« Rau klang die Stimme. Nach Schmerzen und einer Kehle wie mit Glasscherben gefüllt. Alleine dieses Wort hervorzubringen, um Wasser zu betteln wie ein Obdachloser auf der Straße um ein Almosen … Welche Erniedrigung für ihn, und doch nahm er sie auf sich.

Es gab ein leises, pochendes Geräusch direkt neben Zirys’ Fuß. Sie blickte hinab, und da lag der Mantelsack auf dem Kies. Fallen gelassen, ohne dass Zirys sich an einen bewussten Entschluss dazu entsinnen konnte. Sie rang nach Atem und flüsterte einen Namen, der ihr fremd geworden war in den anderthalb Jahren, die sie als Rokivs Ehefrau und Privatbesitz in Lusias Hav verbracht hatte. »Drakhall?«

So leise, hell und atemlos klang ihr die eigene Stimme in den Ohren, dass Drakhall sie nicht vernommen haben konnte.

Auf Knien, weil der Käfig einem Hünen wie ihm nicht genug Platz bot – und auch einen kleineren Mann in diese erniedrigende Haltung gezwungen hätte. Die Finger in das Gitter eingekrallt, dessen Abstände viel zu klein waren, als dass ein Gefangener eine Hand hätte hinausstrecken können. Aber das war Drakhall, unverkennbar trotz Drecks, der ihm und dem Käfig anhaftete, trotz der nahezu verfilzten Haare und des gepeinigten Gesichtsausdrucks.

So hatte Zirys den großen Kerl nicht in Erinnerung. Sie entsann sich an sein Lächeln, ein wenig träge und gelassen, wie ein großer Kater, der in der Sonne döst.

Langsam trat Zirys näher, fassungslos die große Masse Mann betrachtend. Schmutzstarrend alles an ihm, selbst die beiden Verbände, einer quer über seinen Oberkörper, als hätte jemand versucht, eine Wunde über den Rippen zu versorgen. Ein ebenso dreckiges Leinentuch um einen Oberarm. Es war zu dunkel, als dass Zirys Details hätte erkennen können.

»Bitte. Wasser.« Kein Vergleich zu seinem Lachen am Strand, zu dem vertraulichen Flüstern in Zirys’ Ohr.

»Drakhall«, brachte sie deutlicher hervor.

Er ließ den Kopf sinken, und Zirys brauchte eine Weile, bis sie begriff, warum er das tat. Er war ein Gefangener in Lusias Hav, und dass jemand ihn erkannte, verhieß nichts Gutes. Vor allem kein Wasser. Der gewaltige Brustkorb arbeitete in drei mühsamen Atemzügen, dann löste Drakhall die Finger aus dem Gitter und zog sich ein Stück zurück. Als wollte er Stößen mit einem Stock oder anderen Gemeinheiten ausweichen.

Zirys hätte ihm alles Trinkbare gegeben, das sie mit sich herumtrug – wenn sie denn welches gehabt hätte. Sie biss die Zähne zusammen, um sich selbst Mut zu machen, huschte halb um den Käfigwagen herum, bis sie den Riegel an der kleinen Pforte fand. Außerhalb Drakhalls Reichweite dank des engen Gitters, mit einem Holzkeil zusätzlich gesichert, den jemand unter den Riegel geschoben hatte.

Nur auf Zehenspitzen erreichte Zirys diesen Verschluss und zerrte das Holzstück mühselig frei. Dann zog sie den Riegel auf und öffnete die Tür.

Den Geruch, der ihr aus dem Käfig entgegenschlug, und den sie vor wenigen Momenten am Gitter kaum wahrgenommen hatte, konnte Zirys nur als widerwärtig bezeichnen. Schmutz. Sie sagte sich lautlos, dass es nur Schmutz wäre.

