Du hast es mir versprochen! - Wilma Burk - E-Book

Du hast es mir versprochen! E-Book

Wilma Burk

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Beschreibung

Wie wichtig ist es, ein Versprechen zu halten? Vera hält sich daran, nachdem der Vater die Mutter und sie verließ, obgleich er ihr versprochen hatte, das nie zu tun. Wird sie das nie ändern, egal wie sie mit ihrer Ehe zurechtkommt, in der sie sich sonst wunderbar verstehen, nur nicht im Bett. Oder wie entscheidet sie sich, als sich im Alter bei ihrer Mutter eine Demenz entwickelt? Wird sie das durchhalten, auch wenn es ihr schadet und einem eigenen Glück im Wege steht?

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Wilma Burk

Du hast es mir versprochen!

Roman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Kapitel / Erster Teil

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8.Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel / Zweiter Teil

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Impressum neobooks

Vorwort

1. Kapitel / Erster Teil

Eine Liebe anderer Art

Vielleicht wäre Veras Leben anders verlaufen, wenn sie in ihren Kinderjahren nicht so abgöttisch an ihrem Vater gehangen hätte. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und fühlte sich von ihm besonders geliebt. Glücklich lebte sie in einer für sie heilen Welt, bis sie zu spüren glaubte, dass sich die Eltern nicht mehr so gut verstanden. ‚Liebten sie sich nicht mehr?’, fragte sie sich da beklommen. Obgleich beide versuchten, es vor ihr zu verstecken, blieben ihr die Streitigkeiten und heftigen Worte nicht verborgen. Angst befiel sie und ließ sie befürchten, dass ihre kleine Welt bedroht war, in der sie sich geborgen fühlte.

Vera war neun Jahre alt, als sie eines Tages den Vater zornig zur Mutter sagen hörte: „Wenn du so weitermachst, gehe ich!“ Da erfasste sie Panik. Hilflos vor Furcht, der Vater könnte sie verlassen, verkroch sie sich hinten im Hof des Wohnhauses in einem Schuppen mit Kaninchenställen. Zitternd vor Angst hockte sie hier und glaubte, ihr ganzes kleines Leben, eingebettet in die Liebe von Vater und Mutter, gehe verloren.

So fand sie der Vater. „Vera, was hast du?“, fragte er besorgt.

Sie klammerte sich an ihn. „Warum willst du weggehen?“

Erschrocken sah er sie an. „Wer sagt das?“

„Du! - Ich habe es gehört.“

„So etwas sagt man mal im Zorn.“ Beschwichtigend strich er ihr übers Haar.

Doch sie ließ sich nicht beruhigen. Sie drängte sich an ihn, als könnte sie ihn festhalten. „Versprich mir, dass du nie, nie, wirklich nie weggehst“, forderte sie von ihm. Beschwörend sah sie ihn dabei an. Tränen glänzten in ihren Augen. Der Vater wand sich, doch Vera ließ nicht locker. „Versprich es mir! Du musst es versprechen!“, drängte sie. Da versprach er es ihr, auch noch hoch und heilig, so, wie sie es verlangt hatte, nur um sie zu beruhigen. Und Vera glaubte daran.

*

Dann aber kam doch der Tag, an dem er sich von Vera verabschieden wollte, weil er wegging, fort aus ihrem Leben.

„Nein, nein!“, schrie sie. Alles Blut schien aus ihr zu weichen und machte ihr den Kopf leer. Sie begriff es nicht, wehrte sich verzweifelt dagegen, wollte es nicht wahrhaben. „Du hast mir versprochen, bei mir zu bleiben!“ Schluchzend hielt sie ihn fest, klammerte sich an ihn, wollte ihn nicht gehen lassen. „Du hast es mir versprochen, du musst es halten!“

„Es geht nicht!“, sagte er leise.

Er versuchte sie tröstend in die Arme zu nehmen, während die Mutter, trotzig den Kopf erhoben, mit verschlossenem Gesicht und verschränkten Armen abseits stand. Nur ihre braunen Augen verrieten, wie es sie schmerzte und wie verletzt sie war.

Vera stieß den Vater weg. „Wenn du nicht bei mir bleibst, hasse ich dich!“ Sie war außer sich vor Enttäuschung und Schmerz und wusste doch nicht, was sie da sagte. Sie schlug wütend mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein. Er wollte sie fassen. Sie aber riss sich los, rannte aus dem Haus, über den Hof zu den Kaninchenställen und verkroch sich.

Der Vater ging.

Als die Mutter sie aus ihrem Versteck holte, war er nicht mehr da. Vera war ratlos. Wie glücklich war sie all die Jahre vorher mit Mutter und Vater gewesen.

*

Die Mutter war eine ernste Frau, was ihre schlanke Gestalt in stets gerader Haltung und die streng zurückgekämmten dunklen Haare noch besonders betonten. Der Krieg und die Flucht aus ihrer Heimat hatten sie geprägt. Neunzehnhundertfünfzig, fünf Jahre nach Kriegsende hatte sie, bereits dreiunddreißig Jahre alt, Vera zur Welt gebracht. Damals, im westlichen Teil Deutschlands, der gerade gegründeten Bundesrepublik, begann das Leben leichter zu werden. Um Essen und Trinken brauchte man sich nicht mehr zu sorgen.

Wenn die Mutter auch nicht so lachen konnte wie der Vater, auf sie war Verlass. Bittere Erfahrungen hatten sie gelehrt einzugreifen, wenn es nötig war. Von der heranwachsenden Vera und allen anderen erwartete sie Gewissenhaftigkeit. „Hat man sein Wort gegeben, so muss man es auch halten“, forderte sie. Und sie ließ sich von ihr versprechen, dass sie nach der Schule gleich nach Hause käme, dass sie nicht lügen würde, auch wenn es Strafe geben könnte, und dass sie die Mutter immer lieb haben werde. Wenn Vera es versprach, gab es eine kurze Umarmung und ein Streicheln als Belohnung. Sonst ging die Mutter mit Zärtlichkeiten sparsam um.

Wie anders war dagegen der Vater, Umarmungen hatte es von ihm für Vera nach Laune gegeben, nie als besondere Belohnung. Er war kurz nach dem Krieg unversehrt in seine Heimatstadt zurückgekehrt und hatte das Lachen nicht verlernt. Vielleicht hatte es ihn, einen Mann Ende dreißig, deshalb zu dieser ernsten, auch nicht mehr so jungen Frau hingezogen. Vielleicht wollte er ihr ihre Fröhlichkeit zurückgeben. Doch es gelang ihm wohl nicht.

Mit den Jahren war das Leben wieder leichter geworden und der Krieg immer mehr zu einer fernen Vergangenheit. Nur die zunehmenden politischen Spannungen zwischen dem Ostblock und den Westmächten trübten noch das Leben im geteilten Deutschland. Sie hielten aber das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre im Westen nicht auf. Der Vater hatte eine gute Stellung, welche die kleine Familie ernährte. Die Mutter widmete sich ganz dem Haushalt und der Erziehung von Vera. Ein anständiges Mädchen sollte sie werden, das hielt, was es versprach. Hatten sie auch keine Reichtümer, das Geld, das der Vater für seine Arbeit heimbrachte, verstand sie so einzuteilen, dass es ihnen an nichts fehlte.

Alles hatte sich bei ihnen um Vera gedreht, ihr einziges Kind. Die Mutter brachte ihr bei, was sie zum Leben brauchte, während der Vater sie mit Fröhlichkeit verwöhnte. In seinem breiten Gesicht unter den dünner werdenden blonden Haaren prägten sich mit den Jahren Lachfalten ein. Zunehmend verriet ein kleines schwabbelndes Bäuchlein seine Lust am Genuss. Er nahm das Leben nicht so schwer. „Wenn du groß bist, reisen wir zusammen nach Honolulu!“, konnte er zu Vera sagen und die gleichen blauen Augen, wie Vera sie hatte, sahen sie dabei spitzbübisch an. Sie hatte das ernst genommen und gefragt: „Versprichst du es mir?“ Und er hatte es ihr versprochen - einfach so.