»Drakhall, komm. Ich habe kein Wasser, aber da hinten ist ein Springbrunnen.« Wie vertraut die Silben seines Namens sich anfühlten. Zirys wunderte sich ein wenig über sich selbst. Verglichen mit Drakhall war Rokiv nur klein und pummelig zu nennen. Und doch strebte alles in Zirys danach, den Hünen zu befreien. Niemand sollte der sehr fragwürdigen Gnade, die in Lusias Hav dank des Kriegsprinzen zur Mode geworden war, ausgesetzt sein, sagte sie sich lautlos, während sie mit verhaltenem Atem wartete.

Bewegung im Käfig. Unendlich langsam, auf Händen und Knien folgte Drakhall der Aufforderung, und als das Sternenlicht sowie der rote Widerschein aus der Stadt auf sein Gesicht fielen, erkannte Zirys das Misstrauen in seiner Miene.

»Beeil dich. Ich habe Angst, dass doch noch ein Wächter vorbeikommt. Die feiern alle, aber hin und wieder gibt es einen, der dienstbeflissen ist.« Sie trat einen Schritt zurück, um Drakhall Platz zu machen. Den er dringend brauchte, als er sich ganz langsam, wachsam in scheinbar alle Richtungen spähend, aus dem Wagen schob. Die muskulösen Beine in speckigem Leder zuerst, vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf den Boden setzend. Die Silberknöpfe der langen Stiefel blitzten auf und schienen das einzig Intakte an dem ganzen großen Kerl zu sein. Den bandagierten linken Arm hielt der Mann wie schützend vor seiner Bauchdecke, mit der rechten Hand fand er Halt am Türrahmen, und endlich stand Drakhall vor Zirys.

»Warum?«, fragte er leise.

»Erst Wasser«, antwortete Zirys und wunderte sich selbst, woher sie mit einem Mal die Kraft nahm. Aber es tat so gut, Drakhall wiederzusehen. Höchstwahrscheinlich, dachte sie benommen, stellte es auch eine Wohltat dar, jemanden zu sehen, der noch übler zugerichtet worden war als sie selbst.

Er nickte und ließ endlich den Türrahmen los, schwankte einen Moment gefährlich. Der Kopf sank nach vorne, und Zirys sah die Muskeln arbeiten, um diesen riesigen Kerl in der Senkrechten zu halten.

»Hier entlang. Mach dich klein.«

Keine Antwort, aber er zog tatsächlich die Schultern nach vorne, beugte ganz leicht den Rücken und folgte ihr. Zuerst zum Mantelsack. Irgendwie hatte Zirys erwartet, dass Drakhall das Gepäckstück an sich nehmen würde. Doch er wartete nur stumm neben ihr, bis sie sich den Lederriemen über die Schulter geworfen hatte.

Hastig eilte Zirys voran, sah immer wieder ängstlich um sich und fühlte sich widersinnigerweise ein wenig sicherer mit Drakhall in ihrem Rücken.

Der große Kerl war langsam. Erschreckend langsam. Doch endlich kam der Springbrunnen in Sicht. Ein leises, kehliges Geräusch hinter Zirys, und Drakhall schaffte es, seine Schritte zu beschleunigen. Er erreichte die niedrige Umfassungsmauer, brach davor in die Knie, umkrallte den Stein mit beiden Händen und tauchte den Kopf in das sprudelnde Nass.

Tropfen spritzten auf seinen nackten Rücken, der von Peitschenstriemen gezeichnet war und irgendwie sehr faltig und spröde aussah. Ebenso Drakhalls Hände und Arme, bemerkte Zirys erst jetzt, da warmer Feuerschein von den Öllampen rund um den Brunnen die hünenhafte Gestalt beleuchtete.

Zirys entsann sich, dass Rokiv sie einmal für einen ganzen Tag im Zimmer eingesperrt hatte. Ohne Wasser und Nahrung. Es hatte wehgetan. Der Hunger war erträglich gewesen, aber der Durst hatte sie am Denken behindert, für Kopfschmerzen gesorgt und in jedem Muskel geschmerzt.