Jeden Tag hatte sie auf ihn gewartet. War er dann abends von der Arbeit heimgekommen, in die kleine Wohnung eingetreten und hatte gerufen: „Ist mein Goldschatz wieder brav gewesen?“, so hatte sie ihre blonden Haare zurückgeworfen, war ihm entgegengelaufen und in seine Arme gesprungen. Dicht hatte sie sich an ihn geschmiegt und den vertrauten Geruch seiner Nähe tief eingeatmet. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, so einmal ihrer Mutter entgegenzulaufen.

Sie wohnten am Rand einer größeren Stadt. Die war umgeben von sanften, grünen Höhen. Es gab Wälder, Wiesen, und viele Seen. Manchmal hatte der Vater sie vor sich in einen Kindersitz auf sein Fahrrad gesetzt, war mit ihr durch die Natur gefahren und hatte sie dabei auf dieses oder jenes aufmerksam gemacht. Manchmal war er mit ihr auch zu einem See gegangen und hatte sie dort die Schwäne und Enten füttern lassen. Selten war die Mutter dabei gewesen. Ja, er hatte sich viel Zeit für Vera genommen und nichts schien ihm dabei wichtiger zu sein als seine kleine Tochter. Am schönsten aber war es für Vera gewesen, wenn er mit ihr hinunter in den Hof des Wohnhauses zu dem Schuppen mit den vielen Kaninchenställen ging. Hier hatte sie jedes Jahr in einem Stall ein junges Kaninchen, das ihr allein gehörte.

Fünf Mietparteien bewohnten dieses alte Haus mit den knarrenden Stufen im Treppenaufgang. Jeder kannte jeden, und über alles wachte der Hausmeister Beier, der unter ihnen im Erdgeschoss wohnte. Er hatte die so begehrten Kaninchen nach dem Krieg gezüchtet, als Lebensmittel noch knapp waren. Doch nun, fast am Ende der fünfziger Jahre, war er in einem Kleintierverein und tat es hauptsächlich zu seiner Freude. Jedes Jahr durfte sich Vera ein Junges aussuchen, ihm einen Namen geben und es in einen eigenen Stall setzen. Sie liebte diese Kaninchen, die so kuschelig weich im Arm waren und mit denen man schmusen konnte. Am liebsten hätte sie es mit in die Wohnung genommen, in ihr Zimmer. Doch die Mutter protestierte: „Kommt nicht in Frage, das macht nur Schmutz!“

So war der Vater mit ihr zu ihrem Kaninchen gegangen. Sie brachten ihm Futter, machten gemeinsam den Stall sauber und dann durfte Vera es über den Hof hoppeln lassen. Währenddessen hatten sie sich unter die breiten Äste einer alten Linde gesetzt, die neben dem Kaninchenschuppen stand. Vera hatte diese gemeinsamen Stunden mit dem Vater gemocht. Wenn die dicht belaubten Zweige des Baumes ihnen im Sommer Schatten spendeten, ein leichter Wind durch die Blätter strich, der betäubende Duft der Lindenblüten sie umgab und Bienen summend von einer Blüte zur andern flogen, dann hatte sie sich an ihn gelehnt, dem hoppelnden Kaninchen zugesehen und war so glücklich gewesen, wie ein Kind nur sein kann. Der Vater konnte spannend Geschichten erzählen. So hatte er ihr phantasievoll ausgemalt, was ein Kaninchen alles in der Freiheit erleben könnte, wenn es diese jemals erreichen sollte. Nur seltsam war es, jedes Jahr verschwand irgendwann Veras nun groß gewordenes Kaninchen wieder. Es sei weggelaufen, erzählte man ihr. Wenn sie dann weinte, hatte der Vater gesagt: „Was weinst du? Gönn’ ihm die Freiheit! Ich habe dir doch erzählt, was es alles erleben kann. Du solltest verstehen, dass es nicht sein Leben lang in einen Stall eingesperrt sein will. Würde dir das gefallen? – Mir nicht!“

Aber Marita, ihre Freundin, hatte gemeint: „Was glaubst du da? Es ist schon längst als Braten gegessen worden.“ Doch Vera wollte das nicht hören. „Mein Vater lügt nicht!“, hatte sie wütend behauptet und drei Tage lang nicht mit ihrer besten Freundin geredet.

*

Marita und Vera kannten sich von klein auf. Sie wohnte mit ihren Eltern in der Wohnung neben ihnen im ersten Stock des Hauses. Sie hatte junge Eltern, die sich zanken und schnell wieder vertragen konnten. Leichte Fröhlichkeit und Lachen war dort zu Hause. Vera war gern bei ihnen, bei dieser jungen Mutter, die nie verlegen wurde, ihnen lustige Spiele vorzuschlagen.

Nur bei Onkel Achim, einem Bruder von Veras Mutter, waren die Mädchen noch lieber. Er hatte nicht weit von ihnen entfernt ein Papierwaren- und Spielzeugladen, gleich bei ihrer Schule. Er war ein ewiger Junggeselle, hatte nie geheiratet und wollte nie heiraten. Wenn er so hinter seinem Ladentisch stand, zwinkernd mit seinen hellen Augen über den Rand der Brille auf seiner spitzen Nase sah, dann wussten die beiden, dass er wieder etwas für sie bereithielt. Schon griff er unter den Ladentisch und holte vielleicht ein Spiel, eine Puppe, Bücher oder sonst irgendetwas hervor. Sie liebten es auch, in dem Laden herumzustöbern. Onkel Achim war sehr geduldig und nahm sich Zeit für sie. Nie schienen sie ihm ungelegen zu kommen.

Marita und Vera waren unzertrennlich; wo die eine war, war auch die andere. Wenn der Hausmeister Beier Grund hatte zu schimpfen, dann immer mit beiden. Er mochte es nicht, wenn sie auf der alten Klopfstange neben den Müllkästen im Hof herumturnten oder ihren Ball gegen das breite Holztor warfen, das neben dem Haus vom Hof zur Straße führte. Dabei machte den beiden das gerade besonders Spaß, weil das Tor dabei so richtig krachte, dass man es bestimmt bis unter das Dach des Hauses hören konnte. Während Veras Mutter dem Hausmeister recht gab und ihr Vorhaltungen machte, sagte Maritas Mutter nur: „Es sind doch Kinder!“

Nur einmal, da hätte ihre Freundschaft beinahe Schaden genommen. Neidisch hatte Marita zugesehen, als der Vater Vera das Radfahren beibrachte.

Eines Tages war er mit einem kleinen Fahrrad nach Hause gekommen, gerade passend für Vera. „Jetzt soll mein Goldschatz auf einem eigenen Rad mit mir durch die Welt fahren. Komm, du bist groß genug dazu!“, hatte er vergnügt gesagt. Und Vera hatte es schnell gelernt.

Danach hatte Vera für Marita wenig Zeit gehabt, um mit ihr zu spielen oder gemeinsam zu Onkel Achim zu gehen. Sie konnte nicht genug davon bekommen, wohl behütet und bewacht, stolz mit ihrem eigenen kleinen Fahrrad vor dem Vater her zu fahren. O ja, da war sie sich schon sehr groß vorgekommen. Und der Vater hatte ihr dabei gezeigt, wie schön die Welt sein konnte. Von allen Menschen, die Vera damals kannte, hatte sie ihn am meisten geliebt, diesen Vater, der immer Zeit für sie hatte, dem sie nie zu viel wurde, der nie böse mit ihr war; der es sogar verstand, eine Ermahnung noch lachend auszuteilen. Immer war er es gewesen, an dessen Hand sie ging und von dem sie sich voller Vertrauen durchs Leben führen ließ.