Dem Gestank nach zu urteilen hatte Drakhall sich erheblich länger als einen Tag im Gitterwagen befunden. Die Göttin der Unterwelt, die grinsend Rokiv in ihrem Reich hatte begrüßen dürfen, mochte wissen, wann jemand zuletzt Wasser an den Gefangenen gereicht hatte.

Drakhall tauchte wieder auf, rang keuchend nach Atem und ließ sich auf die Fersen sinken. Sein Kehlkopf bewegte sich zweimal rasch auf und ab, dann wandte Drakhall den Kopf zur Seite und erbrach das gierig getrunkene Wasser wieder. Reines Wasser, kristallklar.

Zirys blickte besorgt ringsum, ob diese Geräusche Wächter anlockten. Doch da die Feierlichkeiten im Palast und auch auf der anderen Seite der Gartenmauer offenbar mit jedem Atemzug lauter wurden, bildete der Springbrunnen eine kleine Insel der Stille. Abgesehen vom Plätschern des Wassers und Drakhalls leisem Würgen. Hinzu kam wohl auch, dass Bezechte sich dauernd übergaben, da fiel das hier gar nicht auf.

Es schüttelte den großen Kerl deutlich.

»Drakhall …«

»Gleich.« Er rang nach Atem, beugte sich wieder vor und trank erneut, wobei er dieses Mal Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und es langsamer angehen ließ.

Zirys’ Unruhe und Ungeduld wuchsen. Was, wenn der Hauptmann noch einmal an die Zimmertür klopfte? Wenn er ungeduldig eintrat, weil er keine Antwort bekam? Würde er das wagen? Doch was blieb ihm übrig, wenn er seinen Prinzen nicht finden konnte?

Ängstlich ließ Zirys den Blick zwischen Drakhall, der Mauer und dem Palast hin und her fliegen. Auch jemand, der nach dem Gefangenen sah, würde Alarm schlagen. Und dann?

»Zirys, nicht wahr?« Er kauerte immer noch am Brunnenrand, doch sah Drakhall nun erheblich wacher aus.

Röte kroch ihr in die Wangen, dass er sich ihrer offensichtlich nicht so klar entsann wie sie sich seiner. Es beschämte und erleichterte sie zugleich.

Zirys nickte.

»Ich konnte deine Stimme nicht gleich erkennen, als du mich ansprachst.« Wie ein Schatten im Nebel flackerte sein Lächeln auf. Müde, doch sonst wie vor so langer Zeit. »Was machst du hier, Kleines?«

»Flüchten. Und ich wäre schon lange fort, wenn du nicht …«

»Wenn ich dich nicht aufhalten würde. Tut mir leid.« Er stemmte sich auf die Beine. »Ich möchte auch gerne verschwinden. Darf ich dich begleiten?«

»Sonst hätte ich dich wohl kaum aus dem Wagen geholt und neben dir gewartet«, schnappte sie, obwohl sie spürte, wie ungerecht diese kleine Attacke war.

Das Lächeln blieb. Es erhellte das dunkle, leicht kantige Gesicht und erinnerte Zirys nur zu sehr an den Strand im Mondschein, an das Feuer, über dem sie gemeinsam Fische gebraten hatten.

»Du hast einen Plan?«

»Ich will zum Hafen.«

»Da wimmelt es nur so von Soldaten.«

»Nein. Das ist der Kriegshafen. Ich meine den des Fischerdorfs auf der anderen Seite der Insel. Das sollte von hier nicht allzu weit fort sein. Ich kenne die Richtung.«

Drakhall sah sie ein wenig durchbohrend an. Das konnte er sehr gut, erinnerte sie sich. Das Gesicht verschlossen und ernst, der Blick ganz ruhig. Doch Zirys hatte nicht vor, sich davon beeindrucken oder verwirren zu lassen. Ganz gewiss würde sie sich nicht in ein unsicher kicherndes junges Mädchen verwandeln. Das hatte Drakhall einmal geschafft, ein zweites Mal würde sie es ihm nicht gestatten.