Doch manchmal, wenn sie von so einer Fahrt fröhlich wieder nach Hause gekommen waren, hatte sie nicht gewusst, warum die Mutter sie so seltsam ansah. Musste sie sich schuldig fühlen, weil sie mit dem Vater so vergnügt sein konnte? Noch wusste sie nicht, was Eifersucht war.

„Überanstrenge das Kind nicht!“, hatte die Mutter den Vater oft gemahnt.

„Ach, was!“, hatte er es gereizt abgetan.

Da hatte Vera bereits ängstlich von einem zum andern gesehen.

*

Und nun war der Vater fort. Warum hatte er ihr das angetan? Vera konnte nicht aufhören zu weinen, lustlos saß sie herum, sie fühlte sich verlassen.

Schaffte es die Mutter nicht oder wollte sie Vera nicht trösten? Sie ging zusehends ungeduldiger mit ihr um. „Was soll das? Was trauerst du dem nach? An so einem Vater hast du nichts verloren. Niemand hat ihn gezwungen zu gehen. Außerdem hast du immer noch mich.“

Nein, Vera fand keinen Trost bei der Mutter. Sie suchte ihn auch nicht bei ihr. Sie ging ihr lieber aus dem Weg. Zu Onkel Achim schlich sie sich, bei ihm suchte sie die Anlehnung, die sie mit dem Vater verloren hatte.

Ja, der Vater war einfach gegangen - einfach so, hatte sie im Stich gelassen, sein Wort nicht gehalten. Nichts anderes konnte Vera mehr denken. Ganz langsam wandelten sich Zorn und Enttäuschung in Hass auf den wortbrüchigen Vater und verdrängte ihre Trauer. Sie war zutiefst verletzt.

Als er kurz darauf noch einmal kam, rannte Vera weg und weigerte sich, mit ihm zu reden. „Du bist ein Lügner!“, schleuderte sie ihm entgegen. Sie wollte ihn nicht sehen und versteckte sich. Doch sie litt. All ihr Zorn auf den Vater war nur Ausdruck ihrer Hilflosigkeit einem Geschehen gegenüber, das sie nicht verstand. Und die Mutter, selbst verbittert, tat nichts dazu, es ihr zu erklären.

Schlimm war die Zeit für Vera, als die Scheidung der Eltern lief. Fast über Nacht durchzogen einzelne weiße Fäden das dunkle Haar der Mutter. Mit verkniffenem Mund saß sie oft gedankenverloren da, so dass Vera nicht wagte, sie anzusprechen. Liebte die Mutter sie überhaupt? Sie hatte doch nur noch die Mutter. Was sollte sie tun? Schuldgefühle machten sich in ihr breit. War sie zu innig verbunden mit dem Vater gewesen und hatte damit die Mutter gekränkt? War der Vater das überhaupt wert gewesen? Angst, auch noch die Mutter zu verlieren, erfüllte sie mehr und mehr. Alles tat sie, um ihre Aufmerksamkeit zu erreichen. Wenn die Mutter bat, ihr etwas zu holen, rannte sie sofort los und holte es. Was Vera ihr auch versprach, sie hielt es. Nein, die Liebe der Mutter wollte sie nicht riskieren, nachdem sie die Liebe des Vaters verloren hatte. So glaubte sie. Sie bemühte sich, ein braves und folgsames Mädchen zu sein. Nur die Mutter so zu umarmen wie den Vater früher, das konnte sie nicht.

Wenn sie die Sehnsucht nach liebevoller Beachtung überkam, lief sie zu Onkel Achim. Auch er konnte sie zwar nicht umarmen, wie der Vater es getan hatte, aber ein Blick, ein Bonbon, ein Streicheln übers Haar, war schon viel für Vera geworden. Sie wartete nicht mehr darauf, bis Marita mitkam. Sie mochte es sogar fast lieber, allein zu ihm zu gehen, seine Freundlichkeit nicht teilen zu müssen. Es tat ihr gut, den Laden zu betreten, wenn dass melodische Klingeling der Türglocke erklang und Onkel Achim leicht gebeugt hinter einem Vorhang hervor in den Laden schlurfte. Ihr ganz allein gehörte es dann, wenn er ihr mit seinen freundlichen hellen Augen über den Brillenrand zuzwinkerte und sie sich von seiner Zuneigung umfangen fühlte. Doch den Vater ersetzen konnte er ihr nicht.

*

Als der Tag der Scheidung der Eltern gekommen war, erklärte ihr die Mutter: „Jetzt gehört er nicht mehr zu uns. Aber er will dich einmal im Monat zu sich holen, das hat er beim Gericht durchsetzen können.“

„Ich will nicht!“, antwortete Vera.

Und als er kam, um sie zu holen, weigerte sie sich, mit ihm zu gehen. Auch sein trauriger Blick konnte sie nicht umstimmen. Die Mutter tat nichts dazu, sie zu überreden. Nein, sie unterstützte ihre Ablehnung sogar noch. Für sie schien es dem Vater gegenüber ein Triumph zu sein, dass seine geliebte Tochter nichts mehr von ihm wissen wollte.

„Da siehst du es, wie es ist, wenn jemand nicht hält, was er verspricht“, stachelte sie Vera auf. „Doch dein Vater war ja schon immer so leicht mit dem Wort. Gewissenlos ist das, einfach gewissenlos! Versprich mir, dass du stets daran denkst, und nicht so wirst wie er.“

Nein, so gewissenlos wollte Vera nicht werden. So nahm sie es sehr ernst, wenn sie etwas versprach und war es auch nur nebensächlich. „Auf Vera kann man sich verlassen“, sagte man ihr in der Schule und unter Freunden bald nach. Das wollte sie, dass man so über sie dachte. Nichts hasste sie mehr, als Menschen, die mühelos Versprechen geben und sie dann vergessen können. Wenn einer ja sagt, dann sollte er auch dazu stehen, egal was käme, davon war sie überzeugt. Nichts kränkte sie mehr, als wenn man ihr vorwarf, sie hätte auch nur in einer Belanglosigkeit ihr Wort nicht gehalten.

Marita dagegen, ihre Freundin, lachte darüber und sagte: „Du nimmst die Dinge zu ernst. Nicht alles muss man halten, was nur schnell versprochen wird.“ Vera aber blieb dabei und wurde böse, wenn ihr gegenüber auch nur einer ein leicht gegebenes Versprechen vergaß. Marita bekam das manchmal zu spüren, denn sie war lustig, lebte leicht, nahm nichts schwer, genau wie der Vater von Vera. Das war es wohl auch, was Vera zu ihr hinzog, was die Freundschaft bestehen ließ, trotz so mancher Auseinandersetzung.

2. Kapitel

Als die beiden Mädchen alt genug waren, so dass Jungen sich nach ihnen umdrehten, verstand Marita, die Zierliche mit den schwarzen Haaren, bald beim Gehen aufreizend mit den Hüften zu wippen. Vera dagegen schwärmte für einen Lehrer, der wohl ein wenig ihrem Vater glich. Sie hatte keine Augen für so einen Jungen in ihrem Alter.

Marita lachte darüber. „Das ist doch ein alter Knacker, Vera. Für den bist du nichts als ein dummes Kind.“

Aber das änderte sich auch nicht, als die Schulzeit zu Ende ging. Längst hatte Marita ihre erste Liebe gefunden und einen Freund. Doch für Vera waren das grüne Jungs, die ihr schöne Augen machten. Sie schwärmte weiter für einen unerreichbaren Lehrer. Die anderen waren für sie nur Kumpel, mit denen man herumtollen konnte. Wollte sich ihr einer anders nähern, bekam er was auf die Finger.

Das jedoch änderte sich, als in ihrem Haus aus einer Wohnung, oben unterm Dach, ein alter, kauziger Mann aus- und dafür ein junger Mann einzog. Flott kam Bernd Reuter, der neue Mieter, daher. Schlank, groß und auffällig war er. Frauenaugen folgten ihm. Er war sich dessen offenbar bewusst, wenn er mit seinen braunen Augen unter dunklen Locken um sich sah. Er war ein Student, der es mit dem Examen nicht so eilig hatte. Es war ihm anzumerken, dass er gerne lebte und keinem Vergnügen aus dem Weg ging.

Vera, noch nicht ganz siebzehn, begegnete ihm zum ersten Mal auf der Treppe. Sie wollte ihm ausweichen, er auch, so kamen sie nicht aneinander vorbei. Er lachte amüsiert, und sie war verlegen. Sie spürte, wie er sie neugierig musterte und konnte doch ihren Blick nicht abwenden. Unruhe stieg in ihr auf, die sie noch nicht verstand.

Als sie danach Marita begegnete, fragte sie schwärmerisch: „Hast du schon einmal so dunkelbraune Augen gesehen, wie der neue Mieter sie hat?“

„Sag nur, du hast ihn dir so genau angeschaut“, wunderte sich Marita und stutzte.

Doch Vera schwärmte weiter: „Du musst mal sehen, wie er läuft, der weiß, was er will. Das ist kein kleiner Junge mehr.“

„Du hast ihm doch nicht etwa zu tief in die Augen geblickt? Er ist bestimmt schon weit über zwanzig. Der ist viel zu alt für uns!“, meinte Marita.

Vera aber fand ihn nicht zu alt, sie war verliebt, zum ersten Mal verliebt und nicht in so einen grünen Jungen, mit denen Marita sich abgab. Sie hatte nur Augen für Bernd Reuter. Jede Gelegenheit suchte sie, um ihm zu begegnen. Bemerkte er es? Wohl nicht – oder tat er nur so?

Erst an dem Tag, als Vera erfahren hatte, dass ihr Vater gestorben war, kam sie mit ihm ins Gespräch. Der Vater war nur fünfundfünfzig Jahre alt geworden.

„Das hat er nun davon, dass er sich mit so einem jungen Ding eingelassen hat! Viel zu anstrengend ist so ein Weib.“ Das war der ganze Kommentar der Mutter dazu, als sie es Vera mitteilte.

Vera sagte nichts. Nun war der Vater wirklich für immer gegangen, nur das ging ihr durch den Sinn. Sie lief über den Hof zum Schuppen und verkroch sich in der Ecke neben den Kaninchenställen, wie früher als Kind. Sie weinte um eine letzte verlorene Hoffnung. Nun konnte er nichts mehr gutmachen, sie ihren Zorn nie mehr verlieren. Selbst jetzt, da sie längst begriffen hatte, dass die Eltern zu verschieden gewesen waren, um gut miteinander leben zu können, schmerzte es sie, dass er damals so einfach weggegangen war.

Leise wurde die Tür des Schuppens geöffnet. Neugierig schaute Bernd Reuter herein.

Vera drückte sich noch tiefer in die Ecke.

Er sah sie nicht. „Kaninchen! Hier gibt es Kaninchen“, sagte er vor sich hin, nahm ein heruntergefallenes Blatt Sauerampfer auf und schob es dem einen durch das Stallgitter zu. „Da, Mümmelmann, das muss nicht verkommen“, murmelte er. Die anderen Kaninchen drängten sich dazu, sie wollten auch etwas abbekommen. Er sah sich suchend nach weiteren grünen Blättern um. Dabei entdeckte er Vera. „Oh, ich habe Sie nicht gesehen. Sind das Ihre Kaninchen?“

Vera schüttelte den Kopf, schnäuzte sich und wischte sich verschämt über die Augen. Das Blut stieg ihr zu Kopf. Warum kam er ausgerechnet jetzt? Sie musste furchtbar aussehen, so verheult.

„Sie haben geweint?“

„Ach, was!“ Das klang sicher ablehnender, als sie es wollte.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, bot er sich an.

„Nein!“

„Wirklich nicht?“

Warum ging er nicht? Vera fühlte sich unbehaglich und zugleich seltsam erregt.

Er blieb und musterte sie mitleidig. Oder neugierig?

Am liebsten wäre sie aufgestanden und weggelaufen. Nur stand er dazu im Weg. So blieb sie wie gelähmt sitzen.

„Wollen Sie sich nicht helfen lassen? Warum versuchen Sie es nicht?“ Er war hartnäckig, ließ sich durch ihr ablehnendes Verhalten nicht wegschicken und setzte sich sogar wie selbstverständlich dicht neben sie an die Erde. Sie zog sich in ihre Ecke zurück, so weit sie konnte, und schlang die Arme um ihre Knie. Doch ihr Herz pochte, wie sie es noch nie verspürt hatte. Als er ihr väterlich sacht eine Strähne ihres langen Haares aus dem Gesicht strich, so, wie es vielleicht ihr Vater getan hätte, hielt sie es kaum aus, sie schniefte und schluchzte heftig auf.

„Manchmal hilft es, wenn man über das spricht, was Kummer bereitet. Ich kann gut zuhören“, redete er auf sie ein.

Nur einen Moment noch dachte Vera: ‚Wie kommt dieser Fremde dazu?’ Dann überwog der Wunsch in ihr, ihm vertraut zu sein. Sein überlegenes Lächeln, seine fast väterliche Sicherheit, machten es ihr leicht, eine Schwelle der Fremdheit zu überschreiten. Stockend begann sie ihm davon zu erzählen, dass ihr Vater gestorben war.

Er sagte nichts, sah sie nicht einmal an, saß nur da und hörte ihr aufmerksam zu.

So redete sie weiter. Nur, wie sollte sie ihm sagen, dass sie um einen Vater weinte, den sie so sehr hasste, weil sie ihn einmal über alle Maßen geliebt hatte. Wie sollte er das verstehen, was sie selbst nicht verstand? Sie wollte es nicht, und doch brach es aus ihr heraus. Alles erzählte sie ihm, ihre ganze Not, diesem ihr noch Fremden, der sich mit wenigen Worten und Gesten in ihr Vertrauen geschlichen hatte.

Schweigend hörte er alles an, unterbrach sie nicht. All ihren verworrenen Gedankengängen lauschte er. Zuletzt nahm er ihre Hand und drückte sie mitfühlend. „Ich verstehe! Eine Scheidung der Eltern ist für ein Kind immer schwer. Sie hinterlässt Ratlosigkeit und fast unheilbare Verletzungen.“

Diese mitleidsvolle Geste ließ sie erneut in Tränen ausbrechen.

Er rückte näher an sie heran, legte tröstend seinen Arm um sie und strich ihr über das Haar, genau wie der Vater es einst getan hatte. Wie hatte sie sich danach gesehnt, einmal wieder so in den Arm genommen zu werden, und er tat es. Vera wehrte sich nicht; sie ließ es geschehen. Sie gab sich ganz diesem Gefühl hin, ihm nah zu sein. Doch es verwirrte sie zugleich.

Als sie sich beruhigt hatte, richtete sie sich auf. Er zog seinen Arm sofort zurück. Scheu blickte sie im Dämmerlicht des Schuppens zu ihm.

„Es ist trotzdem schwer, ich weiß. Es ist die Endgültigkeit, die so ein Tod mit sich bringt, wenn jede Hoffnung auf Versöhnung damit begraben werden muss. Das ist das Schlimmste daran“, sagte er, als hätte sie danach gefragt.

Ja, genau das war es, was sie empfand.

Es war ihr unheimlich. Es war, als würden sie beide sich nicht nur mit Worten verständigen können, sondern auch mit Blicken und Gedanken. Es überkam sie ein ihr bisher unbekannter Zwang, sich noch näher an ihn zu drängen, ihn zu spüren, seinen Körper zu berühren, seine Nähe zu atmen. Das machte sie unsicher und ließ sie wie gehetzt aufspringen. „Danke, es geht schon!“, rief sie und strebte gegen ihren eigenen Willen von ihm fort.