»Gibt es hier eine Seitenpforte? Es wäre selten dämlich, durch das Haupttor zu marschieren. Als sie den Wagen hereinbrachten, tummelte sich dort die halbe Stadtbevölkerung.«

Zirys hoffte, dass es dunkel genug war, ihr Erröten zu verbergen. Genau dieses Tor hatte sie benutzen wollen. Aber sie alleine wäre bestimmt unbeachtet geblieben. Hemd, Hose, junge Frau. Doch mit diesem hünenhaften Krieger, der obendrein halb nackt war, an ihrer Seite konnte sie nicht darauf bauen, denselben Erfolg zu verbuchen. Sie löste die Kette des Umhangs und reichte Drakhall Rokivs Soldatenmantel. »Er ist rot. Eine dumme Farbe, aber besser, als wenn du verdreckt und voller Schrammen jedem ins Auge stichst. Wenn du nur nicht so groß wärst.«

Er nickte, warf sich den Mantel über die Schultern, was sehr mühsam aussah, da Drakhall kaum den linken Arm zu bewegen wagte, und schloss die Kette. »Seitenpforte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Dann lass uns suchen. Ich möchte ungern mitten in die Feier platzen, die meine Gefangennahme bejubelt.«

»Warum?«, fragte sie und fiel neben ihn in Schritt, als er dicht zur Mauer aufschloss, um in deren Schatten ihrer Linie zu folgen und nach einer Tür zu suchen.

»Warum ich die Siegesfeier nicht mit meiner Gegenwart beehren möchte?«

»Du bist ein Ekel.«

»Darin könnte der Grund liegen. Erklärt aber nicht, warum die königliche Kriegsmarine den Kopf meines Oheims per Katapult auf dem Marktplatz landen ließ, bevor sie angriff.«

»Götter! Aber ich verstehe es nicht.«

»Das tue ich auch nicht, tröste dich.« Mit der rechten Hand suchte Drakhall immer wieder Halt an der Mauer. »Aber ich habe vor herauszufinden, was den König zu diesem Schritt gebracht hat.« Er keuchte, stolperte und fing sich mühsam wieder. »Und vor allem, wie er es wagen konnte, mir seinen treuen Hund Kriegsprinz Rokiv auf den Hals zu hetzen.«

»Was ist mit Cathinn Hav?«

»Meines Wissens unversehrt. Doch verlasse dich nicht auf dieses Wissen. Es ist über eine Woche alt.«

Er wurde schneller, und Zirys musste deutlich längere Schritte machen, um mit dem großen Kerl mithalten zu können. Sie hatte den Krieg als Ruhepause vor Rokiv begrüßt, und nun erfuhr sie, dass es sich keineswegs um eine Strafaktion gegen Seeräuber oder andere Eindringlinge gehandelt hatte, sondern ein wildes Kämpfen und Ringen mitten im Großen Meer gewesen sein sollte.

Ihr Kopf schwirrte, während sie sich Seekarten, die Lage der Inseln ins Gedächtnis zu rufen versuchte. Lusias Hav, Cathinn Hav, die anderen größeren Landmassen, die vielen kleinen Atolle und Marschlandinseln, die sich wie grüne Tierrücken aus den Fluten erhoben, bevor das Große Meer in Richtung der Mittagssonne in den Ozean überging, der bis zum Horizont reichte und scheinbar nicht ein einziges Stück Land aufwies. In der Gegenrichtung das große Feuerland, auf dem Vulkane wüteten und nicht eine Handbreit Boden bewohnbar ließen. Zirys entsann sich der Einschätzung ihres Vaters, dass das Feuerland irgendwann so weit wuchs, dass es die Inselreiche des Großen Meeres verschütten würde. Dann gab es nur noch einen riesigen Klotz karstigen Lavafels und das unendliche Meer. Eine erschreckende Vorstellung, doch lag sie so weit noch in der Zukunft, dass diese gegen die Nachricht von einem Krieg verblasste.