Er folgte ihr. Sie gingen zusammen über den Hof. Dann hatte es Vera eilig, in die Wohnung zu kommen.

„Wo warst du?“, fragte die Mutter und musterte sie. „Hast du geweint? Etwa um deinen Vater?“

„Und wenn?“

„Du glühst ja. Was ist los? Hast du vergessen, was er uns angetan hat, wie wortbrüchig er geworden ist? Ob er nun lebt oder tot ist, du hattest schon lange keinen Vater mehr.“

„Wie kannst du so reden?“

„Sag bloß, du hast dir noch Hoffnungen gemacht, dass er eines Tages zurückkommt?“ Die Mutter schien verärgert.

„Nein, natürlich nicht!“, antwortete Vera gereizt, ging in ihr Zimmer und warf die Tür zu. Aber stimmte das überhaupt? Hatte sie nicht doch darauf gehofft, trotz ihres Zorns? Vera wusste es nicht.

*

Eine seltsame Zeit folgte. Einerseits wollte Vera Bernd Reuter am liebsten aus dem Weg gehen, andererseits fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie wurde immer erfinderischer, um ihm zu begegnen, auch wenn sie sich wie gelähmt fühlte, sobald sie ihn sah. Zuerst fragte er noch fürsorglich, wie es ihr gehe, ob sie den Schmerz um den Vater überwunden habe. Aber je öfter sie sich begegneten, umso eigenartiger wurde sein Blick, war es Neugierde, war es Interesse? Vera glaubte bald, so konnte er sie nur ansehen, weil er sich in sie verliebt hatte.

„Dich hat es aber erwischt!“, stellte Marita fest. „Was versprichst du dir von ihm?“

Alles versprach sich Vera von ihm, Geborgenheit, Zärtlichkeit und Liebe, die ewig hält. All das würden sie sich versprechen und halten, wenn ..., ja, wenn ...

Sie war ganz aufgeregt, als sie glaubte, auch er suche ihre Nähe.

*

Sie machte inzwischen eine kaufmännische Lehre in einem Mode-Betrieb. Wenn sie dann von dort nach Feierabend nach Hause gehen wollte, tauchte er oft wie zufällig auf. Veras Herz tat einen Satz vor Freude. Nein, sie hatte nichts dagegen, den Heimweg gemeinsam mit ihm zu gehen. Und sie redeten und redeten, als wäre es nie anders gewesen. Manchmal nahm er dabei ihre Hand. Sie spürte seine Wärme, die ihre Hand umschloss, und sie ließ es geschehen.

Noch versuchte sie, das vor der Mutter zu verheimlichen. Bald fragte die aber misstrauisch: „Bist du wieder mit diesem Studenten nach Hause gekommen?“ Weiter sagte sie noch nichts.

Plötzlich hatte Bernd Reuter auch ein Fahrrad und forderte Vera zu Spazierfahrten auf.

„Sei vorsichtig! Der ist zu alt, um nur noch Händchen zu halten“, mahnte die Mutter.

„Ja, ja, ich weiß Bescheid! Ich bin bald achtzehn“, wehrte Vera ab.

„Eben! Rückgängig kannst du nichts mehr machen.“

„Was meinst du damit?“

„Das erste Mal gibt es nur einmal für ein junges Mädchen. Das solltest du dir gut überlegen, wann und mit wem es geschehen soll.“

„Was du dir für Sorgen machst!“ Vera versuchte dem Gespräch auszuweichen. Es war ihr peinlich.

Das war eigentlich auch nicht die Art ihrer Mutter, so offen darüber zu reden. Wie unbeholfen und unfrei hatte sie versucht, Vera über die Beziehung zwischen Mann und Frau aufzuklären. Dabei hatte Vera es zu dem Zeitpunkt längst gewusst.

„Ich will dich nur warnen. Er sieht nicht so aus, als würde er lange überlegen, eher, als würde er jede nehmen, die sich ihm anbietet. Entscheiden musst du allein. Ich kann dich nicht festbinden. Es hat sicher auch keinen Zweck, dich von ihm fernhalten zu wollen. Darum versprich mir, dass du dich nicht zu schnell verführen lässt.“

„Ach, woran du denkst!“, wehrte Vera ungeduldig ab, davon wollte sie nichts hören. Aber sie versprach es diesmal nicht, denn sie ahnte, nein, sie wusste es, sollte er die Frage an sie stellen, würde sie das Versprechen nicht halten können? Sie vertraute ihm. Noch hatte er sie nicht einmal geküsst - und die Mutter dachte gleich an so etwas! Eigentlich wurde sie bereits ungeduldig, dass nichts geschah. Sie spürte es doch, wie sehr er sie liebte. Jawohl! Hundert Beweise glaubte sie dafür zu sehen, nur der letzte fehlte noch. Warum hielt er sich damit so zurück? War sie noch zu jung für ihn? Auf jede Art bemühte sie sich, ihm zu beweisen, wie erwachsen sie war, auch wenn er manchmal darüber lächelte.

Endlich, bei einem Ausflug mit den Rädern in die Natur, bei lauem Sommerwind, an einem Tag, so schön, dass alle Welt nur glücklich sein konnte, nahm er sie in die Arme, ganz sanft und vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich. Sie drängte sich ihm entgegen, als er ihre Lippen berührte. Sie hielt still, ganz still, gab sich hin, dem ersten Kuss in ihrem Leben. Schon lange hatte sie nicht mehr daran gezweifelt, aber nun wusste sie es: Er liebte sie! Sie ließ sich fallen in dieses unglaublich schöne und große Gefühl, geliebt zu werden. Sie glaubte ihm jede Geste, glaubte an seine Ehrlichkeit, an den Ernst seiner Zuneigung. Er verstand es, ihr ihre letzte Scheu zu nehmen. Einmal hielt er sie fest umfangen und küsste sie, dass ihr der Atem verging; dann wieder streichelte er sie sanft und fürsorglich wie ein Vater. Sie klammerte sich an ihn, konnte ihm nicht nah genug sein. Sie genoss ihre erste Liebe. Sie war süchtig danach, wollte sich am liebsten nicht mehr von ihm trennen. In der Liebe noch unerfahren, war es ihr nicht bewusst, wie sehr sie ihn das merken ließ.

*

Auch wenn er es spüren musste, wie sehr sich ihr Körper ihm entgegendrängen wollte, er kam ihr nicht zu nah, noch nicht. Von Liebe sprach er nicht. Aber war das wichtig? Wenn sie es nur spürte. Sie hegte keine Zweifel daran. Seine liebevollen Gesten, seine Augen konnten nicht lügen. Nein, sie würden sich nie mehr trennen und immer zusammenbleiben, daran glaubte sie. Alle Warnungen der Mutter waren dabei ohne Bedeutung. Was wusste sie schon von Bernd? Vera vertraute ihm.

So war es kurze Zeit später, als sie gerade achtzehn Jahre alt war, für ihn nicht schwer, sie in seine Wohnung unter dem Dach zu locken. Hier fiel es ihm leicht, ihren allerletzten, kaum noch vorhandenen Widerstand zu brechen und sie den Schritt vom Mädchen zur Frau gehen zu lassen. Das also war das letzte Geheimnis der Liebe, das alles vergessen und jeden Gedanken auslöschen soll, bis man nur noch dem eigenen Körper lauschen und nachgeben kann. So jedenfalls hatte sie es sich vorgestellt. Doch zuerst kamen die Schmerzen, danach auch Lust, aber es geschah eben einfach so. Er lag schwer auf ihr, schwitzte vor Anstrengung, und sie atmete den strengen Geruch seiner unmittelbaren Nähe. Sie ließ es geschehen, denn sie liebte ihn. Aber so aufregend, wie sie es erwartet hatte, war es für sie nicht. Doch es gab ihr das Gefühl, ihn damit an sich zu binden, das war ihr wichtig.

Jetzt schlich sie zu ihm heimlich in die Wohnung, wann immer er es verlangte. Es gefiel ihr auch mit jedem Mal besser, aber sie blieb verhalten, traute sich nicht, sich gehen zu lassen. Genau diese fast jungfräuliche Zurückhaltung schien ihm zu gefallen. Er nahm sie und gab ihr, drängte sie aber zu nichts. Merkte er, dass sie bemüht war zu tun, was er von ihr wollte, ganz egal, ob es ihr gefiel? Doch er schien sich zurückzuhalten. Sah er in ihr etwa noch ein Kind?

Vor der Mutter hielt sie es geheim. Sie wollte ihr nicht eingestehen, dass sie schon so schnell nachgegeben hatte. Doch ewig konnte sie es nicht verheimlichen, denn auch die andern Mitbewohner des Hauses bekamen bald mit, was da unter dem Dach geschah. So blieb es der Mutter nicht verborgen.

„Das hat uns noch gefehlt, eine Liebschaft im Haus. Konntest du dich nicht zusammennehmen? Wie hat der dich so schnell rumgekriegt? Was will er von dir? Ich habe dich gewarnt. Das ist ein richtiger Mann. Es wäre besser gewesen, du hättest dich erst mal bei deinesgleichen umgesehen“, redete die Mutter auf sie ein.

„Ich will keinen anderen. Er liebt mich.“

„Sagt er! Das hat schon so mancher behauptet.“

„Das braucht er nicht erst zu sagen, das fühle ich“, trotzte Vera.

„So, er sagt es nicht einmal! Dann gib nur Acht, dass er dich am Ende nicht mit einem Kind sitzen lässt.“

„Er weiß, wie man das verhindert.“

„Na, wenigstens das. Ich rate dir aber, verlass dich nicht zu sehr auf ihn. Männer versprechen viel, wenn sie etwas wollen, vergessen aber alles, wenn sie dessen überdrüssig sind.“

„Hör auf! Nur weil es bei dir schief gegangen ist, muss es noch lange nicht bei andern auch so sein.“ Vera war empört.

„Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen. Du bist achtzehn und erwachsen“, murmelte die Mutter. Dann sagte sie nichts mehr. Wenn sie sich auch Gedanken machte, sie schwieg und wartete ab.

*

Marita wollte es nicht glauben. „Wirklich, du bist mit diesem Studenten zusammen? Und so ganz richtig?“

„Ja!“, bestätigte Vera stolz.

„Und ...?“

„Was und?“

„Na, redet er vom Heiraten?“, wollte Marita wissen.

„Erst muss er noch fertig studieren.“ Die Frage war Vera unangenehm, obgleich sie nicht wusste, warum.

„Hm, ich kann mir von dir nicht vorstellen, dass du mit einem lockeren Verhältnis zufrieden bist. Wenn er es ernst meint ...“

„Natürlich meint er es ernst!“ Gereizt fuhr Vera Marita ins Wort.

„Dann verstehe ich nicht ...“

„Musst du alles verstehen?“ So ein dummes Gefrage, auch wenn sie ihre beste Freundin war. Nein, Vera kannte kein Misstrauen gegen Bernd. Was er auch sagte, es war richtig; was er von ihr auch wollte, sie tat es.

„Werde ihm nur nicht hörig. Lass dich nicht ausnutzen. Es ist deine erste Liebe ...“, redete die Mutter auf sie ein.

„Und wird meine einzige Liebe sein!“, trumpfte Vera auf. Nein, sie ließ sich nicht beirren.

3. Kapitel

So verging das Jahr. Vera war wieder so glücklich, wie zu der Zeit als Kind, als es noch den Vater für sie gab. Es fiel ihr zunächst nicht auf, dass Bernd sie von den Menschen, die für ihn wichtig waren, fernhielt und auch nie davon sprach, dass er sie seinen Eltern vorstellen wollte. Zu Tanzvergnügen, zu gemeinsamen Ausflügen und zu bestimmten Freunden, die er in einem Lokal traf, nahm er sie mit. Das war so eine richtige Kneipe, in der Zigarettenqualm und nachdenklich ausgestoßener Pfeifenrauch unter der Decke hingen und die Luft vernebelten. Die Freunde waren ein Kreis von Studenten, die tranken und eifrig debattierten. Sie wollten die Welt verbessern! Es roch nach Bier und Schnaps. So mancher von ihnen blickte im dämmerigen Licht der Kneipe bald aus glasigen Augen in die unvollkommene, spießige Welt, der sie es noch zeigen würden. Es war Ende der sechziger Jahre. Jetzt waren sie dran, die Jungen, jetzt wollten sie alles anders, besser machen als die Alten, als die Generation des verlorenen Krieges, die Schuld auf sich geladen hatte. Prüderie, das war etwas von gestern; freier Sex sollte das Gesetz werden. Hier und da gründeten junge Leute Kommunen, zogen zusammen. Sie sprachen so frei darüber, dass Vera rot wurde. Es war nichts mehr dabei, dass man zusammenzog, wenn man sich liebte oder einfach nur Sex miteinander haben wollte. Hauswirte, die erst einen Trauschein verlangten, waren doch von gestern. Man steckte sich Blüten ins Haar, trug Schlabberkleider oder aufreizende Miniröcke und wollte nur Spaß haben. Man schloss sich verbissen zusammen und protestierte gegen alles, was die Gesellschaft und die Politik vertrat.

Das waren die Kreise von Studenten und jungen Leuten, zu denen Bernd gehörte. Ganz aufgeregt war Vera, als er sie dahin das erste Mal mitnahm. Noch scheu betrat sie eine Welt, die sie bisher nicht gekannt hatte. Zuerst fühlte sie sich geschmeichelt, als sie sichtlich anerkennend gemustert wurde – ach nein, eigentlich wurde ja Bernd dafür bewundert, dass er eine so blutjunge Freundin für sich gewinnen konnte. Doch das begriff Vera noch nicht. Sie hörte Meinungen, bei denen ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte. Von Entjungferung war die Rede, begleitet von anzüglichen Blicken zu ihr. Wenn auch geflüstert wurde, sie bekam es mit. Das trieb ihr das Blut ins Gesicht. Das mochte sie nicht. Da machte sie Bernd zum ersten Mal eine Szene auf dem Nachhauseweg. Er aber lachte nur, nahm sie in die Arme und sagte: „Ach, lass sie doch! Die verstehen es nicht besser. Solche Anzüglichkeiten fallen nun einmal, daran musst du dich gewöhnen.“

Doch Vera gewöhnte sich nicht daran. Die Freunde waren eben alle schon älter als sie, erfahrener, freizügiger, auch die jungen Frauen, die keine Mädchen mehr waren wie Vera. Auch sie flüsterten manchmal miteinander und lachten so verhalten. Vera spürte, dass sie über etwas sprachen, was sie nicht hören sollte. Es beunruhigte sie. Doch Bernd fühlte sich sichtlich wohl unter ihnen und lachte manchmal selbst über das, was man ihm zuflüsterte. Dann traf sie so ein eigenartiger Blick von ihm. War es Besitzerstolz oder war es Unsicherheit, Angst, sie könnte etwas erfahren, was nicht gut wäre?

Bald hatte Vera den Eindruck, die andern wussten mehr von ihm als sie. Irgendetwas verschwieg er ihr. Eifersucht kam in ihr auf, Eifersucht auf Menschen, die mit ihm vertrauter zu sein schienen, als er es bei ihr zuließ.

„Gibt es etwas, das ich wissen sollte, was du mir verschweigst?“, drängte sie ihn, als sie allein waren.

„Kleines, wie kommst du darauf? Aber nein!“ Er lachte und nahm sie in die Arme.

„Versprich mir, dass du mich nie belügen wirst“, forderte sie.