Drakhall blieb stehen. Er hatte eine Ecke der Mauer erreicht, an der sich ein schlanker Turm in den roten Nachthimmel bohrte.

»Bleib hier. Ich sehe nach, ob dort Wachen sind.«

Sie wollte protestieren, doch da war Drakhall schon durch die kleine Pforte im Inneren des Turms verschwunden. Das Geräusch von Drakhalls Schritten, ohnehin nicht laut, verklang binnen eines Herzschlags. Zirys blieb zitternd und dicht an die Gartenmauer gedrückt zurück.

Drakhall kehrte nach einer Zeit zurück, die Zirys sich mühsam als kurz erklärte, die ihr aber wie eine Ewigkeit vorgekommen war.

»Hast du in der Tasche noch Platz? Keine Wächter, aber Vorräte und zwei volle Wasserflaschen. Ich konnte mir einen Überblick verschaffen. An dieser Seite sollte in einigen Hundert Schritt Entfernung ein Tor sein – oder eine Pforte. Ich hoffe, dass wir die Feier weiträumig umgehen können.«

»Das klingt gut.« Zirys schnürte den Mantelsack eilig auf.

»Bleibt nur noch die Stadtmauer. Bei der kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass sie unbemannt ist.« Drakhall verstaute Käse, Brot und die Flaschen im Gepäckstück, schnürte es selbst wieder zu und schwang sich den Lederriemen über die rechte Schulter. Den linken Arm hielt er immer noch auffällig nahe am Körper, den Daumen in den Gürtel eingehakt, um offenbar Gewicht vom Oberarm zu nehmen.

Zirys beschloss, dumme Fragen nach der Schwere und Ursache der Verletzung auf später zu verschieben. Sie entsann sich ihres Vaters – und schmerzhaft auch Rokivs –, wie dieser auf solch weiblich besorgtes Auskunftsersuchen reagiert hatte. Außerdem schien der Hüne erstaunlich schnell geistiges Gleichgewicht zurückerlangt zu haben – oder spielte es bewundernswert, um über seinen Zustand hinwegzutäuschen. Der nicht gut sein konnte, denn immer wieder suchte Drakhall Halt an der Gartenmauer, sog scharf Atem ein und machte ganz den Eindruck, seinen muskelschweren Körper durch reine Willenskraft zum Weitergehen zu zwingen. Ein Wunder, dass er nicht nur in ganzen Sätzen sprechen konnte, sondern offenkundig auch des Denkens mächtig war.

Hastig schloss sie sich ihm wieder an, da er nicht nur Vorräte, sondern auch alle Besitztümer, die Zirys noch hatte, mit sich trug. Auch den Dolch. Einzig Rokivs Ring war ihr verblieben, und sie musste die Hand zur Faust ballen, damit das Siegel nicht vom Daumen rutschte.

Tatsächlich kam bald ein kleines Torkastell in Sicht. Nicht so riesig wie jenes, durch das der Gefangenenwagen in den Garten gerollt worden war. Zirys fragte sich, was Rokiv wohl mit Drakhall vorgehabt hatte. Und wie viel schlimmer diese Pläne ausgefallen wären, wenn Rokiv auch nur den Verdacht gehabt hätte, dass es jene Stunden am Strand gegeben hatte.

Drakhall ließ den Mantelsack lautlos zu Boden sinken, bedeutete Zirys, daneben zu warten, und eilte zum Kastell. Nur Augenblicke später kehrte er zurück. Nur das Mondlicht beleuchtete ihn nun, die Freudenfeuer lagen weit genug entfernt. Doch konnte Zirys im kalten, leicht bläulichen Schein erkennen, wie erschöpft Drakhall wirkte. Beinahe verdurstet, wahrscheinlich ausgehungert, und obendrein bereiteten die Verwundungen unter den verdreckten Verbänden Zirys Sorge. Dass der Kerl sich noch aufrecht hielt und obendrein den Kundschafter spielen konnte, erschien ihr immer mehr wie Zauberei.

»Niemand da. Ich stelle mir vor, dass Rokiv morgen ein paar Köpfe rollen lassen wird, weil seine Wächter alle auf der Feier sind und sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen. Bereit?«

Einen wilden Moment lang wollte Zirys sich in die vertraute Sicherheit der Gärten flüchten, zurück in ihr Zimmer. Noch nie war sie außerhalb der Palastmauern gewesen, und das Unbekannte machte ihr entsetzliche Angst, sodass sie kaum noch atmen konnte. Rokiv und seine grausame Mutter standen nicht länger als Antrieb hinter Zirys’ Flucht aus Lusias Hav. Und doch stellte gerade der Kriegsprinz den gewaltigsten Ansporn dar, da er ja tot unter Zirys’ Bett lag. Sie musste sich dies tatsächlich stumm zweimal vorsagen. Rokivs Leiche würde nicht lange unentdeckt bleiben. Auf gar keinen Fall. Ein Wunder, dass nicht schon jetzt nach ihm gesucht wurde. Oder … Zirys blickte zurück zum Palast, zu ihrem Fenster. Kein Licht. Hätte sie eine Lampe brennen lassen sollen? Unter der Bettdecke mittels Kissen und Kleidung die Kontur einer Schlafenden bilden sollen, damit die Soldaten dachten, dass sie brav dort lag? Ihr Mund wurde staubtrocken. Was hatte sie alles falsch gemacht, um die Generale mit der Nase darauf zu stoßen, dass etwas nicht stimmte?

Und als Drakhall ihr eine Hand auf die Schulter legte, hätte Zirys beinahe geschrien vor Erschrecken. Mühsam riss sie sich zusammen und starrte zitternd zu ihm auf.

»Ich fragte, ob du bereit bist, Zirys.«

Sie nickte. Obwohl sie alles andere als vorbereitet war, weil die Welt außerhalb der Palastmauer nur Unbekanntes und dadurch namenlose Schrecken bereithielt.

Er nickte und zog mühsam den Riegel beiseite, der die kleine Pforte verschlossen hielt. Alles nur mit der rechten Hand, und die Art und Weise, wie Drakhall sich dabei krümmte und die unter dem Verband verborgenen Rippen der linken Seite zu schonen versuchte, klärte Zirys’ Kopf wieder ein wenig. Sie konnte Drakhall zur Hilfe kommen, ohne sich zitternd und weiterhin nutzlos in seinen Schatten zu drücken.

Energisch nahm sie auch den Mantelsack wieder an sich.

Drakhall quittierte dies mit einem eindeutig dankbaren Nicken. Wenigstens markierte er nicht den Unbesiegbaren, um dann irgendwo auf halbem Weg zur Fischersiedlung zusammenzubrechen. Hoffentlich.

Behutsam öffnete er das Tor, und gemeinsam spähten sie nach draußen. Ein gepflasterter Hof, der im Dunkel lag. Angrenzende Gebäude standen still und offenbar nicht als Herberge für Feiernde am Rand des großen Freibereichs.

»Was ist das? Sieht fast nach Kasernen aus«, flüsterte Drakhall und trat geduckt vor.

»Ich weiß es nicht.«

Drakhall schnupperte. »Korrigiere mich. Stallungen. In welcher Richtung liegt dein Fischerdorf, Mädchen?«

Sie wies ihm die grobe Richtung. Zwischen ihnen und dem Dorf lag natürlich der Rest der Stadt, in dem immer noch ausgelassen gefeiert wurde. Keine Zeit, sich in den Stallungen zu verkriechen, ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen. Denn jeden Moment konnte Rokivs Leichnam entdeckt werden. Nur wusste leider Drakhall das nicht. Nach der ersten deutlichen Erfrischung durch das Brunnenwasser wurde er nun wieder langsamer. Die Diener der Unterwelt mochten wissen, wie lange er im Käfig gesteckt hatte und dort Misshandlungen ausgesetzt gewesen war. Denn er sah verschrammt und insgesamt sehr mitgenommen aus.