Er zuckte zurück. „So etwas muss man nicht erst versprechen.“

„Du willst es mir nicht versprechen?“

„Nun hör aber auf! Ich mag solche Szenen nicht! Entweder du vertraust mir, oder du kannst gehen.“ Eiskalt sagte er das.

Sofort ergriff Vera Panik, Angst ihn zu verlieren. Das wollte sie nicht. „Nein, nein, ist gut! Aber du musst verstehen ...“

„Komm her, Kleines! Lass dich von den andern nicht verwirren. Die reden manchmal dummes Zeug. Du musst nicht alles glauben.“ Da war er wieder ganz der väterliche Liebhaber. Er verstand es, sie, die er eben in Panik versetzt hatte, in den Arm zu nehmen und zu trösten.

„Ich will dir ja auch glauben“, stammelte sie.

„Da tust du recht dran“, murmelte er, zog sie zu sich aufs Bett und ließ sie alle Zweifel vergessen.

*

Aber die Zweifel brachen doch wieder auf. Eines Tages, als sie in einem Lokal in fröhlicher Runde mit den andern zusammensaßen, kam die Schwester Alice von Bernd dazu. Ihm war das sichtlich unangenehm. „Aha, das ist also deine kleine Freundin, von der ich gehört habe“, sagte sie, gab Vera die Hand, hielt sie einen Moment fest und musterte sie abschätzend.

Vera wollte sagen, sie freue sich, Bernds Schwester kennen zu lernen, doch dieser seltsam prüfende Blick von ihr ließ sie verstummen.

Die Schwester wandte sich auch gleich den andern zu. „Wisst ihr schon, Daniela kommt aus Amerika zurück“, rief sie in die Runde.

Alle Augen richteten sich auf Bernd. Verblüfftes Schweigen für einen Augenblick, bis sich einer räusperte und fragte: „Ist die Zeit bereits um?“ Dabei warf er kurz einen Seitenblick auf Vera.

„Bin gespannt, was sie erzählt“, überlegte eine junge Frau.

Nun redeten alle durcheinander: – „Amerikanisch kann sie jetzt bestimmt perfekt sprechen“, vermutete jemand und „War bestimmt eine interessante Studienzeit für sie“ eine andere. Bis sich einer vorlehnte, Bernd herausfordernd ansah und rief: „Pass nur auf, vielleicht hat sie sich einen Ami mitgebracht, hahaha!“

Abrupte Stille danach.

„Na und?“ Bernd tat betont gleichgültig.

Eine Frau kicherte, die Männer grinsten vor sich hin.

Vera saß wie versteinert. Sie verstand nicht, was hier vorging. Wer war diese Daniela? Das wollte sie wissen.

Und sie fragte Bernd auf dem Nachhauseweg darum. Er reagierte sofort verärgert. „Jetzt fang nur an, bei jeder Gelegenheit eifersüchtig zu werden. Das kann ich überhaupt nicht haben. Merke dir das! Du kannst nicht auf jede Bemerkung von den andern etwas geben!“

Diesmal nahm er sie nicht tröstend in den Arm, ließ sie einfach vor ihrer Tür stehen und ging allein nach oben.

Vera schlich in ihr Zimmer, fiel auf ihr Bett und weinte, weinte vor Angst, weil sie spürte, ihre wundervolle Beziehung zu Bernd war in Gefahr. Nein, sie wollte nie mehr Fragen stellen, die ihn ärgerten; sie wollte die andern reden lassen, gar nicht mehr hinhören, wenn sie damit nur Bernd halten könnte. Wie sollte es ohne ihn weitergehen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Sie zitterte bei dem Gedanken, noch einmal verlassen zu werden, so, wie ihr Vater sie damals verlassen hatte.

*

In der nächsten Zeit nahm Bernd sie nicht zu den Treffen der Freunde mit. „Du hast nichts davon. Wir stehen vor einer wichtigen Klausur und besprechen nur alles, was dazu nötig ist. Das ist für dich langweilig“, behauptete er.

Vera war ratlos. Er holte sie auch nicht mehr von ihrer Arbeitsstelle ab. Gelangweilt verbrachte sie die Abende zu Hause. Wenn er nicht da war, wusste sie nichts mehr mit sich anzufangen, lauschte nur zur Treppe hin. Sobald sie dann meinte, seine Schritte zu hören, rannte sie zur Tür.

„Du machst dich lächerlich! Lass ihn gehen, wenn er gehen will.“ Die Mutter beobachtete sie mit Sorge.

„Wer redet denn davon, dass er gehen will!“ Vera wies das entrüstet von sich. Irgendwann holte er sie doch wieder nach oben und ließ sie all ihre Zweifel vergessen. Nein, das wollte sie der Mutter nicht eingestehen, wie sehr sie sich um ihre Liebe sorgte. Und sie gab sich Mühe, alles für ihn zu tun. Was er von ihr auch verlangte, ob er sie in seiner Wohnung putzen ließ, ob sie ihm etwas besorgen sollte oder wann er Lust auf Liebe mit ihr zeigte, nichts schlug sie ihm ab. Wenn sie sich unentbehrlich machte, würde er sicher merken, was er an ihr hatte, und sie nie verlassen, davon war sie überzeugt.

„Was bist du, seine Putzfrau?“, fragte die Mutter, als sie es mitbekam.

Doch Vera ließ sich nicht beirren. Sie begann für jedes gute Wort von ihm, für jede liebevolle Geste, dankbar zu sein. Nur zu Marita sprach sie von ihrer Sorge darüber, dass er sich in seinem Verhalten verändert hatte.

Daraufhin begann Marita auf sie einzureden: „Vera, komm mit zu dem Kreis meines Freundes, wenn Bernd dich allein lässt. Du musst auf andere Gedanken kommen, kannst dich nicht so abhängig von ihm machen.“

Doch Vera schüttelte den Kopf und lehnte ab. „Das wäre, als würde ich ihn hintergehen.“

„Auch wenn er inzwischen eine andere hat?“

„Das glaube ich nicht!“ Vera war entsetzt, wie Marita das denken konnte. Sie gab nicht zu, dass ihr diese Daniela nicht aus dem Kopf ging.

Bis - ja, bis eines Tages ein flotter Schritt von Stöckelschuhen zu hören war, der die Treppe hochkam. Da ging jemand hinauf bis unter das Dach zu Bernd.

Vera stand hinter der Tür und lauschte ins Treppenhaus. Oben wurde die Tür geöffnet. Sie hörte Bernds Stimme, hastige Worte, gleich fiel die Tür wieder ins Schloss. Vera kämpfte mit sich, sollte sie nach oben gehen und ihn überraschen? Was würde sie vorfinden? War es Ahnung, war es Eifersucht? War es Angst, ihn zu verlieren? Schon wollte sie nach der Türklinke greifen, da stand die Mutter hinter ihr.

„Ist es so weit? Spionierst du ihm nach?“

„Blödsinn! Wer wird schon gekommen sein?“

„Ja, wer weiß?“

Vera antwortete nicht, drehte sich um und ging in ihr Zimmer. Aber sie lauschte nur nach oben. Es dauerte lange, bis bei Bernd die Tür wieder zugeschlagen wurde und stöckelnde Schritte die Treppe herunterkamen. Sie hastete ins Wohnzimmer zum Fenster zur Straße hin. Sie wollte sehen, wer das Haus verließ, wer das war, der da von Bernd kam. Es kroch ihr eiskalt über den Rücken, als eine junge Frau heraustrat, vielleicht so alt wie Bernd. Jeder ihrer Schritte zeugte von Selbstbewusstsein. Die wusste, was sie wollte. Weshalb war sie so lange bei ihm gewesen? Die Fremde drehte sich um, blickte suchend zu den Fenstern hoch. Bemerkte sie Vera dahinter? Wie gut sie aussah! Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. Erschrocken trat Vera einen Schritt zurück. Wie selbstsicher diese Frau sich gab. Was, wenn sie ein Anrecht auf Bernd hatte, von dem Vera nichts wusste? Allein bei dem Gedanken, es könnte so sein, geriet sie in Panik.

Jetzt erst bemerkte sie, auch die Mutter stand am anderen Fenster und sah dieser jungen Frau nach. „Eine bemerkenswerte Erscheinung“, sagte sie knapp. Das traf Vera mehr, als die Mutter mit vielen Worten hätte erreichen können.

Vera zögerte nicht mehr. Sie lief an der Mutter vorbei, hoch zu Bernd.

Er öffnete ihr zögernd die Tür. Fast sah es so aus, als wollte er sie nicht hereinlassen. Vera schob ihn zur Seite. Sie konnte ihre Aufregung kaum beherrschen. Er reagierte darauf mit ablehnender Haltung.

„Nanu, mit dir habe ich heute nicht mehr gerechnet“, sagte er kühl.

Vera sah alles, Weingläser standen auf dem Tisch, das Bett war offensichtlich hastig wieder glatt gezogen worden und der Aschenbecher lief über von Zigarettenkippen. Die Rauchschwaden hingen noch in der Luft, obgleich Bernd das Fenster geöffnet hatte.

„Wer war das?“, fragte Vera heftig. In ihr zog sich alles zusammen. Angst, ihr Verdacht könnte stimmen, trieb ihr das Blut durch die Adern, dass es in ihren Ohren rauschte.

„Wie klingt diese Frage? Darf ich keinen Besuch haben?“

„Ich darf wohl fragen, wer das war?“

„In anderem Ton, bitte!“ Ärgerlich ging er zum Fenster und schloss es wieder.

Vera nahm sich zusammen. „Willst du es mir nicht sagen?“

„Wie kommst du darauf? Das war Daniela ...“

„Die Daniela?“

„Ja, die Daniela aus Amerika! Sie gehört zu unserm Studien- und Freundeskreis.“

„Und was wollte sie von dir?“ Veras Blick und Stimme bekam etwas Lauerndes, und noch immer stand sie hilflos herum und zupfte an ihren Ärmeln.

„Nun ist es aber genug! Wird das ein Verhör?“ Er wandte sich von ihr ab und wischte zornig mit der Hand ein paar Krümel vom Tisch.

„Nein, natürlich nicht“, stammelte sie. Sofort, von einem Moment zum andern, schlug ihre Erregung in Furcht um, er könnte sich von ihr abwenden, wenn sie ihn so erzürnte. Tränen würgten in ihrer Kehle. Sie wollte ihn nicht wütend machen. Sie wollte alles tun, damit er sie lieb hatte. Sie bereute, überhaupt gefragt zu haben.

Als sie schwieg, drehte er sich um, sah ihr in die tränennassen Augen, erkannte wohl ihre Hilflosigkeit, nahm sie in die Arme und redete auf sie ein. „Du bist ein Dummchen. Sie hatte nur ein paar Fragen wegen einer Klausur. Daran musst du dich gewöhnen, das wird jetzt öfter vorkommen.“

„Ach so!“ Nur zu leicht ließ sie sich beruhigen, ließ sich tröstend umfangen. Jede Geste schien ihr wieder ein Beweis seiner Liebe zu sein. Wie konnte sie zweifeln.

Gelöst ging sie hinunter und ertrug den misstrauisch fragenden Blick ihrer Mutter. Nein, sie wollte an Bernd glauben. Versprach er ihr nicht seine Liebe, wenn er in liebevoller Stunde zu ihr sagte: „Du bist mir wichtig, Kleines. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne dich zu sein. Ich brauche dich, nicht nur heute und morgen“? Meinte er damit nicht: „… für alle Zeit“, also fürs ganze Leben?

Danach bemühte sie sich noch mehr, alles zu tun, was er von ihr erwartete. Aber es half nichts, als Daniela wieder bei ihm war, er darum keine Zeit für sie hatte, beschlich sie erneut das Gefühl, beiseite geschoben zu werden um einer anderen willen.

*

Bald geschah es häufiger, dass Bernd allein abends wegging und sie nicht mitnahm. Ging er dann zu Daniela? War Vera bei ihm, so fiel es ihr leicht, all ihre Zweifel zu verdrängen; doch sobald sie allein war, kehrten ihre misstrauischen Gedanken quälend zurück.

Und dann begann er von einer Wohngemeinschaft, einer WG, zu schwärmen. Immer mehr Studenten schlossen sich ja in dieser Zeit zusammen, um sich eine Wohnung und die daraus entstehenden Kosten zu teilen. Bald bekam sie mit, dass er oft zu einer bestimmte WG ging. Ob Daniela dort wohnte?

Da sie nun häufig abends allein war, suchte sie wieder die Nähe von Marita. Staunend erkannte sie, wie die sich so leicht und locker in der Beachtung junger Männer sonnte.

„Wie kannst du dich nur so sehr an einen hängen?“, fragte Marita verständnislos. Der Reiz des Neuen bei diesem oder jenem faszinierte sie. Manchmal war sie bis über beide Ohren verliebt; manchmal ließ sie auch eine flüchtige Beziehung bereits sehr intim an sich heran. Das verstand Vera nicht. Wie konnte sie, wenn sie es nicht ernst meinte.

Marita lachte darüber. „Komm mit in meinen Kreis! Du musst auf andere Gedanken kommen, wenn dein Bernd keine Zeit für dich hat“, forderte sie Vera erneut auf.

Doch auch diesmal lehnte Vera es ab. Sie liebte Bernd und hatte ihm gesagt, dass sie ihn immer lieben werde. Dazu musste sie stehen. Aus ihrem Verständnis heraus war sie ihm das schuldig. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte nicht einfach mitgehen, um ein anderes Vergnügen zu finden. Das wäre für sie Verrat gewesen.

„Du bist doch noch nicht an ihn gebunden“, versuchte Marita sie umzustimmen. „Wer weiß, vielleicht macht er sich gerade schöne Stunden und du hängst hier sauertöpfisch herum.“

„Ach, was!“ Vera wehrte es ab. Aber wusste sie wirklich, wo er war und was er gerade tat? Er erzählte ihr nichts davon, redete immer drum herum, gab nie genaue Auskunft, wurde sogar böse, wenn sie zu hartnäckig fragte. Das machte sie Marita gegenüber unsicher.

„Glücklich siehst du nicht aus. Was ist los?“, drängte Marita.

Da erzählte sie ihr von Daniela, und wie sehr sich Bernd verändert hatte, seit diese junge Frau aufgetaucht war. Am Ende versuchte sie es aber gleich zu entschuldigen. „Es ist sicher dumm, mir darüber Gedanken zu machen, schließlich studieren sie zusammen“, sagte sie und zupfte dabei nervös an ihren Händen.

Schweigend hatte Marita zugehört. Doch nun hielt sie ihr die Hände fest und beschwor sie: „Vera, wach auf! Bernd hat niemals ernste Absichten mit dir.“

„Wie kannst du das sagen?“, erregte sich Vera und zog ihre Hände zurück. „Wenn diese Daniela nicht wäre, dann ...“

„...wäre es eine andere!“, vollendete Marita den Satz.

Sprachlos sah Vera sie an. Ärgerlich, abwehrend und ihren eigenen Verdacht wegwischend, schlug sie mit der Hand durch die Luft. „Hätte ich dir nur nichts erzählt! Du verstehst ja gar nichts! Er hat eben weniger Zeit. Das ist sicher alles!“ Nein, sie wollte es nicht wahrhaben, was Marita eben angedeutet hatte. Noch kämpfte sie darum, jedes aufkommende Misstrauen zu verdrängen, wollte jede eigene warnende Stimme des Zweifels nicht hören.

*

Und dann kam ein Tag, der sie ratlos machte. Bernd brachte Umzugskartons mit nach Hause und begann zu packen. Sprachlos stand sie bei ihm in der Tür. „Was machst du ... wohin willst du ... du hast nichts gesagt.“