Kein Wunder. Einen Kerl wie Drakhall fing niemand unversehrt ein. Er musste etliche Gegner erschlagen haben, bevor er entweder dank seinen Verwundungen das Bewusstsein verloren hatte oder durch die schiere Überzahl der Soldaten von Lusias Hav niedergerungen worden war. Und keiner von denen war dann noch sonderlich vorsichtig mit ihm umgegangen. Wer in das Antlitz eines erschlagenen Freundes blickt, neigt dazu, dem Verursacher des Todes dies heimzahlen zu wollen. Und wann bot sich eine bessere Gelegenheit dazu, als der Augenblick da dieser Verursacher am Boden lag?

Genauso sah Drakhall aus!

Er hielt sich nun im Schatten der Mauer, und Zirys folgte ihm mit dem Mantelsack, der scheinbar bei jedem Schritt schwerer wurde. So viel hatte sie gar nicht eingepackt. Auch die Lebensmittel, die Drakhall aus dem Turm gebracht hatte, waren nicht so umfangreich gewesen, fand sie. Das Zittern ihrer überlasteten Muskeln vermischte sich mit dem Beben aus schierer Angst.

Gesang aus zahllosen Männerkehlen stieg auf der äußerst belebten Hauptstraße auf, und Zirys schauderte unwillkürlich. Da wäre sie alleine vielleicht noch durchgekommen. Doch nicht mit dem angeschlagenen Drakhall an ihrer Seite, der nur unvollkommen durch Rokivs Mantel verhüllt wurde. Selbst jedem Besoffenen musste auffallen, wen er da vor sich hatte.

Doch Drakhall bog nach links ab, bevor die Straße, der er bislang gefolgt war, mitten in die Festlichkeiten führen konnte. Eine schmale Gasse, die hinter den herrschaftlichen Häusern am Hauptweg verlief. Zur Rechten erhoben sich Mauern, über deren Kronen sich Baumwipfel in den Nachthimmel reckten. In den Gärten hinter diesen Schutzwällen tobte die Feier in voller Ausgelassenheit. Natürlich eine edle Festlichkeit, an der die einfachen Leute auf der Hauptstraße keinen Anteil haben durften.

Ein paar Schritte weiter, und Drakhall verharrte, stützte sich schwer an der Mauer ab und atmete mit hängendem Kopf und gekrümmter Wirbelsäule mehrfach tief durch.

Zirys schloss zu ihm auf und wartete besorgt, ob und wie rasch er sich erholen würde. Sie blickte auch zurück zum Palast, ob dort die verräterischen Zeichen von Fackeln auf den Mauern erscheinen würden, die ein Signal wären, dass jemand auf Rokivs Tod und das Verschwinden der Prinzengemahlin aufmerksam geworden wäre. Aber dort herrschte Stille. Wie lange noch? Und wie lange brauchte Drakhall, bis er wieder gehen konnte?

Er stieß sich von der Mauer ab, richtete sich halbwegs auf und nickte Zirys zu. »Weiter.«

»Wie lange stehst du das durch? Du bist schwer verletzt worden.«

»Nicht schwer – aber schmerzhaft. Ich denke, dass ich es bis zu deinem Fischerdorf schaffe.«

»Du weißt nicht einmal, wie weit es dorthin ist.«

»Ich frage mich, ob du das weißt.«

»Ungefähr.« Götter, sie konnte die Entfernung überhaupt nicht abschätzen, ahnte nur grob, wie weit es noch bis zur Stadtmauer war.

»Ich weiß, dass wir dort ein Boot stehlen und von dieser sehr ungastlichen Insel verschwinden können. Das reicht mir im Augenblick als Ziel.« Sein Gesicht wirkte hart und erschöpft, die Augen dunkel, ihr Ausdruck überhaupt nicht auszumachen.

Zirys mochte seine Augen, die Farbe der Iriden erinnerte sie an eine sturmgepeitschte See, ein dunkles Blau mit einer kalten Unterströmung von Grau. Doch so, wie der große Kerl nun vor Zirys stand, hatte sie ihn noch nie gesehen. Nun, so viel wusste sie ohnehin nicht über ihn, dazu war ihre Bekanntschaft am Strand einfach zu kurz gewesen. Ja, sie hatte Drakhall in seinem verwundbarsten Augenblick erleben dürfen, doch jetzt bekam sie erst wirklich Einblick, da Drakhall keine Kraft mehr zu verschwenden hatte, um den Anschein eines unbesiegbaren, kraftstrotzenden Mannes aufrechtzuerhalten.

Als sie nicht antwortete, setzte Drakhall hinzu: »Ich werde keinesfalls so dämlich und edelmütig sein, dir vorzuschlagen, mich zurückzulassen. Du bist ein Küken, Zirys, und ich möchte wetten, dass du es alleine niemals bis in das Dorf schaffst.«

»Das ist eine boshafte Unterstellung.«

»Kommst du jetzt, oder willst du meinen letzten Atem mit einem Streit verbrauchen, damit ich auf Händen und Knien bis zu deinem blöden Fischerdorf krieche?«

Zirys biss die Zähne fest zusammen und ging wortlos weiter. Um ein leises Auftreten musste sie sich nicht sorgen, zu sehr tobten auf der anderen Seite der Garteneinfassungen wilde Gesänge, Gelächter und weibliches Kreischen, das eine Gänsehaut nach der anderen über Zirys’ Rücken jagte. Von Drakhall vernahm sie deutlich angestrengte Atemzüge. Der Hüne hielt dank langer Beine und viel Muskelmasse mit, egal wie schwer er nun verwundet war.

Die Straße stieß auf eine weitere, die quer zu ihr verlief. Zirys und Drakhall hielten sich im Schatten einer gewaltigen Zypresse und verschafften sich einen Überblick.

Die geschäftigsten Feiern fanden zur Rechten statt. Dort verlief die Hauptstraße, auf der alle paar Schritte ein Freudenfeuer zu brennen schien. Der Duft bratenden Fleisches stieg Zirys lockend in die Nase, und ihr Magen knurrte schmerzhaft. Das Mahl am Tisch der Witwe lag Stunden in der Vergangenheit, und mehr als ein paar Löffel der Suppe und ein Stück Brot hatte Zirys dabei auch nicht zu sich genommen. Lust, den Mantelsack aufzuschnüren und nachzusehen, was Drakhall im Wachturm genau an Vorräten aufgestöbert hatte, überkam sie. Doch das war Unsinn und musste warten, bis das Stadttor irgendwie überwunden war.

Vor diesem Tor graute es Zirys. Der Umstand, dass die Palastmauern unbewacht da gelegen hatten, war verblüffend gewesen. Nie hatte sie solches in den anderthalb Jahren ihres Lebens in Lusias Hav zuvor gesehen. Selbst in den Gärten hatte sie immer das Gefühl gehabt, beschattet und kontrolliert zu werden. Doch auch wenn die Palastmauern unbemannt waren, konnte das doch auf das Stadttor nicht zutreffen.

Drakhall wies auf die wüste Feier. »Das Haupttor liegt am Ende dieser besoffenen Meile. Ist dir ein anderes bekannt? Ein kleineres?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gut, dann gehen wir hier nach links und arbeiten uns auf Umwegen auf die Umfassungsmauer und damit auf das Tor zu. Bete zu deinen Göttern, Kleines, dass die Wachmannschaft sich an einem Feuer den Wanst vollschlägt und so viel Wein in sich gießt, wie sie nur bekommen kann.«